In zweiter Ehe - Marie Louise Fischer - E-Book

In zweiter Ehe E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Helen und Birgit freunden sich miteinander an, ohne zu wissen, dass sie denselben Mann lieben! Marius Ellmann, erfolgreicher und attraktiver Ingenieur, hat es wahrlich nicht leicht: Birgit Kreuger, die schöne Journalistin, hat sich gerade mit ihm verlobt und die beiden wollen ihre Liebe mit einer Heirat besiegeln. Doch da wird Birgit Opfer eines Autounfalls, bei dem ihr Gesicht schrecklich entstellt wird. Ihre letzte Hoffnung ist Dr. Gardemeister, ein begnadeter Schönheitschirurg. Und auch Marius' Exfrau Helen möchte sich ausgerechnet in Gardemeisters Klinik ihre ersten Falten straffen lassen. Denn sie will Marius um jeden Preis zurückgewinnen und weiß auch noch nichts von seiner Verlobung mit einer anderen Frau.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

In zweiter Ehe

Roman

Saga Egmont

In zweiter Ehe

In zweiter Ehe

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1981 by Moewig Verlag, Germany

Copyright © 1981, 2017 Marie Louise Fischer Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711718957

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

I

»Ich könnte den Kerl erschlagen!« sagte Rechtsanwalt Dr. Kreuger in hellem Zorn. Er ging mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, in dem behaglich und sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer auf und ab – ein dunkler, schlanker Mann, hinter dessen schmächtiger Figur sich ungeheure Energie und Zähigkeit verbargen.

Seine Frau stand am offenen Kamin und schob die brennenden Holzscheite mit der Feuerzange zurecht. Jetzt sah sie zu ihm auf. »Aber, Friedrich, wie kannst du! Wenn Birgit dich gehört hätte!«

Er blieb vor ihr stehen. »Ich dachte, sie wäre nach oben gegangen?«

»Ja, sie macht sich frisch. Aber sie kann jeden Augenblick hereinkommen.«

»Es würde ihr nicht schaden, die Wahrheit zu hören«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, aber er senkte doch unwillkürlich seine Stimme.

Seine Frau hatte die Feuerzange wieder auf den schmiedeeisernen Ständer gehängt; sie setzte sich auf den hochlehnigen Gobelinsessel vor das Feuer. »Du solltest nicht so hart urteilen, Friedrich«, sagte sie. »Wenn du diesen Mann erst einmal kennenlernst, wirst du vielleicht deine Meinung ändern.«

»Den Gefallen tu’ ich ihm nicht, darauf kannst du dich verlassen, Sabine. Was ich bis jetzt von ihm weiß, genügt mir völlig. Sein ganzes Vorgehen ist einfach verantwortungslos.«

»Vielleicht liebt er Birgit wirklich«, wandte Sabine ein.

»Liebe! Ach, erzähl mir nichts! Liebe! Das glaube ich nicht!« Rechtsanwalt Kreuger begann wieder unruhig im Raum auf und ab zu gehen. »Ich wundere mich über dich, Sabine, ich wundere mich sogar sehr. Ich hätte nie gedacht, daß diese unglückselige Geschichte dich so kalt lassen würde. Anscheinend ist es dir völlig gleichgültig…«

»Nein«, unterbrach sie ihn, »du weißt ganz genau, daß es nicht so ist. Ich hätte mir wahrhaftig gewünscht, daß Birgit sich in einen netten, anständigen jungen Mann… ich meine, in einen Mann ohne familiäre Bindungen verliebt. Aber das Leben richtet sich nun einmal nicht nach unseren Wünschen. Ich fürchte, wir werden uns mit Birgits Wahl abfinden müssen.«

»Niemals!« sagte Rechtsanwalt Kreuger heftig. »Niemals werde ich zulassen, daß Birgit sich an einen geschiedenen Mann wegwirft.«

»Friedrich«, sagte sie, »ich bitte dich! Wenn man dich so reden hört… Glaubst du wirklich, daß man einen Menschen vor sich selber schützen kann?«

»Wir müssen es«, sagte er hartnäckig. »Wir sind ihre Eltern, und wir sind für sie verantwortlich.« Er blieb einen Augenblick lauschend stehen, aber es war nichts zu hören, bis auf das Prasseln der Flammen im Kamin. »Wo bleibt sie nur?« fragte er ungeduldig. »Herrgott, ich möchte diese Sache wirklich bald hinter mir haben!«

Er öffnete die Tür eines schweren norddeutschen Bauernschranks, hinter der sich die Hausbar verbarg, holte eine angebrochene Flasche Whisky und einen geschliffenen Kristallbecher heraus, schenkte sich zwei Finger breit ein und trank. Dann erst fiel ihm ein, seine Frau zu fragen: »Möchtest du auch?«

Sabine schüttelte den Kopf mit dem gepflegten weißen Haar, das in vorteilhaftem Kontrast zu der Frische ihres rosigen, immer noch jungen Gesichtes stand. »Nein, danke, nicht gerade jetzt.«

Als Birgit nach einem heißen Bad und einer kalten Dusche aus der Wanne stieg, fühlte sie sich sehr erfrischt. Sorgfältig rieb sie ihren Körper mit dem großen, angenehm rauhen Badetuch trocken. Sie wollte sich ihr Körperöl aus der Toilettentasche holen, als sie die Flasche mit dem Zitronenöl auf der Glasplatte über dem breiten Waschbecken sah. Birgit wußte sofort, daß die Mutter diese Flasche nur für sie dorthin gestellt hatte. Sie hatte es längst vergessen, aber plötzlich fiel ihr wieder ein, wie sehr sie als junges Mädchen den Geruch des Zitronenöls geliebt hatte. Jetzt benutzte sie längst eine französische Marke, die mit ihrem Parfum harmonierte, aber gerade deshalb fand sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter rührend. Sie brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen, schraubte die Flasche mit dem Zitronenöl auf und begann, ihre langen, schlanken Glieder mit kreisenden Bewegungen einzuölen. Der vertraute, längst vergessene Geruch weckte tausend Erinnerungen. Birgit fühlte sich auf seltsame Weise um Jahre zurückversetzt. Mit einer trockenen Bürste massierte sie das Öl tief in die Haut, schlüpfte in ihren Bademantel und lief die wenigen Schritte über den Flur in ihr Zimmer, dieses Zimmer, das für sie als junges Mädchen Freude und Stolz gewesen war.

