Jenseits der Marsch - Hannes Nygaard - E-Book

Jenseits der Marsch E-Book

Hannes Nygaard

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Beschreibung

Die Kultkommissare aus Husum ermitteln wieder. Grillsaison in Eiderstedt: Drei befreundete Ehepaare wollen den Sommertag bei einer Gartenparty genießen, als die Schwiegermutter des Gastgebers tot in sich zusammensackt. Und sie scheint keines natürlichen Todes gestorben zu sein. Kommissar Große Jäger schaltet sich ein, um der Sache auf den Grund zu gehen – und wird dabei Zeuge, wie die bürgerliche Fassade gefährlich zu bröckeln beginnt.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er mehr als sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Novarc Images/Hans P. Szyszka

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-013-6

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

Ich habe zu viel Hass gesehen, als dass ich selber hassen möchte.

EINS

Immer noch hing ein strahlend blauer Himmel über Eiderstedt. Achtzehn Stunden Sonne waren ein Geschenk. Nur gelegentlich zeigte sich eine kleine Federwolke, die wie ein zerrupfter Wattebausch aussah und dem Auge einen Anhaltspunkt am makellosen Himmel bot. Das Licht war so rein wie die Luft. Tagsüber störte kein Smog einer größeren Stadt, schon gar nicht der einer fernen Metropole. Nachts wölbte sich ein Sternenhimmel am Firmament, der fast der ausgereiften Technik eines Planetariums ähnelte. Nach Sonnenuntergang wurde es lange nicht dunkel. Die Dämmerung ließ sich Zeit. Sie schien von der Gelassenheit der Einheimischen inspiriert, von der Ruhe, die die Landschaft ausstrahlte. Sie war ohne Hektik und Eile. An schönen Sommertagen wie diesen reichte der Abend dem nächsten Morgen die Hand. Ein Lichtstreifen am nördlichen Himmel regte die Phantasie an. Dieser helle Schein am Horizont war die Verknüpfung der Tage, er zeigte die Kontinuität der Zeit.

Auch wenn der Tag um diese Jahreszeit länger über der Traumlandschaft verweilte, erreichte der nördliche Sommer nicht die Kraft der Sommer des Südens. Die Natur erwachte später, und der Herbst hielt früher Einzug. Sie musste ihr Pensum intensiver absolvieren. Die Einheimischen passten sich diesem Rhythmus an.

So wie Gott sich diese grandiose Landschaft als Garten hielt, schufen sich die Menschen ihr eigenes kleines Reich. Manche hegten und pflegten es liebevoll, andere ließen die Natur walten. Das Haus war größer als die meisten Eigenheime in der Gegend. Ein Architekt hatte es großzügig geplant, auch wenn der Stil der hier vorherrschenden Klinkerbauweise entsprach. Der Garten hinter dem Haus war großzügig angelegt, auch wenn die Besitzer nicht jedes Wildkraut herausrupften, jedes Kleeblatt im Rasen entfernten. Lebensqualität ließ sich unterschiedlich interpretieren.

Holm Schnabel trat aus dem Wintergarten heraus, dessen Schiebeelemente weit geöffnet waren. Er warf einen Blick auf den großen Gartentisch und die acht Stühle aus massivem Holz. Dicke Polster mit einem bunten Bezug versprachen den Gästen bequemes Sitzen. Noch war der Tisch nicht eingedeckt. Darum würde sich seine Frau Meike kümmern. Schnabel ging zu dem großen Gasgrill, der einen Teil der Terrasse einnahm, öffnete den Deckel und warf achselzuckend einen Blick auf die Grillroste. Sie wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf. Wenn das Wetter es zuließ, wurde gegrillt. Heute, am Freitag, waren die Nachbarn zu Gast. Er sah kurz auf den Gasanschluss und verzichtete auf die Dichtigkeitskontrolle. Automatisch betätigte er den Drehknauf über den Anschlag hinaus, vernahm zufrieden das kurze »Buff«, mit dem die Flamme entzündet wurde, und regelte die weiteren Schalter routinemäßig auf die vertraute Einstellung. Er vernahm hinter sich ein Geräusch.

