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Unter dem Motto: Neue Abenteuer in Alten Mauern bietet Bernd Lautenschlager mit seiner Firma Tower Escapes historische Escaperooms in Türmen entlang der Nürnberger Stadtmauer an. Das Highlight ist die rekonstruierte Folterausstellung aus dem 19. Jahrhundert im Fünfeckturm. Zwischen Eiserner Jungfrau, Richtschwertern und anderen Folterwerkzeugen müssen Gruppen knifflige Rätsel lösen, um zu entkommen. Doch plötzlich wird aus dem Spiel bitterer Ernst: Im Fünfeckturm gibt es einen Toten.
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Seitenzahl: 336
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Unter dem Motto „Neue Abenteuer in Alten Mauern“ bietet Bernd Lautenschlager mit seiner Firma Tower Escapes historische Escaperooms in Türmen entlang der Nürnberger Stadtmauer an. Das Highlight ist die rekonstruierte Folterausstellung aus dem 19. Jahrhundert im Fünfeckturm. Zwischen Eiserner Jungfrau, Richtschwertern und anderen Folterwerkzeugen müssen Gruppen knifflige Rätsel lösen, um zu entkommen.
Doch plötzlich wird aus dem Spiel bitterer Ernst – im Fünfeckturm gibt es einen Toten …
Monika Martin ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.
„Schandmantel“ ist der siebte Band aus der Reihe „Krimis mit Geschichte“, in der die Autorin ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu einem Kriminalroman mit Fakten aus der Stadtgeschichte Nürnbergs verbindet.
Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.
Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
November 1882
Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete Georg Friedrich Geuder das Schild neben der Eingangstür.
Kultur- u. kriminalhistrisches Museum im fünfeckigen Turme der Burg zu Nürnberg
Auch heute würden wieder viele interessierte Besucher kommen, um seine bemerkenswerte Sammlung zu bewundern. Aus Franken, aus Bayern und Baden, aus Italien, Frankreich und Spanien, aus ganz Europa und sogar aus dem fernen Amerika.
Gäste aus der ganzen Welt pilgerten hierher in die vormals bedeutende Handelsmetropole, um durch die schmalen Gassen zu schlendern und im Bratwurst Glöcklein die berühmten winzigen Würstchen zu kosten. Doch wirklich vollständig würde der Besuch erst dann sein, wenn sie im Fünfeckturm gewesen waren, um all die schauerlichen Relikte aus dem finsteren, grausamen Mittelalter zu betrachten.
Als Kunst- und Antiquitätensammler hatte Geuder jahrelang damit zugebracht, Halseisen, Daumenschrauben, Fußfesseln, Streckleitern und andere Rechtsaltertümer zusammenzutragen. Seine erste Folterausstellung hatte er vor über 25 Jahren in der Burgamtmannswohnung eingerichtet und war später damit in den Fröschturm umgezogen. Als man diesen vor fünf Jahren abgerissen hatte, hatte er seine Kostbarkeiten hierher gebracht, in den fünfeckigen Turm, direkt neben der Kaiserstallung.
Er trat ein paar Schritte zurück, legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf. Sieben Stockwerke war der Turm hoch, aus dicken Sandsteinblöcken gemauert, mit einem flachen Dach und einigen wenigen schmalen Fenstern versehen. Seit über 500 Jahren stand er nun hier, einst Bergfried der Burggrafenburg, ab dem späten Mittelalter ein Gefängnisturm.
Voller Vorfreude sperrte er die Tür auf und betrat den Eingangsbereich. Diffuses Licht fiel durch die farbigen Butzenscheiben, die Fratzen der aufwändig gestalteten Schandmasken grinsten ihn von der Decke herab an. Der kleine Raum war über und über voll mit Gerätschaften und Werkzeugen, mit denen man die Menschen in früheren Zeiten gequält hatte. An eisernen Ketten hingen Lastersteine, Zangen und Winden. In einer Ecke stand ein Stachelstuhl, der Georg selbst nach all den Jahren noch erschaudern ließ.
Die Holzstufen der schmalen Treppe knarzten, als er hinauf in den zweiten Raum stieg, in Eppeleins Gefängnis. Lebensgroß und täuschend echt gearbeitet saß Eppelein von Gailingen auf einem Stuhl, an Armen und Beinen gefesselt.
Georg tätschelte ihm über die zerzausten Haare, wie es bereits Tausende Menschen vor ihm getan hatten.
Zwar wusste er, dass der berühmt-berüchtigte Raubritter seinerzeit nicht in Nürnberg sondern in Forchheim im Gefängnis gesessen hatte, doch das störte ihn nicht. Er zeigte den Leuten das, was sie sehen wollten und dafür war ihm jedes Mittel recht.
Er bückte sich unter dem niedrigen Türstock hindurch und betrat den dritten Raum. Ein warmer, angenehmer Schauer überzog seinen Rücken.
Da stand sie. Ganz allein, ohne Zierrat, nur sie. Sein ganzer Stolz:
Die Eiserne Jungfrau
Der Grund für unzählige Gäste, den beschwerlichen Weg auf den Burgberg zu bewältigen.
Seit Jahrzehnten war sie in seinem Besitz. Ein Schandmantel war sie einst gewesen, eine Schandtonne, ein Spanischer Mantel, ein hölzerner Kasten, in dem die Menschen eine Ehrenstrafe verbüßen mussten. Mehr nicht.
Georg hatte bemerkt, wie das Interesse an ihr über die Jahre hinweg nachgelassen hatte. Heutzutage war er nicht sonderlich spektakulär, dieser Schandmantel.
Keinen Schmerz, kein Leid, kein Blut konnte man mit ihm in Verbindung bringen. Einfach nur Schande. Fertig. Georg lächelte glücklich.
Fünfundzwanzig Jahre war es jetzt her, dass er aus der Schandtonne die Eiserne Jungfrau gemacht hatte.
Es war seine Idee gewesen, die entsetzlichen spitzen Dornen hineinzuarbeiten, die Geschichte in die Welt zu setzen, man habe in früheren Zeiten damit die Verbrecher gerichtet, von rostigen Dornen durchbohrt.
Und … der Erfolg hatte ihm Recht gegeben. Mehr und mehr Besucher waren gekommen, um die grausame Faszination des Hinrichtungswerkzeugs auf sich wirken zu lassen.
Die Eiserne Jungfrau, SEINE Eiserne Jungfrau hatte seither ihren Siegeszug durch ganz Europa angetreten. So mancher Betreiber anderer Folterausstellungen hatte sich seine eigene Jungfer nachbauen lassen.