Birgit wußte noch, wie sie selber mit Säge und Hobel das Bett in eine Couch verwandelt hatte, erinnerte sich genau an ihren siebzehnten Geburtstag, an dem ihr Vater ihr den hübschen kleinen Nußbaumschreibtisch geschenkt hatte, an dem sie in so vielen Nächten voller Feuereifer geschrieben hatte, überzeugt, etwas Großes zu vollbringen.

Birgit konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Schreibtischschublade aufzuziehen. Sie wußte, hier mußte noch ein angefangenes Manuskript liegen, das letzte, das sie vor ihrem Weggang nach München begonnen hatte. Alle früheren Arbeiten hatten ihren Ansprüchen nicht genügt; sie hatte sie feierlich verbrannt. Sie nahm das mit der Schreibmaschine geschriebene Manuskript in die Hand, las den Titel »Liebe ohne Gnade«, überflog die ersten Seiten und errötete und lächelte gleichzeitig. Wie hatte sie je so dummes Zeug verbrechen können! Es hatte ein Roman voll Leidenschaft und tiefer Gefühle werden sollen, aber alles las sich jetzt übertrieben, falsch, unerträglich sentimental. Bei jedem Wort spürte sie, daß sie damals, vor vier Jahren, noch nichts vom Leben und nichts von der wirklichen Liebe verstanden hatte.

Sie legte das Manuskript aus der Hand, kramte weiter, fand einen Schnellhefter, in dem fein säuberlich alle Artikel eingeklebt waren, die sie während ihrer Schulzeit veröffentlicht hatte. Es waren kaum zehn, und dennoch erinnerte sie sich noch deutlich, wie stolz sie damals gewesen war. Welch ein Triumph, als der Geldbriefträger ihr für ihren ersten Aufsatz zwanzig Mark ins Haus gebracht hatte! Heute konnte sie nur noch darüber lächeln, und dennoch spürte sie, daß es der Anfang einer Entwicklung gewesen war, deren Gipfel sie heute bei weitem noch nicht erreicht hatte.

Mit einem kleinen Seufzer legte sie alles wieder in die Schublade zurück. Es war töricht, sich gerade jetzt in Erinnerungen zu versenken, wo so viel auf dem Spiel stand. Sie mußte einen klaren Kopf behalten, mußte überlegen, wie sie den Vater überzeugen konnte. Noch als sie auf dem Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug gestiegen war, hatte sie fest geglaubt, bei ihren Eltern Verständnis zu finden.

Die unverhohlene Mißbilligung, die ihr Vater ihrem Heiratswunsch entgegengebracht hatte, kam für sie völlig überraschend.

Birgit hatte ihre Eltern für moderne, aufgeschlossene Menschen gehalten; plötzlich erschienen sie ihr in einem ganz neuen Licht. Vielleicht hatten die Jahre der Fremde sie selber verändert, ohne daß sie es gemerkt hatte. Sie war aus der festgefügten bürgerlichen Welt ihres Elternhauses herausgewachsen. Die Eltern, so schien es ihr, waren ohne Einsicht und voller Vorurteile. Dennoch konnte sie nicht böse auf sie sein, nicht einmal über sie lächeln. Selbst wenn man sich auseinandergelebt hatte, so liebte und achtete sie ihre Eltern noch genauso wie in den Tagen ihrer Kindheit. Es tat ihr weh, sie um ihretwillen leiden zu sehen. Aber sie hatte keine Wahl, sie mußte es durchstehen – um ihrer Liebe willen.

Entschlossen begann Birgit ihren Koffer auszupacken, stapelte Bücher und Manuskripte, die sie während ihres Hamburger Aufenthaltes lesen wollte, auf das Tischchen neben dem Bett, hängte ihre Kleider in den Schrank, legte die Wäsche in die Schubladen. Dann begann sie, sich anzuziehen. Sie wählte ein einfaches, stahlblaues Wollkleid, weil sie wußte, daß ihr Vater immer der Meinung gewesen war, daß Blau ihr besonders gut stand. Dann bürstete sie mit kräftigen Strichen ihr weizenblondes Haar, zog die Augenbrauen sorgfältig mit einem dunkelgrauen Stift nach, tuschte ihre Wimpern und bürstete sie nach oben, benutzte einen zarten pastellfarbenen Stift für ihren schöngeschwungenen Mund. Sie wußte, daß Schönheit die wirkungsvollste Waffe der Frau war, und sie hatte gelernt, ihre Waffen zu gebrauchen. Mit raschen Schritten stieg sie die knarrende Treppe hinunter, atmete tief durch und öffnete die Tür.

»Na, endlich!« sagte Rechtsanwalt Kreuger, und seine Herzlichkeit klang gezwungen. »Wir haben schon gedacht, du wärst in der Badewanne ertrunken!«

»Tut mir leid, Paps, wenn ich gebummelt habe!« sagte Birgit lächelnd und küßte ihren Vater zärtlich auf die Wange. »Es ist schön, wieder einmal zu Hause zu sein!«

Rechtsanwalt Kreuger trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Tochter mit Stolz. »Na, laß dich mal anschauen… Also, allzu schlecht scheint es dir in der Fremde nicht zu gehen. Du siehst großartig aus!«

»Vater und ich«, sagte die Mutter, »hatten immer mal vor, dich in München zu besuchen… Aber du weißt, wie das so geht, es ist immer wieder etwas dazwischengekommen.«

Birgit zog sich einen lederbezogenen Sessel zum Kamin, setzte sich. »Hast du so viel zu tun, Vater?« fragte sie, denn sie erinnerte sich, daß es ihrem Vater Freude gemacht hatte, wenn seine Familie sich für seine Arbeit interessierte.

Aber diesmal antwortete er nur kurz: »Kann man wohl sagen.«

»Vater vertritt einige große Industrieunternehmen«, erklärte Frau Kreuger mit leichtem Stolz, »er ist auch vor einem Jahr in einen Aufsichtsrat gewählt worden. Aber das habe ich dir doch geschrieben, nicht wahr?

