Im Schatten des Verdachts - Marie Louise Fischer - E-Book

Im Schatten des Verdachts E-Book

Marie Louise Fischer

3,9

Beschreibung

Die erfolgreiche, attraktive Vivian weist den Heiratsantrag ihres Freundes Herbert immer wieder zurück, obwohl sie ihn innig liebt. Herbert glaubt ihrer Begründung hierfür nicht. Und er hat Recht, nur kann sie ihm den wahren Grund für ihre Ablehnung nicht nennen. Einst wurde sie nämlich beschuldigt, ihren Mann, den schwerreichen Bruno Hammer, ermordet zu haben. Alle Indizien sprachen damals gegen sie, nur aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Nach diesen Ereignissen änderte sie ihren Namen, unterzog sich sogar einer Gesichtsoperation und nahm ihr Medizinstudium wieder auf. Aber es zeigt sich, dass man sich den Fragen der Vergangenheit nie auf Dauer entziehen kann.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Im Schatten des Verdachts

Roman

SAGA Egmont

Im Schatten des Verdachts

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1989 by Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718940

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Es war kurz vor neun Uhr am Sonntagabend, als Vivian Wagner, überpünktlich, wie es ihre Art war, das französische Restaurant nahe der Berliner Philharmonie betrat. Ihr Freund, der junge Regierungsrat Herbert Zink, wartete schon auf sie und erhob sich von dem reservierten Ecktisch, um ihr aus dem pelzgefütterten braunen Seidenmantel zu helfen.

»Ich komme doch nicht zu spät?« fragte sie ein wenig atemlos.

»Du doch nie!« entgegnete er lächelnd.

Das Lokal war noch nicht voll besetzt, da der große Zulauf erst nach Beendigung des Konzertes kommen würde. Aber die Blicke der Anwesenden wurden wie magnetisch von Vivians Erscheinung angezogen, als der Mantel von ihren mädchenhaften Schultern glitt. Das goldgelbe Kleid, von zwei Spaghettiträgern gehalten, betonte das zarte Weiß ihrer Haut und ließ ihren festen, runden Busen mehr als erahnen. Das nußbraun getönte Haar stand in apartem Gegensatz zu ihren großen blauen Augen, und ihre Wangen waren von der Kälte der Februarnacht leicht gerötet. Eine gerade Nase, ein rundes Kinn und ein fester Mund ergänzten das Bild. Ja, sie war schon des Ansehens wert, und sie wußte es.

»Du siehst wunderbar aus!« sagte er, als er ihr einen Stuhl zurechtschob, nachdem er einem Kellner ihren Mantel übergeben hatte; er war stolz auf sie und gab sich keine Mühe, es zu verbergen.

»Nur eine schöne Kunstfigur«, entgegnete sie lächelnd.

Er runzelte die Stirn, die hoch wirkte, obwohl sein blondes Haar üppig und dicht war. »Was soll das heißen?«

»Kennst du denn nicht das Märchen von ›Gockel, Hinkel und Gackeleia‹?« fragte sie ausweichend zurück. »Dann werde ich es dir bei Gelegenheit mal vorlesen.«

Sie wußte, daß es nie dazu kommen würde, weil ihr Freund die beiläufige Bemerkung rasch vergessen haben würde. Es gab andere Probleme, die ihn beschäftigten.

Er setzte sich wieder. »Wir sollten spätestens Ostern heiraten«, sagte er sehr direkt.

»Oh!« machte sie nur.

Der Kellner servierte zwei Gläser Champagner als Aperitif. Vivian und Herbert stießen miteinander an. Seine grauen Augen blickten sehr ernsthaft in die ihren. Sie nahmen beide einen Schluck.

»Du weichst mir aus«, beschwerte er sich.

»Ich dache, wir wären heute abend zusammen, um meinen Erfolg zu feiern.«

»Jetzt, da du es geschafft hast, steht unserer Heirat doch nichts mehr im Wege.«

»So sehe ich das nicht«, sagte sie.

»Vivian! Wie lange kennen wir uns jetzt?«

Sie zuckte die glatte Schulter. »Zwei Jahre?«

»Fast schon drei!« verbesserte er sie. »Und beinahe so lange ist es her, seit ich dir den ersten Antrag gemacht habe.«

Spielerisch drehte sie ihr Glas. »Das war ziemlich voreilig.«

»Damals vielleicht. Darin gebe ich dir recht. Aber inzwischen hat sich unsere Liebe doch erprobt.«

»Bist du sicher?«

»Vivian! Was hast du an mir auszusetzen?«

»Nichts«, gab sie zu, »und das weißt du.«

»Also dann …«

Sie fiel ihm ins Wort. »Sieh mal, wir treffen uns nur nach Feierabend oder höchstens mal am Wochenende, und das auch nicht allzu oft, weil ich so viel zu schuften hatte. Woher wollen wir da wissen, ob wir wirklich zusammen leben können? Das ist doch etwas ganz anderes.«

»Du kannst mich einen Spießer nennen …«

»Das würde mir im Traum nicht einfallen!«

»… aber es widerstrebt mir, ohne Trauschein zusammenzuziehen.«

»Das verstehe ich gut!« stimmte sie zu, ohne sich ihre Erleichterung anmerken zu lassen. »Außerdem müßten wir uns dazu ja erst mal eine größere Wohnung suchen. Weder in deinem Junggesellenapartment noch in meiner Bude würde das gutgehen, und im Augenblick habe ich wirklich andere Dinge im Kopf.«

»Würdest du die Güte haben, mir das näher zu erklären?« verlangte er gereizt und fuhr fort, ohne ihr Gelegenheit zu einer Antwort zu geben: »Erst war dein Staatsexamen für dich das wichtigste. So weit, so gut. Das habe ich ja noch verstanden. Dann war es deine Dissertation. Das habe ich auch noch hingenommen. Aber nun, da du ein ausgewachsener Doktor der Medizin bist …«

»… muß ich mich um eine Zulassung als Kassenärztin bemühen!« warf sie ein.

»Aber das eine schließt das andere doch nicht aus! Ich werde eine passende Wohnung besorgen …«

»Ich dachte, du hättest was gegen eine wilde Ehe.«

»Nach wie vor. Aber da du darauf bestehst, bitte. Es soll ja kein Dauerzustand werden.«

Sanft berührte sie seine Hand über den Tisch hinweg. »Du bist sehr lieb, Herbert.«

»Ich liebe dich sehr, Vivian. Niemals hätte ich geglaubt, eine Frau könnte mich so an der Nase herumführen.«

»Das liegt nicht in meiner Absicht.«

»Aber du tust es, und ich begreife ehrlich nicht, warum. Du scheinst mich für einen Macho zu halten. Ist es das?«

»Nein, Herbert.«

»Ich bin mir darüber im klaren, daß man eine kluge Frau wie dich, die es zu einem Studienabschluß gebracht hat, nun anschließend nicht in Haus und Küche verbannen kann. Du kannst mich heiraten und durchaus deine Praxis betreiben. Warum denn nicht? Ich erwarte nicht von dir, daß du mir die Pantoffeln nachträgst oder meine Hemden bügelst. Natürlich möchte ich eines Tages Kinder haben. Du doch auch, nicht wahr?«

»Ja, sicher«, bestätigte sie schwach.