»Meike, kannst du noch einmal über die Ablage wischen?«

»Kannst du es nicht machen? Ich muss den Tisch decken.«

»Ich kümmere mich um das Fleisch und die Getränke.«

»Immer das Gleiche …« Seine Frau kehrte ins Hausinnere zurück. Schnabel folgte ihr. Bei jeder Begegnung auf dem Weg von der Küche auf die Terrasse trafen sich ihre Blicke, von gelegentlichen bissigen Bemerkungen begleitet. Sie warf ihm vor, dass er sich nur um das Fleisch und die »Männergetränke« kümmerte, während »die Arbeit« auf ihr lastete.

»Wir können ja tauschen«, schlug Holm Schnabel seiner Frau vor. »Du schneidest und würzt das Fleisch, und ich trage die paar Teller in den Garten.«

»Das möchte ich sehen«, nörgelte Meike Schnabel. »Mit ein paar Tellern ist es nicht getan.«

»Ach nee. Das ist doch kein Staatsbesuch. Da kommen nur die Nachbarn.«

»Eben drum. Wenn jeder seinen Pappteller mitbringt, würde die Arbeit nicht an mir hängen bleiben.« Sie verdrehte die Augen und verstellte die Stimme. »›Meike, bring dies mit, Meike, bring das mit.‹ Und wenn ich nicht an alles andere denken würde, säßen wir vor dem Nichts.«

»Du bist doch Profi. Das hast du doch gelernt.« Schnabel zwängte sich an seiner Frau vorbei zurück ins Haus.

»Macht doch euren Scheiß allein«, schimpfte sie.

Er blieb stehen und drehte sich um. »Was soll das denn? Es ist immer wieder nett, mit guten Freunden zusammenzusitzen.«

»Aber warum immer bei uns? Wir haben die Arbeit. Wir? Hinterher stehe ich allein vor dem ganzen Abwasch.«

»Ich mache den Grill sauber.«

»Ha!« Sie lachte bitter auf. »Wenn du ihn wenigstens gründlich reinigen würdest.«

»Du hast gut meckern. Ich kann den Grill nicht in den Geschirrspüler schieben, so wie du die zwei Teller.«

»Weshalb grillen wir nicht reihum?«

»Das ist doch bescheuert. Wir haben den besten Grill, die größte Terrasse. Bei uns ist es am besten. Oder willst du bei Benders grillen? Du magst dort nicht auf die Toilette gehen.«

»Es ist ekelig, auf fremde Toiletten zu gehen.«

»Selbst bei uns verkriechst du dich immer nach oben. Weshalb hüpfst du nicht mal eben schnell aufs Gästeklo?«

»Weil …« Meike Schnabel wedelte mit der Hand. »Mach zu. Die Gäste kommen gleich.«

Schnabel näherte sich seiner Frau, streckte die Arme aus und spitzte die Lippen. Aber sie wich vor seinem Kussversuch zurück. »Nicht jetzt. Mach zu, dass du fertig wirst.«

»Dann eben nicht.« Schnabel ging in die Küche zurück.

Als er mit den nächsten Utensilien auf die Terrasse zurückkehrte, wartete dort ein untersetzter Mann. Die nackten Füße steckten in bequemen Pantinen, die Jeans war zerschlissen, und das bunt geringelte Shirt spannte sich über den Bauch.

»Moin, Michel«, grüßte Schnabel den Neuankömmling und schlug dem Mann, der einen Kopf kleiner war, freundschaftlich auf die Schulter. »Feierabend für heute?«

Nachbar Michel Bast nickte. Der Mittfünfziger war zehn Jahre älter als Holm Schnabel. »Jo. Ich habe erst morgen Spätdienst.«

»Wohin?«

»Vun Husum no Kiel, dann Eckernförde, weder tröch no Kiel un vun dor no Husum. Un dat all twe Mol.«

»Tja, so ist das als Lokführer.«

Bast lächelte. »Hast du schon mal ’ne Lok vor unseren Zügen gesehen?«

»Du meinst, vor dem Schienenbus?« Schnabel grinste schief.