Die Leute wollten nicht unbedingt wissen, wie es damals wirklich gewesen war, sie wollten sich gruseln, sich in ihrer eigenen Welt sicher fühlen, weitab der Grausamkeiten des finsteren Mittelalters.
Es fiel ihm nicht leicht, sich von ihr zu trennen, die Stiege hinauf in die drei übrigen Räume zu gehen, in denen unzählige weitere Marterwerkzeuge und Darstellungen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte besichtigt werden konnten.
Die Glocke der Sebalduskirche schlug zehnmal.
Zeit, das Museum zu öffnen. Durch das kleine Fenster waren schon die ersten Besucher zu sehen, die ungeduldig warteten. Georg Friedrich Geuder stieg die Treppen hinab und öffnete die Tür.
„Herzlich willkommen im Kultur- und kriminalhistorischen Museum im fünfeckigen Turme der Burg zu Nürnberg.“
21. November 2012
Der Platz vor der Kaiserstallung füllte sich langsam. Immer mehr Pressevertreter strömten mit ihren Kameras, Mikrofonen und Fotoapparaten aus dem Fünfeckturm.
Trotz gerade einmal 5°C Außentemperatur hatten die meisten von ihnen gerötete Wangen, standen dem einen oder anderen noch Schweißtropfen auf der Stirn. Es war ihnen anzusehen, dass sie froh waren, wieder an der frischen Luft zu sein – auch wenn es sich dabei um einen nebelverhangenen Novembernachmittag handelte.
Nach einer halben Stunde in den beengten Räumen des alten Turms, zwischen gruseligen Folterwerkzeugen und gespenstischen Schandmasken, empfanden viele die Kälte als wohltuend.
Bernd Lautenschlager, der Mann, der sie zu diesem Ortstermin eingeladen hatte, hatte nicht zu viel versprochen. Um die Wiedererrichtung des einstigen Kultur- und kriminalhistorischen Museums eines gewissen Herrn Geuder sollte es gehen. Mit originalgetreuen Nachbauten der Sammlerstücke, die Mitte des 19. Jahrhunderts hier den begeisterten Besuchern präsentiert worden waren.
Scharenweise waren Gäste aus aller Welt hierher gekommen, um sich anzusehen, wie und womit man die Menschen im Mittelalter gequält, gefoltert oder hingerichtet hatte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Turm massiv beschädigt. Dabei ist ein Großteil der Ausstellungsstücke verbrannt.
Seit vier Wochen war nun in den Räumen des berühmten Foltermuseums ein Escaperoom eingerichtet, eine Art Rätselspiel für Erwachsene, bei dem die Gruppen verschiedene Aufgaben lösen mussten, um – wie der Titel schon vermuten ließ – zu entkommen.
Sandra Watzlawick wusste nicht so recht, was sie von diesem neuartigen Konzept halten sollte. Sie war aus beruflichen Gründen gekommen, sollte einen Bericht für die Nürnberger Nachrichten darüber verfassen, was sich neuerdings in dem alten Gemäuer befand. Nach verschiedenen Nutzungen und mehreren Jahren Leerstand hatte Lautenschlager den Turm nach allen Regeln der Kunst sanieren lassen und diesen innovativen Spielplatz eingebaut. Angeblich sei dieses Angebot in Nürnberg längst überfällig, würde doch die bayerische Landeshauptstadt schon seit längerem eine Vielzahl solcher Räume anbieten. Und man wolle dem in nichts nachstehen.
Naja. Von sich aus wäre Sandra sicher nicht auf die Idee gekommen, Geld dafür zu bezahlen, um sich zwischen Daumenschrauben und der Eisernen Jungfrau einsperren zu lassen. Aber … jedem das Seine oder wie ihre Großmutter immer gesagt hatte:
„Dem einen gefällt der Pfarrer, dem anderen die Köchin.“
Bernd Lautenschlager hatte sie und ihre Kollegen durch einen Teil des Turms geführt, ihnen schaurige Details und ausgeklügelte Rätsel präsentiert, ohne natürlich zu viel zu verraten.
„Das ist großartig“, schwärmte ihr Freund Torsten mit leuchtenden Augen. „Wir sollten uns so schnell wie möglich einen Termin sichern.“
Im Gegensatz zu ihr war er von Lautenschlagers Konzept hellauf begeistert, hätte am liebsten sofort mit dem Rätselraten begonnen.
Sandra schielte ihn skeptisch an. Als sie ihm erzählt hatte, dass sie im Rahmen ihres Nebenjobs bei der Zeitung zu einem Ortstermin in einem neu eröffneten Escaperoom eingeladen war, hatte er so lange auf sie eingeredet, bis sie sich hatte breitschlagen lassen, ihn mitzunehmen – als Fotografen, so lautete die offizielle Begründung. Torsten arbeitete als Kriminaloberkommissar bei der Nürnberger Mordkommission, und hatte ein gutes Händchen für wirkungsvolle Fotos.
Angesichts des aktuellen Krankenstandes im Verlagshaus hatte ihr Chef ausnahmsweise ein Auge zugedrückt.
„Du hast wirklich Lust, dich in diesem Gruselturm einsperren zu lassen?“
„Natürlich. Ich finde das total spannend. Wir sollten gleich mal bei Charlotte und den anderen Kollegen im Präsidium nachfragen. Vielleicht kommen ja Attila und Mariella auch mit. Was meinst du?“
„Naja, da bin ich mir nicht so sicher.“
„Ich schon. Ich kümmere mich darum.“ Eifrig zog er seinen Kalender aus der Tasche. „Hoffentlich gibt es vor Weihnachten noch einen freien Termin.“
„Wer sagt denn, dass ich mitgehen will?“, druckste Sandra herum.
Torsten sah überrascht auf. „Soll das heißen, du willst nicht?