»Aber wenn du willst, werden wir uns damit Zeit lassen, bis deine Praxis läuft und bis wir uns zusammengerauft haben, was du ja für nötig zu halten scheinst.«

»Unbedingt.«

»Sind wir uns also einig?«

»Laß mir Zeit, Herbert!« flehte sie. »Bitte!«

»Für was, um Himmels willen, brauchst du jetzt noch Zeit?«

Sie schlug die Augen nieder und blickte auf das weiße Tischtuch. »Du verstehst mich nicht.«

»Aber ich versuch’s doch, Vivian. Ich bin sogar zu jedem Kompromiß bereit. Was könnte ich sonst noch tun?«

Sie hatten ihre Gläser fast geleert. Der Kellner brachte eine Flasche Weißwein an den Tisch – Herbert hatte sie vor Vivians Ankunft bestellt –, ließ ihn das Etikett begutachten, entkorkte sie elegant und schenkte ihm einen Schluck in das Weißweinglas ein. Herbert kostete und bezeugte seine Zufriedenheit. Der Kellner füllte erst Vivians, dann Herberts Glas. Er tat dies alles mit jener zeremoniellen Eleganz, wie sie in Restaurants der Spitzenklasse üblich ist.

Gewöhnlich genoß Vivian diese Umständlichkeit, in der sich Respekt vor den Gästen, aber auch vor den Getränken und Speisen ausdrückte. Aber heute machte sie sie nervös. Ungeduldig wartete sie darauf, daß der Mann im schwarzen Frack sich zurückzog.

»Warum«, fragte sie, als sie wieder allein waren, »lassen wir es nicht so, wie es ist?«

»Für mich ist das kein befriedigender Zustand.«

»Ich werde jetzt mehr Zeit für dich haben, viel mehr Zeit.«

»Das genügt mir nicht.«

»Mir gefällt es. Es ist doch schön, wenn zwei erwachsene, freie Menschen sich lieben. Ist die Ehe denn wirklich so erstrebenswert? Du warst schon einmal verheiratet. Du müßtest es wissen.«

»Es ist nicht fair, mich daran zu erinnern – ausgerechnet in diesem Augenblick.«

»Ich finde doch. Gerade weil ich es bisher vermieden habe, dich danach zu fragen.«

Der Kellner servierte Krevettencocktail in Kelchen, heißen Toast, in Servietten eingeschlagen auf einem Silberteller, und zu Röllchen geformte Butterstücke. Diesmal ging es rasch.

Vivian war nicht überrascht, daß Herbert geordert hatte, ohne sie gefragt zu haben. Aber er glaubte ausnahmsweise, sich dafür entschuldigen zu müssen.

»Ich hoffe, du bist mir nicht böse«, sagte er in fragendem Ton.

Sie verstand ihn sofort. »Aber gar nicht. Ich bin froh, daß mir die Qual der Wahl erspart geblieben ist. Es ist schön, mal verwöhnt zu werden.« Sie strich sich Butter auf ein Stück Toast. »Aber das ist auch so etwas was ich nicht alle Tage ertragen könnte.«

»Keine Sorge. Wir werden es uns wohl nie leisten können, alle Tage groß essen zu gehen.«

»Wäre wohl auch langweilig. Aber du weißt genau, daß ich das nicht gemeint habe.« Sie spießte eine Garnele in rosiger Mayonnaise auf die zierliche Fischgabel und steckte sie in den Mund. »Schmeckt ausgezeichnet«, sagte Vivian.

»Worüber beschwerst du dich also?«

»Ich? Mich beschweren?« Sie lachte auf, aber es klang nicht ganz natürlich. »Du spinnst ja.«

Er verzog die Strn. »Ich mag es nicht, wenn du so burschikos bist.«

»Entschuldige, Liebling! Das ist mir nur so ’rausgerutscht. Wir Mediziner sind nun mal ein rauhes Völkchen.«

Nach der Vorspeise wurde dann ein Chateaubriand serviert, innen noch rosig; außen knusprig, dazu Sauce bearnaise und Artischocken. Vivian und Herbert vermochten das ausgezeichnete Dinner nicht recht zu genießen. Sie waren jetzt beide bemüht, höflich miteinander umzugehen. Aber sie spürten, daß es krampfhaft wirkte. Die Mißstimmung, die zwischen ihnen aufgekommen war, ließ sich nicht überspielen. So priesen sie denn das gute Essen und den köstlichen herben Wein, als müßten sie einander überzeugen, wie sehr es ihnen schmeckte.

Eine Nachspeise zu nehmen, lehnte Vivian ab.

»Aber jetzt könntest du nach Herzenslust aussuchen.«

»Ich hoffte, ich hätte dir klargemacht, daß mir daran gar nicht so besonders viel liegt.«

»Trotzdem. Du solltest dir die Karte wenigstens ansehen.«

»Nein, danke, Herbert. Ich weiß, du meinst es gut. Aber ich bin vollkommen satt.«

Beim Kaffee begann er dann von seiner Ehe zu erzählen. »Warum sie in die Brüche ging, weiß ich bis heute noch nicht genau. Vielleicht war es das verflixte siebte Jahr, vielleicht waren wir auch noch zu jung, als wir geheiratet haben, jedenfalls Gina. Ich war fünfundzwanzig, sie achtzehn. Anfangs waren wir glücklich, obwohl wir uns finanziell sehr beschränken mußten. Aber im Lauf der Zeit wurde sie immer unruhiger und unzufriedener. Sie steigerte sich in die Vorstellung hinein, ihre Jugend vergeudet zu haben.«

Vivian beschränkte sich darauf zuzuhören und versagte sich einen Kommentar.

»Eine ganz gewöhnliche Geschichte also. Aber sie hat mir verdammt weh getan. Eine Scheidung ist wohl immer eine Niederlage. Jedenfalls habe ich das so empfunden.«

»Hast du sie denn noch geliebt?«

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls wollte ich sie nicht verlieren. Aber sie bestand auf Scheidung.« Er strich sich über den Mund. »Es steckte ein anderer Mann dahinter. Aber das habe ich erst nachher erfahren. Den hat sie dann auch geheiratet, knapp ein Jahr, nachdem sie die ersehnte Freiheit wiedergewonnen hatte.« Er versuchte ein Lächeln. »Meine Freunde meinten, ich müßte glücklich darüber sein. So brauchte ich wenigstens nicht mehr für sie zu zahlen. Aber für mich war das alles andere als ein Witz.«

Sie streichelte seinen Handrücken. »Armer Herbert.«

»Natürlich weiß ich, daß auch ich Fehler gemacht habe«, sagte er heftig, »es kann ja nicht anders sein. Aber soll ich deshalb verdammt sein, niemals wieder ein eigenes Heim zu haben? Eine Familie? Ich bin jetzt vierzig. Muß ich ein Hagestolz werden?«

»Ganz sicher nicht, Herbert. Du bist ein wunderbarer Mann und ein großartiger Mensch.«

»Heirate mich, Vivian!«

»Ich bin nicht sicher, daß ich die Frau bin, die du brauchst.«

»Dann liebst du mich nicht.«

»Doch, Herbert. Das tue ich. Von ganzem Herzen.«

»Dann würdest du nicht riskieren, mich zu verlieren.«

Das war so logisch, daß Vivian kein Gegenargument dazu einfallen wollte.

»Es würde dir nichts ausmachen, wenn ich mich auf Brautschau begeben würde«, sagte er, und es klang eher wie eine Frage als eine Behauptung.

»Es würde mir weh tun«, gestand sie.

»Aber es wäre dir nicht unerträglich.«

»Ach, Herbert«, sagte sie, »du scheinst nicht zu ahnen, was ein Mensch im Leben alles ertragen kann.«

Vivian Wagner hauste keineswegs in einer Bude, wie sie im Gespräch mit Herbert Zink behauptet hatte, sondern in einer durchaus komfortablen Wohnung – zwei Zimmer, Bad und Küche. Aber die Räume waren klein, und zwei ausgeprägte Persönlichkeiten wären sich hier im Alltag ganz sicher auf die Nerven gegangen. Wenn Herbert sie hie und da am Wochenende besuchte, wenn sie miteinander schmusten, schliefen, alberten und sich in der Küche etwas brutzelten, war das natürlich etwas ganz anderes. Dann hatten sie beide das Bedürfnis, ganz eng beieinander zu sein.

