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Eine pflichtbewusste Lehrerin, die buchstäblich alles für ihre Schüler tut... Ein junger Mann, der seine Stiefmutter und ihren Liebhaber endlich wegen des Mordes an seinem Vater überführen will... Ein frustrierter Mensch, dem es ein teuflisches Vergnügen bereitet, Leute im Netz zu beleidigen und zu terrorisieren - als sogenannter "Internet-Troll" verbreitet er Angst und Schrecken... In den drei neuen Kurzgeschichten von Klaus Enser-Schlag geht es morbide und mysteriös zu. Klaus Enser-Schlag, Hörspielautor von zahlreichen Kurzkrimis der Schweizer Kultserie "Schreckmmüpfeli", zeigt auch in seinen neuen Erzählungen, wie sich das Grauen ganz leise von hinten anschleicht und dann umso fester zupackt. Scheinbar völlig alltägliche Situationen sind der Anlass für Angst, Terror und Schrecken. Hinter mancher bürgerlichen Fassade leuchtet es blutrot und die Verlierer in unserer Leistungsgesellschaft rächen sich an ihr auf perfide Weise.
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Seitenzahl: 46
Veröffentlichungsjahr: 2017
Die pflichtbewusste Lehrerin
Margret Tillingworth war mit Leib und Seele Lehrerin. Kindern etwas beizubringen – welch‘ eine schöne und erfüllende Aufgabe das doch war! Bisher hatte sie jeden ihrer Schützlinge gut auf das Leben vorbereitet. Doch seit Jimmy Summers in ihr pflichtbewusstes Lehrer-Dasein eingebrochen war, lagen ihre Nerven blank. Ein echter Horror waren die Korrekturen von Jimmys Diktaten, welche Miss Tillingworth regelmäßig an den Rand der Verzweiflung trieben. Die altjüngferliche Lehrerin hatte nie geheiratet und auch keine Kinder in die Welt gesetzt. Gerade deshalb empfand sie so etwas wie einen Mutterinstinkt für ihre Schüler. Auf diese Weise kompensierte sie ihren eigenen, unerfüllten Kinderwunsch und ihr trübes Privatleben. Die männlichen Kollegen machten sich allesamt lustig über Margret.
„Hey, John!“, rief Mr. Hopper, ein Mathematiklehrer, zu seinem Kollegen, John Carpenter, welcher Physik und Chemie unterrichtete.
„Die Tillingworth ist sicher noch Jungfrau! Na, keine Lust?“
Mr. Carpenter winkte lachend ab.
„Um Himmel Willen, nein! Ihr Hymen ist sicher schon so hart wie Leder. Da komme selbst ich nicht mehr durch!“
Das war nur einer von vielen, zotigen Witzen, welche sich auf die angebliche Jungfernschaft von Miss Tillingworth bezogen.
Die Lehrerin wusste sehr wohl, was da so alles über sie getuschelt wurde. Kolleginnen, die es „gut“ mit ihr meinten, überbrachten ihr manchmal die Gemeinheiten der Lehrer, natürlich hinter vorgehaltener Hand. Wenn sie ihrer bedauernswerten Kollegin die neuste Niedertracht schilderten, beobachteten sie Margret Tillingworth ganz genau. Wenn diese schließlich mit den Mundwinkeln zuckte und sich die Tränen verbiss, freuten sich die „wohlgesonnenen“ Kolleginnen immer diebisch. Im Grunde benahmen sich die Lehrer nicht viel anders als ihre Schüler. In der Gruppe fühlten sie sich stark genug, um einen Außenseiter zu schikanieren.
An jenem Montag, es war der 25. September, gab Miss Tillingworth wieder einmal die korrigierten Diktate zurück. Der Klassendurchschnitt dieser Arbeit war ganz passabel ausgefallen: 2,6 war für die Lehrerin zwar keine Meisterleistung, aber immerhin gab es fünf Einsen, ein paar Zweier und – leider – auch einige Schüler mit der Zensur „ausreichend“. Wer den Klassendurchschnitt allerdings in die Tiefe drückte war – Jimmy Summers.
Er hatte es fertiggebracht, bei gerade mal 12 Sätzen 15 Rechtschreibfehler zu machen, was ihm mit der Note 6 vergütet wurde.
„Jimmy Summers!“, rief Miss Tillingworth böse. „Mit diesem Diktat hast du heute deinen eigenen Rekord gebrochen. Wo willst du später eigentlich einmal leben? Auf dem Mond?“
Der Junge sah ihr frech ins Gesicht.
„Oh, das tut mir schrecklich leid, Miss Tillingbird!“
„TILLINGWORTH!“, zischte die Lehrerin böse und errötete leicht, weil einige Schüler über Jimmys „Witz“ lachten.
