Immer wieder er - Mira Morton - E-Book

Immer wieder er E-Book

Mira Morton

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Beschreibung

Eindeutig ein Fall für Liebe … - Der Nummer 1-Tolino-Bestseller von Mira Morton!

Sissy Sander ist sich absolut sicher, beim Radio ihren Traumjob und in Mia und Nikki die besten Freunde der Welt gefunden zu haben. Allerdings ist sie nicht sicher, ob sie weiterhin unter ihrem neuen Chef arbeiten will, und verdammt unsicher wird sie, als sie um vier Uhr morgens den Inhalt ihrer Handtasche ihrem Traummann vor die Füße leert.
Alessandro DeMonti hingegen weiß ganz sicher, dass es richtig war, nach dem Tod seiner Lebensgefährtin einen Job als Physiker in Boston anzunehmen. Weniger sicher ist, ob nach Wien zurückzukehren eine wirklich gute Entscheidung von ihm war. Doch als völlig unwahrscheinlich erachtet er seine Chance, die hübsche Rothaarige, die ihm vom ersten Augenblick an nicht mehr aus dem Sinn gehen will, jemals wiederzusehen ...

Ein modernes Märchen, in dem Angst und Liebe miteinander ringen und ein jämmerlich aussehendes kleines Wesen Sissy retten soll.
Um des Lebens willen.
Der Liebe willen.

Der Roman ist abgeschlossen und nicht Teil einer Reihe.

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Inhaltsverzeichnis

 

Titel

 

1. Die Redaktion

2. In Aletheia

3. Zurück in der Redaktion

4. Die Verzweiflung

5. Das Kaffeehaus

6. Die Überraschung

7. Das Lokal

8. Das Wochenende

9. Die Einladung

10. Die Katastrophe

11. Die Stimme

12. Das Angebot

13. Der See

14. Das Date

15. Das Frühstück

16. Der Montag

 

Alle bisher erschienenen Romane von Mira Morton

Leseprobe aus: ›Unter den Flügeln deiner Seele‹

 

Danke!

Quellen, Hinweise und reale Schauplätze

 

Die Autorin

Impressum

Viel Spaß mit meinem Roman

und keep on dreamin´!

Herzlichst,

Facebook:www.facebook.com/MiraMorton.Autorin

www.miramorton.com

[email protected]

Mira Morton

Immer wieder er

Roman

1. Die Redaktion

Montag

Laut seufzend warf Sissy die Autotür zu. Dieser Morgen verhieß einen heißen Tag, doch für sie bedeutete dies nichts anderes, als einen weiteren Tag in ihrem Leben überstehen zu müssen.

»Mist! Und wo ist jetzt der verdammte Schlüssel?«, schimpfte sie laut.

Halb dem Herzinfarkt nahe, suchte ihn Sissy in ihrer bunten, aber völlig unpraktischen Handtasche. Wie bitte sollte sie ohne Schlüssel ins Bürogebäude gelangen? Sie war so oder so schon verdammt spät dran. Leider war es allerdings gerade einmal vier Uhr und die Aussicht auf diesen Frühdienst fühlte sich so prickelnd wie eine Essigdusche ihres Magens an. Weiter in ihrer Tasche kramend und unansehnlich verkrümmt, näherte sich Sissy fluchend der Eingangstür zum Gebäude, in dem sich die Radioredaktion befand. Just in dem Moment, in dem sie endlich das Band vom Schlüsselbund mit festem Griff umklammern konnte, öffnete sich die riesige Glastür vor ihr. Von innen!

Ein offensichtlich gut gelaunter Mann hielt ihr formvollendet die Tür auf.

»Guten Morgen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte er und musterte sie.

Ja. Doch. Indem er sich auf der Stelle in Luft auflöste. Wie peinlich war das denn wieder? Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen. Ob ihre Haare zerzaust waren? Vielleicht hatte sie noch Zahnpasta auf ihren Lippen kleben oder gar Lippenstift auf den Zähnen? Schnell leckte sich Sissy einmal über den Mund, um im nächsten Moment festzustellen, dass das die dümmste Idee überhaupt war. Oder warum sonst würde ein Fremder sie um diese Uhrzeit so angrinsen?

Sissy murmelte verschämt ein leises »Nein danke. Alles gut.«

Was gelogen war. Gar nichts war gut. Nicht in ihrem Leben und auch nicht mit ihrem Job. Aber seis drum. Denn ihr entging nicht, wie toll der große Dunkelhaarige aussah. Einfach nur wow!

Mist! Was wird der jetzt wohl von mir denken?

Der Unbekannte erwiderte schmunzelnd: »Das um diese Uhrzeit zu hören, ist doch wirklich schön. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«

Und ich mir eine Decke, die mich unsichtbar macht, dachte Sissy. Stattdessen antwortete sie kurz mit »Danke, Ihnen auch.«

In exakt diesem Moment rutschte ihre Handtasche zu Boden. Ein Tampon rollte direkt vor seine Füße. Sissys Wangen brannten auf, sie fluchte laut, kniete sich hin und sammelte ihre Geldbörse, diverse Rechnungen und einen Lippenstift wieder ein. Ebenfalls nun am Boden hockend, hielt ihr der Fremde den verfluchten Tampon vor die Nase.

»Danke«, flüsterte Sissy peinlich berührt und stand wieder auf.

Auch der etwa Vierzigjährige erhob sich und griff zur im Zufallen begriffenen Tür. Nach wie vor körperlich in eine Art Yoga-Stellung für Fortgeschrittene verwrungen und sauer auf diese unwürdige Situation, hopste Sissy undamenhaft zur Türklinke, ergriff sie rasch und erwischte dabei unabsichtlich seine Hand.

Ein elektrischer Schlag trieb die beiden auseinander. Ein Moment verwunderter Stille folgte.

Einen Herzschlag lang sahen sie einander tief in die Augen. Auf seinen Wangen bildeten sich kaum wahrnehmbare Grübchen und seine dunklen Augen funkelten. Sein Blick war bohrend, aber irgendwie auch interessiert. Doch es war nicht nur sein umwerfendes Aussehen, das Sissy elektrisierte. Irgendetwas an seinen Augen sagte ihr, dass das, was unter der Oberfläche lag, noch viel spannender sein könnte, und darauf war sie als Journalistin schließlich geschult.

Sie spürte eine weitere, völlig unangemessene Schockwelle durch ihren Körper jagen und verschwand, so schnell sie konnte, im Gebäude. Auch der Fremde eiste sich mit einem kraftvollen Ruck von der Tür los und zog eiligen Schrittes davon.

Ein wirklich interessanter Mann, dachte Sissy, sich nun im Inneren des Hauses in Sicherheit wiegend. Schnuckelig. Da dies jedoch weder Zeit noch Ort waren, um sich über einen Unbekannten ausladend Gedanken zu machen, drückte Sissy gleich mehrmals auf den Taster für den Lift. Nun, auch wenn dieser Fremde sämtliche derzeit angesagte männliche Filmstars zu Anbetungsobjekten für ewig Gestrige herabstempelte, war das ohnehin hinfällig. Sissy fühlte sich gerade so sexy wie ein stinkender Turnschuh. Oder so ähnlich. Kurz wunderte sie sich jedoch über sich selbst. Solche Gefühle wie gerade eben waren ihr seit langer Zeit fremd. Die Wärme, die er ausgelöst hatte, war beängstigend. Doch selbst das war ihr egal, denn jetzt lautete die Übung, bloß schnell in den Fahrstuhl, rauf in den neunten Stock und rein in die Radioredaktion. Computer aufdrehen, Passwort eingeben und bei den Nachrichtenagenturen aller Welt nachsehen, ob sich die Erde noch drehte.

Sie öffnete die Tür zur Redaktion und begrüßte ihre Kollegen mit einem zerquetschten »Guten Morgen!«.

»Was ist denn mit dir passiert?«, wollte Karin, ihre Redakteurin, wissen.

»Wieso? Was ist denn?«

»Du schaust irgendwie … aufgelöst aus.«

Sissy wurde rot. Schon wieder. »Na ja, zuerst hab ich meinen Schlüssel nicht gefunden und dann noch meine Tasche unten vor der Tür ausgeleert.«

Karin gab sich mit der Antwort zufrieden. »Ah, okay. Sowas nervt. Du, hier ist die Übergabe vom Nachtdienst.«

Sissy nahm den Zettel in die Hand und überflog den Text. Anschließend machte sie sich wortlos an die Arbeit. Ihre Finger schwirrten über die Tastatur ihres Computers. Eine Meldung nach der nächsten visualisierte sich auf dem Bildschirm.

»Karin, hast du etwas Interessantes in den Agenturmeldungen gelesen?«, fragte sie laut, da diese am Nachbarschreibtisch saß.

»Nein. Nichts außer unwichtigem Mist.«

»Okay. Passt. Das Wichtigste hab ich.«

Mit einem routinierten Kontrollblick stellte Sissy sicher, dass sie in Kürze alles, was sie zum Präsentieren der Nachrichten benötigte, auch tatsächlich auf ihrem Bildschirm im Sendestudio vorfinden würde. Mit der nun freien rechten Hand riss sie noch schwungvoll ihren Kopfhörer vom Tisch.

Wenig später stand Sissy Sander am Nachrichtenpult des Sendestudios. Einer Statue gleichend, mit dem Schönheitsfehler des Kopfhörers, begann sie, mit samtweicher und zugleich hochprofessioneller Stimme die Nachrichten zu verlesen.

»… Die Massenkarambolage in den frühen Morgenstunden hat zwei Todesopfer und vier Schwerverletzte gefordert. Die Aufräumarbeiten auf der A1 in Richtung Linz dauern noch an. Nun zur österreichischen Innenpolitik …«

Das war ihr Universum! Das Einzige, das sich in ihrem derzeit eher jämmerlichen Dasein gut anfühlte.

»Super Sendung, wie immer«, grinste Klaus, der Morgenmoderator, sie an, und fuhr sich durch sein wuscheliges schwarzes Haar. Sein Sidekick Anita kam gerade mit einem Kaffee zurück in den Glaskobel.

»Vielen Dank. Eure ist heute auch echt gut!«, erwiderte Sissy und verließ das Sendestudio.

Sie war mit ihrer ersten Sendung des Tages zumindest halbwegs zufrieden. Nun wusste auch die Welt, also alle Hörer im kleinen Österreich, dass grundsätzlich alles in Ordnung war. Die Erdkugel rotierte nach wie vor in der von Physikern berechneten Bahn. Somit war nichts geschehen – bis auf den schweren Autounfall und einer in der Nacht zu Ende gegangenen sinnlosen Regierungssondersitzung zum Thema ›Wir können uns die Pensionen nicht mehr leisten‹. Zum Glück gab es weder Terrorattacken noch im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge.