Warum denn? Ist es dir zu gruselig? Ich bin sicher, Lautenschlager wird nicht mit dabei sein. Er überwacht uns höchstens im Kontrollraum.“
„Na, ich weiß nicht. Plane lieber mal ohne mich. Womöglich funktioniert irgendwas nicht richtig und ich komme nicht mehr lebend aus der Eisernen Jungfrau.“
„Quatsch, das gefällt dir dann schon, da bin ich mir ganz sicher. Wie wäre es am kommenden Wochenende? Am Samstag, den 23. November?“
„23. November?“ Sandras Miene hellte sich auf. „Das tut mir leid, da haben wir Klassentreffen. Das ganze Wochenende.“
„Das ist schon diese Woche?“ Torsten konnte sich daran erinnern, dass die Einladung bereits vor fast einem Jahr gekommen war. „Weißt du denn schon, was geplant ist?“
„Nein, Arno wollte sich heute melden.“
„Dann nehmen wir einfach den nächsten Samstag, den 30. November.“
„Frag doch erst einmal die anderen“, meinte Sandra ausweichend. Wahrscheinlich war das spektakuläre Angebot ohnehin über Wochen ausgebucht. Die Leute waren nun einmal fasziniert vom dunklen, grausamen Mittelalter. Sie erinnerte sich an ein ähnlich zweifelhaftes Projekt, das ein bekannter Nürnberger Gastronom vor ziemlich genau drei Jahren in den Lochgefängnissen angeboten hatte.
Um möglichst authentisch in die mittelalterliche Kriminalgeschichte eintauchen zu können, hatte man damals eine erlebnisgastronomische Aktion buchen können – mit allem, was dazugehörte: eine halbe Stunde Einzelhaft in einer stinkenden, stockfinsteren Zelle, eine Begegnung mit dem Henker bis hin zu einer täuschend echt dargestellten Folterszene. Zum Glück war das Angebot nach kurzer Zeit aufgrund erheblicher Proteste wieder eingestellt worden. Es hatte sogar eine Tote gegeben.
„Schau mal“, sagte Torsten. „Die Leute gehen alle in die Jugendherberge. Geht es dort weiter?“
Zu Sandras Erleichterung war das Thema mit dem Escapespiel vorläufig vom Tisch.
„Ja, Lautenschlager will uns über die anderen Projekte von Tower Escapes informieren. Und anschließend gibt es noch ein kleines Buffet.“
Torsten strahlte. „Das klingt beides sehr verlockend. Super, dass du mich hier eingeschleust hast.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Backe. „Danke dir.“
„Also, meine Begeisterung hält sich in Grenzen“, gab Sandra zu. „Mir reicht es jetzt schon mit Blut und Quälerei. Dass die Leute so etwas buchen, ist mir wirklich schleierhaft.“
„Sollen die anderen Räume nicht auch in alten Stadttürmen eingerichtet werden? Da wird es doch nicht überall um Blut und Quälerei gehen, oder?“
„Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen. Ehrlich gesagt habe ich auch genug von dem Typen. Er sieht aus, als wäre er selbst Teil seines Gruselkabinetts, findest du nicht? Ich bin ja nicht zart besaitet, aber dort drinnen bei dem schummrigen Licht und dem ganzen grausigen Kram war er mir nicht ganz geheuer.“
Bernd Lautenschlager war mit seinem muskulösen Körper und dem kahl rasierten Kopf eine imposante Erscheinung. Trotz der kühlen Temperaturen hatte er lediglich ein eng anliegendes weißes T-Shirt und eine Jeanshose getragen, die beide aussahen, als würden sie jeden Moment aus den Nähten platzen. Die vollständig mit farbigen Tattoos bedeckten Arme waren kräftiger als Sandras Oberschenkel.
Die Vorstellung, mit diesem Mann in Geuders Folterausstellung eingesperrt zu sein, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Ein leises Pling war aus ihrer Tasche zu hören.
„Ah, das ist vielleicht endlich die SMS von Arno.“
Sie holte das Gerät hervor und las die Nachricht.
Torsten konnte beobachten, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.
„Was ist? Fällt es aus? Oder macht ihr eine Führung durch das Krematorium?“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Ein Besuch bei der Kläranlage? Im Indoorspielplatz? Eine Höhlenwanderung? Jetzt sag schon.“
„So etwas Ähnliches.“
„Was denn jetzt? Nächtliches Baden in der Pegnitz? Ein vierstündiges Open-Air Konzert der örtlichen Blockflötenvereinigung? Ein Ausflug mit Inlinern nach Fürth?“
Fassungslos sah sie ihn an.
„Wir spielen den Escaperoom im Fünfeckturm.“
Noch immer geschockt über die Aussicht, in etwa zwei Tagen zusammen mit vier Leuten, die sie seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte, in Geuders Folterturm Rätsel lösen zu müssen, stieg sie zusammen mit den anderen Journalisten die Treppe hinauf in den Eppeleinsaal.
Es war nur ein kleiner Trost, als sie sah, dass das angekündigte Buffet bereits seine vielversprechenden Schatten vorauswarf. In einer Ecke des ehrwürdigen Saals standen lange Tische mit weißen Tischdecken, Besteckkästen und Wärmeplatten. Daneben Stehtische mit weißen Hussen und kleine Schälchen mit Knabbergebäck.
Lautenschlager hatte sich diese Veranstaltung offensichtlich einiges kosten lassen. Auch die Restaurierung der alten Stadttürme und die Einrichtung der Räume musste eine kostspielige Angelegenheit gewesen sein.
Tower Escapes – Neue Abenteuer in Alten Mauernwar auf einer großen Leinwand zu lesen. Jetzt, da sie wusste, dass bereits übermorgen diese spektakulären Neuen Abenteuer in Alten Mauern auf sie warteten, war sie gespannt, was neben dem Angebot im Fünfeckturm noch in der Stadt geplant war. Bevor es losging, holte sie das kleine, auffallend neongrüne Döschen mit dem Lippenbalsam hervor, das sie sich bei ihrem letzten Wellnesswochenende mit Charlotte gekauft hatte. „Willst du auch?“, flüsterte sie und hielt Torsten das Döschen hin. „Deine Lippen sehen ganz trocken aus.“
Er schüttelte den Kopf. Das mit dieser Lippenpflege war so ein Frauending, das er vermutlich nie verstehen würde. Und für ein solches Minidöschen auch noch über fünf Euro zu bezahlen, käme ihm erst recht nicht in den Sinn.
Langsam kehrte Ruhe ein. Alle Augen waren auf Lautenschlager gerichtet, der soeben mit ausgebreiteten Armen und seinem strahlendsten Lächeln vor das Publikum getreten war. Obwohl klar war, dass es sich um eine Informationsveranstaltung für die Presse handelte, fühlte es sich vielmehr nach einer Show an, bei der es in erster Linie um die Person ging und nicht darum, was sie zu sagen hatte.
„Hallo zusammen“, begann er. Seine tiefe Stimme ließ den Raum förmlich erbeben. Ein Mikrofon brauchte er nicht.