Da Vivian es haßte, eine dunkle Wohnung zu betreten, hatte sie im Entrée die kleine Lampe über dem Garderobenspiegel brennen lassen. Es wurde ihr bewußt, daß sie froh war, wieder allein zu sein. Sie hätte ein Zusammensein mit Herbert nur schwer ertragen. Natürlich hatte er mit ihr heraufkommen wollen, aber als sie es abgelehnt hatte – sehr charmant, aber bestimmt –, hatte er nicht darauf bestanden. Er hatte sich so rasch damit abgefunden, daß sie es als Beleidigung oder auch als Strafe hätte empfinden können. Aber sie war nur erleichtert gewesen.

Sorgfältig streifte sie ihren Mantel über einen Bügel und hängte ihn an die Garderobenwand. Unwillkürlich warf sie einen Blick in den Spiegel: gerade Nase, festes Kinn, große blaue Augen, nußbraunes Haar – ja, sie sah wirklich gut aus; sie konstatierte es ohne Eitelkeit.

Dann ging sie ins Bad, ließ Wasser in die Wanne laufen, gönnte sich einen schäumenden Zusatz und zog sich im Schlafzimmer aus. Das Bett, breit, modern, bequem, war schon für die Nacht gerichtet. Es machte den Eindruck, als wartete es auf sie. Aber seine Zeit war noch nicht gekommen.

Vivian schminkte sich vor dem Spiegel über dem Waschbecken ab und nahm ihre Haftschalen aus den Augen, versorgte sie in dem dafür bestimmten Döschen. Jetzt war ihre Iris nicht mehr blau, sondern grau. Aber das machte kaum einen Unterschied. Herbert kannte sie auch so, und es hatte ihn nie gestört. Sie selber hatte schon erwogen, auf die Haftschalen, die sie anfangs nur aus kosmetischen Gründen benutzt hatte, zu verzichten. Aber dann hatte sich bei ihr eine leichte Sehschwäche gezeigt, und so hatte sie denn das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Sie cremte Gesicht und Hals mit kreisenden Bewegungen ein und stieg danach in die Wanne. Das heiße Wasser war eine Wohltat. Sie schloß die Augen und versuchte abzuschalten. Aber die Erinnerung an den mißglückten Abend verfolgte sie.

Es war durchaus nicht Herberts Schuld, daß der Abend schiefgelaufen war. Sie hätte mit seinem erneuten Heiratsantrag zu diesem Zeitpunkt rechnen und ihn abbiegen müssen, bevor er ausgesprochen worden war. Ihr Verhalten hatte ernüchternd auf ihn wirken müssen.

Er war ein sehr verletzlicher Mann, aber gerade das liebte sie an ihm. Sie verstand, daß er seine Sensibilität hinter einem betont männlichen Gehabe zu verbergen suchte. Es störte sie auch nicht, wenn er über sie zu bestimmen versuchte. Das konnte er ja immer nur bei durchaus unwichtigen Anlässen wie etwa beim Dinner heute abend, oder wennn er sie bat, dieses und jenes Kleid nicht anzuziehen oder Kraftausdrücke zu vermeiden. Es fiel ihr nicht schwer, ihm darin nachzugeben. Doch in wesentlichen Fragen behielt sie sich die Entscheidung vor.

So hatte sie ihn nach dem letzten Staatsexamen nicht geheiratet, wie er es gewollt hatte, sondern eine Stellung als Assistenzärztin im Krankenhaus Wilmersdorf, gleich hinter dem Kurfürstendamm, angetreten. Sie war nicht zu ihm nach Charlottenburg gezogen, sondern in die Düsseldorfer Straße, von wo sie die Klinik zu Fuß erreichen konnte. Sie hatte ihre Freizeit nur selten mit ihm verbracht, sondern statt dessen ihre Dissertation geschrieben. Ja, sie hatte ihm einiges zugemutet, aber er hatte es, wenn auch nicht ohne Murren, hingenommen, weil ihre Argumente logisch und vernünftig gewesen waren. Daß er jetzt nicht länger warten wollte, war begreiflich. Sie hätte es voraussehen sollen. Die einzige Erklärung, die er sich für ihr Verhalten zurechtlegen konnte, war mangelnde Liebe.

Aber das stimmte nicht. Sie liebte ihn sehr, mehr als jeden anderen Mann zuvor. Was sie vor einer offiziellen Bindung zurückschrecken ließ, war etwas ganz anderes: Er wußte nichts von ihr; er kannte sie im Grunde gar nicht, und es wurde ihm nicht einmal bewußt.

Es war tatsächlich nicht fair von ihr gewesen, auf seine gescheiterte Ehe anzuspielen. Damit hatte sie versucht, ihm den Schwarzen Peter zuzuspielen, und das war ihr sogar geglückt. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, daß sie an seinen Fähigkeiten zweifelte, eine gute Ehe führen zu können.

Doch in Wahrheit bestand dazu gar kein Grund. Er war zärtlich und leidenschaftlich, liebevoll und fürsorglich, treu und solide und hatte sogar Sinn für Humor. Einen besseren Mann hätte sie sich gar nicht wünschen können. Es lag nur an ihr, einzig an ihr, daß sie seinen Antrag nicht annehmen konnte. Vivian seufzte tief, mußte dann aber selber über ihren einsamen Seufzer lächeln, öffnete die Augen und erhob sich, um sich kalt abzuduschen. Dabei bewunderte sie, wenn auch ein wenig ironisch, ihren festen, runden Busen – zu schön, um echt zu sein.

Nachdem sie sich mit einem großen, weichen Frotteetuch gründlich abgetrocknet hatte, cremte sie ihre Haut vom Busen bis zu den Zehen ein und schlüpfte in ein langärmeliges Baumwollnachthemd. Sie zog ein Paar warme Lammfellhausschuhe an und einen seidenen Kimono mit breiter Schärpe. Dann sammelte sie die getragene Unterwäsche ein und steckte sie im Bad in den Wäschepuff. Das goldgelbe Seidenkleid mit den Spaghettiträgern hängte sie über einen Bügel und brachte es zum Lüften auf den Küchenbalkon. Sie war nur wenige Sekunden draußen, dann flüchtete sie vor der bitteren Kälte gleich wieder in die Wärme der Küche zurück.

Die Küche war, wie alle Räume ihrer Wohnung, klein, aber sie bot immerhin Platz für einen quadratischen Holztisch mit zwei Stühlen. Er hatte, im Gegensatz zum Couchtisch im Wohnzimmer, die richtige Höhe. Hier pflegte sie, allein oder auch zu zweit, ihre Mahlzeiten einzunehmen. Er war mit einem rotweiß karierten Tuch bedeckt.

Vivian war jetzt gar nicht mehr müde. Sie nahm sich ein kleines Glas, holte eine Flasche Magenbitter aus dem Hängeschrank und schenkte sich ein.

Das volle Glas in der Hand, überlegte sie, ins Wohnzimmer zu gehen. Aber dann blieb sie, wo sie war, und ließ sich auf einen der beiden Holzstühle sinken, deren Sitze aus Binsen geflochten waren. Ihre Kindheit hatte sie vorwiegend in der Küche verbracht. Nach dem frühen Tod ihres Vaters – damals war sie zwölf Jahre alt gewesen – hatte sie das Schlafzimmer mit der Mutter geteilt. So hatte sie keinen Raum für sich selber gehabt. In der Küche hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht, geschmökert und geträumt, während die Mutter zur Arbeit in die Werkzeugfabrik ›Gebrüder Hammer‹ gegangen war, um die Rente aufzubessern. Es war eine armselige Kindheit gewesen, und Vivian hätte sie um keinen Preis noch einmal erleben mögen. Aber die Vorliebe für die Küche als Zufluchtsort war ihr geblieben.

