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Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe. Es ist auch jene Zeit, in welcher unsere Phantasie seltsame Blüten treibt. Da gibt es die Tante, welche kurz vor der Weihnachtsfeier aus Langeweile Selbstmord begeht. Da ist die Oberschwester Hildegard, welche am Heiligabend in der Notaufnahme ein seltsames Mädchen mit zwei angewachsenen Flügeln kennen lernt. Ein Ehebrecher macht seiner Geliebten ein unverschämtes Geschenk und den Satan plagen über die Weihnachtsfeiertage generell Kopfschmerzen. Ein tödlicher Weihnachtswunsch sorgt beim lieben Gott für höchste Verwirrung und der Prügelknecht Ruprecht hat auch schon bessere Tage gesehen... Zum Schluss bekommen wir eine schamlose Aufklärung darüber, was sich in der Weihnachtsnacht tatsächlich abgespielt hat. Besinnlich-schaurige Geschichten mit bitterbösem, schwarzen Humor: Diese Mischung serviert der Autor Klaus Enser-Schlag am liebsten - und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Freuen Sie sich auf sechs Weihnachts-Kurzgeschichten der besonderen Art. Zur festlichen Stimmung gesellt sich hier die Gänsehaut - doch die stammt garantiert nicht vom Festtagsbraten...
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Seitenzahl: 53
Veröffentlichungsjahr: 2017
Für Heike Diehl.
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Bitterböse Weihnachten
Die feine, englische Art...
Als Lady Beatrice Wellington-Smith ihren eleganten Empfangssalon betrat, fiel ihr vor Schreck die Puderquaste aus der Hand. Dabei hätte der Raum nicht besser aussehen können. Er erstrahlte im hellen Schein der Kerzen, welche auf dem riesigen Christbaum befestigt waren und dem Salon eine Atmosphäre von Westminster Abbey verliehen. Henry, der alte Diener, schwerhörig, kurzsichtig und – in letzter Zeit zunehmend dement – zündete gerade die letzte Kerze an dem Weihnachtsbaum an. Das kalte Buffet stand in der Mitte des Salons und ließ den Gaumen eines jedes Gourmets frohlocken. Einträchtig nebeneinander lagen die Leichen von Hummern, Krabben, Hühnern und Schweinen. Die entsprechenden Leichenteile waren aufs Vortrefflichste hergerichtet. Man sah ihnen fast nicht mehr an, dass sie einmal gegrunzt, gegackert oder mit ihren Scheren gezwickt hatten. Wahrhaftig, die alte Margret, Köchin und Faktotum der Familie Wellington-Smith, hätte genauso gut eine Karriere als Leichenwäscherin oder Bestatterin machen können. Mittlerweile saß sie wieder im Untergeschoss in der großen Küche und ließ sich den Gin durch ihre Kehle laufen.
Zuvor hatte Margret noch die wertvollen Perserteppiche im Salon gereinigt, das Tafelsilber geputzt und die antiken Möbel mit Politur eingerieben. Der Salon sah wie eine perfekte Filmkulisse aus, wenn nicht…
Lady Beatrice hob ihre Puderquaste auf und starrte auf das Chippendale-Sofa. Nein, es war keine Sinnestäuschung. Auf dem Sofa saß ihre Tante Lady Henrietta Davonport-Beecraft. Sie starrte ihre Nichte mit großen Augen an. Allerdings waren sie glasig, denn Lady Henrietta war mausetot. Ein Abschiedsbrief lag vor ihr auf dem kleinen Marmortisch, daneben stand ein Fläschchen, von dessen Etikett ein Totenkopf Lady Beatrice angrinste. Die Dame des Hauses fühlte sich einer Ohnmacht nahe. In 15 Minuten würden die Gäste erscheinen und ihre Tante hatte nichts Besseres zu tun, als sich ausgerechnet heute das Leben zu nehmen.
Lady Henrietta wohnte bereits seit zwei Tagen bei ihrer Nichte und deren Familie. Sie war extra aus Cornwall angereist, um mit ihren einzigen Verwandten das Weihnachtsfest zu feiern. Das war in den letzten 10 Jahren nicht anders gewesen. Seit Lady Henrietta Witwe geworden war, ging sie Lady Beatrice und deren Mann Sir George gewaltig auf die Nerven. Immer wieder erschien sie, ob angemeldet oder nicht, auf dem Landsitz der Wellington-Smiths. Die beiden Kinder von Lady Henrietta und Sir George, die sechsjährige Emma und der 2 Jahre ältere Bruder Harry, konnten ihre Großtante ebenso wenig leiden, wie die Bulldogge Wilberforce, welche ihrem Vater gehörte. Sir George hatte sich deshalb entschlossen, Wilberforce einschläfern zu lassen. Bei Tante Henrietta war das leider nicht so ohne weiteres möglich. Und nun hatte sie sich selbst ins Jenseits abgesetzt.
„Oh mein Gott, ich habe meine Antidepressiva zuhause vergessen!“, stöhnte die alte Nervensäge bei ihrer Ankunft. Ja, Henrietta wurde, genauso wie der Butler Henry, von zunehmendem Gedächtnisschwund heimgesucht.
Lady Beatrice nahm das nicht so ernst. Auf den Gedanken, dass die fehlenden Antidepressiva eine derart verheerende Wirkung bei ihrer Tante haben könnten, wäre sie nicht mal im Traum gekommen.