„Nicht mal meinen Namen kannst du korrekt aussprechen. Oder willst du dir hier etwa einen Namen als Klassenclown machen?“
„Nee, ich will Ihnen ja nicht Konkurrenz machen“, entgegnete Jimmy und lächelte süffisant. Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus und Miss Tillingworth war einmal mehr den Tränen nahe.
„Ich muss mich frühpensionieren lassen“, schoss es ihr durch den Kopf. „Wenn ich hier nicht bald herauskomme, drehe ich noch völlig durch“.
Ungeachtet ihrer Überlegungen riss sie sich jedoch zusammen und sagte zu Jimmy:
„Jetzt ist aber Schluss! Ab sofort gebe ich dir Nachhilfeunterricht! Morgen Nachmittag um 14 Uhr fangen wir an!“
„Das ist doch gar nicht erlaubt, dass Sie mir Nachhilfe geben!“, rief Jimmy und verschränkte selbstsicher die Arme vor seiner Brust. „Wenn Sie das gegen Bezahlung machen, ist es sogar strafbar. Da müssen Sie erst den Rektor fragen!“
Miss Tillingworth blieb die Spucke weg. Jimmy Summers war offensichtlich ein gewitzter und gerissener Bengel.
„Warum ist er im Englischen nicht auch so gut?“, dachte sich die Lehrerin und seufzte.
„Darüber mache dir mal keine Gedanken, Jimmy Summers“, erwiderte sie und versuchte, ihrer Stimme einen überlegenen Klang zu geben. „Ich werde selbstverständlich mit dem Rektor sprechen. Außerdem werde ich nichts dafür verlangen“.
„Sie sind ja eine echt nette Person“, entgegnete Jimmy und der Klang seiner Stimme strotzte vor Spott. „Aber morgen kann ich nicht. Da gehe ich mit meinen Kumpels bolzen“.
„Das bedeutet in deiner Indianersprache wohl, dass du morgen Fußball spielen möchtest, oder?“, entgegnete Miss Tillingworth aufgebracht.
„Stimmt genau, Ma’am. Und deshalb…“
„Tja, da hast du Pech gehabt!“, keifte die Lehrerin. „Morgen um 14 Uhr wird bei mir gebolzt! Und wenn du nicht erscheinst, werde ich deine Eltern einbestellen!“
Nach dem Unterricht begab sich Miss Tillingworth unverzüglich zu Mr. Whiteman, dem Rektor und berichtete ihm alles.
„Sie machen sich durch solche Aktionen nicht gerade beliebt“, meinte Mr. Whiteman. „Weder bei Ihren Schülern, noch bei den Kollegen. Als Lehrerin sind Sie nur verpflichtet, den Stoff im Unterricht zu vermitteln und nicht zuhause bei Kaffee und Kuchen. Damit billigen Sie Jimmy Summers automatisch eine Sonderstellung zu und das finde ich, gerade bei seinem flegelhaften Verhalten, nicht richtig“.
„Mr. Whiteman, ich fühle mich für meine Schüler verantwortlich“, verteidigte sich Miss Tillingworth. „Selbst so ein Flegel wie Jimmy Summers hat eine Chance im Leben verdient. Was soll denn einmal aus ihm werden, wenn er nicht mal seine Muttersprache beherrscht?“
„Miss Tillingworth“, sagte der Rektor und legte beschwichtigend die Hand auf die rechte Schulter der aufgeregten Lehrerin.
„Wenn Sie sich über die Zukunft eines jeden einzelnen Schülers Sorgen machen, empfehle ich Ihnen schon heute einen guten Psychotherapeuten. Sie werden dann nämlich über kurz oder lang durchdrehen. Die jungen Menschen müssen schließlich ihre eigenen Erfahrungen im Leben machen und…“
„…und dazu brauchen sie eine gute, fundierte Schulbildung!“, rief Miss Tillingworth ärgerlich. Ihr gefiel die laxe Haltung ihres Vorgesetzten überhaupt nicht.
„Mr. Whiteman, ich sehe es als meine Mission an, Jimmy Summers zu helfen! Im Gegensatz zu manchen anderen Kollegen besitze ich nämlich ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein!“
„Oh ja, das haben Sie wirklich“, seufzte der Rektor. Schließlich sagt er:
„Gut, Miss Tillingworth. Sie können Ihr Glück versuchen. Falls es aber aus irgendeinem Grund zu Beschwerden kommt, so haben Sie das ganz alleine zu verantworten“.
Über das Gesicht der Lehrerin flog ein freudestrahlendes Lächeln.
„Danke, Sir!“, rief sie mit rosigen Wangen. „Ich werde mein Bestes geben, das verspreche ich Ihnen. Und es werden keinerlei Beschwerden kommen, auch dafür gebe ich Ihnen mein Wort!“