Der Magenbitter tat ihr gut, obwohl das Essen nicht eben schwer gewesen war. Herbert hatte vorgeschlagen, zum Kaffee noch einen Cognac zu nehmen. Das hatte sie abgelehnt aus Furcht, in einen Zustand zu geraten, in dem Worte fallen könnten, die sich nicht mehr zurücknehmen lassen würden. Hier, ganz allein, das Bett in Reichweite, durfte sie sich gehenlassen. Sie schenkte sich noch ein Glas ein, verschraubte dann aber die Flasche und stellte sie an ihren Platz zurück.

Auf dem Unterschrank lag, gleich neben der Spüle, ein Stapel Zeitungen und Magazine, für das Altpapier bestimmt. Vivian wollte es nicht, aber sie konnte nicht anders: Sie zog eine bestimmte Illustrierte mit einem knallbunten Titelblatt heraus – es zeigte eine deutlich gestellte Szene der britischen Königsfamilie im Buckingham-Palast –, trug sie zu ihrem Platz und setzte sich wieder. Lange starrte sie auf dieses kitschige Farbfoto, ohne es wirklich zu sehen. Vivian pflegte dergleichen Produkte der Yellowpress nicht zu kaufen, sie hatte es, nachdem sie es stehend gedankenlos durchgeblättert hatte, aus einem Wartezimmer der Klinik mitgenommen. Es war ein entsprechend abgewetztes Exemplar.

Warum nur hatte sie es eingesteckt? Und warum hatte sie es dann nicht vernichtet? Warum trennte sie sich nicht jetzt, in diesem Augenblick, davon und ließ es im Müllschlucker verschwinden?

Es war ihr unmöglich. Wie unter Zwang schlug sie es an einer bestimmten Seite auf. Das Bild einer Frau war abgedruckt, einer gedemütigten jungen Frau – das zeigte der verstörte Blick ihrer schrägstehenden Augen –, die dennoch mit einem Ausdruck von Trotz und Energie, die Lippen fest zusammengepreßt, in die Kamera blickte. Es war eine Schwarzweißaufnahme mit sehr harten Konturen, ein Foto, das seinerzeit durch die gesamte deutsche Presse, ja, wahrscheinlich sogar durch die Weltpresse gegangen war. Dieses Foto und noch einige mehr. Im Gerichtssaal hatten die Reporter zwar nicht knipsen dürfen, aber ansonsten hatten sie jede Möglichkeit wahrgenommen, hatten sie auf Schritt und Tritt verfolgt.

Auch Kinderbilder waren in die Zeitungen gelangt, eines, das sie am ersten Schultag mit der traditionellen spitzen Tüte zeigte, ein Klassenfoto, eines von der Abiturfeier und andere mehr. Aber sie alle waren austauschbar, hätten dieses oder jenes Mädchen in der Pubertät zeigen können. Doch dieses große Schwarzweißfoto zeigte unverwechselbar Lisa Hammer.

Die Unterschrift lautete, so knapp wie bösartig: ›Lisa Hammer – eine kaltblütige Mörderin?‹

Vivian las den Artikel nicht. Er war in der Serie Ungeklärte Kriminalfälle‹ erschienen, mit dem irreführenden und denunzierenden Titel: ›Der Fall Lisa Hammer‹. Bei einer auch nur annähernd um Wahrheit bemühten Darstellung hätte es ›Der Fall Bruno Hammer‹ heißen müssen, so aber konnte es sich um nichts als verleumderisches Geschmiere handeln.

Vivian konnte sich nicht von dem Foto Lisa Hammers losreißen, sie betrachtete es mit einer, wie es ihr selber schien, geradezu krankhaften Faszination.

Wer war diese Frau? Sie wirkte unauffällig, ja unscheinbar: straff zurückgekämmtes Haar – die Stirn allerdings hoch und ausgeprägt –, gebogene Nase, fliehendes Kinn, die Figur eher mager als schlank. Dennoch war sie auf eine gewisse Weise anziehend durch ihre offensichtliche Jugend, ihre Intelligenz und die Kraft, die sie ausstrahlte –, eine Kraft, die die meisten Journalisten und, durch sie beeinflußt, weite Teile der Bevölkerung als verbrecherisch empfunden hatten.

›Eine Frau, die vor nichts zurückschreckt!‹ hatten die Kommentare gelautet. ›Äußerst berechnende!‹ – ›Mit dem Teufel im Bunde?‹

Man hatte sie sozusagen vorverurteilt, und es gab nichts, was sie dagegen hatte tun können. Schon daß sie in jedem Bericht über den Mordfall Bruno Hammer als ›die mutmaßliche Täterin‹ zitiert wurde, hätte genügt, die Öffentlichkeit gegen sie aufzubringen.

Aber wer war Lisa Hammer, geborene Hopf wirklich? Ein umstelltes, in die Enge getriebenes Wild? Eine unschuldig Verfolgte? Eine verzweifelte, um ihre Freiheit Kämpfende? Das und noch viel mehr.

Vor allem aber war sie die Frau, die später Vivian Wagner werden sollte, Frau Doktor Vivian Wagner, sie die einstmals die Krankenschwester Lisa Hopf und später die Frau Bruno Hammers gewesen war.

Obwohl Vivian niemals ganz hatte vergessen können, was ihr damals in ihrer Heimatstadt Rodenberg in Oberbayern geschehen war, hatte sie es doch weitgehend verdrängt. Alle Energie hatte sie darauf verwendet, ihre neue Persönlichkeit zu formen und ihr Medizinstudium zu meistern. Für trübe Gedanken war keine Zeit geblieben, wenn auch Alpträume sie oft genug nachts aus dem Schlaf geschreckt hatten. Die Vergangenheit, dessen war sie sich sicher gewesen, war tot. Sie konnte sie nicht mehr einholen.

Diese Anstrengung hatte sie so weit gebracht, daß sie sich kaum noch mit der anderen, die sie einmal gewesen war, identifizieren konnte. War sie das wirklich gewesen? Wie war sie gewesen? Und wie hatte sie in den entsetzlichen Verdacht geraten können?

In dieser Nacht wurde es Vivian bewußt, daß sie die Vergangenheit nicht bewältigen konnte, indem sie sie von sich schob, sich verbot, rückwärts zu blicken, sie entschlossen hinter sich ließ, wie sie es bisher immer getan hatte. Um mit ihr fertig zu werden, mußte sie sie verarbeiten, denn sonst konnte es keine Zukunft für sie geben. Mit Macht versuchte sie sich jede Einzelheit ins Gedächtnis zu rufen.

Wie hatte alles begonnen?

Es war Mitte September gewesen, eine jener Vollmondnächte, die sie gefürchtet hatte, weil sie sie und auch den alten Herrn unruhig machten. Aber als sie nach Mitternacht die Vorhänge zuziehen wollte, hatte sie festgestellt, daß der Himmel wolkenverhangen war, und hatte darauf verzichtet. Sie hatte sich auf dem schmalen Bett in dem Raum schlafen gelegt, der mit seinen beiden Bücherwänden immer noch den Charakter einer Bibliothek hatte. Aber daran hatte sie sich nie gestört.

Als sie erwacht war, hatte das Leuchtzifferblatt des Weckers, der neben dem Bett auf einem Stuhl stand, fünf Minuten nach vier angezeigt. In dem alten Haus in der Parkallee war es ganz still gewesen. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, in die Dunkelheit zu lauschen, sondern war sofort in ihren weißen Schwesternkittel und ihre bequemen Sandalen geschlüpft.