„Schön, dass so viele von euch gekommen sind. Ich gehe davon aus, dass euch unser kleiner Ausflug in die mittelalterliche Kriminalgeschichte gefallen hat.“
Er grinste breit und zeigte dabei perfekte weiße Zähne.
„Aber das ist noch nicht alles. Es wird in den nächsten Monaten noch weitere historische Escaperooms in Nürnbergs Stadttürmen geben. Beginnend mit dem Turm, der sich nur wenige Meter östlich von hier befindet und heute Teil der Jugendherberge ist: das Schwarze A, besser bekannt als Luginsland.“
Eine junge Frau aus dem Publikum meldete sich zu Wort.
„Herr Lautenschlager, was hat es mit dem Schwarzen A auf sich?“
„Gute Frage, danke dir. Aber nenne mich einfach Bernd.
Wir sind doch unter uns.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Sandra verdrehte die Augen. Sie konnte dieses aufgesetzte wir-haben-uns-alle-lieb-und-duzen-uns-Gehabe nicht ausstehen. Ihr war eine professionelle Distanz im Job viel lieber.
„Für Fragen dieser Art ist mein hochgeschätzter Kollege Kolonat Breuer zuständig. Er ist Historiker und kann dir superkompetent Auskunft geben, nicht wahr, Kolonat?“
Interessiert beobachtete Sandra, wie ein junger Mann aus der ersten Reihe aufstand und das bereitstehende Mikrofon nahm. Er war etwa genauso groß wie Lautenschlager, aber bei weitem nicht so kräftig und wirkte neben ihm etwas verloren.
„Vielen Dank, Bernd. Auch von meiner Seite hallo und herzlich Willkommen im Namen von Tower Escapes“, begann Breuer. „Wie mein ebenfalls hochgeschätzter Kollege bereits erwähnt hat, bin ich als Historiker für die wissenschaftlichen Aspekte unserer Angebote und die Konzeption der Rätsel zuständig. Darüber hinaus arbeite ich auch als Spielleiter in unseren Räumen.“
„… und erzählst uns jetzt, warum die Stadttürme Buchstaben tragen“, fuhr Lautenschlager dazwischen.
Kolonat Breuer zog eine Augenbraue nach oben und fuhr fort.
„Die Türme entlang der Stadtmauer wurden mit Buchstaben versehen als eine Art Hausnummer. Beginnend an der Burg bekam der Luginsland das A. Weiter geht es dann im Uhrzeigersinn mit dem Rest des Alphabetes.“
„Was denkst du, wo der Turm mit dem Z steht?“, unterbrach ihn Lautenschlager erneut und blickte die Frau an, von der die Frage gekommen war.
„Sagen Sie es mir“, antwortete sie und verschränkte genervt die Arme vor der Brust.
Kolonat Breuer hatte gerade Luft geholt, wollte eingreifen und dieses peinliche Ratespiel beenden, doch er hatte keine Chance.
„Was meinst du?“, hakte Lautenschlager nach, völlig unbeeindruckt davon, dass sein Kollege offensichtlich etwas sagen wollte. „Die anderen können auch mitraten.“
Also doch eine Show, schoss es Sandra durch den Kopf, eine Show mit Bernd als Showmaster.
Im Saal wurden die Köpfe zusammengesteckt.
„Wahrscheinlich auf der Burg!“, rief jemand.
Der Showmaster schüttelte den Kopf. Er freute sich sichtlich, hatte wohl mit dieser Antwort gerechnet.
„Nein, nicht auf der Burg.“
„Am Hallertor!“
„Am Bahnhof!“
„Am Plärrer!“
Es war Lautenschlager deutlich anzumerken, wie sehr er die Situation genoss.
„Nein, leider auch nicht. Hat noch jemand einen Vorschlag?“
„Mein Gott“, murmelte Sandra genervt. „Wird das jetzt eine Geschichtsstunde? Komm doch endlich zur Sache.“
„Du dort hinten!“ Er meinte tatsächlich Sandra. „Was meinst du?“
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Gesicht binnen einer Sekunde dunkelrot anlief, als sei sie in der Schule beim Schwätzen erwischt worden. Doch genauso schnell hatte sie sich wieder im Griff. Sie stand nicht gern im Rampenlicht, konnte es aber noch weniger ausstehen, vor fremden Leuten blamiert zu werden. Sie entschied sich für die Flucht nach vorne.
„Das Schwarze Z steht südlich des Rathenauplatzes. Danach folgt das Alphabet, das damals übrigens nur aus 23 Buchstaben bestand, noch dreimal. Das blaue bis zum Frauentorgraben, dann das rote bis zum Westtor und schließlich das grüne. Der letzte Turm ist der Tiergärtnertorturm, das Grüne N. Verraten Sie uns jetzt, was genau Sie im Schwarzen A geplant haben?“
Die Leute im Saal nickten ihr anerkennend zu. Sie streckte stolz den Rücken durch und antwortete auf den überraschten Gesichtsausdruck Lautenschlagers mit einem selbstgefälligen Lächeln.
„Herzlichen Dank für die Ausführungen.“ Kolonat Breuer übernahm wieder das Ruder und konnte nur mit Mühe ein schadenfrohes Grinsen unterdrücken. „Genau richtig. Gehen Sie doch bei Ihrem nächsten Spaziergang mal an der Stadtmauer entlang und achten Sie auf die Buchstaben.“
„Ich bin beeindruckt“, wisperte Torsten sobald sich wieder alle Blicke nach vorne gerichtet hatten. „Seit wann kennst du dich so gut in der Stadtgeschichte aus?“
„Da staunst du, was?“ Sandra konnte einen gewissen Stolz nicht verbergen. „Ich habe vor ein paar Wochen ein kleines Buch über die Nürnberger Stadtmauer geschenkt bekommen. Das habe ich in Vorbereitung auf diesen Termin rausgekramt. Sehr interessant. Solltest du auch mal lesen.“
„In spätestens zwei Jahren soll bei unseren Escaperooms neben dem Fünfeckturm ein Turm jeder Farbe vertreten sein“, fuhr Breuer fort. „Das Schwarze A, das Blaue G, das Rote Y und das Grüne N. Und jetzt möchte ich Sie sehr gern darüber informieren, was Sie bereits in Kürze im Schwarzen A erwartet.“
Auf der Leinwand erschien ein Videoclip, der den Turm aus verschiedensten Perspektiven zeigte – inklusive einer Aufnahme aus der Luft.