In einem Anflug von Selbstzufriedenheit musste sie lächeln. Doch rechtzeitig, bevor dieses Gefühl sie einlullte, erinnerte sich Sissy an die bevorstehende Redaktionssitzung um neun Uhr mit dem mehr oder weniger neuen Chef Marke Hart-wie-Kruppstahl und Ich-finde-immer-einen-Fehler. Ihr graute schon jetzt davor und ihr übersaurer Magen teilte diese Ansicht mit ihrem Kopf. Doch wenigstens hatte Sissy mittlerweile ihr tägliches Morgentief überwunden und war wieder in der Lage, längere Gespräche zu führen. Und blitzartig huschte das Lächeln des Fremden durch ihre Gedanken. Sie konnte nicht anders, es brachte sie zum Schmunzeln.

Dieser intelligente, tiefgründige Blick. So sieht mein Märchenprinz aus. Ganz bestimmt!

Ihr Bauch kribbelte bei diesen Gedanken unartig und ihr Herz schlug abermals zu schnell. Auffallend schnell.

Und schon erstarb es wieder. Sissys Lächeln. Er hatte einfach zu toll ausgesehen, um wahr zu sein oder um sich für sie zu interessieren. Schade eigentlich.

Nein. Falsch.

Superschade und hundsgemein war das! Welche Frau bekam eigentlich so einen Jackpot-Typen? Sie nicht. – Aus Sissys Sicht eine unumstößliche Tatsache, denn ihre innerliche Welt bereitete ihr schon seit Längerem statt Höhen und Tiefen nur eintöniges Grau in Grau.

***

»Wo ist mein neues schwarzes Hemd?«, rief Markus fragend in Richtung Schlafzimmertür, die es vorzog, vornehm zu schweigen. An sich hatte er von seiner Freundin Jasmin eine Antwort erwartet, die war aber unglücklicherweise gerade im Bad beschäftigt. Daher: Fehlanzeige. Keine Antwort. Kein Hemd.

»Immer muss ich alles allein machen«, grummelte Markus Wagner in sich hinein, fand das gesuchte kurzärmelige Hemd dann doch im Kasten, eingewickelt in Folie, frisch von der Putzerei. So etwas Gefährliches wie Bügeln konnte Jasmin ihren Designer-Nägeln definitiv nicht zumuten. Klar. Wieso auch? Schön sein musste reichen.

Wie immer in Schwarz gekleidet, verließ Markus sein Schlafzimmer, um sich noch kurz die Nachrichten und die Morgenmoderationen im Radio anzuhören.

Das gelang ihm nur bedingt, denn mitten in die Nachrichten über die Regierungssondersitzung von vergangener Nacht platzte Jasmin. Aufgeregt schwenkte sie die Zeitung. Süß sah sie in ihrem cremefarbenen Spitzennachthemd aus.

»Du, Markus, in deinem Horoskop steht – pass auf, ich lese es dir vor. Also Steinbock: Ihre üblichen Lösungsstrategien bringen keine Verbesserung der Lage, egal wie sehr Sie sich anstrengen. Versuchen Sie doch einmal, von Ihrem gewohnten Vorgehen abzulassen, und beschreiten Sie neue Wege! Gerade in ausweglosen Situationen könnte das die entscheidende Wende bringen. – Was sagt dir das?«

Erwartungsvoll strahlte Jasmin Markus ins Gesicht.

War das ihr Ernst? Markus wusste genau, was sie wollte. Aber schloss sie aus diesen lächerlichen Zeilen tatsächlich, dass er ihr kniend einen Heiratsantrag machen sollte? Jasmin war blond. Zwar gefärbt, aber, wie es aussah, auch innerlich.

Er wollte keine Diskussion um dieses heiße Thema. Daher entschied er sich, nachdem er den Espresso hastig ausgetrunken und die erste Moderation von Klaus versäumt hatte, für einen Abflug. Mit einem knappen »Nichts. Ich muss los. Bis später« schlich er sich einfach in Richtung Ausgang. Jasmin verzog sich eingeschnappt mit der Zeitung ins Wohnzimmer.

Horoskop! So ein ausgemachter Schwachsinn. Und er war dumm genug, da auch noch hinzuhören. Neue Wege beschreiten? Bei dieser Chaostruppe? Sicher nicht.

Auf seiner morgendlichen Fahrt zum Radiosender entschied sich Markus, schon aus einer Jetzt-erst-recht-Haltung heraus, eindeutig dafür, seine alten Wege beizubehalten und sogar noch zu verschärfen.

Entschuldigung? Sie lagen in ihrer Zielgruppe bei einem Marktanteil von dreiundzwanzig Prozent und der staatliche Mitbewerber bei zweiundvierzig. Das war Grund genug. Für alles. Und schließlich hatte ihn der Sender genau deshalb engagiert. Damit er mit dem eisernen Besen kehrte und sie zurück an die Spitze führte. Mit einem bösen Blick aus seinen stechend hellblauen Augen starrte Markus auf die anderen Autos auf der Straße. Sauerei, diese Staus. Konnten die sich nicht in Luft auflösen, wenn er es eilig hatte? Seine nach unten hängenden Mundwinkel zuckten kurz.

Markus hatte eine echt verpatzte Kindheit hinter sich. Ihm fiel wieder einmal ein, dass ihn seine angeblich so liebende und ach so verantwortungsvolle Mutter samt seinem Vater einfach sitzen gelassen hatte. Auf Nimmerwiedersehen verlassen, um es noch deutlicher auszudrücken. Was das bei einem zehnjährigen Jungen auslösen würde, darüber hatte sie offensichtlich nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Frauen waren für Markus daher schon gestorben, bevor die Pubertät ihn sich vorgeknöpft hatte.

Außerdem hatte Markus leidvoll erfahren, dass man es als ›Arbeiterkind‹ im Leben nicht leicht hatte. Man musste immer besser als die anderen sein, um sich wenigstens ein kleines Stückchen vom Erfolgskuchen abschneiden zu dürfen. Chancengleichheit? So ein Blödsinn. Nie hatten seine Lehrer seine wahre Genialität erkannt und natürlich war er in der siebten Klasse Gymnasium, ein Jahr vor der Matura, ›freiwillig‹ ausgeschieden. Selbstverständlich auf dringendes Anraten seines Klassenvorstandes hin. Was zur Folge gehabt hatte, dass sämtliche Fragebögen, die irgendetwas in Richtung ›höchste abgeschlossene Ausbildung‹ von Markus wissen wollten, unweigerlich den Tod im Mistkübel fanden. Zerfetzt, zerstückelt, mit dem Brieföffner erdolcht. Frechheit! Da trampelten wildfremde Menschen auf seiner Maturalosigkeit herum. Nicht mit ihm!

Doch dieses ständig an seinem Selbstbewusstsein nagende Gefühl der Minderwertigkeit war immer schlimmer geworden, je weiter er sich mit Fleiß, Disziplin und Intelligenz nach oben gearbeitet hatte. Später war noch die viel heftiger schmerzende Studiumslosigkeit dazugekommen. Grauenvoll.

Jetzt war Markus ganz oben angekommen, ohne Matura und ganz und gar ohne akademischen Abschluss. Und da wollte er auch bleiben. Diese lästigen Selbstzweifel machte er mit noch mehr Härte nach außen hin innerlich mundtot.

Aufmerksam und den geistigen Notizblock parat, verfolgte Markus die Einstiege seines Morgenshow-Duos zwischen den Musikstücken. So viele »Äh«s, »Hmm«s und mit Worten nicht beschreibbare Schlürfer und sinnlose Pausen, wie sie dieser Klaus ablieferte, waren einfach unfassbar. Und diesem Typen bezahlte der Sender mehr Kohle als ihm. Unglaubliche Schweinerei. Markus schüttelte unbewusst und hochgradig verärgert seinen Kopf. Der mittlerweile hochrot war, was ihm selbst nicht einmal auffiel.

Und der weibliche Sidekick erst. Anita fiel auch nichts Eloquenteres ein, als auf Sendung von irgendwelchen männlichen Schauspielern Hollywoods zu schwärmen. Offensichtlich nicht wissend, dass vermutlich jeder der von ihr so heiß und inbrünstig verehrten Herren lieber ins Kloster als mit ihr ins Bett gehen würde. Da war sich Markus sicher.

Nur noch eine halbe Stunde, dann würde dieser Versagertrupp von ihm erfahren, wo es in Zukunft langgehen sollte. Die können sich auf etwas gefasst machen!

Markus bog auf den Parkplatz vor dem Redaktionsgebäude ein.

2. In Aletheia

Möglicherweise zum selben Zeitpunkt

Angst fühlte sich pudelwohl und als Ausdruck dessen rülpste er laut und herzhaft. Mit der linken Faust schlug er auf den Tisch, wobei er einen schwarzen Fettfleck auf der Tischplatte hinterließ. Dieser fiel ihm jedoch überhaupt nicht auf. Lauthals bestellte er bei Gutmütigkeit »Noch ein Bier!«.

Wie seine engsten Freunde Wut, Zorn, Ärger und Neid liebte er diese Wirtshausrunden in Aletheia.

Aletheia. So nannten sie ihre Welt bereits seit Ewigkeiten. Vermutlich hatten sie die Namensgebung einem selbst namenlosen intellektuellen Verehrer der griechischen Mythologie unter ihnen zu verdanken. Verwirrung des Geistes oder unreflektiertes Anhimmeln irgendeiner Epoche, übrig geblieben war jedenfalls, dass nun Aletheia der Name für ihr Universum war. Und was für eines! Hier war das für irdische Wesen Unsichtbare sichtbar, das den Menschen Verborgene unverborgen und die Anzahl der Dimensionen und Möglichkeiten sprengte die Vorstellungskraft der verwegensten Physiker. Aletheia war keine Parallelwelt, sondern mehr die alles einfassende Simultanwelt, und lenkte das Schicksal aller Geschöpfe, ob auf der Erde oder anderswo.

»Prost! Aber ich halte fest, dass es mir auf die Nerven geht, wie wichtig sich die ALTEN nehmen«, maulte Neid.

»Du hast recht. Undank ist unser Arbeit Lohn!«, blies Zorn in dasselbe Horn. »Was wären die alle ohne uns, die Reiter der täglichen Apokalypse?«

Die anderen stimmten zornig zu.

Großspurig bezeichneten sich Angst und seine besten Freunde nämlich als ›Reiter der täglichen Apokalypse‹. Sie eiferten ihren großen, jedoch heimlichen Idolen, den wahren Reitern der Apokalypse, KRIEG, HUNGER, PESTILENZ und TOD, genannt ›die ALTEN‹, mit viel persönlichem Einfallsreichtum nach. Doch nur selten kamen sie dafür in die Schlagzeilen. Aus Sicht der Reiter der täglichen Apokalypse hatte Aletheia nämlich einen entscheidenden Fehler: Wegen der Alten herrschten sie hier nicht allein. Aber seis drum.

»Lasst uns auf diese Erdlinge trinken!«, rief Angst laut und seine Männer prosteten ihm abermals zu. »Auf dass wir ihnen auch weiterhin richtig einheizen werden.«

»Ja!«, riefen ihm die unschön anzusehenden Wesen zu.

Auf die ihnen eigene, eher rustikale Weisegenossen sie dieses erst kürzlich eingeführte Montagmorgen-Meeting. Dieses Ritual hatten sie sich zugegebenermaßen von einem Menschen, einem Werbe-Fuzzi, abgeschaut, doch es gefiel ihnen. Diesmal war sogar die große Runde anwesend: Missgunst, Rache, Hass, Boshaftigkeit, Scham, Verachtung und Ekel. Alle da. Sogar Trauer nahm heute teil. Sie alle waren Wesen mit einem Körper, wenn sie es wollten. Und im Moment wollten sie. Ansprüche an die Ästhetik im irdischen Sinn waren ihnen jedoch fremd und so glichen sie von außen betrachtet einer Horde Wilder, die sich rund um einen schäbigen Holztisch versammelt hatten.

Trauer saß allein und abseits von den anderen. Das waren seine Freunde jedoch von ihm gewohnt und scherte sie gar nicht.

»Wer von euch hat eine besondere Geschichte zu erzählen?«, fragte Angst in die Runde.

»Ich nicht, es ist nur das Übliche passiert«, erwiderte Zorn etwas genervt.

Jeden Montagmorgen bequatschten sie also seit geraumer Zeit ihre herausragenden Begebenheiten mit den so einfach aus der Bahn zu werfenden Menschen. Und das bereitete ihnen ein geradezu himmlisches Vergnügen. Außerdem nahmen sie sich bei diesen Zusammenkünften neuerdings ein Wochenziel vor. Allerdings konnte sich Zeit maximal hinten in der Ecke – einem Kätzchen gleich – zusammenkringeln, schlafen oder zuhören. Mehr nicht. Insofern entsprach der Titel ›Montagmorgen-Meeting‹ also keineswegs der Realität, sondern war nur ein besser klingendes Etikett für ›Wir kommen zusammen, saufen uns an, richten die Menschen aus und planen bei einem Bierchen die nächsten Gemeinheiten‹. Und all dies taten sie sehr weit entfernt von der menschlichen Welt, an einem Ort, der sich nicht einmal als ›Ort‹ im herkömmlichen Sinn bezeichnen durfte. Wann und wo genau, war demnach Nebensache.

Es wurde lauter in der Gaststube. Alle quatschten wild durcheinander. Wut und Zorn überlegten sich einen Trinkspruch nach dem anderen. Die beiden gehörten zur impulsiveren Liga und stritten gern. Geschwister eben.

In diesem Moment ließ Angst seine Muskeln spielen und blähte sich mächtig auf. Einer ölverschmierten, undurchdringlichen Nebelwand gleich, verpestete er den Raum – quasi mit sich selbst. Alle Gespräche und Zankereien am Tisch erstarben. Schließlich war Angst der älteste und zugleich mächtigste unter ihnen. Dafür zollten sie ihm Respekt, deshalb war er auch der Anführer ihrer Truppe. Oder weil sie zu träge waren, die Führungsrolle für sich zu beanspruchen. Nur Neid zeigte hin und wieder Interesse an diesem Job, kam aber nie damit durch.

Angst selbst liebte es, seine Macht zu demonstrieren. Es bereitete ihm unheimlichen Spaß, wirklich jeden in Angst und Schrecken zu versetzen. Auch seine Freunde. Da war er ganz und gar nicht wählerisch. Indessen servierte Gutmütigkeit, der diese schäbige Schenke ein ums andere Mal nur für diese wilde Bande in Aletheia erschuf, ein Bier nach dem anderen und klapperte mit den Bechern auf dem Tresen der Schank. Eifrig bemüht wischte er zwischendurch den klobigen Holztisch ab, der tiefe Risse, Flecken und einige Brandlöcher aufwies. Kein Wunder, sein Alter war ja auch eher in Jahrhunderten als sonst etwas zu schätzen. Bevor sie alle hier eingefallen waren, hatte Gutmütigkeit seinen Gästen sogar einen frischen Blumenstrauß in die Mitte des Tisches gestellt. Natürlich bemerkte keiner von ihnen diese liebevoll gemeinte Deko-Geste. Banausen.

Je lauter und betrunkener sie wurden, umso mehr hatte Gutmütigkeit zu wischen. Die Spinnweben hatte er schon vor ihrer Ankunft weggekehrt, ebenso wie er die alten, gebogenen und vielfarbigen Holzdielen am Boden geschrubbt hatte. Am düsteren Licht konnte er nichts ändern. Sie liebten diese schummrige, schmuddelige und etwas in die Jahre gekommene Glühbirne über dem Tisch. Die einzige Lichtquelle neben dem Kerzenlicht. Gutmütigkeit hatte drei wunderschöne alte Kerzenständer aus schwerem Silber recht prominent auf den Tresen gestellt. Im irdischen Mittelalter hatten die vornehmsten Schenken nicht besser ausgesehen und so war er recht zufrieden mit seinem Werk. Heute wäre eine pfiffigere Variante natürlich absolut denkbar, aber nicht für die Reiter der täglichen Apokalypse und deren Freunde. Sie hatten durchaus aufregende Zeiten im finsteren Mittelalter erlebt und dies war ihre Art von Tribut an diese sehr speziellen Erinnerungen an die gute alte Zeit. So wollten sie es haben. Also tat Gutmütigkeit, wie ihm geheißen wurde, denn er konnte nicht anders, als sie freundlich zu bedienen und für ihr Wohl zu sorgen.

Angst klopfte ihm brüderlich auf die Schulter und Gutmütigkeit, ein wenig untersetzt und nur mittelgroß, stolperte einen Schritt nach vorn. Da er alles in allem ein gemütliches Wesen mit roten Backen, fröhlichen Augen und Nerven aus Stahl war, verzieh er Angst augenblicklich. Doch so robust er nach außen erschien, seine Seele selbst war fein gesponnen. Ihm gelang es, Wünsche und Bedürfnisse zu erahnen, bevor seine Kundschaft sie bewusst gedacht hatte. Und wenn seine Gäste, so wie eben, derb daherredeten oder sich auch sonst unflätig benahmen, ging ihm das sehr wohl unter die Haut und verursachte kleine, feine Seelenrisse, da er Beleidigungen und Respektlosigkeiten einfach nicht leiden konnte. Doch man ist, was man ist. Daher fand Gutmütigkeit für das Verhalten von Angst immer wieder eine Ausrede und war dankbar, ihnen allen einen Dienst erweisen zu dürfen.

Gutmütigkeit lehnte sich an den Tresen und hörte stumm zu, denn nun richtete sich Angst auf und begann bedächtig, beinahe staatstragend eine Rede. »Also, Freunde, ich danke euch wieder einmal für euer zahlreiches Erscheinen bei unserem Montagmorgen-Meeting.«

Kurzer Applaus.

Angst musste sich lautstark räuspern und fuhr fort: »Wie wir gesehen haben, hat uns die letzte Woche, also sagen wir mal die letzte Zeit … wobei, das ist auch falsch, was haben wir schon mit Zeit zu schaffen? … Wo ist sie denn eigentlich? Ist sie hier?«

Wie auf Befehl blickten sich alle nach Zeit suchend um. Da sie Zeit nirgendwo entdecken konnten, widmeten sie Angst wieder ihre volle Aufmerksamkeit. Zusammengerollt und mit bloßem Auge nicht zu erhaschen, schlief Zeit auf einer uralten Anrichte, die im Gastzimmer stand, doch sie hatten ihn einfach übersehen. Aber sie gehörte ohnehin nicht zu ihnen.

Nun hatte Angst jedoch den Faden verloren. Peinlich. Tief atmete er ein und wieder aus, wobei auch banales Atmen in Aletheia völlig überflüssig war. »Ist ja egal. Also wir haben wieder einmal ein paar Geschichten über die Menschen ausgetauscht. Ihnen kräftig einzuheizen, tut doch gut, oder etwa nicht?«

Zustimmung haschend blickte Angst durch die Reihen seiner Konsorten. Das – ungefähr hundert Kilo wiegende – Zuviel auf seinen Rippen war in solchen Momenten Gold wert. Er glich einem Sumoringer: fett, ölig, ungepflegt und bedrohlich lächelnd. Doch dies unterstrich seine Wirkung. Seine Freunde nickten und raunten pflichtbewusst, der eine oder andere hob seinen Becher und trank einen kräftigen Schluck. Leise weinte Trauer eine Runde. Was unbeachtet blieb. Mitleid luden sie sowieso nie ein.

»Nun gut, kommen wir zu unserem sogenannten Wochenziel. Mein Vorschlag für unsere verstärkte Aufmerksamkeit in der nächsten Zeit … egal, ihr wisst schon, wie ich es meine … Also mein Vorschlag ist diese Radioredaktion in Wien. In Wien haben wir ja alle schon sehr viel Spaß gehabt. Oder? Wie seht ihr das?«

Wieder folgte zustimmendes Nicken. Ansonsten Schweigen. Niemand hatte einen Gegenvorschlag. Wie immer.

Mit zusammengekniffenen Augen ergriffjedoch Zorn unvermutet das Wort: »Du weißt aber schon, dass wir da unten sowieso alle Hände voll zu tun haben, oder? Und von Urlaub und Freizeit können wir alle nur träumen, nicht?«

Nicken. Raunen. Poltern.

Er fuhr fort: »Ehrlich, Angst. Ich bin dabei. Aber mach mir keine Vorwürfe, wenn ich mal irgendwo zu spät komme, nur weil ich so überlastet bin. Ich hab echt keinen Bock auf irgendeine stumpfsinnige Diskussion mit dir über meine Arbeitsmoral. Gleichzeitig überall zu sein, das ist nämlich auch irgendwie anstrengend! Kapiert?«

Zorn geriet so was von leicht in Saft! Vielleicht sollte er mehr essen und weniger Alkohol trinken, dann hätte er bessere Nerven.

Das obligate Nicken wurde durch Zwischenrufe à la »Da hat er recht!«, »So ist es!« und »Gibt es eigentlich irgendjemanden, bei dem wir uns beschweren können?« unterfüttert.

Kurz machte sich Ratlosigkeit in Angst breit. Stand es ihnen zu, sich über die viele Arbeit zu beschweren? Er war sich nicht sicher, daher tat er, was er am besten konnte: »Freunde, also ehrlich! Ihr wisst ja, dass uns die ALTEN ohnehin nicht wirklich mögen, oder? Wollt ihr vielleicht ungut auffallen? Wollt ihr euch ernsthaft mit KRIEG oder TOD anlegen? Vielleicht gar mit CHAOS? IDEA? Oder noch schlimmer: mit GOTT selbst? Was ist, wenn sie uns unseren Job wegnehmen? Wollt ihr das? Arbeitslos sein? Nicht mehr gebraucht? Ersetzt? Vielleicht durch Jüngere? Oder gar nicht ersetzt: einfach ausgelöscht? … Ist es das, was ihr wollt?«

Kopfschütteln. Betretenes Schweigen. Trinken.

Angst.

In allen.

Es muss nicht extra erwähnt werden, aber diese Masche ging immer rein. Angst verstand sein Handwerk. Nun hatte er sie und freute sich schon auf Wien. Sie waren sich also einig. Diese kleine Radioredaktion in Österreich verdiente ihren gesamten Einsatz und ihr volles Repertoire. Ihr Herzblut würden sie in diese Sache investieren, das schworen sie sich beim zwanzigsten Bier.

Nur Trauer war zu keiner zustimmenden Aussage zu bewegen. Außerdem trank er nur Wasser.

Memme.

Fest stand, diese Zusammenkunft würde noch eine Weile andauern. Gutmütigkeit servierte unablässig, kehrte die Scherben der Gläser zusammen, die sie im Übermut einfach über die Schulter warfen, und dachte sich seinen Teil.

Manche Dinge ändern sich nicht, sind unabhängig davon, in welcher Art von Welt man sich gerade befindet, und haben rein gar nichts mit Zeit zu tun.

3. Zurück in der Redaktion

Noch immer Montag

Sein geistiger Notizzettel war mittlerweile lang genug, um das Besprechungszimmer, in dem die Redaktionssitzung nun stattfand, zu tapezieren. Ungeduldig erwartete Markus – natürlich am Kopfende des langen Besprechungstisches sitzend – seine ungefähr zwanzig Delinquenten, die nach und nach eher verhalten zur Tür hereintröpfelten. Sie stammelten ein demütiges »Hallo« in seine Richtung.

»Na, es ist ja schön, dass ihr meiner Einladung so zahlreich Folge leistet«, begann Markus in einem eher unbestimmten Tonfall. »Und noch dazu so pünktlich, gratuliere! Ich bin ja nur froh, dass bei uns eine Neun-Uhr-Sendung auch noch um neun Uhr beginnt und nicht erst um halb zehn oder so. Saubere Leistung.«

Langsam kam Markus in Fahrt. In seinem Inneren suchte er nach seinen Emotionen von vorhin. Natürlich ohne zu wissen, was er mit dieser unausgesprochenen Einladung anrichten würde. Nichts ahnend begann er mit Zorn. Zorn aktivierte Markus immer mit Neid.

Schon war Neid höchstpersönlich zur Stelle. Neid betrachtete Markus einen Wimpernschlag lang und setzte sich sogleich in seinem Geist fest. Der kleine Giftzwerg glich nämlich nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Wirkung einem Geschwür. Genussvoll ließ Neid den Lohnzettel von Klaus, dem Morgenshow-Moderator der Radiostation, vor Markus’ geistigem Auge erscheinen.

Wie auf Kommando eilte auch Zorn herbei. Sein Spezialgebiet war die Verzerrung der menschlichen Gesichtszüge zu einer hexenartigen Grimasse. Er selbst sah nicht viel anders aus. Außerdem beschwor er Gedanken und Erinnerungen in seinem Opfer herauf, die sich immer konkret gegen einen anderen Menschen oder sonstige lebende Wesen richteten. – So auch jetzt.

Der Betrag, den dieser Sender jeden Monat für dieses unqualifizierte Gestammel an Klaus überwies, ließ Markus’ Halsadern hervorquellen und verlieh ihm das Antlitz eines Stiers, der kurz davorstand, den Torero mit seinen Hörnern aufzuspießen. So bekam Klaus als Erster die Gesamtladung von Markus’ Zorn, eingemummt in das Deckmäntelchen ›Konstruktives Feedback zur heutigen Morgenshow‹, zu spüren.

»Weißt du eigentlich, wie viel an kostbarer Sendezeit du mit der gähnenden Leere deiner Floskeln samt sinnloser Pausen nach jedem einzelnen Wort verbrauchst? Glaubst du, wir bezahlen dich, um dir beim Denken zuhören zu dürfen?«

Markus war von seiner Einleitung sehr angetan und brüllte sich in Fahrt.

Der dunkelhaarige Morgenshow-Moderator, an sich weder schüchtern noch verbal unbeholfen, verschwand in seinem Sessel, denn weiter als zu einem defensiven »Aber …« kam er in diesem – eher einseitig geführten – Schreiduell nicht.

»Ich schwöre euch, der Schwachsinn hat hier und heute ein Ende!«, schrie Markus.

Spätestens an dieser Stelle war ihm die Steuerung seiner Gefühle vollends entglitten. Sie waren eben keine Schoßhündchen, sondern echte Monster. Und selbstständig! Aber so weit würde Markus’ Fantasie nie reichen und von Aletheia hatte er nicht die geringste Ahnung.

Zauberlehrling.

Angespornt machte Zorn weiter und Markus attackierte einen nach dem anderen am Tisch.

Die Redakteure der Comedy-Abteilung, weil Markus heute Morgen nicht hatte lachen können.

»Wisst ihr, an was mich euer Beitrag erinnert hat? Nein? Ich sags euch: schlecht gemachtes Schülerradio einiger unlustiger Pubertierender!«

Sie zuckten zusammen. Er fragte sie sogar: »Seid ihr eigentlich eingekifft, wenn ihr eure Schmähs schreibt?« Nur einer aus der Comedy deutete ihm den Vogel, was Markus aber nicht sehen konnte.

Anschließend waren die drei Leute vom Verkehrsdienst dran.

»Schlaft ihr eigentlich? Ich bin am Weg zum Sender im Stau gesteckt, und? Hat mich einer gewarnt? Nein!«

Übergangslos bekamen die zwei Meteorologen ihr Fett ab: »Ist das euer Ernst? Ein anhaltendes Hoch? Mir scheint, ihr habt eure Datenmodelle nicht im Griff.«

Markus war nämlich seit Tagen zu heiß. Er hasste es, zu schwitzen, und machte sie nun persönlich für sein Unwohlbefinden verantwortlich. Und zum Schluss stürzte er sich mit hochrotem Gesicht auf die Nachrichten-Crew.

»Frage: Nennt ihr das News? Sorry, aber für mich war das Zeitverschwendung. Gegurrte heiße Luft aus dem Radio!«

Klar, weil in der vergangenen Nacht nichts wirklich Essenzielles passiert war. Alles ihre Schuld, keine Frage. Widerrede zwecklos. Sissy konnte sich nur mehr mühsam im Zaum halten und fühlte sich mehr als persönlich beleidigt. Sie gurrte nicht, verdammt noch einmal. Markus führte sich hier ja wie ein Irrer auf.

Just in diesem Moment meldete sich Zorns Zwillingsbruder Wut in Markus zu Wort. Wut musste sich jetzt auch dringend Luft verschaffen! Er konnte sich wahrlich gegen alle und jedes richten. Er war nicht so wählerisch wie sein Zwillingsbruder. Vor allem in Eingeweiden fühlte er sich außerordentlich wohl und notfalls schlüpfte er auch in die geballte Faust. Oder was auch immer. Ließ man ihn, schlug er voller Wonne zu. Nicht selten trugen daher technische Errungenschaften unschöne Dellen davon. Menschen hässliche blaue Flecken. Wenn nicht mehr.

Auf jeden Fall brachte Wut Markus dazu, auf den Tisch zu schlagen. Ein paar Gläser hüpften. Doch keines fiel zu Boden. Schade.

Brüllend erklärte Markus der versammelten Mannschaft: »Habt ihr eine Ahnung, wie viele Berater – und wie viel Geld – ihr schon verschlissen habt? Und das ohne jedweden Benefit für unseren Sender. Was für eine Verschwendung! Außerdem bin ich es leid, dass ihr wirklich jedes Mal zu spät kommt!«

Einfallsloses Redakteursgesindel! Das machte auch Wut wahnsinnig wütend. Und diese Selbstansteckung mochte er ganz und gar nicht.

Irgendwann jedoch verrauchten Neid, Zorn und Wut, denn Ärger wollte auch noch seinen Spaß mit Markus haben.

Markus’ Schelte richtete sich daher noch schnell gegen die Reporterinnen und Reporter, die, anstatt sich draußen für tolle Geschichten die Sohlen platt zu laufen, schon wieder hier in der warmen Stube bei dieser Sitzung hockten. Irgendein besonders Mutiger meinte: »Du weißt schon, Markus, dass die Teilnahme an diesem Meeting Pflicht für uns alle war? Vor allem nach deiner letzten diesbezüglichen Dienstanweisung.«

Als Gegenargument ließ Markus diesen Einwand nicht gelten. Angestachelt gebärdete er sich nun am Kopfende des Tisches wie eine absonderliche Mischung aus Rumpelstilzchen und betrogenem Ehemann. Ärgers Werk. Denn der alte Griesgram hatte vielseitige Fähigkeiten. Manchmal ließ er die Menschen um Geld oder Macht streiten. Notfalls auch um die Frage, wer den Mülleimer ausleeren musste … Hin und wieder vergnügte er sich im Magen, ein anderes Mal ließ er Gedanken im Kreis laufen. So lange, bis ihnen die Luft ausging und sie implodierten. Er beherrschte wesentlich nuancenreichere Tonarten als Wut und Zorn.Ärgers Durchhaltevermögen war sagenumwoben. Er konnte seine Opfer, wenn ihm dabei nicht allzu langweilig wurde, auch tagelang, ja sogar jahrelang in eine miesepetrige Stimmung versetzen. Menschlichen Wesen das Leben zu versauen, das bereitete ihm wohlige Zufriedenheit. Im Moment feierte er seine Party, denn er wütete in Markus.

Im Sitzungsraum konnte man die Luft inzwischen in dicke Scheiben schneiden, und wie der Sauerstoff schien auch Zeit sich irgendwo zu verstecken, denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund vergingen die Minuten für alle Beteiligten viel langsamer als sonst.

Natürlich kannten die Redakteure diesen gering schätzenden Umgang mittlerweile. Aber gewöhnte man sich wirklich an Beschimpfungen, persönliche Beleidigungen und den Verlust jeder Würde und Selbstachtung? Nach nur neun Wochen mit Markus?

Ärger räumte das Feld, denn nun betrat Angst die Bühne.

Selbstachtung, Stolz und Würde waren für Angst Fußabstreifer, auf denen er gern herumtrampelte. Spielend verwandelte er an sich harmlose Plätze, Menschen, Aufzüge, Vorgesetzte und vieles mehr in furchterregende Bestien. Und diese wurden von den von ihm befallenen Menschen fortan gemieden – sofern dies den Opfern möglich war. Natürlich war Angst großartig, schließlich himmelten ihn alle anderen Wesen Aletheias an. Wenigstens glaubte er selbst daran, eine Legende unter all den Gefühlen und Empfindungen zu sein.

Zunächst breitete sich Angst also ganz langsam und beinahe behutsam in den Redaktionsmitgliedern aus. Nein, er hatte keinen Anflug von Persönlichkeitsspaltung, sondern das war eine besonders perfide Tour: sich erst anzuschleichen und dann die Gedanken seiner Opfer zu zerfressen. Einen nach dem anderen erfasste er. Zunächst als Gedankenblitze, doch dann wurde Angst immer dicker, stärker und unabwendbar.

Sie konnten dafür dankbar sein, einen relativ sicheren Arbeitsplatz zu haben. Klar, Markus hatte das Recht, seine Meinung zu äußern. Schließlich war er hier der Chef. Natürlich, wer gutes Geld verdiente, musste auch lernen, etwas einzustecken! Außerdem, wie sollten sie ohne diesen Job ihre Kredite zurückzahlen? Wie stünden sie vor ihren Freunden und der Verwandtschaft im Falle einer Kündigung da? – Sehr viele von ihnen waren innerlich plötzlich felsenfest davon überzeugt, nie wieder einen so coolen Job zu ergattern, geschweige denn bei einem anderen Radiosender unterzukommen. Und wer wusste schon, wie es tatsächlich um die Weltwirtschaft bestellt war?

Außerdem: Wie bitte schön sollte das Leben weitergehen, ohne Arbeit, ohne Einkommen und ohne etwas Besonderes zu können? So dachten zumindest einige von ihnen. Auch an die Arbeit selbst. – Klar machten sie Fehler. Wenn Markus immer wüsste, was tatsächlich alles schieflief, könnten sie sich längst zum Schlafen unter einer Brücke treffen …

Angst lächelte hämisch. Er liebte es, ihre Gedanken tief in den Strudel der Ausweglosigkeit zu reißen und ihnen keine Chance auf eine Ausstiegsmöglichkeit zu lassen.

Kurz vor zehn Uhr musste Zeit wohl aufgewacht sein, denn unerwartet fand auch diese Orgie an Gemeinheiten ein Ende. Markus entließ sie, nicht ohne seine abschließende Aufforderung mit auf den Weg zu schicken: »Ihr wisst, wir sind ein Team und nur gemeinsam stark. Also … rockt die Sendung! Ich zähle auf jeden Einzelnen von euch. Macht es so wie Lena! Weiter so!«

Sissy spürte einen Druck im Hals. So wie Lena? Diese unbedeutende Figur arbeitete heute erst den dritten Tag hier. Außer ihm den Kaffee zu bringen, hatte Sie noch nichts Sichtbares geleistet. Sissy fand das zum Kotzen.

»Schließlich will ich mich auf mein tolles Team verlassen können und im besten Fall sogar stolz auf euch sein«, endete er.

Freilich, und wenn ich möchte, male ich morgen die Wolken rosa an und es gibt nie mehr Krieg, dachte Sissy. Gleichzeitig fühlte sie sich so groß wie ein Käfer, der wirklich achtgeben musste, dass ihn nicht – im allgemeinen Tumult beim Hinauslaufen – jemand zertrat.

»Das habe ich wieder gebraucht«, ärgerte sich Sissy laut.

»Wenn du mich fragst, hat der nicht alle Tassen im Schrank«, maulte Klaus von der Morgenshow leise in ihre Richtung.

Die Traube an Menschen löste sich auf und alle verschwanden in den Büros und hinter den Schnittplätzen.

Aber vielleicht liegt Markus ja gar nicht so falsch? Selbstzweifel war zu Sissys heimlichem zweiten Vornamen geworden. Das verbarg sie jedoch mit all der ihr zur Verfügung stehenden Restenergie, denn so hatte sie ja nicht immer gedacht. Früher … ja, früher war sie überhaupt völlig anders gewesen.

»Mist!«, schimpfte Sissy laut mit sich selbst.

Jetzt denke ich schon wie meine eigene Großmutter. Es ist einfach zum Verzweifeln.

Nach ihrer letzten Sendung um zwölf Uhr wollte Sissy nicht einmal mehr in der Kantine mittagessen. Sie ertrug die theoretische Möglichkeit, neben Markus in einem Salat zu stochern, absolut nicht. Schon der bloße Gedanke löste einen Würgreflex aus. Sissy war klar, dass sie hier wegmusste. Und zwar sofort. Sie fuhr ihren Computer herunter und packte ihre Handtasche. Kurz zuvor hatte sie noch schnell bei Mia angerufen und sie um ein dringendes Treffen gebeten. Und zu dieser Verabredung mit ihrer besten Freundin brach sie nun auf.

***

Klar, Sissy war im Endeffekt um ungefähr fünfzehn Minuten zu spät dran, weil sie wieder einmal ihren Autoschlüssel in ihrer Tasche nicht hatte finden können und sich dann doch für die U-Bahn hatte entscheiden müssen. Überraschung? Wohl weniger.

Warum sie Mia sehen wollte? Die nackte Wahrheit lautete, dass Sissy für ihren Frust, ihre Ängste sowie ihre Selbstzweifel ganz dringend einen Mistkübel benötigte. – Eine Traumrolle für ihre beste Freundin Mia. Denn Mia, eigentlich Maria Kendrell, war die unesoterischste Qualitätsesoterikerin, die Sissy kannte. Irgendwie strahlte Mia etwas Schamanisches und etwas völlig Businessmäßiges gleichzeitig aus. Und sie war die weltbeste Zuhörerin.

Mia nippte im Café Segafredo, mitten in der Wiener Altstadt am sogenannten Graben, bereits genüsslich an einem Cappuccino und sezierte die Seelen und Gemütszustände der anderen Gäste, als Sissy stürmisch zur Tür hereinstob. Sie umarmten und küssten einander herzlich.

Mit einem »Uffh« der Erleichterung ließ sich Sissy auf den Sessel neben Mias Riesenhandtasche fallen.

»Auch einen Cappuccino?«, wollte Mia wissen.

»Ja, gern.«

Ohne Umschweife bestellte Mia den Kaffee und Tramezzini dazu. Anschließend fuhr sie sich durch ihre langen braunen Locken, bloß um sich die Zeit zu vertreiben, denn als erfolgreiche Kommunikationstrainerin war Mia weise genug, nicht gleich bei Sissy nachzubohren, was der eigentliche Grund für dieses dringende Treffen war.

»Mia, danke, dass du Zeit für mich hast.«

»Sissy, darüber brauchen wir wohl jetzt nicht zu diskutieren. Das versteht sich ja von selbst.«

»Trotzdem, danke, Mia. Ich bin im Moment echt am Ende. Du weißt, wie gern ich meine Arbeit mache, aber das, was sich Markus heute wieder geleistet hat, das geht einfach nicht.«

»Du klingst echt sauer, Sissy.«

»Tja. Ich hab das Gefühl, dass ich nicht mehr kann. Hm. Natürlich bin ich sauer auf Markus. Ständig geben wir für diesen Sender alles, wohnen mehr oder weniger dort, und was macht unser Herr Wichtig? Sagt er Danke? Nein. Natürlich nicht. Das hat er nicht notwendig. Er schreit lieber herum, macht uns zur Sau, hüpft herum, zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf uns und beschimpft uns aufs Böseste.«

Mia beobachtete ihre beste Freundin genau. »Das klingt ja verdammt schlimm!«

»Ist es auch. Außerdem beleidigt er uns alle andauernd persönlich mit Sätzen wie ›Du bist ja zu blöd für einen geraden Satz‹ oder ›Schau doch mal in den Spiegel, Schönheit bist du keine‹ und so weiter. Und überhaupt, er geht mir so was von auf den Geist!«

Es folgte eine lange Pause, denn Sissy musste sich mit einem Schluck Kaffee und einem Bissen von ihrem Tramezzino stärken.

Obwohl sich ihr Innerstes sorgenvoll zusammenzog, gelang es Mia, verständnisvoll zu nicken und ein kleines »Hmm« in Sissys Richtung wandern zu lassen.

»Der Klaus und die Anita, du weißt schon, unser Morgenshow-Duo, sind auch schon komplett verzweifelt. Auf Zehenspitzen bewegen wir uns durch die Redaktion, nur damit Markus dich nicht in sein Büro holt, denn dann gnade dir Gott! Und ein paar aus der Redaktion wollen ernsthaft kündigen – obwohl, ob sie das durchziehen, weiß ich nicht, denn so einen Job bekommt eh keiner von uns woanders mehr.«

»Hört sich echt nicht gut an, Sissy.«

Mia fiel auf, dass Sissys roter Pagenkopf immer wieder nach unten kippte.

Puh, die ist ja komplett am Ende, dachte sie, ließ sich jedoch nichts anmerken.

»Ja, das kannst du laut sagen, Mia! Hört sich echt schlimm an, aber was soll ich dagegen machen? Wenn ich Markus nur sehe, schrumpfe ich schon auf Ameisengröße zusammen. Ich fühle mich wie ein irgendwo im Universum ausgesetztes einsames Atom auf der Suche nach … was weiß ich, wonach ich suche. Auf jeden Fall geht das so nicht mehr weiter. Wie soll ich denn die nächsten fünf oder zehn Jahre arbeiten gehen, wenn sich mir jeden Tag in der Früh schon der Magen umdreht? Das kann ja auf die Dauer nicht gesund sein.«

Krampfhaft versuchte Sissy zu lächeln, um eine gewisse Heiterkeit in die Unterhaltung zu mogeln, denn sie wusste nur zu gut, dass Mia alles hörte. Auch die Zwischentöne. Selbst wenn sie, wie eben, an ihrem Kaffee nippte und schwieg. Doch Sissy konnte spüren, dass ihre Freundin sie gerade mit jeder Faser ihres Geistes scannte.

»Hör mal, Sissy. Ich weiß ja, wie schlecht es dir damals gegangen ist. Ich weiß, wie sehr dich das alles aus der Bahn geworfen hat. Und du hast nie wirklich um Hilfe gebeten. Und jetzt Markus. Das ist das Sahnehäubchen. Kannst du dir vorstellen, diesmal vielleicht professionelle Unterstützung anzunehmen? Du weißt ja, ich kenne da einige gute Leute«, begann Mia sachte.

Sissy fixierte ihren Kaffee, als hätte er eine Antwort für sie parat. Angestrengt spielte sie mit dem Kaffeelöffel im Cappuccino-Schaum und dachte nach.

War sie jetzt echt schon so tief gesunken, dass sie zu irgendeinem ›Psych‹ musste? Egal ob Psychiater, Psychotherapeut oder Psychologe. Oder war alles bereits so hoffnungslos, dass nur mehr ein Esoterikguru ihre verletzten und verstümmelten Seelenteilchen wieder zusammenflicken konnte? … Und wenn sie sich nicht unterstützen ließ? Was dann?

Schließlich hatte sie ihr gesamtes Leben lang nie Hilfe nötig gehabt. Seit zwei Jahren war sie standhaft geblieben und nie irgendwohin gelaufen. Aber ihr Magen? Hmm.

»Mia, lieber nicht. Das geht schon. Ich schaff das allein.«

Mit fester Stimme und den Blick nach wie vor auf ihre Cappuccino-Tasse gerichtet, hatte Sissy diese Entscheidung gefällt. Morgen werde ich das vermutlich bereuen, davon war Sissy schon jetzt beinahe felsenfest überzeugt. Eh egal.

»Wenn du meinst?«

Mia war sichtlich nicht der Ansicht, dass Sissys Entscheidung richtig war. Es schien Sissy nämlich, als ginge Mia eine stumme Wer-hilft-mir-meine-Freundin-zu-retten-Liste durch. Das konnte sie an Mias Gesichtszügen erkennen.

Nach unheimlich langen Minuten kam von Mia ein: »Du hast recht, Sissy. Du warst bis jetzt stark und wirst es auch weiterhin sein.«

Sissy sank in den Sessel zurück. Das war ja furchtbar. Nicht einmal Mias Seelenklempner waren also in der Lage, ihr zu helfen! So ein Mist. Natürlich hatte sie deren Hilfe nicht gewollt. Aber so wie Mia das jetzt gesagt hatte, schaute es einfach nicht gut für sie aus. Sie starrte in ihren bereits zweiten Cappuccino, diesmal koffeinfrei. Super Getränkewahl, jubelte ihr Magen gequält auf, und Sissy musste sich kurz auf den Bauch greifen.

»Du machst es mir auch nicht leichter, Mia. Aber okay. Wenn ich es nicht schaffe, dann … ja, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.«

Ein eindringlicher und alles in seine Grundbausteine zerlegender Blick Mias traf Sissy. Natürlich ahnte Mia alles. Sie ahnte immer alles. Sissy fühlte sich ertappt und zupfte schnell ihr T-Shirt zurecht. Wobei sie sich genau ertappt fühlte, wusste sie allerdings nicht. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust, fast so, als ob sie sich vor Mia schützen wollte.

»Blödsinn. Es gibt immer einen Weg. Und selbst wenn du den Weg nicht kennst, kannst du einen Schritt vor den anderen setzen. Und ich bin ja auch noch da. Schon vergessen?«

»Nein, natürlich nicht. Danke.«

»Wenn du noch einmal Danke für so etwas Selbstverständliches sagst, gehst du zur Strafe mit mir shoppen«, lächelte Mia sie an.

Sissy tätschelte sie am Arm. »Weiß ich, aber ich bin froh, dass ich dich hab.«

Mia drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.

Andere waren ja der Meinung, Mia könne durch Menschen hindurchblicken und ihre Seele sehen. So weit wollte sich Sissy in diesem Punkt allerdings nicht aus dem Fenster lehnen. War ja jetzt auch nicht wirklich wichtig.

Im Moment war Sissy tief in ihrem Innersten davon überzeugt, dass sie aus ihrem – unbestreitbar angsteinflößenden – Tief allein herausklettern wollte. Musste. Ihrem Seelenfrieden zuliebe. Ohne fremde Hilfe. Das war sie sich selbst schuldig. Oder dem kümmerlichen Rest, der einmal ihr Selbst gewesen war.

Und damit war jetzt auch wirklich Schluss mit der Debatte. Sissy wechselte schroff das Thema.

»Wie gehts eigentlich deinen Männern?«, fragte sie.

»Ah, Themenwechsel? Also gut, du kannst dich an den neuesten Schmankerln meines Sohnes ergötzen«, grinste Mia.

»Was treibt Laurens denn so?«

»Für einen Siebzehnjährigen bis auf seinen Dauersaustall in seinem Zimmer, ein neues ›Eintreten verboten‹-Schild auf seiner Tür und der Tatsache, dass er nicht mehr als zehn Sätze pro Woche mit mir spricht, reichlich wenig. Ich habe ehrlich gesagt beinahe Angst, dass das die Ruhe vor dem Sturm ist.«

Ich bin echt mies, kam es Sissy in den Sinn. Statt selbst aufzumachen, drehe ich es so, dass ich Mia dazu bringe, mir ihre Sorgen zu erzählen. Aber ich kann im Moment nicht anders.

Also ließ sie sich Sissy von Mia bis ins kleinste Detail erzählen, was bei ihr diese Woche so alles passiert war.

***

»Wo ist denn die Susi schon wieder, verdammte Scheiße!«, schmetterte Markus lautstark und im gewohnten Ich-zerstückle-dich-gleich-nachdem-ich-dich-erwischt-habe-Tonfall durch das Großraumbüro der Redaktion.

Bei genauer Beobachtung gewann man den Eindruck, als ob sich auch sämtliche Computer, Drucker und Kopiergeräte und sogar der große Kaffeeautomat duckten, nur um ja nicht von Markus’ schneidender Stimme unabsichtlich in nutzlose Stücke zerteilt zu werden, um dann vielleicht als Elektroschrott auf irgendeiner Mülldeponie zu enden.

Susi, eine der Moderatorinnen, saß an ihrem Schreibtisch und bereitete gerade die nächste Sendung vor. Markus hatte sie endlich erfolgreich aufgespürt und seine Nase war auf Tuchfühlung mit Susis Stupsnäschen gegangen. Die Moderatorin konnte an seinem zerknautschten Blick sehen, dass Feuer am Dach war, und sogar seinen heißen Atem riechen. Darauf hätte Susi aber gut und gern verzichtet.

In Zeitlupe ließ sie ihren Kopfhörer ihr langes Haar entlang bis hinunter zu den Schultern wandern. Sie schüttelte ihre schwarze Mähne und fletschte die Zähne.

Entschuldigung, falsch.

Sie lächelte ihrem Chef natürlich ins Gesicht und mit einem Augenaufschlag, der immer bekam, was er wollte, flüsterte sie: »Aber Markus, mein Lieber! Wenn ich die Kopfhörer oben habe, höre ich dich nicht. Das weißt du doch. Was gibt es denn so Wichtiges?«

Markus schnaubte. »Was zum Teufel hast du bitte mit Angela gemacht? Warum schickst du eine Frische zur Pressekonferenz vom Finanzminister? Was bitte schön soll die denn dort machen? Kaffee servieren? Ihr Mikrofon Gassi führen?«

Susi verdrehte ihre Riesenaugen. Diese dunkelbraunen Knopfaugen hatten schon einige Männer beinahe um den Verstand gebracht. Einen jedenfalls sicher. Dieser hieß Werner, war der Senderchef, verheiratet, hatte zwei Kinder zu Hause und darum saß Susi genau da, wo sie saß. Und zwar bombensicher.

»Hör mal, Markus. Die Neuen sollen ruhig gleich einmal wissen, dass unser Geschäft kein Honigschlecken ist. Wenn sie mit einem brauchbaren Interview mit dem Finanzminister zurückkommt, gut, dann schau ich mal, ob ich es auf Sendung verbraten kann. Wenn nicht, auch egal. Dann weiß Angela wenigstens, was bei uns Sache ist.«

Markus tobte innerlich. Ihm war glasklar, dass Susi unantastbar war. Somit brachte er es gerade noch zu einem »Mal sehen, was sie daherbringt. Ich hoffe für dich, es ist kein Kebab«, um sich gleich anschließend, innerlich auf Tausend, unverrichteter Dinge wieder in sein Büro zu verziehen, was Susi nicht weiter verwunderte. Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Bildschirm und schmunzelte über ihren eben ausgeheckten Plan.

In seinem Büro angekommen, fiel Markus’ Blick auf den neuen Dienstplan, den ihm jemand bereits ausgedruckt auf den Tisch gelegt hatte. Ein schwerer Fehler. Denn das nahm Markus als Wink des Schicksals. Mit ein paar Kugelschreiberstrichen vernichtete er kurzerhand die Hoffnung einiger durchaus talentierter Nachwuchsredakteurinnen und -redakteure auf ihren ersten Einsatz zu einer guten Sendezeit.

Sollen doch die, für die wir ohnehin schon eine Schweinekohle zahlen, auch mal richtig arbeiten, lautete seine Devise bei der Dienstplanumgestaltung.

Dieser kleine, feine organisatorische Eingriff in den Dienstplan mündete etwas später, nachdem der geänderte ›offiziell‹ war, bei ein paar sensiblen Jungradiostars in ausgewachsenen Heulkrämpfen und bei einigen anderen in Kampfansagen wie »Dem werde ich es noch zeigen!« oder »Das kann er nicht machen, der hat mir doch versprochen, dass ich jetzt auch mal endlich zum Zug komme. Na warte, wenn ich Markus erwische!« …

Von alledem unberührt, ließ Susi eine Stunde später ihr persönliches Opfer zum Rapport antanzen und sich von Angela berichten, warum es ihr doch nicht möglich gewesen war, dem Herrn Finanzminister eine Wortspende ins Mikrofon abzutrotzen.

Susi säuselte: »Na, meine Liebe, so wird das leider nichts. Ich brauche gestandene Reporterinnen. Wenn ich jemanden hinausschicke, dann will ich ein Ergebnis haben. Schätzchen, meine Hörer wollen doch was geboten bekommen! Bei mir ist das Who’s who aus Österreich zu hören und wer das nicht bringt, ist aus meiner Sendung draußen. Das verstehst du doch, oder?«

Angela war übel und sie war stinksauer. Es war doch nicht ihre Schuld, dass die Pressekonferenz schon zu Ende gegangen war, als sie dort ankam. Susi hatte ihr doch den Termin gesagt. Ganz offensichtlich mit voller Absicht den falschen. Doch Angela wusste, dass sie da jetzt durch musste, und riss sich zusammen.

»Natürlich versteh ich das. Aber Susi, ich hab dir doch erklärt, dass du mir irrtümlich eine falsche Uhrzeit genannt hast«, klammerte sich Angela noch einmal mutig an die Fakten.

Irrtümlich? Du falsche Kuh, dachte Angela im Stillen.

»Schätzchen, das meinst du jetzt nicht im Ernst, oder? Bin ich deine Terminplanerin? Also echt! Du willst Reporterin sein, dann kümmere dich auch gefälligst um deine Termine. Ach, und übrigens, wann hast du denn das nächste Sprechtraining, Angela?«

»Übermorgen«, stammelte diese. »Wieso?«

Dieser Schlange konnte sie nicht Paroli bieten. Das wusste Angela. Es war einfach nur zum Heulen. Und wie auf Befehl stiegen Tränen in Angelas Augen auf. Dafür war im Moment einzig und allein Wut verantwortlich. Trauer war da nicht im Spiel.

»Na, weil du dich anstrengen musst, Angela. Mit deinem dünnen Stimmchen kann ich dich im Moment sowieso nicht selbst einen Beitrag sprechen lassen. Das weißt du aber eh, gell?« Sprach Susi, drehte sich um und würdigte die gedemütigte Angela keines Blickes mehr. Stattdessen griff sie zum Handy und rief ›Bärli‹ an. Angela machte am Absatz kehrt und sperrte sich heulend im WC ein. Susi dagegen musste ihrem Liebsten dringend erzählen, wie hart sie arbeiten musste, um diesen Sender am Laufen zu halten. Hätte der Sender Susi nicht, käme vermutlich bloß so ein getrommelter Urton aus dem Radio.

Aber das hatte Bärli Werner Gott sei Dank schon vermutet und bei der Gelegenheit fragte er sie: »Mausi, hast du vielleicht morgen Abend Zeit? Ich hab uns schon unsere Suite gebucht.«

»In unserem Hotel, Bärli?«

»Natürlich. Für dich doch nur das Beste, mein Schnucki. Schließlich sollte Arbeit ja auch ein bisschen Spaß machen. Offiziell haben wir eine Sitzung.«

»Alles klar, Bärli. Ich bin gegen acht Uhr abends dort.«

»Ich freu mich.«

Nikki, einer der Nachrichtenredakteure und zugleich Sissys bester Freund, hatte die Szene von seinem Schreibtisch aus beobachtet. Leider nicht nur das. Er wusste, in welchem Wiener Hotel sich die beiden immer trafen. Den bitteren Geschmack auf seiner sich pelzig anfühlenden Zunge erkannte Nikki messerscharf als Galle. Die versuchte gerade erfolglos, in seinem Inneren eine Möbiusschleife zu bilden.

Lässige Radioredaktion? Bullshit, dachte Nikki. ›Verschlechterungsanstalt für Egomanen‹ wäre eine treffendere Bezeichnung für diese Irrenanstalt hier. Er starrte wieder auf den Bildschirm. Der glotzte gänzlich ungerührt zurück. Gerade hatte er sich den neuen Dienstplan für September zu Gemüte geführt. Eh klar! Der ihm von Markus hoch und heilig versprochene erste Dienst als Morgennachrichten-Redakteur stand da nicht drauf. Danke, Chef. Kein Karrieresprung, nicht einmal ein Hüpfer war das. So viel stand fest.

In seiner Verzweiflung rief Nikki bei Sissy an. Zu dumm, dass er sie heute nicht mehr getroffen hatte.

Mobilbox.

»Nikki, hast du irgendeine Knallermeldung, die ich anteasen könnte?«, meldete Susi, die Schlampe.

»In Wien ist ein Fahrrad umgefallen.«

»Jetzt hör aber auf. Ich hab es ernst gemeint«, motzte sie.

»Ich auch!«

Lieblos und gänzlich unmotiviert bastelte Nikki dann doch an den Nachrichtenbeiträgen für die nächste Sendung. Eigentlich hätte er zu seiner Story noch mindestens ein bis zwei Anrufe tätigen können. So als gründlicher Journalist eben. Aber wozu? Merkt doch von den Wichtigen hier eh keiner den Unterschied und die Susi kann mich mal.

Somit ließ Nikki es gut sein.

Später rief er noch vier weitere Male Sissys Mobilbox an. Wenigstens hörte Nikki ihre Stimme. Das war dann doch tröstlich.

Irgendwie zumindest.

Kaum konzentrierte er sich auf seine Texte, funkte Susi dazwischen und das war kaum zu ertragen. In Momenten wie diesen war Nikki dankbar, dass er schwul war. Es ersparte ihm wenigstens, dass sie ihn anflirtete, wie alle anderen männlichen Wesen, bei denen sie einen aufrechten Gang vermutete.

Ein grauenvolles Bild. Nikki musste sich dringend mit Snapchat ablenken.

4. Die Verzweiflung

Nach ihrem Treffen mit Mia war Sissy direkt nach Hause in ihre Wohnung gefahren. Jetzt lag sie auf ihrem Bett. Sie hatte nicht einmal die News im Internet oder im Teletext gelesen. Für sie selbst ein Zeichen, dass es ihr wohl sauschlecht ging. Kein Interesse an Nachrichten bedeutete für Sissy: kurz vor dem Sterben.

Voll angezogen, die Arme unter dem Nacken verschränkt, versuchte Sissy, dem Plafond ihres Schlafzimmers zu entlocken, wie es mit ihrem Leben weitergehen solle. Ihre Decke blieb dummerweise standhaft und schwieg eisern, ganz im Gegensatz zu ihrem Kopf. Tanzend wirbelten ihre Gedanken über das Parkett der Aussichtslosigkeit: Aufhören, kündigen, Markus die Meinung sagen? Hey, ich bin echt gekränkt! Pah, hab ich eine Wut! …

Jeder negative Gedanke schien immense Anziehungskraft auf weitere, noch trübere auszuüben. So wurde Sissys Stimmung von Gedanke zu Gedanke, von Minute zu Minute mieser und depressiver, bis Sissy in Selbstmitleid zu ertrinken drohte. Was wirklich bedrohlich war, angesichts der Tatsache, dass hier in ihrem Schlafzimmer ganz sicher kein Schönling mit einem Rettungsring in der Hand um die Ecke biegen würde.

Sie war nicht mehr so gut wie früher. Zu oft unkonzentriert. Abgelenkt. Mit ihrer traurigen Grundstimmung eigentlich ohnehin eine Belastung für die gesamte Redaktion. Ja, so sah es aus.

Am liebsten hätte sie laut »Mama! Papa! Helft mir doch! Was soll ich tun?« geschrien.

Wie armselig war es, mit sechsunddreißig nach den Eltern zu rufen, die ohnehin nicht antworten konnten?

Keine Tränen, du bist ein starkes Mädchen, lautete ihr innerliches Mantra. Dumm war nur, dass weder ihr Kopf noch ihr Bauch ihren Aufmunterungsversuchen Glauben schenkte. Ihre Augen sowieso nicht.

Und der Dunkelhaarige von heute früh? Was war das zwischen ihnen?

Gar nichts. Er hatte sicher eine Frau oder Freundin. Vermutlich hatte er ihr Zusammentreffen längst vergessen. Verübeln konnte Sissy es ihm nicht. Wer wollte schon eine depressive, urhässliche rothaarige Sechsunddreißigjährige?

In diesem Moment läutete es an Sissys Wohnungstür.

Himmel, wer will denn jetzt was von mir? Ich glaub, ich bin einfach noch nicht zu Hause, redete sie sich ein.

Erfolglos. Denn wer auch immer an der Tür war, wusste, dass Sissy längst daheim war, denn nun läutete es Sturm.

Mühevoll quälte sie ihren gefühlte hundert Tonnen wiegenden Körper aus dem Bett, quer durchs Wohnzimmer, hinein ins Vorzimmer, und während die eine Hand die Tür langsam aufzog, wischte die andere automatisch übers Gesicht.

Keine Tränen mehr. Gut.

»Sissy! Ich hab ja gewusst, dass du da bist. Du, ich muss dir dringend was erzählen.«

Und schon war Andrea, eine von Sissys Freundinnen, durch die Tür ins Innere ihrer Wohnung gehuscht. Während sich Sissy erst langsam umdrehte – hundert Tonnen zu rangieren, war eben nicht einfach –, saß Andrea bereits auf ihrer weißen Ledercouch im Wohnzimmer. Sissy kam erst gar nicht dazu, ihre Freundin zu begrüßen, denn Andrea war in Fahrt. Ein unzähliges weiteres Mal prasselte die Gerölllawine Andreas gesamten Elends ungebremst auf Sissy ein.

»Dieses Arschloch von Rudi hat mir doch glatt ein E-Mail geschickt, in der steht, dass er nicht mit Amelie Silvester feiern kann. So schaut es aus. Er will unsere Tochter ja eh gar nicht sehen. Immer diese Gefühlsduselei. Von wegen er leidet so unter der Trennung von Amelie. Schwachsinn! Und jetzt, jetzt hat er gar keine Zeit für sie. Termine. Sicher doch. Dieses Würstel. Das lasse ich ihm diesmal nicht durchgehen, er soll sie ruhig zu Silvester nehmen.«

Erwartungsvoll hielt Andrea inne. Vermutlich wollte sie sicherstellen, dass Sissy auch wirklich zugehört hatte und die Bedeutungsschwere ihrer Botschaft angemessen würdigte. Sie zupfte sich daher ihre Bluse zurecht.

»Ja, aber du wolltest Amelie doch sowieso am Vierundzwanzigsten und am Einunddreißigsten bei dir haben, um mit ihr zu feiern, oder?« Sissy verstand die Aufregung ihrer Freundin nicht. Nicht einmal, warum sie die Tür geöffnet hatte.

»Ja, eh! Trotzdem, der Idiot muss endlich einmal kapieren, dass er mit mir nicht so umspringen kann. Das ist doch eine Riesensauerei! Ich mach auf Alltag mit der Kleinen. Schule, ihr beim Lernen helfen, sie zum Tennis führen und so. Dafür bin ich gut genug. Aber der Arsch pickt sich die Rosinen aus dem Kuchen. Ein nettes Wochenende hier, ein kleiner Ausflug da, und Amelie himmelt ihn an, weil das alles so toll ist. Mit ihrem Wunderpapa und seiner neuen Frau! Nein, so nicht. Nicht mit mir. Ich schicke ihm die Amelie am Siebenundzwanzigsten und dann soll er sie von mir aus am zweiten Jänner wiederbringen. Der hat sicher schon etwas anderes, Cooleres am Silvesterabend vor, als mit seiner Tochter zu feiern. Aber das werde ich ihm gründlich versauen.«

Sissy versuchte krampfhaft, irgendeine Art von rotem Faden in Andreas Gedankengängen zu finden. Nachdem sich ihrem behäbig agierenden Geist auch nach einiger Grübelei Andreas Logik nicht erschloss, musste Sissy nun doch nachfragen.

»Also, Andrea: Du willst nicht, dass Rudi immer die tollen Sachen mit Amelie unternimmt, aber du willst auch nicht mit deiner Tochter gemeinsam Weihnachten und Silvester feiern oder die gesamten Ferien mit ihr verbringen, was irgendwie für Amelie jedoch eigentlich zu den super Sachen gehört, die sonst immer nur der Papa mit ihr macht? Ehrlich? Andrea, entschuldige, aber das verstehe ich jetzt nicht.« Dabei sah sie Andrea direkt in die Augen, die sofort körperlich zurückwich.

Diesen Torpedoangriff der Ratio schnell verdrängend, schüttelte Andrea ihre Geheimwaffe aus dem Ärmel: die vor Selbstmitleid triefende, leidende Stimme, gepaart mit einem hilfsbedürftig wirkenden Körper.

»Sissy, du hast ja keine Ahnung, wie es mir geht. Du hast einen super Job, die Männer jagen dir nach und außerdem, du hast keine Kinder. Und deine Familie hast du auch nicht verloren … äh, entschuldige … das habe ich jetzt nicht so gemeint. Ich habe Familie so mit Mann und Kind gemeint … Aber es ist eh klar, dass du nicht den blassen Schimmer davon hast, wie ich mich fühle. Und finanzielle Sorgen kennst du auch keine.«

Ja, das war doch gleich einmal ein bunter Reigen an Vorwürfen. Sissy hatte Mühe, die Untergriffe zu ignorieren, daher konnte sie nichts weiter zu ihrer Verteidigung auffahren als: »Da hast du recht. Aber schau, Andrea, du hast so eine schöne Eigentumswohnung, der Rudi zahlt Alimente, die Amelie ist gesund und hübsch. So schlecht geht es dir ja gar nicht.«

Diese gerade einmal drei Sätze hatten Sissy so viel Kraft gekostet wie an guten Tagen ein gesamter Dienst.

Zorn hatte sich eine Weile im Eck gegenüber der Sitzgarnitur versteckt und gespannt der Unterhaltung der beiden Frauen gelauscht. Da ihm ohnehin gerade äußerst langweilig war, warf er sich nun auf Andrea.

Rechtzeitig, also gerade noch bevor sich Zorn vollends entfalten konnte, wurde Andrea aus ihrem Selbsterhaltungstrieb heraus jedoch klar, dass Sissy ihre einzige Freundin war. Daher blies sie unter Aufgebot ihrer größtmöglichen Selbstbeherrschung nicht zur Attacke.

Doch daran drohte Andrea beinahe zu ersticken. Zorn galoppierte voller Wonne durch ihre Eingeweide und zog aus Frust da und dort an einer Darmzotte. Echt jetzt. So ging es ja auch nicht. Zusammenreißen? Wo gibts denn so was?

Gekrümmt vor Schmerzen, fühlte sich Andrea von ihrer Freundin so was von unverstanden, verraten und dazu noch gleich von der ganzen Welt hinters Licht geführt, dass sie am liebsten laut vor Zorn geschrien hätte. – Eine schwere Kindheit, ein Ex-Ehemann, der sie nach Strich und Faden betrogen hatte, und eine starrköpfige, schwer pubertierende Vierzehnjährige mussten ja wohl ausreichen, um sich ein klein wenig Verständnis von der Welt erhoffen zu dürfen. Oder? Wo kämen wir denn sonst hin?

Niemand verstand sie, also blieb Andrea keine Wahl. Sie musste zumindest verbal ein Schäufelchen nachlegen. Daher schrie sie: »Alimente!!! Super! Hast du eine Ahnung, was ich alles für Amelie zahlen muss? Und jetzt braucht sie auch noch eine neue Tennisausrüstung. Vierhundert Euro. Und Herbstkleidung für die Schule. Das Beste, versteht sich. Noch einmal fünfhundert Euro. Natürlich weißt du gar nicht, wie es einer alleinerziehenden Mutter da geht. Mit einem Halbtagsjob, der kaum die Betriebskosten bezahlt, wohlbemerkt. Schließlich brauchst du dir ja nur um dich selbst Sorgen zu machen. Du hast immer etwas Schickes an. Und ich? Laufe mit meiner mindestens fünf Jahre alten Hose herum. Und außerdem hat Rudi mit mir ausgemacht gehabt, dass er Amelie heuer zu Silvester nehmen wird. Und jetzt doch nicht. Wahrscheinlich will er mit seiner Alten ins neue Jahr vögeln. Ich hasse ihn.«

Rums.

Das Fallbeil der in Sissys Kopf fix installierten Wortwächter-Guillotine brauste ohne Vorwarnung auf das Wort ›vögeln‹ und zerstückelte es ansatzlos in seine Buchstaben. Sofort wurde Sissys Magen wieder rebellisch. Wie sehr sie es verabscheute, wenn Andrea so respektlos und grauslich daherredete, konnte sie gar nicht in Worte fassen.

Sissy sah es förmlich vor sich: das Bild einer schimpfenden, armseligen Comicfigur, der aus lauter Ärger schwarzer Rauch aus den Ohren quoll. Und diese Figur war sie selbst. Bravo.

Andreas Wortschatz in diese Richtung war überhaupt sehr umfangreich. Rudis nunmehr vierte Ehefrau hieß grundsätzlich nur ›die Schlampe‹, ›die Nutte‹ oder ›die Hure‹. Sehr abwechslungsreich.

Sissy war sauer, aber in dieses Gefühl mischte sich auf unheimliche – und nicht kontrollierbare – Weise gleichzeitig auch tief empfundene Freundschaft. Oder war es Verständnis? Vielleicht sogar ein Helfersyndrom? Auf jeden Fall kam es Selbstzerfleischung sehr, sehr nahe. Die Ursachen dafür entzogen sich Sissys Kenntnis.

Fakt war, dass es Andrea mit Leichtigkeit gelang, bei Sissy den Modus Bin-gern-und-jederzeit-für-dich-da zu aktivieren. Immer. Auch jetzt wieder. Und das, obwohl Andrea, seit sie bei Sissy hereingeschneit war, noch nicht ein einziges Mal gefragt hatte, wie es Sissy denn ging. Wie aufgewühlt Sissy heute innerlich war, nahm Andrea natürlich auch nicht wahr. Andrea hatte nie eine Ahnung, wie sich Sissy tatsächlich fühlte. Seit Jahren nicht.

Ärger suchte das Weite, denn bei Sissy war gerade nichts auszurichten. Diese Freundschaftsduselei ging ihm für seinen Geschmack zu weit. Zorn blieb noch. Er rechnete sich nach wie vor Chancen bei Andrea aus.

Sissy seufzte laut auf. Sie suchte erst gar nicht in ihrem Herzen nach Humor, um die Angelegenheit hier ein wenig erträglicher zu gestalten. Natürlich ließ sie sich ein weiteres Mal auf diese völlig ausweglose und sinnentleerte Diskussion mit Andrea ein. Sie war ein Loser.

»Andrea, schau mal. Du kannst es ja auch positiv sehen. Heuer feierst du Weihnachten und Silvester mit Amelie. Ihr verbringt die ganzen Ferien miteinander. Das ist doch superschön.«

»Was ist schön daran, wenn man weiß, dass man nie mehr eine Familie haben kann? Was ist das dann mit Weihnachten? Hm? Und hast du eine Ahnung, wie viel Geld ich dann wieder für Amelies Weihnachtsgeschenke ausgeben werde?«

Andrea ließ das einen Moment wirken.

»Nein, hast du nicht, Sissy. Und was soll überhaupt an Weihnachten so schön sein? Blöd vor dem Baum herumstehen und dann Geschenke aufreißen? Meine Tochter macht sich ja nicht einmal mehr die Mühe, mir etwas Nettes zu basteln. Und dann pflaumt sie mich vielleicht noch an, weil dieses oder jenes nicht passt … Ich könnte Rudi umbringen!«

Andreas Körper zitterte, so aufgeregt und zornig war sie mittlerweile.

Sissy versank im Sofa. Zwei mächtige, zentnerschwere Sandsäcke schienen es sich auf ihren Schultern so richtig gemütlich gemacht zu haben. Gemeinsam drückten sie Sissys restlichen Körper gnadenlos und Stück für Stück immer tiefer und noch tiefer ins weiche Leder. Um Luft ringend, schnaufte sie nur noch, obwohl sie am liebsten laut durch ihre eigenen vier Wände geschrien hätte: ›Herrgott, Andrea, wir haben Ende August und du quatscht mir die Ohren wegen Weihnachten und Geschenke auspacken voll! Bis dorthin könnte noch ein Atomunfall passieren, die Weltwirtschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen oder ein Krebsgeschwür über uns herfallen. Und außerdem, Amelie ist vierzehn. Vier-zehn, die pubertiert gerade. Na und?‹

Mit dem Krebs hatte Sissy in der letzten Zeit nämlich auch eine besondere Beziehung aufgebaut. Wann immer es ihr schlecht ging und sie irgendwelche Krankheitssymptome googelte, stand am Ende immer dieselbe Diagnose: Krebs! Dieses Kunststück gelang Sissy selbst dann, wenn sie ›Kopfschmerzen‹, ›Halsweh‹ und ›Husten‹ eingab. Und deshalb hatte Sissy wirklich eine Heidenangst vor dieser Krankheit entwickelt.

Um sich von ihrer aktuell wieder aufpoppenden Krebsphobie abzulenken, die sie dem Eintreffen von Angst zu verdanken hatte, begann sie, sich geistig auszumalen, auf welche Art und Weise Andrea ihren Ex-Mann in Richtung ewige Jagdgründe befördern könnte.

Als amoklaufende, schwer bewaffnete Terroristin, die ihm vor der Wohnungstür auflauerte und knallhart abdrückte, konnte sie sich ihre Freundin beim besten Willen nicht vorstellen. Andrea taugte nicht zur Rächerin im Tarnanzug. Vermutlich würde sie wohl eine subtilere Möglichkeit wählen, um seinem jämmerlichen Leben ein Ende zu setzen. Vielleicht einen verseuchten Kuchen schicken? Eine mit Gift verfeinerte Gratispackung eines Potenzmittels zusenden?

Eher nicht. Sissy war sich sicher, Andrea würde es nicht durchziehen können. Andrea war nicht paktfähig. Weder mit sich selbst noch mit anderen. Und eine Niete im Taktieren. Ihre Boshaftigkeiten ihrem Ex-Mann gegenüber entstanden nämlich allesamt ausnahmslos aus dem Moment, doch zugegebenermaßen aus purer Rachsucht. Das war unvereinbar mit Strategie und Hirn einschalten. Vermutlich hätte sich Andrea einen Plan schon dadurch zunichtegemacht, dass sie Rudi gleich postwendend angerufen hätte, um ihm mitzuteilen, ein todbringendes Paket sei auf dem Weg zu ihm.

Dann hätte Rudi sie als ›irre Psychopathin‹, die schnellstens eingewiesen werden musste, beschimpft und im nächsten Atemzug hätte Andrea Sissy angerufen und erzählt, wie bösartig Rudi war. Hundsgemein und hinterhältig. Sie hätte ihm doch bloß ein nettes kleines Paket schicken wollen und er wollte sie dafür ins Irrenhaus einweisen.

Das fand Sissy jetzt wiederum ganz unterhaltsam, ein Funke von Humor schien wider Erwarten auf ihrem seelischen Trümmerhaufen überlebt zu haben. Wenn es auch nicht seine beste Seite war. Für den Moment nahm Sissy aber, was sie bekommen konnte.

»Andrea, es hat doch keinen Sinn, dir zu überlegen, wie du Rudi erfolgreich ums Eck bringen kannst! Amelie braucht euch doch beide«, versuchte sie nun wieder, an Andreas Vernunft zu appellieren.

Stille war die Antwort. Offenbar musste die gute Andrea gegen die rachsüchtige Andrea erst einen innerlichen Kampf gewinnen. Der Ausgang war mehr als ungewiss.