»Schienenbus? Das sind Triebfahrzeuge. Und ich bin Triebfahrzeugführer.«

»Lass gut sein. Bereust du es manchmal, nicht auf einem ICE mit dreihundert Sachen durch Deutschland zu rasen?«

Bast schüttelte den Kopf. »Nö. Da sitzt du doch nur am Computer. Aber bei meinem Triebfahrzeug, da wird noch vieles handgemacht.«

»Jaja. Wenn du im Schleichgang quer durchs Land tuckerst, musst du sogar alle paar Meter hupen, weil es zuhauf unbeschrankte Bahnübergänge gibt. Ich möchte nicht an einem solchen Feldweg wohnen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit kommt Michel mit seinem Schienenbus vorbei und … Öhhht. Öhhht«, ahmte Schnabel das Signal des Zuges nach. »Es hilft aber nicht immer. Unter Schafen hat es sich noch nicht rumgesprochen.«

Basts Blick wurde ernst. »Das war nicht lustig, als ich in eine Schafherde reingefahren bin, die von einer Weide ausgebüxt war. Kein schöner Anblick, die toten und verletzten Tiere.« Er schüttelte sich leicht. »Viel schlimmer ergeht es aber den Kollegen, die einen Personenschaden erleben mussten.«

»Ach«, winkte Schnabel ab. »Die Deppen haben doch selbst Schuld, wenn sie bei rotem Blinklicht über die Gleise fahren, die Halbschranke umrunden oder besoffen auf den Gleisen rumturnen, ganz zu schweigen von denen, die Selbstmord machen.«

»Und wer denkt an den Lokführer, der dadurch einen Schock erleidet? Es gibt Kollegen, die haben ihren Beruf aufgegeben. Die konnten nicht mehr fahren.«

»Du bist ganz blass geworden«, stellte Schnabel fest. »’nen Schnaps?«

»Nee, lass man.«

»Bier?«

»Ja. Eins darf ich wohl.«

Schnabel wandte sich dem Fünf-Liter-Fass zu. Er stutzte. Dann rief er laut: »Meike? Wo sind die Gläser?«

Seine Frau tauchte aus dem Inneren des Hauses auf, sah den Nachbarn und sagte: »Moin, Michel. Allein?«

»Moin, Meike. Levke telefoniert noch mit ihrer Schwester. Sie kommt nach.«

»Wo sind die Gläser?«, fragte Schnabel.

»Weiß ich doch nicht. Du weißt doch, wo sie stehen.« Dann verschwand sie wieder.

»Frauen«, beklagte sich Schnabel. »Die kriegen nix auf die Reihe. Man muss sich um alles selbst kümmern. Stell dir vor, die machen eine Frau zum Papst. Das wär doch irre. Dann gibt es statt Messwein Kräutertee. Ich bin gleich wieder da.«

Kurz darauf kehrte er mit einem Tablett zurück, auf dem er drei Biergläser, drei Schnapsgläser und eine beschlagene Schnapsflasche balancierte.

»Aus dem Tiefkühler«, erklärte er und setzte das Tablett ab. Er füllte zwei Gläser ein. »Schimmelreiter. Unser Aquavit aus Nordfriesland.« Eines der Gläser reichte er Bast.

»Nee, danke«, wehrte der Nachbar ab. »Mir wird immer noch übel, wenn ich an vor zwei Wochen denke. Pfui Spinne.«

»Du meinst, als wir Männer bei dir ein Bier getrunken haben?«, fragte Holm Schnabel. »Mensch, Michel. Du bist doch immer derjenige, der sich zurückhält. Das war doch gar nichts, damals. Schnaps gibt es bei dir sowieso nicht. Und die beiden Flaschen Bier?«

»Das waren drei«, korrigierte Bast.

»Drei?« Schnabel lachte laut auf. »Das ist nur zum Mundausspülen.«

»Ich war den ganzen nächsten Tag abgetaucht. Wäre Levke nicht dabei gewesen, hätte sie geglaubt, ich hätte fürchterlich einen draufgemacht. Mann inne Tüün. Hatte ich einen dicken Schädel. Ich war völlig weggetreten.«

»Ach, komm. Einen kannst du ab. Los!«

Zögerlich nahm Bast das Glas entgegen. Sie stürzten das Getränk hinunter. Während Schnabel es mit einem lang gezogenen »Ahhh« quittierte, schüttelte sich Bast.