„1377 von den Nürnbergern errichtet, um ein Auge auf die verhassten Burggrafen haben zu können, wurde er später zum Gefängnisturm umgebaut und beherbergte so manche prominente Persönlichkeit, wie zum Beispiel Wallenstein. Wir haben uns allerdings dafür entschieden, den dortigen Escaperoom einem anderen, nicht weniger bekannten Insassen zu widmen.“
„Warte, Kolonat, nichts verraten. Fragen wir doch unsere Geschichtsexpertin von vorhin. Na? Wer saß einst noch in dem Gefängnisturm?“
Alle Augen waren auf Sandra gerichtet. Sie wünschte sich, der Erdboden würde sich auftun und sie verschlucken.
„Hast du eine Idee?“
Es war doch wirklich bemerkenswert, wie selbstbewusst und beratungsresistent manche Leute waren. Es konnte ihm doch nicht entgangen sein, dass die Pressevertreter kein Interesse an Ratespielchen hatten.
„Dann helfe ich dir mal auf die Sprünge. Wer wurde am 26. Mai 1828 dort inhaftiert?“
Wieder sah er sie auffordernd an.
„Was ist denn mit euch los?“, rief er mit gespielter Enttäuschung. „Kennt sich keiner in der Geschichte unserer Stadt aus?“
Die Stimmung im Raum drohte zu kippen. Die Pressevertreter wollten informiert, nicht bloßgestellt werden.
Kolonat Breuer versuchte, die Situation zu retten.
„Bei der Konzeption der Escaperooms ist es uns wichtig, das aufzugreifen, was in der Vergangenheit in den einzelnen Türmen passiert ist und wozu sie genutzt wurden. Dabei legen wir großen Wert auf Authentizität. Die Spiele sollen an historischen Orten stattfinden und dabei unaufdringlich geschichtliches Wissen vermitteln. Tower Escapes ist kein Disneyland, sondern Freizeitgestaltung auf gehobenem Niveau.“
Sandra hob zweifelnd die Augenbrauen.
Trotzdem schien der junge Mann den richtigen Tonfall getroffen zu haben. Die Aufregung legte sich langsam.
„Vielleicht hat sich jemand von Ihnen gedacht, wir hätten bei der Einrichtung des Fünfeckturmes maßlos übertrieben, hätten aus einer kleinen, unscheinbaren Ausstellung rostiger Fußfesseln ein ansehnliches Horrorkabinett gemacht, nur um die Sensationslust unserer Gäste zu bedienen?“
Eifriges Gemurmel setzte ein. Es hörte sich so an, als hätten sich viele genau das gedacht.
„Im 19. Jahrhundert ist das passiert. Der Kunstsammler Georg Friedrich Geuder und viele andere Betreiber solcher Folterausstellungen haben keinen Wert darauf gelegt, die Kriminalgeschichte des Mittelalters so darzustellen, wie sie war. Es ging vor allem darum, möglichst grausame und spektakuläre Gegenstände zu präsentieren und nicht nur das. Man ist sogar so weit gegangen, die Wahrheit etwas, wie soll ich sagen, kreativ zu verändern und Dinge herstellen zu lassen, die es im Mittelalter noch gar nicht gab.“
Im Saal wurde es wurde lauter.
„Wir haben genau recherchiert. Bei uns können Sie sich darauf verlassen, dass alles der Wahrheit entspricht – soweit man das heute noch nachvollziehen kann.“
„Und auf welches perfekt recherchierte und wissenschaftlich fundierte Thema dürfen wir uns im Schwarzen A freuen?“, fragte ein Mann mittleren Alters. Der sarkastische Unterton war sehr deutlich herauszuhören.
Kolonat Breuer reagierte so professionell wie Sandra es erwartet hatte.
„Im Luginsland richten wir einen Escaperoom zu Kaspar Hauser ein – passend zum Kaspar-Hauser-Erlebniszentrum, das im Mai dieses Jahres eröffnet wurde.“
„Und was erwartet die Leute dort?“, setzte der Mann nach.
„Ein Holzpferdchen im dunklen Verlies? Hartes Brot? Viel zu große Lederstiefel? Ein Stammbaum der Zähringer?“
„Sie scheinen gut mit der Thematik vertraut zu sein.“ Breuer lächelte und ignorierte weiterhin jeglichen Sarkasmus. „Ich möchte an dieser Stelle natürlich nicht zu viel verraten, aber die Spieler werden auch in diesem Raum mit kniffligen Rätseln konfrontiert sein – und viel über das so genannte Kind Europas erfahren.“
„Wann rechnen Sie mit der Eröffnung?“, fiel Sandra dem Nörgler ins Wort.
„Wir sind gerade dabei, den Raum von verschiedenen Probegruppen testen zu lassen und planen die feierliche Eröffnung am Freitag, den 14.12., also rechtzeitig zu Weihnachten.“
„Und welche Türme kommen danach?“, wollte jemand wissen. „Das Grüne N?“
„Ja, so haben wir das langfristig geplant: Einen Künstler- Escaperoom im Tiergärtnertorturm – schließlich wird der Turm seit 1882 von der Künstlerklause genutzt – und dann einen Raum im Roten Y und schließlich im Blauen G.“
„Wie stellen Sie sich das mit dem Blauen G vor?“ … schon wieder der Nörgler … „Sie wissen doch, dass es diesen Turm schon lange nicht mehr gibt.“
„Natürlich wissen wir das. Wir haben beantragt, das Blaue G wieder aufbauen zu dürfen. Darin soll es um die Stadtmauer gehen. Mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Viele der Pressevertreter schüttelten ungläubig die Köpfe.
„Und was ist mit dem Roten Y?“, rief der Nörgler durch das Stimmengewirr. „Das ist noch nicht einmal ein richtiger Turm. Was soll es dort schon Interessantes geben?“
„Genau das dachte ich mir auch“, rief Bernd Lautenschlager dazwischen. „Bis mir Kolonat erzählt hat, was sich noch vor 180 Jahren dort befunden hat.“ Er senkte die Stimme. „In dem schmalen Gebäude zwischen dem Roten Y und dem Roten Z befand sich bis 1846 etwas, was in unseren Augen so spannend ist, dass es sich auf jeden Fall anbietet, auch dort ein Angebot von Tower Escapes zu installieren.“ Er machte eine kunstvolle Pause. „Heute würde man die Einrichtung als Psychiatrie bezeichnen. Damals hieß sie Der Närrische Prisaun.“
Eine halbe Stunde nachdem alle Journalisten gegangen waren, traf sich das Team von Tower Escapes im siebten Stock des Luginsland.
Es mussten einige Nachbesserungen an der Ausstattung des neuen Raumes vorgenommen werden.
Während sich Finja und Simon um die Beschriftung des Grabsteines auf Kaspar Hausers Grab kümmerten, war Kolonat damit beschäftigt, die großformatigen Bilder des Pilsacher Wasserschlosses an der Wand zu fixieren.
Ohne Erfolg. Schon bei der geringsten Berührung lösten sich die angeblich so zuverlässigen Haftstreifen von der Wand und das beschauliche Schloss begrub ihn unter sich.
„Scheiße!“, schimpfte er laut vor sich hin und kämpfte sich unter dem riesigen Poster hervor.
„Was ist passiert?“, rief Finja aus dem Nebenraum. „Steckst du wieder einmal in Pilsach fest?“
„Sehr witzig.“
Sie kam herüber und half ihm, das Plakat wieder zu befestigen.
„Ich verstehe nicht, warum Bernd auf diesen komischen Billig-Kleber besteht“, meckerte Kolonat schlecht gelaunt.
„Für andere Sachen gibt er doch auch genug Geld aus.“
Die junge Kollegin sah ihn verständnisvoll an. „Ich vermute, euer Pressetermin war wieder einmal anstrengend.“
Er holte tief Luft.
„Das kann man so sagen. Dieses Entertainer-Gehabe macht mich richtig aggressiv. Die Leute nehmen uns dadurch gar nicht richtig ernst. Einige sind sogar früher gegangen – trotz teurem Buffet. Am liebsten würde ich …“
„Was würdest du am liebsten?“ Bernd Lautenschlagers tiefe Stimme dröhnte durch den Raum. „Die nächsten Veranstaltungen allein bestreiten? Ohne dieses Entertainer-Gehabe?“
In den ersten Wochen ihrer Zusammenarbeit hatte Kolonat noch Respekt vor dem Mann mit der beeindruckenden Stimme gehabt, hatte sich regelrecht von ihm einschüchtern lassen. Doch ziemlich schnell hatte sich herausgestellt, dass auch Bernd Lautenschlager nur mit Wasser kochte. Kolonat war nicht von diesem Job abhängig. Er würde problemlos eine andere Stelle finden.
Lautenschlager hätte viel größere Probleme, einen Ersatz für Kolonat zu finden, denn er war nicht nur Spielleiter und Historiker. Er war – und das machte ihn quasi unersetzlich für Tower Escapes – auch derjenige, der alle Rätsel konzipierte.
Und ohne Rätsel funktionierte nun einmal kein Escaperoom. Kolonat saß am längeren Hebel. So sah er das zumindest.
„Genau das!“ Er blitzte Lautenschlager wütend an. „Ich würde es am liebsten ohne dich machen. Dann würde ich nicht ständig unterbrochen werden und müsste mir nicht deine dämlichen Bemerkungen anhören. Ich würde die Leute nicht bloßstellen, sondern einfach nur sachlich informieren. Es ist auch mein Projekt, für das ich mit meinem Namen stehe!“
„Haha! Dein Name! Was soll das denn sein? Glaubst du etwa, die Leute interessieren sich für deinen Namen? Was ist das überhaupt für ein Name?“ Er sah lachend hinüber zu Finja. „Fini, meine Liebe, hast du schon irgendwann einmal einen Kolonat kennengelernt?“
„Ich bin weder deine Liebe, noch bin ich Fini“, gab sie ihm Kontra. „Und ich glaube nicht, dass das etwas zur Sache tut.“
Bernd verbeugte sich. „Oh, natürlich, ich bitte vielmals um Entschuldigung.“
Inzwischen war auch Simon rübergekommen und versuchte zu schlichten.
„Hört endlich auf damit. Das bringt doch nichts. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn immer nur von einer von euch diese Veranstaltungen moderiert. Ich habe keine Lust, jedesmal hinterher eure Streitereien und Launen auszuhalten. Und jetzt machen wir einfach unsere Arbeit. Morgen Nachmittag kommt die nächste Gruppe und es gibt noch einiges zu tun.“
23. November 2012
Sandra stolperte die enge Wendeltreppe hinauf. Sie schwitzte unter der stinkenden Haube, die man ihr über den Kopf gestülpt hatte und die dafür sorgte, dass sie nichts sehen konnte. Plötzlich fühlte sie einen heftigen Stoß im Rücken, strauchelte und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
„Na los! Schneller!“ Der Befehlston der rauen, kratzigen Stimme jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.
Mit einer Hand am steinernen Geländer hetzte sie weiter.
Die Treppe schien kein Ende nehmen zu wollen.
„Stehenbleiben!“, donnerte die Stimme. „Hände an die Wand!“
Leises Flüstern war zu hören.
„Ruhe! Ich will keinen Laut mehr hören! Ist das klar?“
Sandras wagte kaum zu atmen. Am liebsten hätte sie sich den groben Stoff vom Kopf gerissen. Sie brauchte Luft – und Licht. Wollte sehen, wo man sie hingebracht hatte, erfahren, was man noch mit ihr vorhatte. Doch sie tat nichts, stand reglos da, die Hände an der kalten Wand.
Die Schritte des Mannes kamen näher. Blieben stehen. Sie keuchte, konnte seinen Atem im Nacken spüren.
Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt.
Würde gleich eine riesige Pranke auf ihrer Schulter landen?
Wo würde sie der Mann mit der schmutzigen Hose und dem blutverschmierten Hemd hinbringen?
Auch er trug eine schwarze Haube über dem Kopf. Nur hatte die zwei längliche Sehschlitze, das hatte Sandra noch erkennen können, bevor es dunkel um sie herum geworden war.
„Du! Mitkommen!“
Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle, als sie merkte, dass es nicht ihre Schulter war, die sich der Mann ausgesucht hatte.
„Na los! Da rein!“
Sandra hörte, wie jemand gepackt, eine Tür quietschend geöffnet und derjenige hineingestoßen wurde.
Die Tür fiel mit einem lauten Krachen ins Schloss.
Dann war es still.
Lediglich ihr eigener Atem war zu hören.
Sie wusste, dass der Mann zurückkommen und auch sie hinter der quietschenden Tür verschwinden lassen würde.
Wenige Augenblicke später hatte sie ein Gefühl, als stehe jemand direkt hinter ihr.