»Scheidungsfälle übernehme ich gar nicht mehr«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, »ein schmutziges Geschäft. Es verdirbt auf die Dauer den Charakter.«

»Womit wir wieder beim Thema wären«, sagte Birgit. «Bitte, Paps, werde nur nicht gleich wieder zornig… hör mich doch erst mal an! Wenn du mir nicht glaubst, kannst du dich ja über Marius Ellmann erkundigen. Er ist ein durch und durch anständiger Mann… kein Fleckchen auf der Weste. Ich begreife wirklich nicht, was ihr gegen ihn einzuwenden habt!«

»Bitte, versuch doch Vater zu verstehen«, sagte Frau Kreuger rasch, »ihn stört es eben, daß Herr Ellmann geschieden ist.«

»Na und? Ist das etwa ein Charakterfehler?«

»Birgit! Also wirklich! In diesem Ton möchte ich mich nicht mit dir unterhalten!«

»Mich ärgert einfach, daß ihr so tut, als ob Marius ein Verbrecher wäre!«

»Birgit, jetzt übertreibst du aber wirklich«, sagte Frau Kreuger, »das hat doch niemand behauptet.«

»Doch! Vater! Vielleicht hat er’s nicht direkt gesagt, aber jedenfalls denkt er das. Oder willst du das etwa leugnen, Paps?«

»Jetzt hör mich mal in aller Ruhe an, Birgit«, sagte Rechtsanwalt Kreuger, »mir scheint, wir reden die ganze Zeit aneinander vorbei. Das Problem… Herrgott, wie soll ich dir das erklären? Das Problem liegt nicht in der Persönlichkeit deines Freundes. Es liegt in seiner Situation. Selbst wenn wir unterstellen, daß er ein Mensch ohne Fehler und Schwächen ist, so bleibt doch die Tatsache: er ist geschieden und hat zwei halb erwachsene Kinder, für die er sorgen muß. Du mußt schon erlauben, daß uns das zu denken gibt.«

»Ihr meint also, weil er einmal geschieden ist, muß seine zweite Ehe auch schiefgehen? Aber, Vater, Mutter! Das ist doch nicht euer Ernst! So altmodisch könnt ihr einfach nicht sein. Jeder weiß, es kommt manchmal vor, daß zwei Menschen heiraten, obwohl sie eigentlich gar nicht zueinander passen. Gerade du als Scheidungsanwalt, Paps…«

Er unterbrach sie. »Findest du nicht auch, daß es etwas sonderbar ist, wenn man zwanzig Jahre braucht, um das festzustellen?«

»Aber, Paps, so ist das gar nicht gewesen! Ihr seht die Dinge ganz falsch. Natürlich haben sie es sehr viel eher gemerkt, schon vor Jahren. Aber damals waren die Kinder noch so klein, und da haben sie es eben immer wieder versucht. – Sie haben sich alle Mühe gegeben – bis sie dann eines Tages festgestellt haben, daß es doch nicht geht.«

»Du willst wohl sagen, bis dein Freund dich kennengelernt hat?«

Birgit errötete jäh. »Ich habe damit gar nichts zu tun, das müßt ihr mir schon glauben. Ich würde dazu stehen, wenn es so wäre – aber als ich Marius kennengelernt habe, stand er kurz vor seiner Scheidung.«

»Natürlich, Kind«, sagte Frau Kreuger und warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir wissen doch genau, daß du so etwas nie tun würdest. Eine Ehe auseinanderbringen, das wäre doch geradezu verwerflich. Er ist also schuldlos geschieden, ja?«

»Was für eine Frage! Du müßtest doch wissen, daß das Schuldprinzip bei der Scheidung längst keine Rolle mehr spielt!«

»Aber wer wollte die Scheidung?«

»Seine Frau«, mußte Birgit zugeben.

Eine quälende Pause entstand.

»Meine liebe Birgit«, sagte Rechtsanwalt Kreuger dann, wählte sorgfältig einen schwarzen Zigarillo aus einer Teakholzdose und zündete ihn mit einem Streichholz an, »meine liebe Birgit, ich habe schon einmal gesagt, wir wollen unterstellen, daß dein Marius Ellmann tatsächlich ein Ehrenmann ist. Darum handelt es sich ja gar nicht. Mein Gott, warum kannst du das denn nicht begreifen? Du machst es mir verdammt schwer, mein Kind. Also, nun paß mal auf… ich glaube zwar nicht, daß ein Mann, der seine erste Frau betrogen hat, das bei seiner zweiten Frau wiederholen wird. Schließlich ist der Altersunterschied zwischen euch auch ziemlich groß, nicht wahr? Er würde kaum in Versuchung kommen, sich noch einmal nach einer Jüngeren umzusehen. Bitte, mach jetzt nicht so ein Gesicht, Birgit, wir wollen die Dinge beim Namen nennen. Anders hat es ja keinen Sinn. Tatsache aber ist und bleibt, daß er kein freier Mann ist. Daran ändert auch die Scheidung nichts. Er trägt die Verantwortung für seine erste Frau und die beiden Kinder, und er wird sie bis an sein Lebensende tragen. Begreifst du denn wirklich nicht, was das für dich bedeutet?«

»Ich liebe ihn«, sagte Birgit, »alles andere ist ganz unwichtig.«

Rechtsanwalt Kreuger seufzte. »Ich glaube dir ja, daß du die Dinge so siehst. Aber ich weiß – und du mußt mir schon glauben, daß ich mehr Erfahrung habe als du – ich weiß aus den langen Jahren meiner Praxis als Scheidungsanwalt, wie sich so was nachher tatsächlich entwickelt. Es wird Probleme über Probleme geben, Schwierigkeiten, die du dir jetzt gar nicht vorstellen kannst. Ich kenne dich, Birgit. Ich glaube, ich kenne dich besser, als andere Väter ihre Töchter kennen. Du bist ein klarer, sauberer und unkomplizierter Mensch, du bist diesen Dingen nicht gewachsen. Von der finanziellen Belastung durch diese erste Ehe will ich gar nicht sprechen. – Hast du dir mal vorgestellt, was es für dich bedeutet, zwei Stiefkinder zu bekommen, die nur wenige Jahre jünger sind als du? Ja, jetzt glaubst du, du wirst kaum etwas mit ihnen zu tun haben. Aber das stimmt nicht. Sie sind dann die Kinder deines Mannes, und sie haben einen Anspruch auf ihren Vater. Bildest du dir ein, daß du so schweren Problemen überhaupt gewachsen bist?«

»Ach, Papa«, sagte Birgit, »du tust so, als wenn seine Kinder zwei kleine Teufel wären. – Ich kenne sie noch nicht, aber Marius erzählt oft von ihnen. Es sind zwei nette, harmlose junge Menschen. Marina ist siebzehn – Marius ist überzeugt, daß wir die besten Freundinnen werden. Und Florian ist erst sechzehn, eben ein Junge. Was sollten die mir schon für Schwierigkeiten machen?«