Schnabel nahm zwei größere Gläser und zapfte Bier. »Das dauert jetzt«, kommentierte er die Aktion. »Dafür schmeckt es auch. Ich mag die Plörre nicht, die die Engländer oder auch die Dänen in die Senfgläser laufen lassen. Randvoll und ohne Blume. Na ja. Bierkultur ist eben deutsch.«

Bast sah auf den gedeckten Tisch. »Sieben Leute? Kommt Renate auch?«

Schnabel stöhnte auf. »Die ist wie Corona. Die wirst du nicht wieder los. Renate hat sich bei uns eingenistet. Sei froh, Michel, dass deine Schwiegermutter weit weg wohnt.«

»Die ist tot«, korrigierte Bast.

»Noch besser.« Schnabel zwinkerte dem Nachbarn zu. »Noch ’nen Schnaps?«

»Nee.« Bast spitzte die Lippen. »Bloß nicht. Das Zeug geht mir auf die Birne. Und den Magen. Außerdem muss ich morgen fahren. Sagte ich ja schon.«

»Na und? Dein Zug kommt nicht von der Fahrbahn ab. Und die Strecke kennst du im Schlaf. Ist doch jeden Tag das Gleiche. Immer wieder Kiel und zurück.«

»Oder St. Peter-Ording«, sagte Bast.

»Ist auch nicht prickelnder.«

Über den Weg, der am Haus vorbeiführte, näherte sich ein Paar.

Der schlanke, fast asketisch wirkende Mann winkte von Weitem. »Moin.«

Die ihn begleitende Frau mit der knochigen Figur beließ es bei einer Andeutung.

»Moin«, erwiderten Schnabel und Bast im Chor. »Dann sind wir ja fast vollzählig.«

»Levke ist drinnen bei Meike?«, fragte Sofie Bender. »Ich gehe mal rein.«

»Levke kommt gleich«, erklärte Michel Bast, während Schnabel den Neuankömmling zu sich heranwinkte.

»Komm, Kai, jetzt gibt es ein Männerbier.« Er wartete die Antwort nicht ab und hielt ein Glas unter den Zapfhahn. Sein eigenes füllte er ebenfalls nach.

»Und Michel?«, wollte Kai Bender wissen. »Trinkst du nichts?«

»Ich muss morgen arbeiten.«

Bender lachte. »Gibt es auf Schienen auch eine allgemeine Verkehrskontrolle?«

Schnabel griff zur Aquavitflasche und goss drei Gläser voll.

»Für mich nicht«, protestierte Bast.

»Ach was«, tat Schnabel es ab. »Der eine macht nichts.«

Die drei stürzten das Getränk hinunter. Schnabel ließ erneut das »Ahhh« hören, Bender betrachtete nachdenklich das leere Glas, und Bast schüttelte sich. Dann widmete sich Schnabel den Biergläsern.

Eine kleinere, dralle Frau trat in den Garten. Unter dem Pullover zeichneten sich nicht nur ausgeprägte weibliche Formen, sondern auch ein gut gepolsterter »mittlerer Ring« ab. Sie schwenkte den Arm. »Hallo miteinander.«

»Moin, Levke. Alles klar mit deiner Schwester?«, rief Schnabel der Nachbarin entgegen.

Sie sah ihn irritiert an. »Schwester? Wieso?«

»Michel hat dich entschuldigt. Er sagte, du würdest noch mit ihr telefonieren.«

»Ich? Telefonie…« Levke Bast stutzte. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Ach so. Ja – ja. Doch. Alles in Ordnung.«

Schnabel zeigte auf die Terrassentür. »Die Frauen sind im Haus«, erklärte er.

»Die kommen auch ohne mich zurecht«, meinte Levke Bast. Sie bejahte auch Schnabels Frage, ob sie etwas trinken wolle. »Aber kein Bier. Hast du einen Rotwein?«

Holm Schnabel nickte. »Ich hole eine Flasche.« Dann ging er ins Haus.

»Komm doch rüber zu uns«, lud Kai Bender die Frau ein.

Sie lehnte ab, setzte sich an den Tisch und wies auf den Platz am Kopfende. »Ich nehme an, da sitzt Renate.«

Michel Bast trat näher an Kai Bender heran und senkte die Stimme. »Hoffentlich wird das heute nicht wieder eine Sauforgie. Es ist Wochenende. Da lässt Holm gern fünfe gerade sein.«

»Das liegt doch an uns«, erwiderte Bender. »Ich muss am Wochenende Arbeiten korrigieren.«

»In Sport?«, wunderte sich Bast.

Bender lachte. »Chemie.«

Bast musterte seinen Gesprächspartner. Der Oberstudienrat unterrichtete Sport und Chemie am Herzog-Adolf-Gymnasium in Tönning. Die schlanke Figur wirkte drahtig. Bender trieb nahezu fanatisch Sport. Er und seine Frau Sofie wurden im Dorf ob ihrer bewussten Lebenseinstellung ein wenig belächelt. Das schmale Gesicht zierte eine runde Nickelbrille, wie sie einst John Lennon trug. Das mochte Zufall sein, denn Bender war erst zwei Jahre nach der Ermordung des Beatles geboren worden und mit seinen knapp über vierzig Jahren der jüngste Mann in dieser Runde. Die Haare mit den ersten grauen Strähnen waren im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden.

Bender griff zum Bierglas und nahm einen großen Schluck. Dann sah er auf Bast herab. Das naturkrause Haar des Eisenbahners lichtete sich an den Geheimratsecken und wies die ersten Anzeichen einer Tonsur auf.

Bast blickte Bender aus großen braunen Augen an und fuhr sich mit der fleischigen Hand durch das runde Gesicht mit den Pausbäckchen. »Ich war heute mit meinem Wagen in der Werkstatt. Mannomann. Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, werde ich Automechaniker. Oder Ölscheich. Von dem, was ich für den Ölwechsel berappen musste, kann sich irgendein Ölscheich eine weitere Frau für seinen Harem leisten.«

»Da hast du recht«, bestätigte Bender. »Wir Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden von der Einkommensentwicklung abgekoppelt und müssen mit dem zufrieden sein, was man uns zukommen lässt.« Er sah zu dem Schiebeelement, das ins Haus führte. »Im Unterschied zu Holm. Der dreht einfach an der Preisschraube, erhöht die Gebühren und lässt es sich gut gehen.« Er hielt sein Bierglas in Richtung des großen Gasgrills. »Dann kannst du dir auch so was leisten.«

»Oder einen Porsche Macan.« Bast grinste. »Aber dann zahlst du für eine Inspektion auch so viel, wie mein ganzer Opel kostet. Aber das stört Holm nicht. Der bekommt das von der Steuer wieder.«

Bender bewegte sanft den Kopf. »Er kann es von der Steuer absetzen. Das ist etwas anderes.«

»Ist doch egal. Ich möchte nicht mit Holm tauschen. Mit der Schwiegermutter unter einem Dach …« Er schüttelte sich leicht.

»Ach, Platz ist genug.« Bender zeigte auf das Haus. »Die Kinder sind nur noch selten da. Hendrik haben sie ins Internat gesteckt, und Vivian studiert. Die muss nicht nebenher jobben wie andere Studierende, sondern lebt von Papas Monatsscheck.«

»Vivian ist auch da«, ergänzte Bast. »Ich habe sie vorhin gesehen, als ich im Vorgarten gearbeitet habe. Hm. Die ist ja eine recht bunte Erscheinung. Ich verstehe nicht, wie sich junge Leute freiwillig in zerfetzte Kleidung zwängen. Sie hat giftgrüne Haare und überall Piercings im Gesicht.«

Sie wurden abgelenkt, als Schnabel mit einer geöffneten Flasche Rotwein in den Garten zurückkehrte. Er schenkte Levke Bast ein und füllte auch das Glas neben ihr. Sie wunderte sich.

»Das ist für Renate«, erwiderte Schnabel und kehrte zu den Männern zurück. »Habt ihr noch zu trinken?«

Beide nickten.

»Noch einen Schnaps?«

»Nein, danke.«

Schnabel zuckte mit den Schultern und goss sich einen weiteren Aquavit ein. Es gab ein allgemeines »Hallo«, als Meike Schnabel und Sofie Bender in den Garten traten und Salate, Brot und weitere Zutaten mitbrachten.

Meike stellte die Sachen auf den Tisch, legte zur Begrüßung ihre Hände auf Levke Basts Schulter und eilte auf Kai Bender zu. Der empfing sie mit ausgestreckten Armen und zog sie an sich heran.

»Hi«, sagte Meike und legte ihre Wange an seine. Für einen Moment schien es, als würden die beiden ineinander verschmelzen. Dann löste sie sich von ihm.

»Ich schmeiß jetzt das Fleisch auf den Grill«, sagte Schnabel in die Runde und suchte Sofie Benders Blick. »Was ist mit dir?«

Die hagere Frau schüttelte sich. »Igittttt. Ich nage doch nicht am toten Tier.«

Schnabel lachte laut auf. »Erkläre das mal dem Fuchs, dass er nur noch Gras fressen soll. Hast du schon einmal gesehen, wie eine Meute Hyänen einen alten Löwen jagt und ihn bei lebendigem Leib zerfleischt? Der Löwe ein Gnu erledigt? Der betäubt es auch nicht zuvor. Oder der Falke, der eine Maus –«

»Ist genug, Holm«, mischte sich Meike Schnabel ein.

»Wieso? Der Mensch ist doch ein Mischfutterfresser.« Er zeigte mit der Grillgabel auf Sofie Bender. »Frag doch mal Meike. Die ist Ökotrophologin und kann dir erklären, was gesund ist.«

»Holm.« Meike Schnabels Zurechtweisung klang schroff.

»Jaja«, sagte Schnabel halblaut und wandte sich wieder dem Grill zu. Die Gäste hatten Platz genommen und parlierten munter durcheinander. Es wurde über Ereignisse im Dorf gesprochen, der neue Pullover bewundert – natürlich selbst gestrickt –, Dinge aus dem Alltag wurden erörtert und Tipps zur Gartenpflege ausgetauscht. Kai Bender und Michel Bast sinnierten darüber, weshalb ihre Herzensvereine im Fußball erneut versagt und die angestrebten Ziele nicht erreicht hatten.

Schnabel wendete das Grillgut und sah in die Runde. Jeder hatte zu trinken. Die beiden Männer saßen hinter ihren Biergläsern, die Frauen nippten am Rotwein. Renates Glas stand noch unangetastet am Kopfende des Tisches.

Schnabel lächelte in sich hinein, als er das Wasserglas vor Sofie Bender sah. Er spitzte die Lippen und raunte unhörbar: »Für mich Leitungswasser pur. Ohne Kohlensäure.« Meike mochte es nicht hören, wenn er den Vornamen der Nachbarin verballhornte. »Sofie – soff nie.«

Seine Aufmerksamkeit galt dem Fleisch. Das Palaver hinter seinem Rücken nahm er nur als Geräuschkulisse wahr, bis es abrupt verstummte und er die Altstimme seiner Schwiegermutter vernahm.

»Hallo, ihr Lieben«, grüßte Renate von Jarchow. Schnabel musste sich nicht umdrehen. Die Frau genoss solche Auftritte. Nahezu huldvoll nahm sie die Begrüßung der anderen Gäste entgegen. Die Stufe aus dem Haus in den Garten war ihre Showtreppe.

Die Antwort der anderen war ein murmelndes Durcheinander. »Hallo, Renate.« – »Moin.« – »Schön, dich zu sehen.« – »Wie geht es dir?«

Schnabel ließ ein paar Sekunden vergehen. Dann drehte er sich um. »Ohhh. Du bist auch schon da? Du bist entschuldigt. Schließlich hast du den weitesten Weg«, lästerte er.

Ihn traf ein Blick seiner Schwiegermutter, der einem Giftpfeil nicht unähnlich war. Sie sah in die Runde und tat überrascht. »Ist das mein Platz?« Mit großer Selbstverständlichkeit nahm sie am Kopfende Platz. Sie ruckelte mit dem schweren Stuhl ein wenig dichter an den Tisch heran und griff mit ihrer sorgsam manikürten Hand mit den langen roten Fingernägeln zum gefüllten Rotweinglas. »Meins?«

Levke Bast zu ihrer Rechten war schneller und entzog es Renates Reichweite. »Das ist meins.« Sie griff ein etwas weiter entfernt stehendes Glas und schob es Renate zu. »Holm hat dir schon Rotwein eingeschenkt.«

Renate von Jarchow nahm das Glas in die Hand, hielt es gegen das Licht, kniff dabei das rechte Auge zusammen und betrachtete den Wein. »Mein Holm ist ein ganz Lieber«, sagte sie, spitzte die Lippen und deutete einen Kuss in Schnabels Richtung an. Dann setzte sie das Glas an die Lippen, schlürfte vernehmlich daran und stellte es auf den Tisch zurück, nachdem sie es so gedreht hatte, dass der Abdruck des Lippenstifts auf dem Glasrand in ihre Richtung wies.

»Und?«, fragte sie in die Runde. »Wie geht es euch?«

Das Durcheinander setzte wieder ein.

Schnabel nahm ein Nackenkotelett mit der Grillzange hoch und besah es sich. Es erschien ihm verzehrreif. »Essen!«, rief er laut in die Runde, stapelte die Fleischstücke auf einem Teller und verteilte sie an die Gäste.

Lediglich Sofie Bender verzog das Gesicht zu einer Grimasse, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie hatte ihren Teller randvoll mit Salat gefüllt. Bevor Schnabel sich selbst setzte, füllte er noch einmal Getränke nach. Michel Basts Protest half nicht. Der Eisenbahner bekam das Schnapsglas ebenfalls eingeschenkt.

Für eine kurze Zeit herrschte Stille am Tisch. Man vernahm nur das Kratzen des Bestecks auf den Tellern, unterbrochen von den Bitten wie »Kannst du mal das Brot rüberreichen?« oder der Frage nach dem Ketchup.

»Sag mal«, fiel Bast ein und sah Bender an. »Es sind doch bald Ferien. Werden noch Arbeiten geschrieben, die du korrigieren musst?«

»Wir sind in diesem Jahr spät dran. Nur die Süddeutschen folgen noch.«

»Die Bayern verhalten sich auch bei diesem Thema unsolidarisch und verweigern sich dem rollierenden System«, sagte Schnabel. »Alle anderen müssen schon Mitte Juni in die Ferien, wenn sie an der Reihe sind.«

»Was soll’s«, brummte Bender. »Noch eine Woche. Dann sind Sommerferien.«

»Und? Wohin wollt ihr?«, interessierte sich Renate.

»Fünf Wochen Neuseeland«, mischte sich Sofie Bender ein. »Eigentlich«, ergänzte sie lautlos.

Schnabel sprach undeutlich mit vollem Mund. »Lehrer müsste man sein. Als Selbstständiger kann man sich so etwas nicht leisten.«

»Du hast gut reden«, meinte Bast. »Du hast doch alle Möglichkeiten dieser Welt. Mit deinem Einkommen …«

Levke Bast legte ihrem Mann die Hand auf den Unterarm. »Michel. Jeder ist seines Glückes Schmied. Und wir haben keinen Grund zum Klagen.«

Sie sah Renate von Jarchow zu ihrer Linken an. Die gähnte hinter vorgehaltener Hand. Das Blond ihrer Haare war künstlich. Zu künstlich. Sie hatte die Brille in die Haare geschoben. Das Gesicht war zu kräftig geschminkt, der Lippenstift zu rot. Das Make-up konnte die Falten an den Augenwinkeln und am Hals nicht komplett verbergen. Die Frau trug einen gewagten Ausschnitt, der viel Einblick in ihr Dekolleté gewährte. Die protzig wirkende Kette lenkte nur unzureichend ab.

Levke Bast prostete Renate zu. »Wie geht es den Enkeln?«, fragte sie.

»Enkeln?« