Horror mal 11: Das Gruselkrimi Riesenpaket - W. A. Hary - E-Book

Horror mal 11: Das Gruselkrimi Riesenpaket E-Book

W. A. Hary

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Beschreibung

W.A.Hary ist der Großmeister der deutschen Gruselliteratur. Er erfand die Serie Mark Tate, die über Jahrzehnte immer wieder aufgelegt wurde. Dieser Band enthält einige serienunabhängige Romane und Erzählungen aus der Welt des Schreckens. (699) Dieser Band enthält folgende Geschichten von: W.A.Hary: Till Brennan ist besessen I W.A.Hary: Til Brennan ist besessen II W.A.Hary: Der Hexenpakt W.A.Hary: Die Teufelin W.A.Hary: In den Klauen des Dämons W.A.Hary: Die Warnung des Schicksals W.A.Hary: Psychogramm eines Mörders W.A.Hary: Lauter nette Nachbarn W.A.Hary: Hunger Alfred Bekker: Dämonen-Dschungel Lloyd Cooper: Der chinesische Vampir Es gibt die unmöglichsten Mordmotive. Kein Motiv scheint zu ausgefallen zu sein, wenn es darum geht, einen anderen Menschen zu Tode zu bringen. Außer vielleicht einem: Hunger! Zumal in einer so genannten Überflussgesellschaft. Aber es gibt diese Ausnahme trotzdem: Dieser Mordfall ging ein in die amerikanische Kriminalgeschichte als der besonders makabre Fall ›Rose Carmichael‹! Mit dem wohl ziemlich einmaligen Motiv mit Namen ›Hunger‹ eben. Und so kam es dazu...

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W.A.Hary, Alfred Bekker, Lloyd Cooper

Horror mal 11: Das Gruselkrimi Riesenpaket

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Inhaltsverzeichnis

Horror mal 11: Das Gruselkrimi Riesenpaket

Copyright

Till Brennan ist besessen I

Till Brennan ist besessen II

Der Hexenpakt

Die Teufelin

In den Klauen des Dämons

„Briefe aus dem Jenseits“

„Die Warnung des Schick­sals“

„Psychogramm des Mörders“

„Lauter nette Nachbarn“

„Hunger“

Dämonen-Dschungel

Der chinesische Vampir

Horror mal 11: Das Gruselkrimi Riesenpaket

W. A. Hary, Alfred Bekker, Lloyd Cooper

W.A.Hary ist der Großmeister der deutschen Gruselliteratur. Er erfand die Serie Mark Tate, die über Jahrzehnte immer wieder aufgelegt wurde. Dieser Band enthält einige serienunabhängige Romane und Erzählungen aus der Welt des Schreckens.

Dieser Band enthält folgende Geschichten von:

W.A.Hary: Till Brennan ist besessen I

W.A.Hary: Til Brennan ist besessen II

W.A.Hary: Der Hexenpakt

W.A.Hary: Die Teufelin

W.A.Hary: In den Klauen des Dämons

W.A.Hary: Die Warnung des Schicksals

W.A.Hary: Psychogramm eines Mörders

W.A.Hary: Lauter nette Nachbarn

W.A.Hary: Hunger

Alfred Bekker: Dämonen-Dschungel

Lloyd Cooper: Der chinesische Vampir

Es gibt die unmöglichsten Mordmotive. Kein Motiv scheint zu ausgefallen zu sein, wenn es darum geht, einen anderen Menschen zu Tode zu bringen. Außer vielleicht einem: Hunger! Zumal in einer so genannten Überflussgesellschaft.

Aber es gibt diese Ausnahme trotzdem: Dieser Mordfall ging ein in die amerikanische Kriminalgeschichte als der besonders makabre Fall ›Rose Carmichael‹! Mit dem wohl ziemlich einmaligen Motiv mit Namen ›Hunger‹ eben.

Und so kam es dazu...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Alles rund um Belletristik!

Till Brennan ist besessen I

W.A.Hary

Der Rufer verkündete den Anbruch der zwölften Stunde. Mitternacht im alten London. Die heisere Stimme des Mannes hallte an den düsteren Haus­fassaden wider. Die Absätze seiner halbhohen Stiefel knallten über das Kopfsteinpflaster, als er weiterging. Um die nächste Ecke verschwand er. Wieder erscholl sein Ruf, um den Menschen die Stunde anzusagen, die in jener Nacht keine Ruhe finden konnten.

Das Licht des Mondes wett­eiferte mit den trüben Gas­funzeln, um die engen Sträßchen und Gassen zu erhellen. Es reichte gerade, um die Ne­bel­schwaden zu erkennen, die wie Gespenster durch die dunklen Häuserschluchten schweb­ten.

Der Ausrufer erhob wieder einmal seine Stimme, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Von weiter vorn wir­belte eine dicke Nebelwolke auf ihn zu. Es war gespenstisch anzusehen, da es fast schien, als besäße der Nebel eigenes Leben. Der Ausrufer klappte seinen weit offenstehenden Mund wieder zu und runzelte die Stirn. Das Phänomen faszinierte ihn. Näher und näher kam die Nebelwolke, war schließlich nur noch vielleicht fünfzig Yards von ihm entfernt. Hufgetrappel und das Geräusch von eisenbeschlagenen Rädern, die über Pflaster hol­perten, drangen plötzlich wie durch Watte an die Ohren des Mannes.

Etwas kroch in ihm empor.

Es war Angst.

Seit vielen Jahren wanderte er des Nachts durch die Straßen des alten London. Er hatte sich an das diffuse Licht der Straßen­laternen gewöhnt, das selten nur ein wenig verstärkt wurde durch den Silberschein des Mondes, und dachte sich nichts mehr dabei. Es war das erste Mal, daß er Furcht verspürte. Da war etwas, was auf ihn zukam und das er nicht recht definieren konnte.

Der Nebel wallte. Unver­mittelt schälten sich die Köpfe zweier pechschwarzer Rösser aus dem kalten Dunst. Ihre Augen schienen von innen heraus zu glühen, und sie fi­xierten den alten Ausrufer, der sich zitternd gegen eine graue Hausfassade drückte. Er spürte in sich den Wunsch zur schnellen Flucht, war aber zu keiner Regung fähig.

Das Geräusch von Hufgetrappel wurde immer deutlicher. Die beiden Rösser schoben sich vollends aus der Nebelwolke. Erst da gewahrte der alte Mann, daß die Tiere angeschirrt waren. Eine Deichsel befand sich zwischen ihren schwarz glänzenden Leibern. Die Nüstern blähten sich, stießen hellen Dunst aus. Ihre mächtigen Muskeln spielten. Die Pferde hatten kein Gramm Fett zuviel. Die Muskeln waren stark ausge­prägt und hatten etwas Bedrohliches.

Die Satansrösser zogen einen dunklen Schatten hinter sich her.

Der alte Mann blinzelte verstört. Er brauchte eine Weile, bis er den schwarzen Wagen erkannte. Die Farbe war so dun­kel, daß sie das wenige Licht fast völlig absorbierte. Auf dem Kutschbock kauerte eine buck­lige Gestalt, deren Gesicht in der Düsterkeit nicht erkennbar war.

Die Kutsche polterte über das holperige Kopfsteinpflaster. Die Rösser schnaubten. Ihre Hufe stampften kraftvoll über den Boden. Fast hatten sie den Ausrufer erreicht.

Der alte Mann konnte keine Sekunde den Blick davon lösen. Er war wie gelähmt. Die Laterne, die er bei sich trug, war seiner Hand entglitten und erloschen. Er merkte es nicht, starrte auf die schwarze Kutsche. Es war ihm, als müßte der Teufel persönlich darin sitzen.

Da wandte die Gestalt auf dem Kutschbock den Kopf. Sie hatte Augen wie Mottenkugeln - so groß, so rund, so glatt, so weiß. Pupillen fehlten gänzlich. Leises Kichern klang auf. Der große Umhang, in den sich der Bucklige gehüllt hatte, verrutsch­te, ließ einen Teil der Schultern sichtbar werden. Der Krüppel hatte keinen erkennbaren Hals. Der Kopf wirkte wie eine dicke Ausbuchtung zwischen den Schultern. Der Schädel war kahl bis auf vereinzelte Büschel drah­tiger Haare. Graue, runzelige Hautlappen bedeckten ihn. Anstelle der Nase befanden sich zwei Atemlöcher, aus denen es leise pfiff. Der Mund war breit, bis zu den Schweinsohren, und die Lippen waren wulstig. Abermals Kichern, das dem Beobachter der gespenstischen Geschehnisse durch und durch ging.

Das unheimliche Gefährt schob sich vorbei und entzog den Kutscher dem Blickfeld des alten Mannes. Er konnte in das nacht­schwarze Innere sehen.

Wie ein Schlag traf ihn der Anblick. Im hinteren Drittel des Wagens schienen zwei rotglü­hende Augen zu schweben, die ihn dämonisch anstarrten.

Im nächsten Augenblick hatte das Wagengespann den Ausrufer passiert und entfernte sich. Nebel stob hinterher und hüllte es ein. Sekunden später war der Spuk vorbei.

Der Ausrufer erwachte wie aus einem Alptraum. Mit irrem Blick sah er sich um.

Alles war so wie immer.

So wie immer?

Nein, etwas Dämonisches lag in der Luft, und der alte Mann ahnte, daß sich in dieser Nacht noch etwas Entsetzliches er­eignen würde.

Er nahm seine Laterne auf und entzündete sie neu. Steifbeinig ging er weiter. Er brauchte fünf Minuten, bis er das Erlebte soweit überwunden hatte, daß er wieder seinen Spruch heruntersagen konnte:

»Hört ihr Leute, laßt euch sagen, daß die Uhr hat zwölf ge­schlagen!«

Die eigene Stimme beruhigte ihn, und er merkte gar nicht, daß es inzwischen längst weit nach zwölf war.

*

Till Brennan fuhr mit einem leisen Schrei in seinem Bett auf. Verständnislos sah er sich um. Er erwartete dunkle Haus­fassaden zu sehen und den nächt­lichen Ruf des Stadt­wächters zu hören. Stattdessen fiel sein Blick auf die große Reproduktion eines Dali-Gemäldes, das an der Wand hing. Es war das erste Mal, daß bei dem Anblick des surrealis­tischen Bildes ein kalter Schauer über Till Brennans Rücken rieselte.

Sein Blick glitt weiter. Links von seinem Bett war die Ecke mit dem weißen Schleif­lack­schreibtisch und dem Bücherbord darüber. Das Blatt, das in die Schreib­maschine ein­gespannt war, hatte in den letz­ten vierzehn Tagen eine leicht gelbliche Färbung angenommen. Neben dem Schreibtisch war das hohe, schmale Fenster. Das Rollo war ganz heruntergezogen, aber es wies einige Löcher auf, die genug Tageslicht hereinließen. In der Ecke neben dem Fenster lag ein umgestürzter Polsterstuhl. Kleidungsstücke lagen am Boden verstreut. Die sich anschließende Wand war, abgesehen von dem surrealistischen Bild, leer.

Till Brennan warf die Decke beiseite und setzte sich auf den Bettrand. Er schüttelte sich. Es war kühl, und seine Sachen waren total durchgeschwitzt. Er sah an sich herab. Seine Füße steckten in Wollsocken, und er hatte ein schmutziges, aufge­knöpftes Oberhemd an.

Till Brennan barg den Kopf in den Händen. Nun wußte er, warum es in seinem Schädel summte wie in einem Bienenhaus. Er hatte wahr­scheinlich wieder die halbe Nacht gezecht.

Seine Rechte fuhr durch die wirren schwarzen Haare, und er verzog das Gesicht dabei. Die Haarwurzeln schmerzten.

Stöhnend erhob sich Brennan und wankte zur Tür. Sie war nur angelehnt. Er gelangte in einen winzigen Flur. Links war ein Fenster, geradeaus ging es zur Toilette. Daneben war die Tür zur Miniaturküche. Rechts befand sich der Eingang. Auch diese Tür war nur angelehnt.

Till Brennan schüttelte den Kopf über seinen bodenlosen Leichtsinn und drückte die Tür ins Schloß. Dann wankte er in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser war eiskalt, aber es tat gut, es über den schmerzenden Schädel laufen zu lassen.

Nach und nach kamen die Erinnerungen zurück.

Wieder einmal hatte Till Brennan versucht, seine be­schissene Lage und die daraus resultierenden Depressionen in Alkohol zu ertränken. Er war von Beruf Werbefachmann, aber seine ewigen Weibergeschichten hatten ihm vor einem Monat sei­nen Job gekostet. Er hatte den Fehler gemacht, die alternde Ehefrau seines jetzt ehemaligen Bosses in den zweiten Frühling zu begleiten. Das war ins Auge gegangen. Hinzu kam noch die Tatsache, daß Till Brennans Qualitäten als Werbefachmann eigentlich recht bescheiden waren, was vielleicht in erster Linie an seinem ungeheuer aus­geprägten Hang zum Nichtstun lag. Jedenfalls war es nicht ge­rade so, daß sich die Werbebüros um seine geschätzte Mitarbeit rissen.

Eigentlich hatte Brennan ja das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden wollen. Wie fast jeder amerikanische Werbefachmann hatte er schon als kleines Kind davon geträumt, eines Tages mal ein Buch zu schreiben. Jetzt, da er jede Menge Zeit hatte, war endlich Gelegenheit dazu. Er hatte sich an die Schreibmaschine gesetzt und begonnen. Nachdem allerdings der Papierkorb mit zerknüllten Blättern überge­quollen war, hatte er es vor vierzehn Tagen doch wieder aufgegeben. Ganze neun Worte hatte er produziert. Sie standen auf dem vergilbten Blatt, das noch in der Schreibmaschine steckte, und setzten sich zu­sammen aus dem Titel »Schattenseite des Lebens« und dem Untertitel »Von einem, der es wissen muß«.

Die letzten beiden Wochen waren nicht mehr so deutlich in Brennans Bewußtsein. Der tägli­che Alkoholkonsum schien sein Gehirn in einen spröden Schwamm verwandelt zu haben, der nicht mehr viel aufnehmen konnte.

Er drehte den Wasserhahn zu und griff nach dem Handtuch. Mit verzerrtem Gesicht rubbelte er seinen Kopf trocken. Dann schaute er in den Spiegel, der über dem Spülbecken hing. Ein Dreißigjähriger schaute ihm ent­gegen, der im Moment aussah, als ginge er bereits auf die Fünfzig zu. Die Wangen waren hohl, und man sah ihm an, daß er sich seit drei Tagen nicht mehr rasiert hatte. Dunkle Ringe lagen unter den Augen.

Till Brennan ballte die Hände zu Fäusten. Wut packte ihn. Er haßte sich, weil es ihm nicht ge­lang, die eigene Trägheit und Bequemlichkeit zu überwinden.

Müde schlurfte er ins Schlafzimmer zurück und nahm seine Hose vom Boden auf. Seine tastenden Hände fanden die Geldbörse. Ihr Inhalt war de­primierend: zwei Cents. Brennan warf alles wütend in eine Ecke.

Der gegenwärtige Zustand mußte sich ändern. Er durfte keinen Tropfen Alkohol mehr trinken, wollte er nicht in der Gosse enden. Daß er kein Geld mehr hatte, konnte ihm dabei nur behilflich sein.

Er trat zu dem hohen Fenster und ließ das Rollo hochschnellen. Die Sonne über der Skyline New Yorks blendete ihn, obwohl ihr Licht durch die derzeit permanent gegenwärtige Smogglocke stark gedämpft wurde. Na, da kam es ihm nicht mehr so schlimm vor, daß man den Twin-Tower nicht mehr se­hen konnte: Bei dem Smog wäre er sowieso unsichtbar geblieben.

Es dauerte Sekunden, bis sich seine Augen an das schmerzende Licht gewöhnt hatten.

Seine kleine Wohnung befand sich im zehnten Stock eines bau­fällig erscheinenden Gebäudes. Tief unter ihm war ein stin­kender Hinterhof, in dem kreischende Kinder spielten. Der Lärm drang nur gedämpft zu Till Brennan herauf. Er schob das Fenster hoch und lehnte sich hinaus. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß die Luft im Innern seines Schlafzimmers zum Schneiden gewesen war. Die staub- und abgasge­schwängerte Atmosphäre New Yorks erschien dagegen frisch wie eine Meeresbrise.

Brennans Blick schweifte über die Nachbargebäude, ohne sie richtig wahrzunehmen. Er haßte diese Stadt, hatte aber nicht den Mumm, sie zu verlassen.

Die Gegend war nicht die feinste von New York. Nicht einmal den Sprung von hier schaffte Till Brennan.

»Du bist eine verkorkste Existenz!« murmelte er vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, daß er sich selbst anklagte. Für gewöhnlich folgte einer solchen Anklage eine Stunde der Selbstbemitleidung, während der er jedem für seinen gegen­wärtigen Zustand die Schuld gab, außer sich selbst.

Diesmal war es anders.

Schwer ließ sich Till Brennan auf sein Bett nieder und barg sein Gesicht in den Händen. Der Traum kehrte in sein Bewußtsein zurück. In den letzten Minuten hatte er ihn verdrängt.

War es wirklich nur ein Traum gewesen? Alles war so erschreckend real erschienen. Er sah deutlich vor sich das nächtli­che London. Welches Jahr schrieb man? Er hatte keine Ahnung. Da war der Ausrufer. Mitternacht. Die Satansrösser und die pechschwarze Kutsche. Gespenstisch, wie in einem Alptraum. Vergeblich zermar­terte sich Till Brennan den Kopf.

Was hatte es mit diesem Traum auf sich?

War es eine Vision gewesen?

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Nein, er glaubte nicht an solchen okkulten Mummenschanz. Wahrscheinlich war ihm nur die alkoholgetrübte Phantasie durchgegangen.

Die Türglocke schlug an. Till Brennan zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag.

Besuch?

Stirnrunzelnd erhob er sich. Er zögerte, zur Tür zu gehen, aber die Neugierde in ihm siegte.

Ist es vielleicht die Frau meines ehemaligen Chefs? Nun, das wäre gar nicht mal so schlecht. Sie könnte mir ein wenig unter die Arme greifen.

Nein, sie konnte es nicht sein. Sie wußte nicht, wo er wohnte. Außerdem würde ihr Mann auf der Hut sein.

Aber vielleicht war es eine seiner anderen Liebschaften?

Auch diesen Gedanken verwarf Till wieder. Im Moment hatte er mit keiner Kontakt. Er hatte sich in den letzten vier Wochen ganz in sein Schneckenhaus zurückgezogen.

Till Brennan überquerte den Flur. Seine Hand tastete nach dem Knauf der Eingangstür.

Bestimmt stand der Vermieter draußen, um ihn nach der längst fälligen Miete zu fragen. In diesem Falle wäre es wohl besser, wenn Till sich gar nicht muckste.

Bevor dieser Gedanke sich in seinem Kopf festsetzen konnte, hatte Till Brennan auch schon geöffnet.

Vor ihm stand weder der Vermieter noch eine seiner Liebschaften. Es war ein junger Mann in Uniform.

Till Brennan brauchte eine Weile, bis er in dem Burschen einen Telegrammboten erkannte. Mechanisch nahm er das Telegramm entgegen. Der Uniformierte hielt die Hand auf. Wahrscheinlich, um das Trinkgeld in Empfang zu nehmen, aber Brennan ignorierte es und wollte die Tür schließen.

Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der junge Mann stellte seinen Fuß dazwischen und stieß die Tür wieder auf. Im nächsten Augenblick war Brennan sein Telegramm los.

»Sind Sie auch wirklich Till Brennan?« erkundigte sich der Junge mißtrauisch.

»Wer sonst?« entgegnete Brennan barsch und fischte nach dem Umschlag.

Der Junge trat einen Schritt zurück. »Sie müssen mein Mißtrauen entschuldigen, aber Telegramme dürfen dem Empfänger nur persönlich über­reicht werden.«

Es war klar, daß er Brennan schikanieren wollte, weil er wegen des ständig defekten Fahrstuhls zehn Stockwerke zu Fuß hatte zurücklegen müssen und dafür nicht mal ein schä­biges Trinkgeld erhalten sollte.

Till Brennan platzte der Kragen.

»Wenn du dir eine anständige Tracht Prügel einhandeln willst, mein Freund, dann bist du bei mir an der richtigen Adresse!« zischelte er.

Der Postangestellte betrachte­te ihn von oben bis unten. Obwohl Brennans hochge­wachsene Gestalt zur Zeit einen etwas geknickten Eindruck machte, verrieten die großen Hände und der breite Brustkorb dem Telegrammboten doch, daß er hier den kürzeren ziehen würde. Er kam schleunigst sei­ner Aufgabe nach und verließ fluchtartig die Szene.

Till Brennan brummelte etwas in den Stoppelbart und drückte die Tür hinter sich zu. Er setzte sich an den speckigen Küchentisch, brach das Kuvert auf und fragte sich verzweifelt, wer wohl ausgerechnet ihm ein Telegramm schickte: Sowieso eher ungewöhnlich in der heu­tigen Zeit der beinahe perfekten Kommunikationsmöglichkeiten. Aber wenn man sich wie Till weder Telefon noch Handy - ge­schweige denn einen ausge­wachsenen PC mit Internetanschluß - leisten konnte...

Als er schließlich den Text gelesen hatte, sprang er ruckartig auf die Beine. Die geklebten Wörter tanzten vor seinen Augen auf und ab. Eine Nachricht aus London. Aus London?

Eigenartiger Zufall, da er ausgerechnet diesmal davon ge­träumt hatte. Aber das Telegramm war aus dem London der Neuzeit. Wieder überflog er den Text:

ONKEL PLUMB GESTORBEN - STOP - KOMME SOFORT HIERHER - STOP - SÄMTLICHE VERWANDTE MÜSSEN KOMMEN - STOP - TESTAMENTSERÖFFNUNG IN DREI TAGEN - STOP - DA DU KEIN GELD HAST, WIE IMMER, FOLGT FLUGTICKET PER POST.

Das war alles.

Onkel Plumb? Till Brennan zermarterte sich das Gehirn. Er konnte sich nicht recht konzentrieren. Immer wieder mußte er daran denken, daß es eine Testamentseröffnung geben und er anwesend sein sollte. Das konnte nur bedeuten, daß er et­was erbte.

»Verdammt!« entfuhr es Till, und er mußte sich wieder setzen. »Alle Verwandten müssen anwesend sein. Wieviel bleibt da eigentlich noch für mich übrig? Nun, kommt ganz darauf an, wieviel Onkel Plumb hinterlassen hat...«

Da fiel ihm wieder ein, wer jener mysteriöse Onkel gewesenwar. Brennans Vorfahren waren vor etwa zwei­hundert Jahren aus London in die Staaten gekommen. Es wurde gemunkelt, die beiden Vorfahren - ein gewisser Poul Brennan mit seiner Frau Eliza - hätten flucht­artig England verlassen.

Eine seltsame Geschichte rankte sich um die damaligen Geschehnisse. Till Brennan hatte sie nicht mehr im Gedächtnis. Als realistisch denkender Mensch - wie er sich selbst ein­schätzte - hatte er für Familienmärchen keinen Sinn.

Ihm schwindelte. Er dachte an seinen Traum, an das alte London. Was war vor zwei­hundert Jahren gewesen?

Plötzlich hatte er Angst, ohne sich diese so recht erklären zu können. Irgendeine innere Stimme warnte ihn davor, nach London zu fliegen. Aber er igno­rierte die Warnungen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Tatsache zurück, daß er von Onkel Plumb als Erbe be­dacht worden war.

Till Brennan erinnerte sich wieder an den Vornamen des Verstorbenen. Sein Vater war zu Lebzeiten einmal in England ge­wesen - geschäftlich - und hatte Kontakt mit den Verwandten gesucht. Irgendwie war dies sehr enttäuschend für ihn verlaufen. Auf jeden Fall hatte er oft davon erzählt und auch einige Namen genannt. Natürlich war Ron Plumb nicht wirklich ein Onkel von Till Brennan, aber er war in­nerhalb von Brennans Familie immer so genannt worden.

Es tauchte die Frage auf, wer wohl das Telegramm abgeschickt hatte.

Till Brennan überlegte. Seine Eltern waren vor fast zehn Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Kurze Zeit war er bei seiner Tante gewesen. Constance Backing, eine Schwester seines Vaters, war eine düstere Frau gewesen. Till Brennan hatte sich bei ihr nicht wohlgefühlt.

Richtig, plötzlich wußte er, von wem nur das Telegramm stammen konnte: von seiner Kusine.

Er erinnerte sich deutlich an Kathryn Backing. Ein etwas skurriles Mädchen, das ständig zu träumen schien. Es mußte et­wa in Tills Alter sein. Till Brennan hatte einige derbe Späße mit ihr angestellt. Das etwas mit­leidige Lächeln in dem blassen, fast durchsichtig wirkenden Gesicht, mit dem Kathryn seine Untaten immer quittierte, hatte ihn stets zur Weißglut gebracht. Eines Tages war Besuch aus London gekommen. Es waren mehrere Personen gewesen. Till hatte sie aber nie kennengelernt. Aus unerklärlichen Gründen hatte ihn seine Tante eingeschlossen. Der Besuch war nur etwa zwei Stunden geblieben. Eine Woche später war Constance Backing gestor­ben - unter mysteriösen Um­ständen, wie es inoffiziell hieß. In den letzten Tagen ihres Lebens war sie zusehends verfallen.

Zur Beerdigung waren wieder Besucher aus London eingetroffen. Diesmal hatte sie niemand Till Brennan vorent­halten. Nebulös konnte er sich an die Gesichter erinnern. Die Namen waren ihm irgendwie entfallen. Aber er machte sich weiter keine Gedanken mehr über sie. Auf jeden Fall hatten sie Kathryn Backing mit sich nach England genommen und ihn allein zurückgelassen.

Er war einundzwanzig ge­wesen und immer noch auf der Universität. Unverblümt hatten ihm die lieben Verwandten aus London gesagt, daß er nicht mit ihrer Hilfe rechnen konnte. Jeder Cent für ihn wäre wohl ohnehin reinste Verschwendung, da er gar nicht das Zeug hätte, sein Studium der Anglistik abzuschließen. Aber immerhin habe er ja seinen Hochschul­abschluß, mit dem er sich jeder­zeit einen Job suchen könnte. Damit hatte man sich verab­schiedet.

Noch immer wallte in Till Brennan heißer Zorn auf, wenn er daran dachte. Er haßte die ganze Verwandtschaft. Hier, in New York, hatte er niemanden mehr. Es war das erste Mal ge­wesen, daß er versackt war. Nur mühsam hatte er sich aus dem Sumpf befreit. Sein ehemaliger Chef, der großes Mitleid mit ihm gehabt hatte, war ihm dabei be­hilflich gewesen. Till Brennan war nichts anderes übrigge­blieben, als die Hilfe anzunehmen, zumal er rechtlich an seine Verwandten überhaupt keine Ansprüche stellen konnte. Schließlich war er zu diesem Zeitpunkt längst volljährig gewesen.

Ausgerechnet jetzt, wo Brennan wieder bis zum Hals in der Tinte saß, weil er seinen Mäzen hintergangen hatte, der ihn daraufhin wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen hatte, mußte dieser ominöse Onkel Plumb sterben und ihn als Erben benennen.

Till Brennan wußte nicht, ob das Glück oder Unglück war. Aber er war ein Mensch, der stets den leichteren Weg ging, wenn es eine Alternative gab. Deshalb ignorierte er auch wei­terhin fleißig die innere Stimme, die ihn warnte, nach London zu fliegen.

Das Warten wurde fast uner­träglich für ihn, und er saß wie auf glühenden Kohlen. Aber an diesem Tag brachte ihm die Post noch nicht das begehrte Ticket für den Englandflug.

Diese Tatsache war nicht der einzige Grund, weshalb die kom­mende Nacht für Till Brennan besonders unruhig wurde.

*

Der Zweispänner fuhr nicht mehr weit. Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Der einzige Insasse starrte mit brennenden Augen zu dem herrschaftlichen Gebäude hinüber. Das Straßenbild hatte sich etwas gewandelt. Die vormals enge Fahrbahn hatte sich erweitert. Das eine Gebäude stand etwas zurückgesetzt und schloß nicht an die Nachbarhäuser an. Rechts und links gab es breite Einfahrten, die mit glasierten Steinen gepflastert waren. Unzählige Pferdehufe und eisen­beschlagene Räder hatten die Glasur im Laufe der Jahre zerkratzt. Das Haus bestand aus roten Ziegelsteinen, eine Seltenheit zu jener Zeit. Die schmalen, hohen Fenster lagen hinter schmiedeeisernen, kunst­voll verzierten Gittern. Die beiden Eisentore, die rechts und links die Einfahrten vor dem Zutritt Unbefugter schützten, fügten sich harmonisch in das Gesamtbild.

Der Fremde in der Kutsche betrachtete alles gleichgültig. Ihm imponierte das Anwesen nicht.

Noch zögerte er mit dem Aussteigen. Irgendein unbe­stimmbares Gefühl hinderte ihn daran.

Der Bucklige kletterte vom Kutschbock, wagte aber nicht, die Tür zu öffnen. »Wollt Ihr aussteigen, Herr?« fragte er unterwürfig.

»Ins Dunkel mit dir!« herrsch­te ihn der Fremde an. »Soll dein Anblick die Leute erschrecken?«

»Nein, Sir, ich krieche unter die Kutsche.«

Die Rappen schnaubten und scharrten mit den Vorderhufen. Die Tiere waren aus irgendeinem Grund nervös. Der Fremde horchte auf.

Spürten die dämonischen Rösser dasselbe wie er?

»Warte, Sanus!« rief er gedämpft.

»Herr?« kam es von draußen.

»Irgend etwas stimmt hier nicht. Sieh nach dem Rechten!«

»Jawohl, Sir, obwohl...«

»Obwohl was?«

»Herr, mit Verlaub, aber nie­mand weiß von Ihrem Kommen außer...«

»Schweig! Nenne keine Namen!«

Die Nervosität des Fremden wuchs. Er war sich seiner unge­heuren Macht bewußt, wollte aber kein unnötiges Risiko eingehen.

Seine glühenden Augen rich­teten sich auf das Haus. Alles war dort ruhig.

Erweckte das etwa sein Mißtrauen?

Nein, da bewegte sich etwas. Ein dichter Vorhang, der es verhinderte, daß Licht auf die Straße fiel, war von einer kleinen bleichen Hand für eine Sekunde beiseite geschoben worden.

Zufall? Erwarteten sie ihn wirklich nicht?

»Komm herein, Sanus!« befahl der Fremde.

Der Bucklige öffnete die halbhohe Tür. Er kam förmlich hereingekrochen. Man sah ihm an, welch große Furcht er vor seinem Herrn hatte. Er zitterte wie im kältesten Winter. Wenn sein Herr nervös war, mußte er mit allem rechnen.

Der Fremde stieß den Buckligen mit dem Fuß an. Es war ein derber Tritt, der den ge­drungenen Körper gegen die Sitzbank schleuderte. Unterdrücktes Stöhnen.

»Setz dich auf, Sanus, damit ich dich sehen kann, wenn ich mit dir rede!«

Sanus, der Krüppel, gehorchte. Keuchend zog er sich an der gepolsterten Sitzbank hoch und kauerte sich in eine Ecke. Seine pupillenlosen Augen rollten.

Der Fremde verzog ange­widert das scharfgeschnittene Gesicht. In seinen dämonischen Augen loderte es. Die Lippen glichen schmalen, blutleeren Strichen. Die Haut wirkte wie straffgespanntes weißes Papier. Augenbrauen besaß er nicht. Ein Zoll über den tief in ihren Höhlen liegenden Augen be­gannen die Haare in einer Spitze, die auf die Nasenwurzel zeigte. Die dünnen, schwarz glän­zenden, glatt zurückgekämmten Haare umschlossen den runden, wie ein mit der Spitze nach unten gekehrter Tropfen erscheinenden Schädel wie eine enge Kappe. Die kleinen Ohrläppchen, die an die flachen Muscheln von Austern erinnerten, waren voll­kommen angewachsen. Der Hals des Mannes lag hinter dem ho­hen Kragen des oben zugeknöpf­ten schwarzen Umhangs verborgen. Auch der unter dem Umhang erkennbare Anzug war ganz in Schwarz gehalten. Die feingliedrigen, langen Hände, die aus den engen Ärmeln lugten, hatten ein wächsernes Aussehen.

Die schmalen Nasenflügel des unheimlichen Mannes blähten sich, als er abfällig sagte:

»Du bist ein Brechmittel, Sanus. Vielleicht hätte ich dich doch besser töten und den Schlangen zum Fraß vorwerfen sollen.«

Der Bucklige richtete sich steil auf. Die Augen, die an weiße Mottenkugeln erinnerten, hörten auf zu rollen.

Der Mann ließ ein verächtli­ches Lachen hören.

»Nur keine falsche Freude, Sanus, ich werde dich am Leben lassen. Stets sollst du an meiner Seite bleiben. Meine Gegenwart und dein Zustand sollen dich stets daran erinnern, wie un­terlegen du mir bist.«

Der Unheimliche warf wieder einen Blick zu dem Anwesen hinüber. Die schwarzen Rösser stampften wild mit den Hufen.

»Still!« zischelte der Unheimliche leise. Die Pferde schienen es gehört zu haben. Sie erstarrten augenblicklich wie zur Salzsäule. Das ganze Wagengespann verschmolz mit den Schatten der Nacht, zumal eine nahe Laterne erlosch, als wäre sie von einem unsichtbaren Geist ausgeblasen worden.

»Ich konnte mich bisher immer auf meine Sinne verlassen«, sagte der unheimli­che Fremde. »Das warnende Gefühl ist nur ganz schwach vor­handen, aber es reicht, mein Mißtrauen zu wecken. Sanus, er­zähle mir alles noch einmal!«

Der Bucklige wand sich unter dem stechenden Blick seines Herrn. »Sie - Sie haben seit Wochen Kontakt zu Antal Plumb«, begann er stockend. »Mehrmals suchten Sie ihn auf und...«

»Das weiß ich selbst!« fuhr der Fremde dazwischen. »Das will ich nicht von dir hören.«

Ein eigenartiges Quaken kam aus dem breiten Mund des Verunstalteten. Es zeugte von ungeheurer Furcht.

»Da Antal Plumb nicht mehr wie verabredet zu Ihnen kam, suchte ich ihn in Ihrem Auftrag auf. Es war soweit. Er lag schwerkrank im Bett und wünschte Sie zu sprechen. Das war letzte Nacht. Wie er sagte, hatte er nur noch einen Tag zu leben. Ich - ich glaube, wir müssen uns beeilen, wollen wir nicht zu spät kommen.«

»Überlaß das ruhig mir! Weiter! Hat dich einer aus der Familie gesehen?«

»N-nein«, kam die zögernde Antwort. »Mein Besuch verlief unbemerkt. Niemand kann außer Plumb wissen, daß Sie heute nacht kommen.«

»Das mag stimmen«, sagte der Unheimliche grübelnd. »Ich bin trotzdem nicht ganz sicher. Nun, auch wenn man von meinem Kommen weiß - was kann man gegen mich unter­nehmen?«

Seine Augen fixierten den Buckligen, der in sich zusammenkroch.

»Sanus, jetzt weiß ich, von wem mir Gefahr droht.« Er lach­te schaurig. »Sanus, du treibst ein falsches Spiel.« Wieder lach­te er. Das Gelächter drang in je­den Winkel der Kutsche und erfüllte den Buckligen mit Grauen. »Also gut, ich nehme die Herausforderung an. Erst aber werde ich dich bestrafen.«

»N-nein, Herr!« ächzte der Verunstaltete. »Nein, Sie irren sich, es droht keine Gefahr!«

»Ich irre mich nie!«

Aus den glühenden Augen des Unheimlichen löste sich ein bleiches Licht, das sich zeitlu­penhaft ausbreitete und auf den Buckligen zustrebte. Der Krüppel versuchte, durch die Tür zu entfliehen, aber eine un­sichtbare Macht hielt ihn auf. Dann erfüllte das geisterhafte Leuchten die Kutsche. Es schien sich förmlich in den verunstalte­ten Körper des Buckligen hineinzufressen. Er gab schreck­liche Laute von sich - Laute, die nicht bis nach draußen drangen, weil das eine unsichtbare, ma­gische Mauer verhinderte.

Wispernde Stimmen klangen auf. Das Innere der Kutsche schien sich zu blähen, immer größer zu werden. Die vier Wände verschwanden in uner­reichbarer Ferne. Das Geisterlicht reichte nur wenige Yards weit. Jenseits der Lichtgrenze bewegten sich düste­re Schatten, machten seltsame Verrenkungen.

Wieder schrie der Bucklige. Blindlings rannte er los, erreich­te die Lichtschwelle, überschritt sie. Die schauerlichen Schreie des Unglücklichen hatten nichts Menschliches mehr. Die diffusen Schatten stürzten sich wie Habichte auf ihn.

»Bleib bis zu meiner Rückkehr!« erscholl es furchterregend aus dem schmal­lippigen, blutleeren Mund des Magiers. »Hier kannst du mir nicht schaden. Erleide die Qualen der Hölle, bis ich dich wieder brauche!«

Plötzlich waren die Kutschenwände wieder da. Alles erschien unverändert, aber der Bucklige war spurlos verschwunden.

Zufrieden sah sich der Magier um. Noch immer war dieses warnende Gefühl in ihm, aber er maß dem keine große Bedeutung mehr bei. Er hatte Sanus in das Zwischenreich der verlorenen Seelen verbannt und warf sich in die Brust. Seine Macht war ungeheuer.

Was konnten armselige Menschen gegen ihn ausrichten? Sanus lag gewissermaßen auf Eis, niemand konnte ihm mehr etwas anhaben, denn er war überzeugt, daß nur von dem Buckligen eine gewisse Gefahr ausgegangen war, wenn er auch nicht wußte, wie diese Gefahr letztlich ausgesehen hatte.

Er mußte nun unbedingt zu Antal Plumb. Eine schwierige Aufgabe wartete auf ihn. Seine Macht sollte sich noch in dieser Nacht vergrößern. Dann gab es kaum noch was, was sich ihm widersetzen konnte.

*

Als Till Brennan erwachte, war es kurz nach Mitternacht. Er lag schweißgebadet in seinem Bett. Sein Schädel drohte zu zerbersten. Vergeblich versuchte er, sich zu erheben, den Alptraum zu verbannen. Aber es schien, als befände er sich in einem starken Sog, der ihn un­erbittlich mit sich riß und nicht mehr freigab. Sein Geist verließ wieder die Realität des schmuddeligen Zimmers irgendwo in New York und überbrückte die Zeit, kehrte zweihundert Jahre in die Vergangenheit des fernen Londons zurück.

Tills Körper zuckte krampf­artig, bäumte sich noch einmal gegen den seltsamen Zwang auf, den der Traum auf das Ich Brennans ausübte, lag aber auf einmal wieder still, wie tot.

Brennans Augenlider waren nur halb geschlossen. Seine Augäpfel rollten hin und her, als verfolgten sie Dinge, die für ihn unfaßbar waren.

*

Es war eine äußerst nervöse Versammlung. Ständig irrten die Blicke der fünf Menschen um­her, als befürchteten sie die Umwandlung der spürbaren Bedrohung in grausige Realität. Aus dem Nebenraum drang ge­dämpftes Stöhnen. Jemand erlitt große Pein.

Eine der fünf Personen be­wegte sich aus dem fest ge­schlossenen Kreis. Es war eine Frau.

»Ich gehe zu ihm. Er braucht meinen Beistand«, sagte sie tonlos.

»Bleib hier!« bat ein Mann mit flehender Stimme. »Bleib hier, Eliza, wir müssen ihn jetzt allein lassen. Jeden Augenblick kann der Magier zu ihm kommen.«

»Ich muß!« beharrte sie und ging zur Tür.

»Bitte, Eliza, dein Vater wird es verstehen. Er weiß, worum es geht. Der Magier darf dich nicht bei ihm finden. Außerdem müssen wir ständig zusammenbleiben. Denke an das Pentagramm!«

Eliza Brennan blickte zu Boden. Die Möbel waren alle beiseite geräumt. Auf den rauhen Dielen, die normalerweise von kostbaren Teppichen bedeckt wurden, zeigten sich Kreidestriche. Ein gemalter Drudenfuß, der aus zwei gleich­schenkligen, exakt ineinanderge­schobenen Dreiecken bestand. Das magische Symbol, das an einen Stern erinnerte, besaß so­mit sechs Spitzen. An fünf Spitzen lagen geweihte Medaillons, die mit jeweils einem großen Rosenkranz mit dem eichenen Kreuz im Zentrum des Pentagramms verbunden waren. Vier Rosenkränze be­rührten jeweils ein Ende des Kreuzes. Der fünfte, direkt gegenüber der Tür, lag um den Kopf der ehernen Figur, die auf das Kreuz genagelt war. Die Füße der Figur deuteten zur Tür - wie der sechste Zacken des Pentagramms. Dieser Zacken war leer.

An jener Stelle war der ma­gische Wirkungskreis offen. An jeder anderen Ecke des ma­gischen Sterns hatte sich einer der fünf Anwesenden aufgestellt, beide Füße auf dem Kreidestrich, mit dem Gesicht zur Mitte, die Spitze zwischen den Beinen. Nur Eliza Brennan hatte ihren Platz verlassen. Sie wandte sich ab und öffnete die Tür.

Poul Brennan, ihr Mann, wollte ihr folgen, aber er ließ es bleiben, weil nicht auch er noch seinen Platz verlassen wollte. Zuviel hing davon ab, daß ihr Plan gelang.

Er erinnerte sich deutlich an den ersten Besuch des Magiers. Pouls Schwiegervater Antal Plumb war einem okkultistischen Zirkel beigetreten. Das war zu dieser Zeit in London unter den führenden Geschäftsleuten sehr modern gewesen. In einer Art Nostalgiewelle wandten sich viele Menschen dem Okkulten zu, und viele alte Gewohnheiten wurden wieder aufgenommen. Seit Jahren ging das nun schon so, und Antal Plumb wollte sich nicht mehr länger dem Trend verschließen, obwohl ihn seine Familie davor warnte.

Bei einer okkultistischen Sitzung war er zum erstenmal dem Magier begegnet. Der un­heimliche Mann hatte behauptet, Antal Plumb besäße mediale Fähigkeiten ganz besonderer Art. Sein Interesse war ganz offensichtlich, und es gelang ihm, Antal Plumb von sich einzunehmen.

Plötzlich war der Magier aufgetaucht. Es war Abend ge­wesen, und die gesamte Familie, bestehend aus insgesamt drei­undzwanzig Köpfen, war zu einem kleinen internen Fest versammelt. Antal Plumb war der Kopf der Sippe und achtete stets darauf, daß sie zusammenhielt. Die Familie war Zeuge geworden, wie stark der Einfluß des Magiers auf Antal Plumb bereits war. Antal schlug nach wie vor alle Warnungen in den Wind.

Er verfiel in den letzten Wochen zusehends. Es schien fast so, als zapfte der Magier von seiner Lebensenergie ab. Die Familienmitglieder hatten sich heimlich getroffen und Gegenmaßnahmen beraten. Aber die Macht Antal Plumbs über seine Familie war noch zu unge­brochen, als daß jemand gewagt hätte, etwas gegen ihn zu unternehmen.

Und noch hatte niemand ge­ahnt, welches Motiv der Magier wirklich hatte.

Dann war in der letzten Nacht der wie ein schreckliches Monster aussehende Diener des Magiers aufgetaucht. Etwas Unerwartetes war geschehen:

Sanus hatte ihnen seine Hilfe angeboten!

Ihr anfängliches Mißtrauen war rasch ausgeräumt gewesen, nachdem ihnen Sanus sein Motiv verraten hatte: Er war selbst ein­mal ein großer Magier gewesen. Das mußte schon sehr lange her sein. Er hätte seine magischen Fähigkeiten nie zum Schaden von Menschen eingesetzt. Plötzlich wäre sein jetziger Herr aufgetaucht und hätte ihm den Rang streitig gemacht. Viele Jahre hinweg hätten sie in Feindschaft gelebt. Eines Tages schließlich hätte Sanus beschlossen, den Magier zu vernichten. Er hatte Verbündete gefunden, mit denen er zum ent­scheidenden Schlag ausgeholt hatte.

Es war anders gekommen als erwartet. Der Magier hatte den Braten gerochen - vielleicht war auch einer von Sanus' Verbündeten ein Verräter ge­wesen - und hatte Gegenmaßnahmen getroffen.

Sanus verlor. Die Rache des Magiers war furchtbar. Er verwandelte den ehemaligen Feind in einen armseligen Krüppel, der sich nur noch bei Nacht auf die Straße wagen konnte. Unzählige Male hatten ihn Menschen mit ihrem Abscheu verfolgt, getreten, ge­schlagen und gesteinigt. Einmal sogar hatte man ihn verbrennen wollen. Der Magier amüsierte sich über so was. Der Fluch, mit dem er Sanus belegt hatte, ging so weit, daß Sanus nur durch seine Hand sterben konnte. So war er praktisch unsterblich und mußte für immer an der Seite des Magiers leben, der ihn ständig peinigte.

Wenn es aber jemandem ge­länge, die Macht des Magiers zu brechen, wäre er befreit. Sanus würde dabei wohl den Tod finden, aber dieser wäre immer noch viel besser als sein gegen­wärtiger Zustand.

Die Familie hatte die Hilfe angenommen, und die fünf ent­schlossensten Mitglieder hatten sich bereit erklärt, Sanus' Plan durchzuführen.

Eliza Brennan trat an das Bett ihres sterbenden Vaters.

Er sah sie erschrocken an.

»Nein, Eliza, du mußt an deinem Platz bleiben, sonst ge­fährdest du alles.« Er schloß die Augen und wimmerte leise. »Ich schäme mich so, daß ich mich dem Magier ausgeliefert habe. Gottlob hat mir Sanus die Augen geöffnet. Hoffentlich war es rechtzeitig. Hoffentlich gelingt der Plan.« Er öffnete die Augen wieder. »Bitte, kehre an deinen Platz zurück, Eliza!«

»Weißt du nicht, was der Magier von dir will?«

Antal Plumb schüttelte kraft­los den Kopf. Er ergriff die Hand seiner Tochter und umfaß­te sie fest.

»Nein, ich weiß es nicht. Er machte nur Andeutungen. Auch Sanus war nicht ganz sicher. Deshalb ist nicht gewiß, ob der Plan gelingt.«

»Er muß!« sagte Eliza fest. Sie befreite sich aus dem Griff ihres Vaters und streichelte ihm über das schüttere Haar. Der große, kräftige Mann war in den letzten Wochen um viele Jahre gealtert, wie es schien. »Ich glaube ganz fest daran, daß es gelingt, die Macht des schreckli­chen Magiers zu brechen«, sagte sie.

Antal Plumb lächelte. »Das tun wir alle, und das müssen wir auch, sonst hat es keinen Sinn.«

Eliza ging ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Erschrocken kehrte sie an ihren Platz zurück.

»Er ist mit der Kutsche ge­kommen«, sagte sie tonlos.

Aber die Geduld der Wartenden wurde auf eine harte Probe gestellt.

*

Als Till Brennan diesmal erwachte, gelang es ihm sogar, sich im Bett aufzusetzen. Sein Gehirn war wie gelähmt. Vergeblich versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die formierten sich aber nur träge, marschierten wie eine Kompanie angeschlagener, er­schöpfter Soldaten, die direkt von der Front kamen, immerzu im Kreis. Till kam zu keinem rechten Schluß.

Was hatte es mit den selt­samen Träumen auf sich? Und auf einmal zweifelte er nicht mehr daran, daß es sich um eine Art Wahrträume handelte. Es gab in seiner Familie irgendein Geheimnis, vielleicht sogar einen Fluch. Hatte er bis zu diesem Zeitpunkt alle Dinge, die er nicht mit klarem Menschenverstand erfassen konnte, einfach als nichtexistent abgelehnt, mußte er nun einsehen, daß es doch Geschehnisse zwischen Himmel und Erde gab, die sich jenseits des menschlichen Begriffsvermögens abspielten.

Ja, es mußte ein Geheimnis geben, und Till war dabei, von diesem Geheimnis auf recht un­gewöhnliche Art und Weise zu erfahren.

Wie kam das Phänomen zu­stande? Entstammten die Informationen seinem eigenen Unterbewußtsein, oder gab es eine Beeinflussung von außerhalb?

Es gelang ihm nicht mehr, sich diesem Problem intensiv zu widmen. Neue Bilder zogen vor seinem geistigen Auge auf, Bilder, die unglaublich real er­schienen, als wäre er - Till Brennan - unsichtbarer Beobachter der Geschehnisse.

Er merkte nicht, daß er halt­los in die Kissen zurücksank.

Till Brennan träumte weiter.

*

Der Magier verließ endlich die Kutsche. Lauernd blickte er sich um. Nichts rührte sich bei dem herrschaftlichen Haus, und die Straße war völlig menschenleer.

Sein Gesicht glich einer star­ren Maske, als er sich von dem Wagengespann wegbewegte. Wie ein Schatten glitt er über die gepflasterte Straße und erreichte die Haustür. Einen Augenblick zögerte er. Sollte er den offizi­ellen Eingang benutzen? Er ent­schied sich dagegen, tastete sich an der Hausfassade entlang zum rechten Tor. Ein Blick zum Himmel. Dünne Nebelschwaden schwebten wie Geisterhände durch die nächtlichen Straßen, und über London lag eine dünne Dunstglocke. Der bleiche Mond leuchtete hinter einem zarten Schleier, der sich ständig bewegte. Das silbrige Mondlicht schien in die Augen des Magiers zu dringen und diesen zu erfüllen. Der Unheimliche wand­te sich wieder ab. Wie ein Schemen überkletterte er das eiserne Tor, landete lautlos auf der anderen Seite. Sein langer nachtschwarzer Umhang wehte sanft, als der Magier weiterglitt.

Die Einfahrt verbreiterte sich hinter dem Haus zu einem weit­läufigen Hof. Auf dem Areal standen Stallungen und große Lagerhäuser.

Antal Plumb war ein erfolg­reicher Londoner Kaufmann. Sein Erfolgsrezept bestand darin, daß er niemals einen Fremden bei sich einstellte, sondern alle Arbeiten kaufmännischer Art von Familienmitgliedern durch­führen ließ.

Der Magier hatte wenig Interesse für die Umgebung. Er ahnte wohl, daß hier keine Gefahr drohte, wenngleich er höllisch wachsam blieb, wie es seiner Eigenart entsprach. Erleichtert war er insofern, als er Sanus verbannt hatte. Die Gefahr lauerte im Haus, sie schreckte ihn aber nicht mehr ab, da er sich seiner eigenen Macht bewußt war.

Der Hintereingang war abge­schlossen, was aber für den Magier überhaupt kein Problem bedeutete. Eine unsichtbare Kraft fuhr in das Schloß und ließ es aufschnappen. Von Geisterhand bewegt, schwang die Tür zurück und ließ den Magier passieren. In seinen Augen brannte dä­monisches Feuer. Einen Moment verharrte er. Im Haus war alles ruhig.

Nein, war da nicht irgendwo leises Stöhnen? Der Magier überlegte. Er war nicht zum erstenmal hier und kannte sich einigermaßen aus. Das Schlafzimmer des Hausherrn befand sich im ersten Stock. Kam das Stöhnen von dort?

Obwohl es im Flur so finster war, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte, bewegte sich der Magier dank seiner un­gewöhnlichen Sehkraft völlig sicher. Er ging zur Treppe und stieg hinauf.

Einige Stufen knarrten normalerweise. Als aber der Magier darauf trat, gaben sie kein Geräusch von sich. Es schi­en, als wäre der Unheimliche kein lebendes Wesen, sondern nur ein Trugbild oder ein Geist ohne Gewicht. In der Tat schien er mehr zu schweben als zu gehen. Dieser Eindruck konnte allerdings auch von dem wallenden Umhang herrühren.

Im ersten Stock verharrte der Magier abermals und lauschte. Nun war das Stöhnen deutlicher zu hören, das die Stille durchdrang. Die dicken Mauern und geschlossenen Fenster hielten jedes von außen kom­mende Geräusch fern.

Vor dem Magier erstreckte sich ein vielleicht zehn Yards langer Flur. Mehrere Türen führten rechts und links davon ab. Am Ende war ein Fenster, hinter schweren dunklen Gardinen verborgen. Das Stöhnen kam aus dem zweiten Raum links. Der Magier bewegte sich genau darauf zu.

Das eigenartige Gefühl in sei­nem Innern verstärkte sich unmerklich. Aber noch immer ignorierte es der Magier. Er dünkte sich völlig sicher. Schließlich hatte er die Tür erreicht. Sekundenbruchteile zö­gerte er, dann breitete er seine Arme aus. Die Augen schienen tiefer in ihre Höhlen zu sinken. Der Umhang, der vorn weit aus­einanderklaffte, verlieh dem Mann fast das Aussehen einer überdimensionalen Fledermaus. In den Augen entstand ein verzehrendes Feuer. Die blei­chen Hände deuteten mit den Innenflächen nach vorn. Das Feuer loderte hell auf.

Plötzlich wich die Tür zurück und gab den Blick frei in den da­hinterliegenden Raum. Rechts stand ein hoher, aus massivem Holz gezimmerter Schrank, an der gegenüberliegenden Wand eine niedrige, reichverzierte und mit vergoldeten Griffen verse­hene Kommode. Daneben stand Antal Plumbs Bett. Der Hausherr lag mit den Füßen zur Tür, eine leichte Decke über sich. Der Oberkörper ruhte auf einem Berg von Kissen.

Antal hörte ein Geräusch und öffnete die Augen. Das leise Stöhnen, das stoßweise über sei­ne Lippen gedrungen war, verstummte. Der Blick des so rasch gealterten Mannes fiel auf den eintretenden Magier.

Die halb heruntergebrannte Kerze auf dem Nachttisch neben dem Bett warf flackerndes, unru­higes Licht. Es reichte kaum aus, um den Raum auszuleuchten. Der Magier hatte dennoch keine Mühe, alles genau zu erkennen. Er sah sich auf­merksam um. Seine unmenschli­chen Sinne sagten ihm, daß dieser Raum keine Gefahr für ihn barg. Insgeheim zürnte er sich selbst ob seiner Nervosität. Wovor hatte er Angst? Dazu bestand doch kein Anlaß. Mit Gewalt zwang er sich zur Ruhe. Er konzentrierte sich auf den Sterbenden.

»So bist du also gekommen«, sagte Antal Plumb im Flüsterton.

Der Magier trat an das Fußende des Bettes und betrach­tete ihn.

»Ich hatte es versprochen.« Das hörte sich an wie die Stimme aus einem Grab. Sie konnte einem eisige Schauer über den Rücken rieseln lassen, aber Antal Plumb zeigte sich nicht beeindruckt.

»Sage mir eines, Magier: habe ich meinen gegenwärtigen Zustand dir zu verdanken?«

Der Unheimliche stieß ein teuflisches Gelächter aus. »Ja und nein, Antal Plumb. Ich sagte einmal, du hättest mediale Fähigkeiten besonderer Art. Das stimmt. Du bist sehr wichtig für mich, deshalb habe ich mich deiner angenommen. Normalerweise interessiere ich mich wenig für sterbliche Kreaturen.«

»Was macht mich für dich so besonders kostbar?«

Der Magier runzelte die Stirn.

»Ich wundere mich. Es ist das erste Mal, daß du so gezielte Fragen stellst.«

»Es ist auch das erste Mal, daß ich im Sterben liege.«

»Warum interessierst du dich für all diese Dinge?«

»Sollte ich nicht? Schließlich gebe ich mein Leben für irgend etwas, von dem ich keinen Begriff habe. Warum soll ich sterben, ohne dafür den Grund zu erfahren?«

Der Magier nickte. »Du hast recht.« Er umklammerte das ho­he Fußende des Bettes und blick­te Antal Plumb durchdringend an. »Mir wurde schon bei der ersten Begegnung klar, wie wichtig du für mich bist. Ohne daß du es merktest, stellte ich einen kleinen Test mit dir an und raubte dir dabei einen Teil deiner Lebensenergie. Weißt du, ein Magier wie ich war auch mal ein normaler Mensch. Ich habe eines Tages meine Begabung entdeckt und ausgebaut. Um aber wirklich effektiv zu werden, brauchte ich bestimmte Energien. Nur wenige Menschen sind befähigt, sie mir zu geben.«

»Dann bin ich also eine Art Katalysator. Während du dich meiner bedienst, erschließen sich dir die schwarzen Mächte.«

Der Magier zögerte.

»Nicht ganz. Ich habe eine Kraft entdeckt, die nur sehr wenigen Magiern bekannt ist. Das macht mich auch allen anderen so überlegen. Auch mein verkrüppelter Diener Sanus war früher mal Magier gewesen. Er hat keine Ahnung von dem, was ich weiß. Lange Jahre be­kämpften wir uns. Ich wagte nicht, ihn zu vernichten, bis ich sicher war, daß er nicht die Kenntnisse hat, die ich besitze. Du bist nicht mein erstes Opfer, Antal Plumb. Das sollst du wissen. Ja, du sollst alles wissen - soweit es für dein nur beschränkt arbeitendes menschli­ches Gehirn begreiflich ist. Mit den Erkenntnissen wirst du ohne­hin nicht mehr viel anfangen können. Du, Antal Plumb, trägst den Keim der schwarzen Magie in dir. Unter gewissen Umständen wärst du ein Magier geworden. Diese Umstände waren nicht gegeben, aber die Fähigkeiten sind dennoch latent in dir vorhanden. Was ich getan habe, war zunächst der schrittweise Abbau deiner Widerstandskräfte.«

»Was hast du mit mir vor? Wozu mußtest du mich schwä­chen?«

Der Magier lachte heiser.

»Du warst wie eine vollge­ladene Energiebatterie. Ich werde dich in den nächsten Minuten mit all deinen latenten Fähigkeiten in mich aufnehmen. Meine Macht wird sich vergrößern. Dein Ich wird dabei verlorengehen. Hätte ich die Vereinnahmung früher gewagt, wäre ich von der plötzlich frei­werdenden magischen Energie regelrecht ausgebrannt worden. Deshalb das schrittweise Vorgehen.«

»Wenn ich richtig verstehe, hast du also nur meine Abwehrkräfte abgebaut, nicht aber meine Begabung, die jetzt noch immer in mir schlummert.«

»Ganz recht.« Der Magier nickte grinsend. »Allerdings wird dir diese Begabung wenig nutzen, denn selbstverständlich bin ich weitaus stärker als du.«

Er löste sich vom Fußende des Bettes und kam langsam auf Antal Plumb zu. Das Feuer in seinen Augen intensivierte sich. Plötzlich schienen aus den Pupillen des Magiers kleine Blitze zu zucken.

Antal Plumb erwartete den Unheimlichen ganz gelassen. Er spürte die ungeheure Macht, die von dem Magier ausging, fürch­tete sich aber nicht. Nun wußte er endlich, was mit ihm ge­schehen war und welches Motiv der Magier hatte. Auch seine Verwandten hatten es mitgehört, da sie sich ja im Nebenraum befanden - getarnt gegenüber den unmenschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten des Magiers durch das Pentagramm. Sie mußten warten, bis der Magier sich voll auf ihn - Antal - konzentriert hatte, bevor sie mit der Beschwörung begannen. Aber wo blieb nur Sanus?

Er war ein entscheidender Faktor. Noch immer schlum­merten in ihm magische Kräfte. Sobald der Unheimliche seine Macht auf Gegenwehr kon­zentrieren mußte, wurde Sanus zum Teil frei und konnte in den Kampf eingreifen.

Sie mußten den Magier in das magische Pentagramm treiben, wobei Sanus als sechster den ma­gischen Kreis zu schließen hatte.

Im Nachbarzimmer griffen sich fünf Menschen an den Händen und schlossen erwartungsvoll die Augen. Sie warteten auf das verabredete Zeichen. Antal sollte es geben. Nur er konnte feststellen, wann der Magier voll auf ihn kon­zentriert war. Dann mußte Sanus auf der Bildfläche erscheinen. Hoffentlich klappte alles, sonst waren sie rettungslos verloren. Der Magier würde furchtbare Rache nehmen.

»Furchtbare Rache!« Der Unheimliche lachte meckernd. »Ja, furchtbare Rache werde ich an euch nehmen.«

Antal Plumb zuckte zu­sammen wie unter einem Peitschenhieb. Er konnte seinen Blick nicht mehr von den Augen des Magiers lösen. Das unheim­liche, dämonische Feuer breitete sich allmählich aus, erfüllte sein Gesichtsfeld, drang in sein Innerstes, um ihn zu verbrennen.

»Narr!« rief der Magier aus. »Hast du geglaubt, mich überlis­ten zu können? Ich lese in deinem Gehirn wie in einem auf­geschlagenen Buch. Jetzt weiß ich, woraus die Gefahr besteht, die mir in diesem Hause droht, und gleichzeitig begreife ich, daß sie mir nicht gefährlich werden kann. Ein wichtiger Faktor fehlt euch. Ihr habt euch verrechnet. Sanus wird nicht mit von der Partie sein können. Ich habe rechtzeitig Verdacht geschöpft und Gegenmaßnahmen getroffen. Sanus schmort im Zwischenreich bei den verdammten Seelen, bis ich ihn wieder zurückhole. Es ist nun schon das zweite Mal, daß er mich unterschätzte. Diesmal werde ich ihn noch furchtbarer bestrafen als beim ersten Mal. Es wird mir ein Vergnügen sein, diese seine Strafe bis ins Kleinste auszutüfteln.«

Alles begehrte in Antal Plumb auf. Sollten wirklich alle Vorbereitungen umsonst ge­wesen sein?

Nun ging es nicht nur um ihn, um Sanus, um seine Familie. Wenn es dem Magier wirklich gelang, Antals latent vor­handenen schwarzen Kräfte zu absorbieren, dann würde seine Macht tatsächlich erheblich wachsen. Unabsehbare Folgen konnte das haben. Er würde mit seiner Macht viel leichter vorge­hen können und eines Tages ein neues Opfer finden, das er so vereinnahmen konnte wie Antal. Immer stärker würde er werden, bis er eines Tages...

»Ganz recht!« Der Magier kicherte. »Eines Tages - und dieser Tag wird nicht mehr fern sein, bin ich hier einmal fertig - werde ich die Welt beherrschen. Aber warum machst du dir dar­über Gedanken? Bald hat deine Stunde geschlagen. Du wirst es schnell überstehen. Hör auf, dich zu wehren, Antal Plumb, es hat doch keinen Zweck! Ich kann auch mit Gewalt. Denke nicht mehr über die Zukunft nach, die du doch nicht erleben wirst und auch nicht mehr ändern kannst.«

Antal Plumb wollte seinen Verwandten das Zeichen geben, daß sie mit der Beschwörung be­ginnen sollten, aber er brachte keinen Ton mehr über die Lippen. Es war ihm, als hätte sein Geist den Körper bereits verlassen. Er fühlte sich seltsam leicht, so als schwebte er. Plötzlich erschien ihm die Beeinflussung des Magiers gar nicht mehr so unangenehm, ja, erschreckend. Er sehnte sich so­gar danach, wollte mit dem Furchtbaren vereint sein, auch wenn er dabei sein eigenes Ich aufgeben mußte.

Ein letztes Mal sträubte sich alles in seinem Innersten. Noch hatte er einen winzigen Kontakt mit seinem Körper. Noch hatte ihn der Magier nicht völlig absorbiert. Es gelang Antal so­gar, teilweise die Verbindung mit seinem eigenen Körper wieder zu verstärken.

Sein Leib lag wie im Fieber. Es war, als hätte es irgendwo darin einen Kurzschluß gegeben. Die Temperatur mochte mindes­tens dreiundvierzig Grad Celsius betragen. Absolut tödlich also.

Doch diese überhöhte Temperatur gab Antal neue Kraft, um sich gegen den Unheimlichen zu wehren.

Der verstärkte wütend seine Anstrengungen. Dafür mußte er sich voll auf sein Opfer konzentrieren.

Ein letztes Mal versuchte Antal Plumb, seine Verwandten zu benachrichtigen. Aber auch diesmal brachte er keinen Laut über seine Lippen. Da erst wurde ihm klar, daß dies auch nie mehr möglich sein konnte. Er wähnte sich bereits tot! Das Herz stand plötzlich still, die farblosen Lippen ließen sich nicht mehr bewegen. Das Gehirn war offenbar lahmgelegt. Und doch klammerte sich sein Geist mit letzter Energie daran fest und wollte nicht von ihm lassen, wenn auch diese bindenden Kräfte mehr und mehr schwanden.

Wieder bekam der Magier die Oberhand. Antal Plumb fühlte sich in einen ungeheuren Sog gerissen. Lange konnte er sich nicht mehr halten.

Die fünf Verwandten neben­an, die noch immer den ma­gischen Kreis mit ihren inein­anderverkrampften Händen bildeten, warteten vergeblich auf das verabredete Zeichen ihres Familienoberhauptes. Antal Plumb hatte das Kreuz schlagen und dabei die Namen des drei­faltigen Gottes nennen sollen. Es blieb aus.

Aber die fünf Menschen ahn­ten, daß etwas Unvorhergesehenes dazwi­schengekommen war. Sie verstanden nicht alles, was im Nebenraum gesprochen wurde. Der Magier redete zu leise für sie, doch sie begriffen, daß Antal Plumb gar nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte, ihnen das Zeichen zu geben.

Deshalb beschlossen sie, ohne seine Weisung zu handeln.

Und zwar genau in dem Augenblick, als sich Antal Plumbs Geist noch mit Erfolg zur Wehr setzte.

Er war noch nicht völlig von dem Magier absorbiert, der sich angestrengt auf ihn konzentrierte und sein Umfeld gar nicht wahrnahm. Er war somit fast hilflos der Gefahr ausgesetzt, die Antals Verwandte für ihn bildeten.

Poul Brennan begann das ver­bale Ritual. Alle hatten fest die Augen geschlossen. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirnen.

»Sanus parodinus, Sanus!« sagte Poul Brennan. Die Worte klangen guttural, wie einer fremden, längst vergessenen Sprache entliehen. Sanus hatte ihnen genau Instruktionen gege­ben, und sie hatten nichts vergessen. Poul Brennan fuhr fort:

»Sanus, calodi fremdun - im Namen des heiligen Gottes und der Mächte des Himmels: Antal, erhalte unsere Kraft! Sanus, stehe uns bei, und die Kräfte der weißen Magie werden unsere Macht vergrößern! Sanus, calodi, parodinus, fremdun!«

Nun hätte der Bucklige auf den Plan treten müssen. Allein, er blieb aus. Also hatten sich die fünf Menschen nicht verhört. Der Magier hatte rechtzeitig den Braten gerochen und Sanus ausgeschaltet.

Konnten Sie ohne den ehema­ligen Meister der Magie auskom­men? Sie mußten! Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Poul Brennan begann, die Beschwörung zu wiederholen.

Gleichzeitig hörten sie einen entsetzlichen Laut, der seinen Ursprung im Nebenzimmer hatte.

Plötzlich spürten die fünf Kontakt mit ihrem Familienoberhaupt. Antal Plumb schien mitten unter ihnen zu weilen. Er sprach, und seine Stimme klang direkt in ihren Köpfen auf.

»Ihr seid auf dem richtigen Weg. Konzentriert euch! Ihr müßt eine Einheit bilden. Sanus kann euch nicht helfen, er ist verbannt. Aber ihr schafft es auch so.«

Etwas riß ihn von ihrer Mitte weg. Wieder jener entsetzliche Laut aus dem Nebenraum. Es mischte sich lautes Stöhnen von Antal Plumb hinein, aber dieses Stöhnen schien nicht über ihre Ohren zu ihrem Verstand zu dringen.

Sie fühlten sich nun tat­sächlich wie eine Einheit. Jeder spürte die körperliche und geis­tige Nähe des anderen. Unsichtbare Kraftströme flossen durch ihre miteinander verbundenen Hände. Und Poul Brennan wiederholte pausenlos die Beschwörungsformeln. Zwischendurch zitierte er immer mehr Worte in jener längst vergessenen Sprache.

Dort, wo der magische Kreis noch offen war, bildete sich grünliches Fluoreszieren. Es waberte hin und her. Niemand sah es, denn noch immer hatten die Menschen ihre Augen ge­schlossen, aber sie spürten es deutlich und wußten, daß sie selbst dieses Leuchten erzeugten. Es war eine magische Energie, die sich immer mehr verdichtete.

Die Luft in dem Raum be­gann zu knistern. Irgendeine un­sichtbare Kraft rüttelte an den Möbeln. Ein Bild fiel von der Wand. Die Fensterscheiben klirrten. Dann zersprang die Glasscheibe der Spiegelkommode in tausend Scherben, die langsam zu Boden schwebten. Noch bevor sie die Dielen erreicht hatten, pulve­risierten sie.

Plötzlich wurde die Tür zum Nebenraum aufgestoßen. Der Unheimliche erschien in der Türfüllung. Er hatte sich erschreckend verändert. Sein Körper war aufgedunsen wie ein Ballon, den man mit mehr Gas gefüllt hatte. Die Augen traten weit hervor. In ihnen flackerte es. Das Gesicht schien aus Gummi zu bestehen, denn es veränderte ständig seine Form. Dann öffnete sich der immer noch schmallippige, blutleere Mund. Eine dicke rote Zunge schob sich ins Freie, als würgte jemand den Magier. Schließlich entrang sich ein unmenschlicher, langgezogener, wie durch ein Echolot ständig widerhallender Laut der Kehle des Unheimlichen.

Seine wächsernen Hände krallten sich am Türrahmen fest, aber er konnte sich nicht halten. Eine unsichtbare Kraft trieb ihn mit unwiderstehlicher Gewalt auf den magischen Kreis zu.

Das grünliche Fluoreszieren, das sich an der offenen Stelle ge­bildet hatte, formierte sich, folg­te exakt den Kreidestrichen, die eine Spitze in Richtung Tür bildeten. Dadurch wurde es kon­zentriert, gebündelt, schoß plötz­lich auf den Magier zu, hüllte ihn völlig ein, dabei aber nicht die Verbindung mit dem Pentagramm verlierend. Ungeheure Kräfte kneteten deut­lich den Körper des seltsam Verwandelten durch. Er nahm alle seine Macht zusammen, ob­wohl es dafür bereits zu spät zu sein schien.

»Ihr Narren!« Die Worte waren kaum verständlich, klangen total verzerrt. »Ihr Narren!« wiederholte er geifernd. »Ihr werdet es schaf­fen, mich in den Kreis zu bekommen. Wer aber soll ihn schließen? Sanus ist nicht da, er kann euch also nicht helfen.«

Da war wieder der Geist des hingeschiedenen Antal Plumb. Er schwebte unsichtbar von dem Magier weg. Die fünf Menschen spürten ihn deutlich, schienen aber auch zu ahnen, daß er sich nicht mehr ganz von dem Magier lösen konnte.

»Er hat recht«, wisperte der Geist. »Ihr könnt auf die Dauer nicht gegen ihn bestehen. Wenn euch eure Kräfte verlassen, seid ihr verloren.«

»Helft uns!« flehten die fünf gemarterten Gehirne der Menschen. »Helft uns!«

»Wie kann ich das?«

Antal Plumb wurde wieder von dem Magier aufgesogen, konnte sich jedoch abermals für Sekundenbruchteile befreien. In diesem Augenblick taumelte der Unheimliche in den magischen Kreis hinein. Das befähigte Antal Plumbs Geist, einen Teil der Kräfte, die seine Verwandten mobilisiert hatten, in sich aufzunehmen. Er konnte sich von dem Magier losreißen, schwebte in den Nebenraum und erfüllte seine sterbliche Hülle.

Durch den Kontakt mit dem Magier war ein Teil seiner latent vorhandenen magischen Kräfte frei geworden. Diese Kräfte mo­bilisierte er. Der Leichnam, der auf dem Bett lag, wirkte wie aus Wachs gegossen und steif. Plötzlich aber kam Bewegung in ihn. Die Augen blickten glanzlos zur Verbindungstür hinüber. Unbeholfen erhob sich der Leichnam. Die Haut war wie Pergament. Der Körper schien von innen heraus zu glühen.

Die Leiche taumelte auf die Verbindungstür zu, erreichte den magischen Kreis.

Ein Seufzen ging durch die Reihe der fünf Menschen. Die zwei äußeren faßten jeweils eine Hand des Verstorbenen, der auf­recht dastand.

Damit war der magische Kreis geschlossen und die Macht des Magiers gebrochen.

Aber war sie das wirklich?

Der Unheimliche sah ein, daß er verloren war. Der magische Kreis beraubte ihn mehr und mehr seiner Macht. Er hatte die Gefahr bei weitem unterschätzt.

Er versuchte, in das Zwischenreich zu fliehen, um dort mit den Seelen Verbindung aufzunehmen. Vielleicht konnte er über das Zwischenreich dem Kreis entrinnen?

Da registrierte er die Anwesenheit von Sanus und zog sich sofort wieder zurück. Nein, dieser Weg war ihm versperrt. Er war zu sehr geschwächt, als daß er sich Sanus zum Kampf hätte stellen können. Es mußte eine andere Möglichkeit geben.

Daß Sanus nie mehr dem Zwischenreich entkommen konn­te, wenn er - der Magier - ihn nicht persönlich zurückbe­orderte, erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung.

Aber er spann den Faden weiter.

Eine andere Möglichkeit blieb ihm. Seine Kräfte wurden nach und nach abgebaut. Er vermoch­te zwar dem magischen Kreis nicht zu entfliehen, aber er konn­te etwas anderes.

»Ich verfluche euch!« schrie er überschnappend.

»Wie willst du dem Fluch Nachdruck verleihen?« gab Antal Plumbs Geist zurück.

Der Magier fixierte ihn und taumelte gegen den Leichnam, der aufrecht wie eine Mauer stand. Durch die Berührung war Antals Geist wieder teilweise mit dem Magier verbunden.

»Über dich!« ächzte der Unheimliche.

Und Antal Plumb erkannte die Gefahr, ohne sie bannen zu können. Er war mit seinen Verwandten verbunden, damit der magische Kreis geschlossen blieb, was sich nun als Nachteil herausstellte. Als dem Magier Ausgelieferter konnte er somit zu einer Art Brücke werden, über die der Furchtbare an seine Verwandten herankam.

Antal Plumbs Leiche begann sich zu verändern, verschmolz mit dem Körper des Magiers, wurde zu einer Einheit - körper­lich und geistig. Dabei aber verlor Antal Plumb nicht sein Ich. Die Vereinigung wurde nicht vollkommen.

Das verhinderten die Kräfte des magischen Kreises.

Plötzlich spürten die fünf Verwandten Antals, daß die Geister der Verschmolzenen in sie eindrangen.

»Jetzt könnt ihr mich nicht mehr völlig vernichten«, hörten sie den Magier. »Ich werde in euch und euren Nachfahren schlummern, bis ich eines Tages wieder Gelegenheit bekommen werde, mich zu rächen.«

»Dann wird es eben ab sofort keine Nachkommen mehr geben!« rief Poul Brennan aus.

»Doch!« hörten sie die wispernde Stimme Antals. Das amorphe Gebilde, das durch die Vereinigung mit dem Unheimlichen entstanden war, löste sich langsam auf. Die fünf Menschen wußten plötzlich, daß sie sich nur so lange mit den beiden noch unterhalten konnten, bis das Gebilde völlig verschwunden war.

»Doch!« wiederholte Antal. »Laßt euch von dem Magier nicht täuschen. Sobald unser Geschlecht aufhört zu existieren, wird er wieder frei. Er ist in uns gefangen, ebenso wie ich selbst. Wenn er frei ist, kann ich nichts mehr gegen ihn unternehmen. Er wird mich absorbieren - und alles war umsonst.«

»Aber wie sollen wir uns vor ihm schützen? Er hat dich und damit uns verflucht. Wird es ihm eines Tages tatsächlich gelingen, über einen von uns wieder zur Macht zu gelangen? « rief Poul verzweifelt.

»Bleibt stets wachsam! Ihr wißt, daß in mir latent vor­handene magische Kräfte waren. Meine Kinder können das geerbt haben. Immer wieder wird einer von euch so sein wie ich. Nur er kann die Kräfte binden. Wenn er stirbt, dann versammelt euch alle. Führt Beschwörungen durch, damit ich euch für kurze Zeit erscheinen kann! Ich werde euch dann sagen, was zu tun ist.«

Die Auflösung des amorphen Gebildes war nur noch eine Frage von Sekunden.

Der Magier fauchte wütend, doch er konnte nicht verhindern, daß Antal Plumbs Geist ein letz­tes Mal zu seinen Verwandten sprach.

»Informiert die anderen Mitglieder der Familie! Es geht alle an. Dann verstreut euch in alle Winde, damit nicht durch einen Krieg oder sonst eine Katastrophe die Familie mit einem Schlag ausgelöscht wird! Ihr müßt das Risiko klein halten. Nur mein direkter Nachfolger soll immer in diesem Hause bleiben. Ich spüre, wer sich als erster eignet. Es ist mein Sohn Walter Plumb, also keiner von euch fünf. Sagt ihm alles und...«

Es war vorbei. Mit einemmal fiel die Spannung von den fünf Menschen. Der Spuk hatte ein Ende.

Sie sahen sich erschöpft an. Das nackte Grauen stand in ihren Augen. Dann sanken sie zu Boden. Sie fühlten sich innerlich wie ausgebrannt.

Es dauerte Stunden, bis sie wieder soweit bei Kräften waren, daß sie die anderen Verwandten benachrichtigen konnten.

Poul Brennan und Eliza Brennan, geborene Plumb, ver­ließen noch am gleichen Tag fluchtartig das Land. Sie zogen nach Amerika. Die Familie ver­teilte sich in alle Himmelsrichtungen. Nur Walter Plumb blieb, wie von Antals Geist angewiesen.

*

Es wurde draußen bereits hell, als Till Brennan zu sich kam. Er fühlte sich seltsamer­weise fit. Neue Kraft schien ihn zu beherrschen. Sein Verstand arbeitete wieder ganz klar.

Poul Brennan und dessen Frau Eliza waren seine Vorfahren, und wahrscheinlich war der verstorbene Ron Plumb der direkte Nachfahre von Antal Plumb - sein Nachfahre und gleichzeitig auch sozusagen sein Vertreter.

Till Brennan setzte sich in seinem Bett auf und nahm den Kopf in beide Hände.

Er dachte angestrengt nach. Vor allem kam ihm die Tatsache schmerzlich zu Bewußtsein, daß bei dem Familientreffen nicht Ron Plumbs Vermögen verteilt werden sollte. Es ging darum, den Geist von Antal Plumb zu beschwören und seinen Beistand und Rat zu erbitten.

Till Brennan hörte irres Gelächter. Es dauerte eine Weile, ehe ihm klar wurde, daß dieses Gelächter aus seinem eigenen Mund stammte.

Es war zum Wahnsinnigwerden. Noch vor einem Tag hatte er sich als einen völlig realistisch denkenden Menschen einschätzen können. Und was war jetzt? Er machte sich ernstliche Gedanken um Geisterbeschwörungen und ande­re mystische Dinge, die er bisher als Mummenschanz abgetan hatte. War vielleicht sein Geist verwirrt? Waren diese Träume nur Ausgeburt einer krankhaften Phantasie?

Nein, das wollte er nun doch nicht glauben. Es hätte nicht zu seiner Wesensart gepaßt.

Also dürfte letzten Endes kein Cent dabei herausspringen, wenn ich nach London reise, dachte er zum wiederholten Male. Sollte ich unter solchen Umständen nicht besser zu Hause bleiben?

Aber in seinem Innern war eine Stimme, die ihm sagte, daß er nicht kneifen konnte. Sie war stärker als die, die immer noch warnte.

Und dann stand Till Brennans Entschluß unwiderruflich fest. Sobald das Flugticket kam, wollte er fliegen - egal, was ihn erwartete.

Sein Motiv war schließlich einleuchtend: Er wußte wohl noch immer nicht, wie er zu den Wahrträumen gekommen war, aber die dadurch gewonnenen Erkenntnisse wären letzten Endes völlig ohne Bedeutung, wenn er nicht flöge. Er konnte nicht glauben, daß jeder seiner Verwandten diese Träume ge­habt hatte.

Es mußte ein besonderer Sinn dahinterstecken. Till Brennan kam sich fast vor wie ein Auserwählter. Im gewissen Sinne war er das auch, wenn er es zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht ahnte.

*

Der Fahrstuhl war noch immer defekt. Also quälte sich Till Brennan die zehn Stockwerke zu Fuß hinunter, um zu seinem Briefkasten zu gelangen. Das Flugticket war be­reits da. Also wieder zehn Stockwerke hinauf zu seiner Wohnung.

Till hatte nicht viel zu pa­cken, aber bevor er verreiste, mußte er erst noch mit dem Hausverwalter sprechen. Er wußte schließlich nicht, wie lange er in London blieb. Es war durchaus möglich, daß seine Wohnung bei seiner Rückkehr anderweitig vermietet war, wenn er nicht vorher Bescheid sagte.

Der Hausverwalter wohnte im Erdgeschoß und war sehr mür­risch, als Brennan bei ihm auftauchte. Till zeigte ihm das Telegramm und das Flugticket und versprach, die Miete zu be­zahlen, sobald die Erbschaftsangelegenheiten erle­digt waren. Der Hausverwalter dachte wie Brennan zu Beginn, daß Ron Plumb Geld hinterlassen hätte. Von dem Vermächtnis des Verfluchten erwähnte Brennan natürlich nichts.

Er ging, nicht ohne dem Verwalter das Versprechen abzunehmen, die Wohnung bis zu seiner Rückkehr auf keinen Fall weiter zu vermieten.

Der Hausverwalter sagte so­gar zu, daß bis dahin der Fahrstuhl repariert war.

Vielleicht nahm er an, daß Brennan als reicher Mann zu­rückkam, und befürchtete, ihn dann als Mieter zu verlieren?

Till Brennan tat nichts, um diesen Irrtum auszuräumen.

*

Die Landung erfolgte einen Tag später auf dem London Airport. Unschlüssig stand Till Brennan in dem Gewühl der Abfertigungshalle und schaute sich um. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß er gar keine Ahnung hatte, wie er zum Haus seiner Vorfahren gelangen konnte.

Die Sorge wurde ihm abgenommen. Ein ernst dreinbli­ckender älterer Herr trat auf ihn zu. »Till Brennan?« fragte er. Und als Till bejahte: »Ich bin ein Verwandter, Austin Plumb.«

Till Brennan blieb reserviert, während er dem unbekannten Verwandten die Hand schüttelte. Er kramte in seinem Gedächtnis, war aber sicher, daß Austin Plumb damals bei der Beerdigung von Tante Constance nicht in New York gewesen war.

»Es freut mich, Till, daß du so schnell gekommen bist«, sagte Austin bewegt. »Ich darf dich doch bei deinem Vornamen nennen?«

»Warum nicht? Schließlich sind wir von demselben Blut«, entgegnete Till leichthin und fi­xierte sein Gegenüber. »Bist du allein da?«

»Ja.« Austin nickte. »Mir fiel die Aufgabe zu, dich zu begrüßen.« Er deutete in Richtung Snack-Bar. »Vielleicht sollten wir uns erst näher kennenlernen, bevor wir fahren?«

»Okay, einverstanden.«

Sie gingen langsam durch die Halle. Till Brennans Gedanken bewegten sich unaufhörlich im Kreis.