»Also, Birgit, ich muß schon sagen, du nimmst die Dinge sehr leicht!« Frau Kreuger zündete sich eine Zigarette an. »Du nimmst doch hoffentlich nicht an, daß die Kinder begeistert sein werden, eine so junge Stiefmutter zu bekommen? Das würde sie nicht mal freuen, wenn ihr Vater Witwer wäre. Aber so… nein, du solltest wirklich ein bißchen mehr auf deinen Vater hören. Du weißt, er versteht etwas von solchen Problemen. Wir haben oft genug abends über solche Fälle gesprochen. Ich erinnere dich nur an diese Alma Meier, ja, so hieß sie wohl, die auch einen geschiedenen Mann geheiratet hat…«

»Ja, ich weiß, und die nachher aus dem Fenster gesprungen ist! Ich wußte, daß ihr damit kommen würdet«, sagte Birgit. »Aber ihr könnt ganz beruhigt sein, so etwas würde ich nie tun!«

»Was Gott zusammengefügt hat«, sagte Frau Kreuger, »das soll der Mensch nicht scheiden. Ich weiß, du hältst mich für altmodisch, Kind…«

»Aber sie waren doch gar nicht kirchlich verheiratet«, sagte Birgit hilflos.

»Trotzdem. Eine Ehe ist eine Ehe. Wenn zwei Menschen einmal verheiratet gewesen sind, wenn sie zwanzig Jahre zusammengelebt haben…«

»Achtzehn!« sagte Birgit.

Frau Kreuger ließ sich nicht irritieren. »… ist daraus etwas Unauflösliches geworden. Du verstehst das nicht, Birgit, du bist eben noch viel zu jung. Aber glaubst du vielleicht, es hätte nie Krisen in unserer Ehe gegeben? Wir beide – dein Vater und ich – waren mehr als einmal so weit, daß wir uns gedacht haben, es geht einfach nicht mehr. Aber wir haben uns zusammengenommen, und dann ist es doch gegangen. Es ist sogar wieder gut geworden, weil man… weil man eben zusammengehört!«

Birgit lachte, aber es klang gar nicht fröhlich. »Ihr tut gerade so, als wenn ich mich scheiden lassen wollte. Ich will ja nur heiraten.«

»Nur ist gut!« sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Ach, Birgit, warum machst du uns alles nur so schwer? Warum müssen wir überhaupt miteinander diskutieren? Hast du denn gar kein Vertrauen mehr zu uns? Haben wir dich bisher nicht immer richtig beraten?«

»Doch«, sagte Birgit, »aber dies hier ist etwas anderes. Hier geht es um Dinge, die nur ich selber entscheiden kann.«

»Natürlich. Darüber sind wir uns ja klar. Wir wollen doch nichts weiter, als daß du dir deine Entscheidung reiflich überlegst. Also, paß mal auf, jetzt mach’ ich dir einen Vorschlag. Dein Vertrag bei der › Jugend‹ läuft doch jetzt ab, wenn ich richtig orientiert bin.«

»Ja, Vater. Aber der Verleger hat mir eine Verlängerung angeboten.«

»Du wirst sie nicht annehmen, Birgit, sondern du wirst nach Hamburg zurückkommen…«

»Aber… warum?«

»Laß mich aussprechen! Du wirst in Hamburg bestimmt auch in einer Redaktion unterkommen, du wirst ein Jahr lang von deinem Marius getrennt sein. – Ein Jahr ist schnell herum, Birgit, und dann kannst du dich immer noch entscheiden. Wenn du dann noch darauf bestehst, daß du ihn heiraten willst…«

»Vater! Du schlägst mir das doch nur vor, weil du hoffst, uns dadurch auseinanderzubringen!«

»Wenn ihr euch wirklich so liebt…«

»Ja, das tun wir, Vater! Daran wird weder die Entfernung noch die Zeit etwas ändern.«

»Schön. Machen wir es also so. Inzwischen werden wir sehen…«

»Nein!« Birgit stand auf. »Das kannst du nicht von mir verlangen – nein, Vater, ich will nicht noch ein Jahr warten. Ich kenne Marius jetzt lange genug, und er kennt mich. Warum sollen wir uns so unnötig quälen?«

»Vielleicht wäre es nicht unnötig, Birgit – aber, bitte, selbst wenn du das annimmst –, könntest du es nicht uns zuliebe tun? Du weißt genau, wie sehr wir unter einer überstürzten und unüberlegten Heirat leiden würden… um deinetwillen. Ich habe dich noch niemals gebeten, für uns ein Opfer zu bringen. Aber diesmal muß es sein.«

»Ich kann es nicht, Vater!« sagte Birgit, blaß bis an die Lippen. »Marius braucht mich. Er kann so nicht weiterleben – allein in einem möblierten Zimmer. Vater, verstehst du denn das nicht? Er braucht mich wirklich!«

»Vielleicht braucht er im Grunde genommen seine Frau?«

»Vater!« Es klang wie ein Aufschrei. »Wie kannst du nur?!«

»Birgit, komm, beruhige dich doch«, sagte Frau Kreuger, »Vater hat es doch nicht so gemeint! Aber irgendwie hat er recht. Es wäre doch besser, abzuwarten, bis sich herausgestellt hat, ob Marius und seine Frau sich wirklich so auseinandergelebt haben, wie du glaubst. Vielleicht entschließen sie sich doch noch, wieder zusammenzuleben… schon um der Kinder willen. Denk doch auch einmal an die armen Kinder.«

»Ihr versteht mich nicht«, sagte Birgit, »es ist sinnlos.«

Rechtsanwalt Kreuger kam auf seine Tochter zu und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Wir lieben dich, Birgit, du weißt, daß wir dich lieben. Wir wollen ja nur verhindern, daß du unglücklich wirst – daß du an dieser unglücklichen Ehe zerbrichst.«

Birgit widerstand der Versuchung, sich in die Arme ihres Vaters zu werfen, sich an ihn zu klammern und sich auszuweinen, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. »Ihr verbietet mir also, daß ich ihn heirate?« fragte sie mit starren Lippen.

»Verbieten!« Rechtsanwalt Kreuger ließ seine Tochter los und begann rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wir haben dir nichts zu verbieten. – Du bist volljährig. Du kannst tun und lassen, was du willst!«

»Aber ihr seid nicht damit einverstanden?«

»Wie könnten wir das?«

»Wollt ihr ihn nicht wenigstens kennenlernen? Mit Marius selber sprechen? Bestimmt würdet ihr dann alles in einem anderen Licht sehen. Erlaubt mir doch, daß ich ihn anrufe – sicher ist er schon in Hamburg. Er wollte im Hotel Reichshof wohnen… ich darf ihn doch anrufen, ja?«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Was will er in Hamburg? Und wenn er schon nach Hamburg kommt, warum seid ihr dann nicht zusammen gefahren?«

»Er mußte doch erst noch zu seinen Kindern, Paps. Sie leben in einem Internat in der Eifel. Er wollte es ihnen persönlich sagen.«

»Was?«

»Daß wir heiraten, natürlich!«

Rechtsanwalt Kreuger warf den Stummel seines Zigarillos mit einer ungestümen Bewegung in das Kaminfeuer. »Das ist nun wahrhaftig der Gipfel! Seine Kinder haben es also eher erfahren als wir? Das ist unglaublich. Also, ich muß schon sagen, Birgit, das hatte ich nicht erwartet. Du bist also keineswegs gekommen, um uns um unser Einverständnis zu bitten – sondern du stellst uns vor eine vollendete Tatsache. Wenn ich das geahnt hätte… Herrgott noch mal!«

»Aber Vater«, sagte Birgit verzweifelt, »ich bitte dich, du verstehst das ganz falsch.«

»Danke, ich habe genug. Du kannst dir jedes weitere Wort sparen. Ich sehe schon, daß unsere Meinung dir gänzlich gleichgültig ist. Tu, was du willst. Wir können dich nicht hindern. Ich hoffe nur, daß du nie bereuen wirst, unsere Warnungen in den Wind geschlagen zu haben.«

Birgit stand wortlos auf und ging aus dem Zimmer.

Frau Kreuger sprang auf und wollte ihr nacheilen, doch ihr Mann hielt sie mit hartem Griff am Handgelenk zurück. »Sie geht nach oben«, sagte er, »ganz gut, wenn sie die Sache mal überschläft. Morgen früh sieht alles anders aus.«

Sabines Augen füllten sich mit Tränen. »Sie ist sehr unglücklich… Friedrich, warum darf ich nicht zu ihr. – Warum warst du so hart zu ihr? Sie kann doch nichts dafür, daß sie sich in einen Mann verliebt hat, der…«

»Hart?« sagte Rechtsanwalt Kreuger. »Wenn man einen Menschen vom Abgrund zurückreißen will, kann man gar nicht hart genug sein.«

Einen Augenblick standen sie sich unschlüssig gegenüber. Rechtsanwalt Kreuger nahm als erster wieder Platz. Er entfaltete eine Zeitung und gab vor zu lesen. Frau Sabine ließ sich in ihren Sessel fallen und starrte verlören in die lodernden Flammen. Sie wechselten kein Wort und lauschten angestrengt nach oben. Als hastige, überstürzte Schritte die Treppe heruntereilten, sprang Frau Kreuger auf.

»Bleib«, sagte ihr Mann.

Sie ertrug es nicht, sie eilte zur Tür.

In der matten Beleuchtung des Treppenhauses standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Unwillkürlich breitete die Mutter die Arme aus, und Birgit sank hinein. Wortlos und verzweifelt umklammerten sie sich. Dann riß Birgit sich plötzlich los, jagte die Treppe hinunter. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloß.

»Birgit!« rief Frau Kreuger in panischer Angst ihr nach. »Birgit!«

Assistenzarzt Dr. Kapellen öffnete das Fenster seines Zimmers, um den Zigarettenrauch hinauszulassen. Der Wind riß ihm den Fensterflügel fast aus der Hand, blähte die Vorhänge auf, trieb sie ins Zimmer.

Das Telefon schrillte.

Mit einiger Anstrengung gelang es Dr. Kapellen, das Fenster wieder zu schließen, er nahm den Hörer ab. Einen Augenblick lauschte er der aufgebrachten Stimme des Pförtners, dann sagte er: »Ich komme!«

Seufzend wechselte er seine Pantoffeln gegen Schuhe, zog sich einen weißen Kittel über, griff nach dem Stethoskop und verließ das Zimmr. Mit eiligen Schritten ging er den breiten Gang entlang, der um diese späte Abendstunde wie ausgestorben wirkte, und lief die Treppe hinunter in die große Halle.

Der Pförtner kam ihm aus der Loge entgegen, ein dicker Mann, der vor Aufregung schnaufte. »Da sehen Sie, Herr Doktor«, sagte er aufgebracht, »sie wollten gleich zu Ihnen auf die Station. Dabei habe ich ihnen schon gesagt, daß wir überbelegt sind… seit Wochen überbelegt…«

»Öffnen Sie!« sagte Dr. Kapellen kurz.

Die Tür zwischen Vorraum und Halle sprang auf, und eine junge Frau stürzte herein, gefolgt von einem großen Mann in Rollkragenpullover und Lederjacke. »Sind Sie der Chef hier?« fragte die junge Frau atemringend.

»Nein, Kapellen… Arzt vom Dienst.«

»Gott sei Dank. Mein Mann und ich…«

»Sind Sie krank?«

»Nein, natürlich nicht. Uns ist nichts passiert! Aber die Frau… sie ist uns direkt in den Wagen gelaufen! Wir konnten nichts dafür, wirklich nicht. – Natürlich hat mein Mann sofort gebremst, aber…«

»Die Frau liegt hinten im Wagen, Herr Doktor«, sagte der Mann in der Lederjacke. »Wir haben nicht gewagt, sie herauszuholen, ohne Tragbahre… wenn Sie vielleicht hinaufsteigen wollen!«

Die Lichter eines großen Lastwagens leuchteten durch die Dunkelheit. Der Mann in der Lederjacke ging Dr. Kapellen voraus und um den Wagen herum. Er klappte das hintere Brett herunter.

»Ich habe eine Taschenlampe«, sagte die junge Frau und stieg geschickt auf den Wagen. »Geben Sie mir die Hand, Herr Doktor, ich helfe Ihnen!«

»Danke, geht auch so.« Dr. Kapellen kletterte in das Innere des Wagens. Er nahm der jungen Frau die Taschenlampe aus der Hand, leuchtete den Raum ab.

Ganz im Hintergrund, nahe der Fahrerkabine, war ein Lager von leeren Säcken aufgeschichtet, auf dem eine Frau lag. Das weizenblonde Haar war blutverklebt, das Gesicht unkenntlich von geronnenem Blut. Eine breite Schnittwunde klaffte längs der Wange.

»Wir haben nicht gewagt, sie zu säubern«, sagte die junge Frau, und ihre Stimme zitterte, »wir wußten ja nicht…«

»Schon gut.« Dr. Kapellen kniete sich neben die Verletzte, fühlte den Puls, horchte an ihrem Herzen und hob ein Augenlid. »Das ist wahrscheinlich ein Schädelbruch«, sagte er. »Sie hätten sie besser am Unfallort liegenlassen sollen, bis ein Krankenwagen sie fortgebracht hätte.«

»Wir wollten keine Zeit verlieren«, sagte der Mann in der Lederjacke, »wir dachten, es wäre das beste, sie so schnell wie möglich einzuliefern.«

Dr. Kapellen erhob sich, ging gebückt zum Ende des Wagens, rief: »Kroll!« und noch einmal: »Kroll!«

Sie hörten den Pförtner schnaufen, noch ehe sie ihn sahen.

»Rufen Sie nach oben an, man soll den kleinen Operationssaal vorbereiten. Und ein Pfleger soll sofort mit einer Trage herunterkommen«, ordnete Dr. Kapellen an.

Der Pförtner verschwand im Dunkel, der Mann in der Lederjacke folgte ihm.

»Sie haben sie also überfahren?« fragte Dr. Kapellen.

»Nein, überfahren nicht«, verteidigte sich die junge Frau, »sie ist nicht unter die Räder gekommen, wenn Sie das meinen… Bloß, ihr Kopf ist gegen den rechten Scheinwerfer geprallt, das Glas ist zerbrochen. Sie können es sich selber ansehen. Mein Mann ist ziemlich langsam gefahren, deshalb konnte er noch schnell bremsen. Es war nicht unsere Schuld, bestimmt nicht. Sie ist, ohne nach links und rechts zu sehen, auf die Fahrbahn gestürzt.«

»Selbstmord?«

»Nein, das glaube ich nicht. Es war sicher keine Absicht. Wir haben sie ja schon ein paar Sekunden vor dem Unglück gesehen, Sie wirkte völlig geistesabwesend… verstört.«

»Auf alle Fälle müssen wir die Polizei benachrichtigen.«

»Ist das nötig?«

»Unbedingt. Jeder Unfall, bei dem jemand verletzt ist, muß von der Polizei untersucht werden, das sollten Sie wissen. Hatte sie irgend etwas bei sich? Ich meine – konnten Sie ihre Identität feststellen?«

»Ich habe ihre Handtasche gefunden – ein Paß ist drinnen.« Die junge Frau reichte Dr. Kapellen eine graue Schlangenledertasche.

»Birgit Kreuger heißt sie, Wohnort München. In einem Seitenfach steckt ein Brief, an sie adressiert. Absender Friedrich Kreuger, Hamburg, Harvestehuder Weg.«

»Geben Sie her«, sagte Dr. Kapellen. »Danke!«

Der Pfleger und der Mann in der Lederjacke kamen mit der Trage. »Bitte, kommen Sie rauf, Ernst«, sagte Dr. Kapellen, »und helfen Sie mir. Sie bleiben bitte unten und halten das andere Ende, ja.«

Einmal stöhnte die Verletzte auf, während die Männer sie auf die Trage legten, und die junge Frau zuckte zusammen.

Dr. Kapellen bemerkte es. »Sie spürt nichts, ganz bestimmt nicht«, sagte er beruhigend, »sie ist weit fort von uns.«

»Wird sie noch einmal aufwachen?« fragte die junge Frau. »Ich meine… wird sie leben?«

»Wir werden alles versuchen.«

II

Das Licht, das den breiten Krankenhausgang erhellte, war weiß und kalt. Es schien alle Farbe und alles Leben in sich aufzusaugen. Nur das Signal über der Tür zum Operationssaal leuchtete rot wie frisches Blut. Frau Kreuger schloß schaudernd die Augen.

Sie saß in einem leichten Stahlrohrsessel, die Hände krampfhaft gefaltet, und betete lautlos in sich hinein: »Lieber Gott, laß Birgit wieder gesund werden! Sie ist noch so jung! Bitte, laß sie leben! Alles soll so werden, wie du willst, nur laß sie leben!«

Rechtsanwalt Kreuger ging mit raschen Schritten, die Hände auf dem Rücken, auf und ab, voller Unrast und auswegloser Angst. Seine Frau hätte ihn gern gebeten, ruhig zu bleiben, sich zu ihr zu setzen, aber da sie wußte, daß er das nicht vermochte, schwieg sie. Eine lastende Stille lag zwischen ihnen.

Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, seit die Nachricht von Birgits Unfall sie erreicht hatte. Der Schock war so groß gewesen, daß er ihre Sprache und selbst ihre Gedanken gelähmt hatte.

Die Minuten tropften zäh wie flüssiges Blei, es dauerte Ewigkeiten, bis der große Zeiger an der Wand um einen Strich weiterrückte. Nichts war zu hören außer den unruhigen Schritten des Rechtsanwaltes, ganz selten schlug in weiter Ferne eine Tür.

Rechtsanwalt Kreuger ahnte, daß seine Frau ihm innerlich die Schuld an dem Entsetzlichen gab. Er hoffte und wünschte, daß sie ihn anklagen würde, damit er sich verteidigen konnte. Aber sie blieb stumm, ihr Gesicht wirkte grau in dem kalten, erbarmungslosen Licht.

Plötzlich ertrug er es nicht länger. Er blieb vor ihr stehen und sagte mit rauher Stimme: »Es war ein Unfall, Sabine… hörst du?«

Da sie die Augen geschlossen hielt und sich immer noch nicht rührte, beugte er sich über sie und schüttelte sie sanft an den Schultern. »Sabine… begreifst du denn nicht?! Ein Unfall! Sie hat den Lastwagen zu spät bemerkt!«

Seine Frau schlug die Augen auf und sah ihn an. Aber sie sprach nicht aus, was sie dachte. »Ich bete«, sagte sie nur.

Eine Tür öffnete sich, und die beiden fuhren herum.

Es war nicht die Tür zum Operationssaal, die sich bewegt hatte, sondern eine kleinere, etwas weiter entfernte. Eine Schwester kam aus dem Waschraum. Sie war jung, hielt sich sehr gerade, und ihr Gesicht unter dem weißen Häubchen wirkte ernst.

Frau Kreuger sprang auf. »Schwester! Ist etwas passiert?«

Eine Sekunde sah sie die Schwester erstaunt an; sie war ganz bei der vor ihr liegenden Aufgabe gewesen. Dann erst begriff sie. »O nein, nicht das Geringste!« sagte sie mit einem raschen Lächeln. »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, wirklich nicht.«

»Wie lange wird es noch dauern?« fragte Rechtsanwalt Kreuger.

Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr sehr lange, Doktor Kapellen muß nur noch nähen.«

Sie hatte sich schon abgewandt, ging mit weit ausholenden Schritten den Gang entlang, als sie sich noch einmal umdrehte. »Trotzdem würde ich Ihnen raten, jetzt zu Bett zu gehen«, sagte sie freundlich. »Es hat keinen Zweck, daß Sie hier warten. Sie könnten die Patientin bestimmt nicht vor morgen früh sprechen.«

Ohne die Reaktion des Ehepaares abzuwarten, eilte sie weiter.

Frau Kreuger ging zu dem Stahlrohrsessel zurück, setzte sich. Ihr Mann blieb zögernd stehen. »Sabine«, sagte er und räusperte sich, um seine Stimme frei zu bekommen, »ich glaube, ich werde telefonieren…«

Sie sah ihn an. »Ich verstehe nicht…«

»Ich werde versuchen, Marius Ellmann zu erreichen. Ich denke, er sollte es wissen!«

Die Uhr auf dem kleinen Turm des Schulgebäudes schlug Mitternacht. Die Gebäude des Internats lagen dunkel und in tiefster Ruhe.

Da flammte im Direktionszimmer Licht auf. Wenig später eilte der Pedell über den Hof, erklomm keuchend den Hügel zu dem hochgelegenen Jungenwohnhaus, pochte mit kräftigen Schlägen gegen die schwere eichene Tür.

Die Schläge hallten durch die Stille der Nacht, die Jungen fuhren in ihren Betten hoch. Das ungewöhnliche Ereignis wirkte alarmierend. Aus einigen der Zimmer und vor allem aus den großen Schlafsälen der Kleineren rannten die Jungen mit nackten Füßen auf den Gang, rasten die steinerne Treppe hinunter, um sich nur ja nichts von dem nächtlichen Abenteuer entgehen zu lassen. Sie kamen gerade noch zurecht, um mitzuerleben, wie Dr. Schmelzer, der Hausleiter, dem Pedell die Tür aufschloß, und ehe er sie noch verscheuchen konnte, hatten sie erfahren, was sie wissen wollten.

Mit Begeisterung verteilten sie die Nachricht durch das ganze Haus: »Ellmann muß zum Direktor kommen!« Einige Phantasiebegabte schmückten diese Nachricht sofort aus: »Ellmann hat was ausgefressen!« – »Ellmann ist mit einem Mädchen erwischt worden… im Wäldchen!« – »Ellmann hat dem Direx eine Stinkbombe mit Zeitzünder in die Wohnung geschmissen!«

Florian Ellmann hatte sich, als die alarmierenden Schläge ihn aus dem Schlaf rissen, knurrend auf die andere Seite gedreht und sich das Kopfkissen fest über die Ohren gezogen. Er haßte den Schulbetrieb, und er haßte das Internatsleben. Der Augenblick, wenn er abends in sein Bett steigen konnte, um endlich mit sich und seinen Träumen allein zu sein, war für ihn der schönste des Tages.

Aber als seine Stubenkameraden ihn an den Schultern rüttelten und ihm die Decke wegzogen, sträubte er sich, ihre Mitteilung zur Kenntnis zu nehmen.

»Menschenskind, Ellmann, begreifst du denn nicht?! Du bist dran, der Direx…«

Die Jungen schwiegen und zogen sich rasch in ihre Betten zurück, als Dr. Schmelzer, einen Mantel über dem Schlafanzug, eintrat. »Ellmann!« sagte der Hausleiter ruhig. »Bitte stehen Sie auf! Der Herr Direktor möchte Sie sprechen!«

»Jetzt!?« Florian riß die verschlafenen Augen auf. »Ausgerechnet jetzt? Mitten in der Nacht? Was ist denn passiert?«

»Kommen Sie, kommen Sie!« drängte Dr. Schmelzer. »Ziehen Sie sich an… es genügt, wenn Sie Strümpfe und Schuhe nehmen und Ihren Mantel überziehen. Beeilen Sie sich!«

Florian folgte der Anweisung des Hausleiters mit mürrischem Gesicht. Seine aufreizende Art, allen Anordnungen seiner Lehrer nur langsam und widerwillig zu folgen, hatte ihm seit langem viele Sympathien verscherzt. Dr. Schmelzer wartete ungeduldig, aber schweigsam.

Endlich hatte Florian sich seinen Wintermantel angezogen. »Na dann…«, sagte er lustlos und stapfte hinter Dr. Schmelzer her über den Gang.

Von allen Seiten öffneten sich die Türen, und neugierige Jungenaugen verfolgten Florians Abmarsch. Ihm war durchaus nicht wohl in seiner Haut. Er konnte sich zwar nicht entsinnen, in letzter Zeit etwas angestellt zu haben, aber er hatte die Erfahrung gemacht, daß man bei den Erwachsenen nie wissen konnte, was sie wieder einmal ausgeheckt hatten. Florian wußte, daß seine Leistungen in Latein, Physik und Mathematik miserabel waren und seine Versetzung trotz aller Nachhilfestunden mehr als unsicher war. Ohne links und rechts zu sehen, folgte er Dr. Schmelzer aus dem Haus und über den dunklen Hof. Eine unbestimmte Angst saß in ihm. Irgend etwas Schlimmes mußte passiert sein, dachte er, wenn man ihn zu dieser Stunde zum Anstaltsleiter holte.

Direktor Bergland saß im dunkelgrauen Anzug hinter seinem Schreibtisch, zu seiner Rechten der junge Dr. Bär, sein Assistent, in einem rot-weiß gestreiften Bademantel.

Die Stimme des Direktors klang anders, als Florian es erwartet hatte. Verhältnismäßig milde sagte er zu Dr. Schmelzer: »Vielen Dank, lieber Kollege… es tut mir sehr leid, daß ich Sie und den Jungen geweckt habe. Ich hoffe nur, daß das Haustelefon morgen endlich repariert werden kann. Sie brauchen nicht zu warten, Doktor Bär wird den Jungen nachher wieder zurückbringen.«

Dann wandte er sich an Florian: »Guten Abend, Ellmann – nehmen Sie doch Platz.«

Florian setzte sich gehorsam. Er war von Unruhe erfüllt und strich sich verlegen durch das dunkle, vom Schlaf zerzauste Haar. Direktor Bergland betrachtete ihn aufmerksam, bevor er sich entschloß, weiterzureden. Er rekapitulierte im Geist alles, was er über diesen Jungen wußte. Florian war ein höchst mittelmäßiger Schüler, dessen einzige Stärke in einer gewissen Begabung für neue Sprachen lag. Außerdem zeichnete und malte er mit großer Freude, aber in den naturwissenschaftlichen Fächern war er ein glatter Versager. Er war ein ausgesprochener Einzelgänger, beteiligte sich selten an Streichen und Raufereien, war bisher noch nie bei einer Unehrlichkeit ertappt worden. »Florian Ellmann ist selbst zum Lügen zu faul«, hatte sein Klassenlehrer einmal auf einer Konferenz gesagt, und Direktor Bergland mußte trotz des Ernstes der Situation ein wenig lächeln, als er daran dachte.

Florians dunkles Gesicht hellte sich bei diesem Lächeln auf. Er war ein aufgeschlossener, schlaksiger Junge, dessen kräftige Nase in dem noch unfertigen Gesicht übergroß wirkte.

»Haben Sie eine Ahnung, Ellmann, warum ich Sie habe holen lassen?« fragte er.

Florian sah dem Direktor gerade in die Augen und schüttelte den Kopf.

»Es handelt sich um Ihre Schwester.« Direktor Bergland machte eine kleine Pause.

Florian reagierte nicht. Alles, was Marina betraf, war ihm ziemlich gleichgültig, und er hatte keine Ahnung, worauf der Direktor hinauswollte.

Der Direktor räusperte sich. »Sie ist aus dem Internat verschwunden!«

Jetzt riß Florian die Augen auf. »Ver…«, stotterte er, »soll das heißen, sie ist ausgerissen?«

»Es sieht so aus. Fräulein Sabatzky hat bei ihrem letzten Rundgang festgestellt, daß Marinas Bett unberührt war. Auch ihr Mantel und ihre Handtasche fehlen. Sie muß zum Fenster hinausgeklettert sein.«

»Toll!« sagte Florian, halb verblüfft, halb bewundernd.

»Ich frage Sie nun, Florian – bitte, antworten Sie mir ehrlich… Hat Ihre Schwester Ihnen gesagt, daß sie vorhat – das Internat zu verlassen?«

»Nö. Die sagt mir doch nie etwas.«

»Sie können sich auch nicht vorstellen, warum sie ausgerissen ist? Oder wohin sie sich wenden wollte?«

Florian schüttelte den Kopf.

»Die Sache ist so«, sagte Direktor Bergland, »Marina war heute nachmittag bei mir und hat um Urlaub gebeten. Da sie keine stichhaltigen Gründe für ihren Wunsch vorbringen konnte, habe ich das natürlich ablehnen müssen. Wußten Sie davon?«

»Auch nicht«, sagte Florian, dann fügte er nach einem kurzen Zögern hinzu: »Sie sollten mal ihre Freundinnen fragen, Herr Direktor. Marina hat doch immer mit diesen beiden Ziegen – ich meine, Mädchen – zusammengesteckt. Die wissen bestimmt was. Die müssen doch was gemerkt haben.«

»Leider nein«, sagte Direktor Bergland. »Lotte liegt schon seit acht Tagen mit einer Grippe im Krankenrevier, und gerade heute mittag ist auch Rike eingeliefert worden. Marina war ganz allein in ihrem Zimmer. Das hat ihr die Flucht wahrscheinlich erleichtert.«

»Ach so. Na… dann weiß ich auch nichts.«

»Ellmann, nun passen Sie mal auf! Ihr Vater war doch heute mittag hier. Ist da irgend etwas vorgefallen? Ich meine, hat Marina vielleicht gewünscht, den Vater zu begleiten, und er hat es ihr abgeschlagen? Oder war sonst etwas Außergewöhnliches?«

»Stimmt!« sagte Florian und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das wirre Haar. »Verdammt… Entschuldigung, Herr Direktor… ja, da war was. Vater ist nämlich mit was rausgerückt. – Er will sich wieder verheiraten, hat er gesagt – Ich glaube, das ist Marina ziemlich an die Nerven gegangen. Sie hat sich gräßlich aufgeregt.«

»Aha. Da haben wir’s. Danke schön, Ellmann, mehr wollte ich nicht von Ihnen wissen. – Mehr können Sie mir ja wahrscheinlich auch nicht sagen. Gehen Sie jetzt bitte wieder schlafen.«

Direktor Bergland wandte sich an seinen Assistenten. »Bitte, seien Sie so nett, und bringen Sie Ellmann hinüber.«

Dr. Bär stand auf. »Ich hätte noch eine Frage an den Jungen, Herr Direktor.«

»Bitte.«

»Sagen Sie mal, Ellmann, weiß Ihre Frau Mutter schon von den Heiratsabsichten Ihres Vaters?«

Florian dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ich glaube nicht. Vater hat gesagt, wir sollten es als erste erfahren.«

Dr. Bär warf Direktor Bergland einen vielsagenden Blick zu, bevor er mit Florian das Zimmer verließ.

Der Direktor blieb einen Augenblick ganz still sitzen, dachte nach. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Marina zu ihrer Mutter gefahren. War es zweckmäßig, Frau Ellmann zu benachrichtigen? Wenn Marina bei ihr ankam, würde sie sich sofort mit der Schule in Verbindung setzen, andernfalls würde die Nachricht nur unnötige Unruhe für die Mutter bedeuten.

Direktor Bergland entschloß sich, nichts zu unternehmen. Die Polizei war benachrichtigt worden, gleich nachdem Fräulein Sabatzky das Verschwinden des Mädchens entdeckt hatte.

Mehr war im Augenblick nicht zu tun.

Helen Ellmann schenkte gerade dem Bankier Hansgeorg Müller, der sie nach einem gemeinsam verbrachten Abend noch auf einen Sprung in ihre Wohnung begleitet hatte, eine Tasse Mokka ein, als es an der Haustür klingelte. Sie hob den Kopf und fragte erstaunt: »Wer kann das sein?«

Der Bankier, ein schwerer Mann mit schütterem Haar und hellen Augen hinter blitzenden Brillengläsern, zog seine farblosen Brauen hoch. »Das mußt du doch wissen, Helen!«

»Keine Ahnung. Ich erwarte keinen Besuch. Vor allem nicht mitten in der Nacht.« Sie reichte ihm Sahne und Zucker. »Vielleicht hat sich nur jemand in der Klingel geirrt. – Die Namen an der Haustür sind im Dunkeln kaum zu erkennen.«