Wie hatte es der Mann geschafft, sich lautlos zu nähern?
Sie hatte nichts gehört.
Grauen erfasste sie, als sie eine leichte Berührung im Nacken spürte.
„Noch ist deine Zeit nicht gekommen“, wisperte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Aber ich hole dich noch.“
Ihre Beine wurden weich, die Hände feucht.
Mit Erleichterung spürte sie, wie sich der Mann langsam entfernte.
Es hörte sich so an, als streiche er mit seiner Hand über die Rücken der Wartenden. Wie viele waren es noch? Zwei? Drei?
Immer wieder waren unterdrückte Schreie zu hören, gefolgt von Schritten, Befehlen und dem Knallen verschiedener Türen.
Nach endlos scheinenden Minuten war es nur noch Sandra, die zitternd und verängstigt an der Wand stand und darauf wartete, dass man sie abholte.
Der Mann kam zurück, legte seine Hand auf ihren Nacken.
„Du bist die Letzte.“
Mit diesen Worten wurde sie ein paar Meter weiter geschoben und schließlich stehen gelassen.
Die Tür knallte zu.
„Hallo?“, wagte sie ein leises Rufen. „Seid ihr da?“
Keine Antwort.
Vorsichtig drehte sie den Kopf und versuchte, unter der Haube hervorzulinsen.
Vergeblich.
Sie müsste die Hände zu Hilfe nehmen.
Konnte sie es wagen?
Noch einmal bewegte sie den Kopf, doch die Haube saß zu fest.
Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich allein war. Vorhin hatte sich der Mann auch lautlos angeschlichen.
Egal, sie riskierte es, nahm in Zeitlupentempo eine Hand herunter und lupfte den Stoff etwas an.
Ein leichter Hauch etwas kühlerer Luft streifte ihr Gesicht.
Zu sehen war so gut wie nichts.
„Hallo?“, rief sie nun etwas lauter und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. „Ist da jemand?“
Keine Antwort.
Sandra nahm ihren ganzen Mut zusammen, griff die Haube und zog sie sich vom verschwitzten Gesicht.
Endlich!
Sie atmete ein paarmal tief ein, auch wenn das, was da durch ihre Lungen strömte, weit entfernt war von dem, was sie als frische Luft bezeichnen würde. Es roch leicht modrig, nach altem, feuchtem Holz. Ganz langsam normalisierte sich ihr Puls. Ängstlich blickte sie sich um.
In dem Raum war es düster. Sie konnte gerade so die Hand vor Augen sehen.
Die Wände waren mit rohen Brettern verkleidet. In einer Ecke stand ein kaputtes Wagenrad, daneben ein dreibeiniger Hocker. Türen oder Fenster konnte sie nicht entdecken. Dafür eine Art Vorhang aus fleckigem Sackleinen, der von der Decke herabhing.
Der Mann, der sie alle hierher gebracht hatte, war zum Glück nicht mehr da – ihre Mitspieler allerdings auch nicht.
Sandra war allein in diesem gruseligen, hölzernen Verschlag.
Sie seufzte und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Das hatte man davon, wenn man Männern die Planung überließ.
Arno hatte ein richtiges Geheimnis um die Gestaltung ihres ersten Klassentreffens gemacht. Auf der Einladung, die er vor fast einem Jahr verschickt hatte, stand, sie sollten sich überraschen lassen, es seien großartige Programmpunkte geplant.
Prima.
Manche von ihnen hatten sich vor wenigen Stunden das erste Mal seit fast 20 Jahren wiedergesehen. Konnte man sich dann nicht einfach gemütlich in ein Lokal setzen und erzählen, was aus jedem Einzelnen geworden ist?
Nein.
Stattdessen mussten spektakuläre Escaperooms besucht werden. Als Teambildungsmaßnahme.
So ein Quatsch. Sie waren kein Team, das gebildet werden musste. Sie waren einfach ein für dieses Wochenende zusammengewürfelter Haufen, der zufällig gemeinsam Abitur gemacht hatte. Fertig.
Hätte Arno sie gefragt, ob die Lust hätte, in einem Raum eingesperrt zu sein und sich nur durch das Lösen schwieriger Rätsel wieder befreien zu können, hätte sie eindeutig NEIN gesagt.
Vor allem nachdem sie den Turm erst vorgestern besichtigt hatte. Auch ohne verschlossene Türen und schummriges Licht war sie nach einer knappen halben Stunde froh gewesen, als sie wieder draußen an der frischen Luft war.
Und jetzt das.
Hätte sie bei dem Pressetermin schon gewusst, dass es nur zwei Tage später ernst für sie werden würde, hätte sie genauer hingesehen – und jetzt womöglich davon profitieren können.
Aber leider hatte sie nicht richtig aufgepasst.
Sie war sich sicher, dass es Bernd Lautenschlager persönlich gewesen war, der sie hierher gebracht hatte. Sie hatte ihn an der Stimme erkannt. Dieses grobe, pseudo-mittelalterliche Gehabe passte zu ihm. Sandra hatte gespürt, wie es ihm gefiel, Leute herumzuschubsen, ihnen Angst einzujagen.
Bis vorhin hatte sie gehofft, die anderen würden diese ominösen Rätsel lösen, würden sich auf die düsteren Zeiten einlassen, wie es in der Einführung geheißen hatte, würden den Weg nach draußen finden.
Ernüchtert stand sie jetzt mutterseelenallein da, eingesperrt, ohne den Funken einer Idee, wie es jetzt weitergehen sollte. Nachdem sich ihr Adrenalinspiegel wieder einigermaßen normalisiert hatte, ärgerte sie sich darüber, wie Lautenschlager sie behandelt hatte. Es wäre nicht nötig gewesen, ihnen stinkende Hauben überzustülpen und durch finstere Gänge zu schubsen. Sie nahm sich vor, sich nach diesem Desaster bei ihm zu beschweren – vorausgesetzt, sie würde es überhaupt hier raus schaffen.
Nach und nach fasste sie sich wieder. Es half ja nichts. Sie konnte nicht darauf warten, gerettet zu werden. Auch wenn sie sich niemals dafür entschieden hätte, hatte sie doch Geld dafür bezahlt.
Gut. Sie straffte die Schultern und sah sich noch einmal in dem Raum um. Ihre Augen hatten sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt.
Wagenrad, Hocker, Vorhang, der rote Knopf, den sie im Notfall drücken konnte. Und viel Holz. Außerdem musste irgendwo eine Kamera angebracht sein. Schließlich sollte die Gruppe Hilfe bekommen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie es nicht aus eigener Kraft schaffen würde, die Rätsel zu lösen – so wurde es ihnen mitgeteilt, bevor sie schließlich vom Henker abgeführt worden waren.
Sandra überlegte.
Irgendwie war sie ja hier rein gekommen.
Aber wie? Und wo?
Irgendwo war eine Tür oder Luke, die jetzt in dem schummrigen Licht nicht mehr zu sehen war.
Vorsichtig tastete sie die Bretterverkleidung ab. Es musste einen Mechanismus geben, mit Hilfe dessen sich eine Tür öffnen ließ.
Nichts. Es war einfach zu dunkel. Instinktiv griff sie in ihre Hosentasche, in der eigentlich ihr Handy stecken sollte. Sie griff ins Leere.
Richtig. Sie hatten ja alle ihre Wertsachen in ein Schließfach sperren müssen.
Blöde Idee.
Dann musste es so gehen.
Sandra fuhr mit ihren Fingerspitzen über das raue Holz.
Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter. Zwischen den einzelnen Brettern waren immer wieder breite Spalten.
Überall könnte eine Öffnung eingebaut sein.
Der Vorhang!
Bestimmt befand sich der Ausgang hinter dem Vorhang.
Sie durchquerte den Raum und spähte hinter den sackähnlichen Stoff.
„AHHH!“ Zu Tode erschrocken schnellte sie zurück, stolperte rückwärts und knallte an die Wand.
Was war das?
Es war riesig gewesen, schwarz und furchterregend.
Nur langsam beruhigte sie sich wieder, ging zurück zu dem Vorhang und schob ihn zur Seite.
Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie fassungslos auf einen riesigen, grausigen Kasten aus dunklem eisenbeschlagenem Holz und einer angsteinflößenden Maske. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie die unzähligen spitzen Dornen im Inneren des Kastens sah, Dornen, die einst die Körper unzähliger armer Teufel durchbohrt hatten.
Vor ihr stand die Eiserne Jungfrau.
„Hast du das gehört?“ Arno sah überrascht zu Amira, Dietmar und Franca hinüber. „Der Schrei kam von hier.“ Er sprang auf und ging zu der Wand, an der zahlreiche Folterinstrumente befestigt waren.
„Hallo!“, rief er und pochte an das Holz. „Ist da drüben jemand?“
Die Stimme jenseits der Wand war kaum zu verstehen.
„Sandra … eingesperrt … Hilfe!“, war alles, was durch das dicke Holz zu ihnen durchdrang.
Aufgeregt begann Arno, an den rostigen Gerätschaften zu rütteln.
„Sandra ist im Raum nebenan. Es gibt bestimmt einen Durchgang hinüber. Los, helft mir mal! Sitzt nicht nur gelangweilt rum. So kommen wir nie hier raus!“
„Das Problem ist, dass wir überhaupt hier drinsitzen“, maulte Dietmar. „Du hättest uns schon fragen können.“
Arno grinste überheblich.
„Du bist mal wieder ein Totalausfall. Manches ändert sich auch in 20 Jahren nicht. Dann ruht meine ganze Hoffnung auf unseren beiden Damen.“ Er schenkte Amira und Franca ein aufreizendes Lächeln. „Kommt! Eines von diesen Werkzeugen muss sich bewegen lassen. Der Morgenstern zum Beispiel.“
Dietmar warf Arno einen genervten Blick zu. „Bei dir hat sich in 20 Jahren auch nicht viel geändert. Du bist immer noch der schmierige Frauenversteher, was?“
„Etwas mehr Fingerspitzengefühl was die Frauenwelt angeht, würde dir auch nicht schaden. Hast du nicht vorhin erzählt, du bist nach wie vor Single?“
„Jetzt ist es aber gut mit euch beiden“, ging Amira dazwischen. „Wir haben keine Zeit für solche Spielchen. Die Stunde ist schneller um als es uns lieb ist. In 50 Minuten müssen wir hier raus sein.“
„Sonst was?“, ätzte Dietmar schlecht gelaunt. „Kommt er sonst wieder, der unheimliche Kapuzenträger? Legt er uns dann alle in Ketten? Ich finde diese ganze Aktion geschmacklos und unnötig.“
„Tja“, Arno ignorierte Dietmars Bemerkungen scheinbar ungerührt, „dann müssen wir wohl auf einen wichtigen Mitspieler verzichten. Aber ich bin überzeugt, dass wir unsere liebe Freundin auch ohne Didis Hilfe aus ihrem Gefängnis befreien können. Franca, wie sieht es mit dir aus? Hast du vielleicht eine Idee?“
Er trat an die Wand und begann, ruckartig am Griff einer mit Stacheln besetzten Eisenkugel zu ziehen. Es knirschte bedrohlich.
„Der Spieler mit der Sonnenbrille im Haar soll sich etwas zurücknehmen“, bellte die Stimme des Spielleiters aus dem versteckten Lautsprecher. „Nachdenken ist besser als rohe Gewalt.“ Trotz der düsteren Beleuchtung konnte Amira sehen, dass sich Arnos sonnengebräuntes Gesicht mit einer leichten Röte überzog. Sie konnte sich ein schadenfrohes Lachen nicht verbeißen.
„Schau doch mal, du Schlauberger“, meinte sie amüsiert und wies auf ein kleines, rundes Loch, das hinter der Kette des Morgensterns zum Vorschein kam. „Das Loch ist gerade groß genug für einen Finger.“
Sie steckte ihren Zeigefinger etwa zwei Zentimeter tief hinein und hoffte, dass etwas passierte.
„Ha, ha, ha. Das soll jetzt die Lösung sein? Ein kleiner, rotlackierter Fingernagel in einem Löchlein?“
Dietmar schüttelte verständnislos den Kopf und setzte sich auf einen kleinen Hocker, die einzige Sitzgelegenheit im ganzen Raum.
Amira schob auch andere Geräte zur Seite.
„Na, was haben wir denn da?“ Triumphierend zeigte sie auf drei weitere Löcher, die hinter Fußfesseln, Halsgeigen und ähnlichen grausigen Vorrichtungen aufgetaucht waren.
„Na los! Ich bin sicher, es können auch unlackierte Fingernägel den Mechanismus auslösen. Na los, Franca, du auch.“
Und tatsächlich.
Kaum steckte in jedem Loch ein Finger, öffnete sich eine Luke inmitten eines metallenen Rings.