Der Abschiedsbrief war kurz und bündig.
„Ohne meine Antidepressiva kann und ich will ich nicht mehr leben. Ihr hättet sie mir ja auch irgendwie besorgen können. Egal. Jetzt ist Schluss. Schöne Weihnachten Euch allen. Henrietta!“.
Lady Beatrice wurde böse. Typisch Henrietta! Nahm sich so mir nichts dir nichts das Leben und schob die Schuld dafür ihren Angehörigen zu. Lady Beatrice nahm sich vor, gleich nach den Feiertagen einen Psychologen aufzusuchen, um eventuellen auftretenden Schuldgefühlen energisch vorzubeugen. Aber momentan hatte sie ganz andere Probleme: Ihre Gäste kamen in knapp 10 Minuten! Und sie erwarteten ein perfektes Weihnachts-Diner! Da würde doch der Anblick der toten Irren die ganze festliche Stimmung ruinieren.
Butler Henry kam jetzt auf Lady Beatrice zugeschlurft und lächelte sie blöde an.
„Schön haben Sie das gemacht!!!“, schrie die Lady. Henry war so gut wie taub. „Und all die Kerzen!!!“
„Oh ja, ich habe heute wieder furchtbare Schmerzen!!!!“, brüllte Henry zurück. Er war hager und leichenblass und erinnerte an einen Totengräber, der – unter optimalsten Bedingungen – noch 5 Minuten zu leben hatte.
„Lady Henrietta ist tot!!!!“, brüllte Lady Wellington-Smith. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen!!!!“
„Rot?!!!!“, brüllte der Butler und betrachtete die alte Dame auf dem Sofa. „Nein, die ist doch leichenblass!!!“
Lady Beatrice nickte und ihre Verzweiflung wuchs ins Unermessliche. Es hatte doch gar keinen Sinn, dass sie sich mit Henry auseinandersetzte. Sie brüllte noch ein. „Danke für Ihre Hilfe!!“ und schob den verdatterten Greis zur Türe hinaus. Als sie die Limousinen sah, welche im Gänsemarsch auf ihr Haus zufuhren, drückte Panik ihre Kehle zu.
„Was soll ich nur tun, was soll ich denn um Gottes Willen nur tun?“, dachte sie in einem fort. Dann – plötzlich – hatte Lady Beatrice einen Geistesblitz. Sie bewegte sich doch schließlich in einem gehobenen Umfeld von Adeligen, Würdenträgern und sonstigen hochgestellten Persönlichkeiten. Außerdem waren alle, einschließlich ihrer Person, von klein auf zur Contenance erzogen worden. Peinlichkeiten innerhalb einer Gesellschaft wurden ignoriert, man sah einfach darüber hinweg. Lady Beatrice seufzte erleichtert auf. Mit dieser Erkenntnis war schon einmal viel gewonnen. Natürlich musste man die ganze unerfreuliche Angelegenheit etwas kaschieren, damit sie nicht allzu offen ins Auge fiel. Immerhin würden Emma und Harry auch beim Essen dabei sein und Lady Beatrice war nicht sicher, ob sich die beiden aufgeweckten Rabauken an die Spielregeln halten würden. Eilig lief Lady Beatrice in einen der Abstellräume und kramte in den alten Sachen herum. Schließlich wurde sie fündig. Mit den erforderlichen Accessoires eilte sie in den Salon zurück. Sie warf zwei Handvoll Lametta über die Leiche, befestigte zwei große Flügel an den Schultern der Tante und setzte ihr eine blondgelockte Perücke auf. Dann nahm sie den Abschiedsbrief der Unglücklichen und warf ihn ins Kamineuer. Das leere Giftfläschchen warf sie hastig in eine Schublade des barocken Schreibsekretärs, dessen Existenz sie heute zum ersten Mal wirklich guthieß. Im Allgemeinen hatte sie das monströse Möbelstück stets verabscheut, aber ihr George konnte sich von dem alten Plunder ja nicht trennen.
„Mami!! Mami!!“
Eine schrille Kinderstimme erscholl dicht hinter Lady Beatrice, sodass sie erschrocken aufschrie.
„Emma! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich nicht immer von hinten an mich heranschleichen sollst! Das machen doch nur die Indianer!“
„Stimmt!“, rief das kleine Mädchen und reckte seine Nase stolz in die Höhe. „Und ich bin eine Indianerin. Mein Bruder ist Winnetou und er ist der Häuptling der Apachen!“
Lady Beatrice verdrehte nur wortlos die Augen. Warum musste ihr Harry auch immer wieder von diesem Unsinn erzählen? Sie hätte ihm niemals die Bücher von Karl May kaufen sollen.
„Wer ist denn das?“, fragte Emma jetzt und zeigte auf die Sofa-Leiche.
„Das? Das ist das Christkind!“, log Lady Beatrice und blickte Emma forschend an. Die Kleine schien den Schwindel nicht zu bemerken. Das gab ihrer Mutter wieder neues Selbstbewusstsein.
„Wäre ich nicht die Frau eines reichen Gutsherren geworden, hätte ich bestimmt als Dekorateurin Karriere gemacht“, schoss es ihr höchst angenehm durch den eitlen Kopf. Doch ihr Höhenflug wurde im nächsten Moment schon wieder zunichte gemacht, wenigstens teilweise.