Die Tür nach nebenan, dem großen Gartenzimmer, war, wie immer, nur angelehnt gewesen. Hier war Bruno Hammer seit seiner schweren Erkrankung, die es ihm nicht mehr erlaubte, Treppen zu steigen, untergebracht. Das hatte für ihn auch den Vorteil, daß sie ihn bei gutem Wetter im Rollstuhl auf die Terrasse schieben konnte.

Jetzt lag er in seinem Bett, einem verstellbaren Krankenhausbett, und schlief. Die Nachttischlampe verbreitete ihr mildes, bläuliches Licht. Gleich daneben hing der Klingelzug, so nahe seiner Hand, daß er sie kaum bewegen mußte, wenn er einen Hilferuf aussenden wollte.

Sie registrierte, wie seltsam ruhig es war. Nicht einmal einer seiner gewöhnlich leicht rasselnden Atemzüge war zu hören. Schlief er wirklich?

Sie beugte sich über ihn. »Bruno«, fragte sie, »mußt du nicht mal?«

Keine Antwort. Aber der Ausdruck seines Gesichts war ganz friedlich, ja, es schien sogar etwas wie ein Lächeln um seine Lippen zu spielen.

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie war sehr kalt. Jetzt, zum erstenmal, kam ihr der Gedanke, daß er gestorben sein könnte. Sie fühlte seinen Puls, tastend, nur mit den Fingerspitzen. Sein Blut pulsierte nicht mehr. Auf dem Spiegel, den sie ihm vor die Lippen hielt, erschien kein Hauch. Bruno Hammer, ihr Patient, ihr Mann und ihr Gönner, war tot.

Lisa sank in den bequemen Sessel, in dem sie ihm Gesellschaft zu leisten pflegte, und versuchte ihrer Betroffenheit Herr zu werden. Daß er nicht mehr sehr lange zu leben hatte, hatten sie beide gewußt. Aber mit einigen Jahren war doch noch zu rechnen gewesen. Daß der Tod so schnell kam, hatte niemand erwartet, auch Doktor Krantz, der Hausarzt, nicht.

Benommen saß Lisa da und dachte über ihre Beziehungen zu dem Toten nach, über seine Güte, seine Launen, seine jähen Zornausbrüche, über seinen Humor, der sich zuweilen auch in verletzender Ironie äußern konnte.

Als sie noch ein Kind und er ein gesunder Mann gewesen war, hatte sie ihn verehrt und gefürchtet. Die schweren Wagen, die er gefahren, die dicken Zigarren, die er geraucht, seine Eleganz und sein Auftreten, die rauschenden Feste, die er gegeben hatte, als seine Frau noch lebte, das alles war nicht nur für sie, sondern für ganz Rodenberg beeindruckend gewesen.

Manchmal war sie als junges Mädchen von seiner Tochter Evelyn zu Festen in sein Haus geladen worden. Die besondere Freundlichkeit, die er ihr stets erwiesen hatte, hatte sie eher erschreckt als erfreut. Nie hatte er vergessen, sie nach ihren Schulleistungen zu fragen und sie zu loben. Oft hatte er ihr einen Geldschein in die Hand gedrückt.

In den letzten drei Jahren, als sie seine Pflege übernommen hatte und schließlich seine Frau geworden war, hatte er im Mittelpunkt ihres Lebens gestanden und es ganz ausgefüllt. Jetzt, als sie an seinem Totenbett saß, kam ihr nicht eine Sekunde das Gefühl, sich über die Freiheit, die ihr sein Ableben schenkte, freuen zu können. Im Gegenteil, die Aufgabe, sich von heute auf morgen völlig umorientieren zu müssen, schien vor ihr zu stehen wie ein Berg, der sich kaum bewältigen ließ. Endlich raffte sie sich auf. Es war ihr der Gedanke gekommen, daß er sich im Schlaf oder im Tod beschmutzt haben könnte. Sie wollte ihn säubern, bevor der Arzt kam. Behutsam entfernte sie die Decke, die bis zu seiner Brust hochgezogen und unter beiden Armen eingeklemmt war.

Erst da entdeckte sie den Blutfleck, direkt über seinem Herzen. Er war nicht groß, das ausgetretene Blut war schon geronnen. Mit Entsetzen begriff sie, daß Bruno Hammer keineswegs eines natürlichen Todes gestorben war. Man hatte ihn im Schlaf getötet.

Die Frage, wer es getan haben könnte, stellte sich ihr gar nicht. Daß jemand etwas so abgrundtief Böses hatte über sich bringen können, war es, was sie schockierte.

Als sie den ersten Schreck überwunden hatte, stürzte sie zum Telefon und verständigte den Notruf. Sie wußte später nicht mehr, was sie genau gesagt hatte, befürchtete aber, sich sehr unverständlich ausgedrückt zu haben. »Bruno Hammer«, hatte sie wohl gestammelt, »mein Mann! Ja, der Fabrikant. Jemand hat ihn erstochen. Parkstraße zehn.«

Sie waren sehr rasch da, ein Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn und ein PKW. Lisa hatte kaum Zeit gehabt, sich das Haar zu richten. Sie hatte auch das Außenlicht angemacht und erwartete die Polizei in der geöffneten Haustür.

»Wo?« wurde sie nur gefragt.

Sie wies stumm in den rückwärtigen Teil des Hauses.

Männer in Uniform und Zivil stürmten an ihr vorbei, zwei trugen eine zugeklappte Bahre, einer hatte eine Fotoausrüstung bei sich.

Ein älterer Herr mit beginnender Glatze und Kunststoffbrille blieb als einziger bei ihr stehen. »Sie haben den Anruf getätigt?«

Lisa nickte.

»Wo können wir uns in Ruhe unterhalten?«

»In der Bibliothek.«

Sie ging voraus und führte ihn durch die große Diele, in der jetzt alle Lichter brannten, und durch die schmale getäfelte Tür in die Bibliothek. Ihr Bett war noch zerwühlt. Aus dem Gartenzimmer waren das Klicken einer Kamera und die teils mürrischen, teils aufgekratzten Stimmen der Polizisten zu hören.

»Ich bin Oberinspektor Ellmann von der hiesigen Kripo«, stellte sich der Herr mit der Glatze vor, »ich werde diesen Fall übernehmen. Wollen wir uns nicht setzen?«

Lisa räusperte sich. In einer Ecke der Bibliothek gab es zwei bequeme Ledersessel, die bei einem niederen achteckigen Tisch aus Rosenholz standen. Lisa wies auf sie hin, und sie nahmen Platz.

Oberinspektor Ellmann trug einen grauen Trench, den er auch jetzt nicht auszog, obwohl das Haus stark beheizt war, aber er öffnete ihn. Aus der Innentasche seines grauen Jacketts zog er ein dickes schwarzes Notizbuch und einen Kugelschreiber. »Ich kann mir vorstellen, daß dieser Todesfall Sie sehr mitnimmt«, sagte er, »trotzdem muß ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Lisa saß sehr steif in ihrem Sessel, ohne sich anzulehnen, und preßte die Hände zusammen. »Ja, das verstehe ich.«

»Der Verstorbene ist also Bruno Hammer? Der Bruno Hammer?«

»Ja. Er ist …« Sie verbesserte sich. »… er war Besitzer und Chef der ›Gebrüder Hammer‹-Werke.«

»Wie alt?«

»Siebenundfünfzig.«

Oberinspektor Ellmann schlug sein Notizbuch auf und trug es ein. »Sie«, sagte er dann, »sind die Krankenschwester, nehme ich an.«

»Ja, ich habe ihn gepflegt.«

»Ihren Namen, bitte!«

»Lisa Hammer.«

»Eine Verwandte?«

»Wir waren verheiratet.«

Unwillkürlich hob der Oberinspektor eine Augenbraue. »Seit wann?«

»Seit fast zwei Jahren.«

»Ihr Alter?«

»Fünfundzwanzig.«

Er notierte es ohne Kommentar. »Sie haben den Toten gefunden?«

»Ja.«

»Um wieviel Uhr?«

»Es muß sieben oder acht Minuten nach vier gewesen sein.«

Überrascht warf Ellmann einen Blick auf seine Armbanduhr. »Aber Ihr Notruf kam erst zehn nach fünf.« Er sah sie fragend an.

»Ja, ich weiß.«

»Würden Sie so freundlich sein, mir diese Diskrepanz zu erklären.«

»Ja, natürlich. Das war so: Fünf Minuten nach vier wurde ich wach. Ich habe als erstes auf meinen Wecker geschaut, deshalb weiß ich die Zeit so genau.«

»Durch ein Geräusch?«

»Nein. Im Gegenteil. Ich wachte wohl auf, weil mein Mann mich nicht gerufen hatte. Gewöhnlich brauchte er gegen drei Uhr das Steckbecken.«

»Aha.«

»Ich stand auf und ging nach nebenan. Zuerst dachte ich, er schläft. Aber dann merkte ich, daß er nicht mehr atmete. Ich stellte fest, daß er tot war.«

»Wann, ungefähr, wird das gewesen sein?«

»Schon wenige Minuten nach meinem Eintritt.«

»Und was taten Sie dann?«

»Ich …« Lisa rang die Hände. »… ich trauerte um ihn.«

»Sie sind nicht auf die Idee gekomen, die Polizei zu alarmieren?«

»Wie sollte ich? Ich dachte, er wäre an einem Herzversagen gestorben. Das wäre bei seiner Erkrankung etwas ganz Natürliches gewesen. Sein Herz war stark angegriffen.«

»An was litt er?«

»Gelenkrheumatismus. In primär-chronischer Form.«

»Aber waruum haben Sie nicht wenigstens den Arzt verständigt?«

»Warum? Der Patient war ja tot. Niemand hätte ihm mehr helfen können.«

»Trotzdem wäre es doch wohl die natürlichste Reaktion gewesen.«

»Den Arzt aus dem Bett zu scheuchen? Mitten in der Nacht? Doktor Krantz ist auch nicht mehr der Jüngste.«

»Sie wollen damit sagen, daß Ihr Motiv Rücksichtnahme war?«

»Das auch.«

»Aber eine Stunde später entschlossen Sie sich dann doch …«

Lisa hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben, aber das Bedürfnis sich zu verteidigen war stärker; sie schnitt Ellmann das Wort ab. »Herr Inspektor … Herr Oberinspektor! Ich habe den Notruf sofort alarmiert, als ich entdeckte, daß mein Mann getötet worden ist.«

»Und das war eine Stunde, nachdem Sie ihn fanden?«

»Ja!«

»Und wie das?«

»Ich zog ihm die Bettdecke fort, weil ich ihn waschen wollte. Da sah ich das Blut über seinem Herzen.«

»Hm, hm«, machte der Oberinspektor.

»Sie müssen mir das glauben! Er war vorher bis hier …« Sie zeigte es an sich selber. »… zugedeckt gewesen. Seine Arme lagen ausgestreckt links und rechts über der Decke. Ich konnte erst dann die Verletzung sehen.«

»Die Verletzung?«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich nehme das zurück. Tatsächlich habe ich nur das Blut auf seinem Pyjama gesehen, nicht den Einstich.«

»Sie sind sicher, daß es sich um einen Einstich handelt?«

»Um was sonst? Da verhältnismäßig wenig Blut ausgetreten ist, kann ich sogar sagen, daß es sich bei der Waffe um einen sehr spitzen, sehr scharfen Gegenstand gehandelt haben muß?«

»Eine Stricknadel?«

Sie dachte nach. »Nein. Eine Stricknadel wäre nicht scharf genug. Außerdem ließe sie sich nicht handhaben.«

»An was haben Sie denn gedacht?«

»Ich habe mir darüber nicht den Kopf zerbrochen. Das herauszubringen ist Sache der Polizei, finde ich, oder, eher noch, des Pathologen.«

»War die Wunde frisch?«

»Wie könnte sie, da seit dem Mord mehr als eine Stunde vergangen sein mußte? Nein, das Blut war schon verkrustet.«

»Und Sie haben wirklich kein ungewöhnliches Geräusch im Haus gehört? Denken Sie gut nach!«

»Nein. Es war absolut still.«

»Ich nehme an, daß Sie einen leichten Schlaf haben.«

»Nein, habe ich nicht. Ich schlafe tief und fest, bis auf die Zeiten, zu denen der Patient mich braucht.« Sie verbesserte sich: »Brauchte.«

»Und wann war das?«

»Um drei Uhr, wie gesagt, aber heute habe ich verschlafen. Und dann wieder um sechs Uhr. Um vierundzwanzig Uhr sehe ich das letzte Mal nach ihm.«

»Sie mußten also nachts zweimal aufstehen. War das nicht sehr anstrengend?«

»Halb so schlimm. Ich konnte mich mittags hinlegen.«

»Trotzdem meine ich, daß zu einer solchen Pflege rund um die Uhr …« Er unterbrach sich. »Ich habe Sie doch wohl richtig verstanden?«

»Ja.«

»Ich meine – warum mußten Sie das allein machen? Geld, eine zweite oder eine dritte Kraft einzustellen, wäre ja doch wohl dagewesen.«

»Mein Mann ertrug keine fremden Menschen in seiner Nähe.«

»Nun gut. Lassen wir das. Wer, außer Ihrem Mann und Ihnen, wohnte sonst noch in diesem Haus?«

»Evelyn, seine Tochter, hat noch ein Zimmer hier, und Arthur, sein Sohn. Aber sie leben beide nicht in Rodenberg.«

»Und sonst?«

»Niemand. Frau Gärtner, Gerda Gärtner, die den Haushalt macht, geht nachmittags um vier. Die letzte Mahlzeit richte ich dann selber.«

»Und was hat es gestern gegeben?«

»Einen Teller entfettete Bouillon, Toastbrot mit wenig Butter und Diabetikermarmelade.«

»Hatte er denn auch Zucker?«

»Das nicht. Aber er war auf Schonkost gesetzt, auch um den Cholesterinspiegel niedrig zu halten.«

»Und wann hat er das zu sich genommen?«

»Um neunzehn Uhr.«

»Und danach nichts mehr?«

»Ein Glas Wein. Sollte er eigentlich auch nicht trinken, aber – nun ja – ein bißchen Lebensfreude war ihm doch zu gönnen.«

»War das Ihre eigene Entscheidung? Dem Patienten Alkohol zu geben, meine ich. Oder hat der Doktor Sie darin unterstützt?«

»Doktor Krantz wußte davon.«

»Na ja, ich denke, das wär’s fürs erste.« Oberinspektor Ellmann machte eine Bewegung, als wollte er Notizbuch und Kugelschreiber einstecken, tat es dann aber doch nicht. »Wieviel Hausschlüssel gibt es?«

»Frau Gärtner und ich haben je einen, die beiden anderen sind bei Evelyn und Arthur.«

»Und was ist mit dem Ihres Mannes?«

»Das ist der, den ich benutze.«

»Haben Sie das Haus oft verlassen?«

»Nein.«

»Dann zeigen Sie mir mal bitte Ihren Schlüssel!«

»Wozu?« fragte sie erstaunt.

»Nun ja. Er könnte Ihnen abhanden gekommen sein.«

Lisa stand auf, zog eine große Tasche aus Segeltuch unter dem Bett hervor, in der sie Höschen und Strümpfe zum Wechseln, Taschentücher, Bürste, Kamm und allerlei persönlichen Krimskrams bewahrte. In einer Reißverschlußtasche an der Seie war ihr Schlüsselbund. »Hier ist er!« erklärte sie und legte ihn vor Oberinspektor Ellmann auf den Tisch. »Der andere ist der Autoschlüssel.«

Der Kriminalbeamte beäugte die Schlüssel, rührte sie aber nicht an. »Danke, Frau Hammer!« Er kritzelte noch etwas in sein Büchlein, steckte es dann samt Kugelschreiber ins Jackett.

»Sie haben mir ein ganzes Stück weitergeholfen.«

»Tatsächlich?« fragte sie skeptisch.

»Doch. Ich kann mir jetzt zumindest ein Bild von der Situation machen.« Er stand auf und ging auf die Tür zum Gartenzimmer zu. Kurz davor blieb er stehen und wandte sich um. »Sagen Sie, wie oft haben Sie das Auto eigentlich gefahren?«

»Hin und wieder.«

»Bei welchen Gelegenheiten?«

»Wenn ich zur Apotheke mußte.«

»Sonst nie?«

»Vielleicht doch. Das kann ich im Augenblick nicht mit Sicherheit sagen.«

»Danke, Frau Hammer.«

Lisa fühlte sich benommen; sie wußte nicht, was sie tun sollte. Die Haustür schlug zu. Wahrscheinlich hatte man den Toten schon fortgebracht. Aber aus dem Nebenzimmer waren noch, wenn auch unverständlich, Männerstimmen zu hören.

Es ging jetzt auf sechs Uhr zu, noch zu früh, um Evelyn und Arthur zu benachrichtigen. In einer Stunde würde Frau Gärtner eintreffen. Sie mußte es wohl zunächst erfahren.

Lisa entschied, in die Küche zu gehen und sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Gerade war sie aufgestanden, als es an der Tür klopfte.

»Ja?« sagte sie müde.

Oberinspektor Ellmann trat ein, gefolgt von einem sehr großen schlanken Herrn, dessen glattes schwarzes, zurückgekämmtes Haar Geheimratsecken an beiden Seiten der Stirn freiließ.

»Staatsanwalt Goldberg«, stellte der Oberinspektor vor, »Frau Lisa Hammer.«

»Mein aufrichtiges Beileid, gnädige Frau«, sagte der Staatsanwalt und blickte sie aus dunklen Augen so aufmerksam an, als hoffte er, den Grund ihrer Seele erforschen zu können.

»Danke«, erwiderte sie spröde.

»Die Männer von der Spurensicherung sind fort, Frau Hammer. Sie können jetzt hinein.«

»Danke«, sagte sie wieder und kam sich wie ein Papagei vor, aber sie brachte nicht mehr die Kraft auf, liebenswürdig zu sein oder Konversation zu machen.

Die Herren zogen sich zurück. Lisa ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Die Küche war klein und sehr modern, erst nach der Erkrankung Bruno Hammers, dem Tod seiner ersten Frau und dem Weggang der Kinder eingebaut. Sie hatte ein Fenster zur Straße.

Während das kochende Wasser durch den Filter lief, konnte Lisa über den Vorgarten hinweg den Kriminalbeamten und den Staatsanwalt beobachten, wie sie noch einige Zeit auf dem Bürgersteig beisammen standen und miteinander sprachen. Dann verabschiedeten sie sich und gingen mit großen Schritten davon, wahrscheinlich zu ihren Autos, die sie bei ihrer Ankunft nicht direkt vor dem Haus hatten parken können. Der Streifenwagen war inzwischen verschwunden.

Gerda Gärtner war eine dicke Frau, die sich trotz ihres Übergewichts sehr behende bewegen konnte. Ihr rundes, fast faltenloses Gesicht täuschte eine Mütterlichkeit vor, die sie in Wahrheit nicht besaß. Ihr Mann war gestorben, ihre Kinder hatten sie verlassen, und sie lebte allein.

»Man muß sehen, wo man bleibt, wenn man sich wie ich allein durchs Leben schlagen muß«, war eine ihrer ständig wiederholten Redensarten.

Sie war zweiundfünfzig, trug das früh ergraute Haar blond gefärbt und arbeitete seit über zehn Jahren bei den Hammers.

Lisa brachte ihr die Nachricht vom Tod des Fabrikanten so schonend wie möglich bei.

»Na, das war ja vorauszusehen«, erwiderte sie unerschüttert, »daß der es nicht mehr lange machen würde.«

»Trotzdem ist es schlimm«, sagte Lisa.

»Für wen, bitte? Sie kommen endlich hier heraus und kriegen sicher ’ne Stange Geld, und vielleicht hat er mir ja sogar auch etwas hinterlassen, obwohl ich daran nicht recht glauben kann. Jedenfalls – eine Stelle wie die kriege ich alle Tage.« Mit Nachdruck stellte sie ihre Plastiktasche auf den Küchentisch.

»Die Situation ist nicht ganz so einfach. Herr Hammer ist keines natürlichen Todes gestorben.«

»Nun sagen Sie bloß, er hat sich umgebracht!«

»Das nicht, Frau Gärtner.«

Die Haushälterin riß die Augen auf. »Man hat ihn abgemurkst?«

»Er ist erstochen worden.«

»Von wem?«

»Das weiß man noch nicht.«

»Du lieber Himmel! Hoffentlich kriegen die es bald heraus. Sonst kriegen wir noch jede Menge Schwierigkeiten.«

»Nicht so schlimm, wenn man ein gutes Gewissen hat.«

»Das habe ich, und wie! Warum hätte ich ihn erledigen sollen? Mich hat er ja nicht schikanieren können, mich nicht!«

»Mich auch nicht, Frau Gärtner. Er hatte Schmerzen, und er war gereizt, und es ärgerte ihn, daß er so hilflos war. Aber ich bin ganz sicher, daß er mich gern gehabt hat.«

»Dazu hatte er ja auch allen Grund. Wo wäre er ohne Sie geblieben?«

»Ich werde die Kinder verständigen müssen.«

»Soll ich das für Sie tun? Ich mache es gerne.«

»Danke, Frau Gärtner. Sehr lieb von Ihnen. Aber das muß ich wohl selbst übernehmen.«

»Was wird jetzt mit dem Haushalt, Schwester … entschuldigen Sie … Frau Hammer? Wird er aufgelöst?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Sie werden doch nicht hier wohnen bleiben wollen, und die Evelyn schon gar nicht, und was den jungen Arthur betrifft …«

»Darüber brauchen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zu zerbrechen«, fiel Lisa ihr ins Wort.

»Aber ich muß doch wissen …«

»Das verstehe ich ja. Aber im Moment bleibt Ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, wie Evelyn und Arthur sich entscheiden.«

»Bei Arthur bleibe ich auf keinen Fall. Der ist ein lieber Junge, aber so ein Leichtgewicht, und was Evelyn betrifft, die ist noch schlimmer als ihr alter Herr.«

Lisa zuckte die Achseln. »Lassen Sie es auf sich zukommen, Frau Gärtner! Wie Sie schon sagten – ich werde bestimmt nicht bleiben. Was sollte ich noch hier?«

»Wann wird die Testamentseröffnung sein?«

»Nach der Beerdigung, denke ich.«

»Sind Sie nicht schon sehr gespannt?«

»Nein, Frau Gärtner. Aber entschuldigen Sie mich jetzt, bitte. Ich muß die beiden anrufen.«

Eine halbe Stunde später steckte die Haushälterin den Kopf ins Krankenzimmer. »Die Polizei!« rief sie.

Lisa war gerade dabei, das Krankenbett abzuziehen. »Schon wieder?« fragte sie, eher verärgert als erschrokken.

»Zwei Männer«, berichtete Frau Gärtner, »sie haben einen Hausdurchsuchungsbefehl.«

»Na, dann sollen sie mal suchen.«

»Soll ich bei ihnen bleiben?«

»Keine Ahnung, ob das nötig ist. Fragen Sie sie!«

»Mach’ ich!« Frau Gärtner zog den Kopf zurück.

Lisa hörte sie durch die halbgeöffnete Tür in der Diele mit den Männern reden, aber sie schenkte dem Gespräch keine Aufmerksamkeit. Auf dem Beitisch standen noch die Medikamente, die der Patient benötigt hatte; Lisa räumte sie in eine Schublade. Sie überlegte, ob sie nicht das Bett, das wie ein Fremdkörper in dem großen freundlichen Raum stand, mit Frau Gärtners Hilfe auf den Dachboden schaffen sollte, entschied sich dann aber dagegen. In Evelyns Augen könnte es möglicherweise so aussehen, als wollte sie sich als Herrin des Hauses aufspielen.

Die schweren Schritte der Polizisten und ihr Türenknallen machten sie nervös.

Frau Gärtner rief sie zum Frühstück in den kleinen Salon, wo sie auf dem weiß gedeckten Tisch Rührei und Speck servierte.

Lisa betrachtete die fettige gelbe Masse mit leichtem Ekel.

»Nun essen Sie schon!« drängte die Haushälterin.

»Ich kann nicht.«

»Das meinen Sie bloß. Sie müssen doch was im Magen haben, wenn die Sie in die Mangel nehmen.«

»Ich bin schon verhört worden.«

»Denken Sie etwa, damit hat’s sich? Das war erst der Anfang.«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!« Lisa schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, griff nach einer der frischen Semmeln und zerbrach sie. »Ich weiß, Sie haben es gut gemeint, Frau Gärtner. Aber bitte räumen Sie das Rührei weg!«

»Soll ich es etwa in den Mülleimer werfen? Nein, dann esse ich es lieber selber.« Frau Gärtner setzte sich zu ihr und fragte erst nachträglich: »Ich darf doch?«

Wortlos reichte Lisa ihr Messer und Gabel. Sie hatte nie die Gabe gehabt, die Chefin herauszukehren. Warum sollte sie es jetzt noch versuchen, wo ohnehin bald alles vorbei sein würde?

Die Haushälterin begann sogleich mit gutem Appetit zu essen. »Wissen Sie, wonach die suchen?« fragte sie mit vollem Mund.

»Keine Ahnung.«

»Nach der Mordwaffe natürlich.«

»Haben sie Ihnen das gesagt?«

»War gar nicht nötig. Das versteht sich doch am Rande.«

»Leuchtet mir nicht ein. Warum sollte der Täter sie hier gelassen haben? Es wäre doch viel einfacher gewesen, sie mitzunehmen und sie dann später verschwinden zu lassen.«

»Sicherer vielleicht. Aber einfacher? Kommt darauf an, wie lang das Ding war, und natürlich triefte es von Blut.« Frau Gärtner schauderte theatralisch. »Huh, ich mag gar nicht daran denken.«

»Hauptsache, es schmeckt Ihnen trotzdem!«

»Sie brauchen gar nicht so sarkastisch zu sein, Schwester Lisa!«

»Frau Hammer«, verbesserte Lisa sanft.

»Von mir aus. Aber ist doch wahr: nicht jeder hat so Nerven aus Stahl wie Sie. Das habe ich immer schon gesagt.«

Später war Lisa gerade dabei, die Bibliothek aufzuräumen, als angeklopft wurde. Sie hob den Kopf, sagte aber nichts. Die angelehnte Tür wurde von der Diele her ganz geöffnet, und hintereinander traten zwei junge Polizisten in Zivil ein.

»Tut uns leid, daß wir Sie stören müssen«, sagte einer von ihnen.

»Hoffentlich haben Sie keine zu große Unordnung gemacht!« entgegnete Lisa.

»Wir haben alles, so gut es ging, an seinen Platz gestellt.«

»Sind Sie jetzt fertig?«

»Bis auf dieses Zimmer.«

»Hier werden Sie bestimmt nichts finden. Hier habe ich geschlafen.«

»Ja, das wissen wir«, sagte wieder der eine der beiden, ein untersetzter Mann mit krausem blondem Haar, der offensichtlich die Rolle des Sprechers übernommen hatte.

»Haben Sie sich auch den Keller vorgenommen?« fragte Lisa.

»Es gibt auch noch eine große Küche im Souterrain.«

»Haben wir. Alles bis auf die Mülltonnen. Die kommen zuletzt.«

»Und was ist mit dem Garten?«

»Der ist zu groß für uns zwei. Für den müssen wir uns Verstärkung holen.«

»Ja, dann tun Sie das doch!«

»Entschuldigen Sie, aber jetzt ist dieses Zimmer erst mal dran.«

»Aber es ist unmöglich, daß der Täter die Mordwaffe hier versteckt haben kann.«

»Wie kommen Sie auf Mordwaffe?«

»Was suchen Sie denn sonst?«

»Alles mögliche, Frau Hammer. Sie sind doch Frau Hammer, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und ich bin Polizeihauptmeister Helmcke, und das ist mein Kollege Meierlein.«

»Ich kann nicht behaupten, daß mir Ihre Bekanntschaft angenehm wäre.«

»Das erwarten wir auch nicht, Frau Hammer, nur daß Sie uns nicht hindern, unsere Pflicht zu tun.«

»Ich kann nicht begreifen, für was das gut sein soll.«

»Das können Sie ruhig uns überlassen.« Helmcke deutete auf die Segeltuchtasche unter dem Bett. »Gehört die Ihnen?«

»Ja.«

»Würden Sie uns die mal aufmachen?«

Lisa dachte nicht daran, sich zu bücken. »Bedienen Sie sich!« sagte sie schneidend.

Meierlein holte die Tasche unter dem Bett hervor und zog den Reißverschluß auf.

Helmcke griff hinein und legte jedes einzelne Stück des Inhalts nacheinander auf den achteckigen Tisch. »Sieht so aus, als ob Sie abhauen wollten«, sagte er.

»Nein.«

»Wozu dann das ganze Zeug?«

»Wenn Sie sich einmal aufmerksam umsehen wollen, werden Sie feststellen, daß es hier weder einen Schrank noch eine Kommode gibt, in denen ich meine Sachen unterbringen könnte.«

»Sie behaupten also, daß Sie sozusagen aus dem Koffer gelebt haben?«

»Ja.«

»Und was ist mit Ihren Kleidern und so?«

»Die dürften Ihnen eigentlich nicht entgangen sein. Die hängen oben im Schlafzimmer.«

»Ach so.«

Lisa spürte, daß der Mann sich immer noch keinen rechten Reim auf die Zusammenhänge machen konnte, und sie fügte widerwillig hinzu: »Dort habe ich mich für gewöhnlich auch umgezogen und das anliegende Bad benutzt. Aber manchmal blieb keine Zeit hinaufzugehen, und für den Fall hatte ich die nötigsten Sachen in der Tasche.«

»Theoretisch haben Sie also oben und praktisch hier unten gelebt?«

»Das haben Sie sehr hübsch ausgedrückt.«

»Aber Sie haben hier ja noch nicht mal ein Radio, geschweige denn einen Fernseher.«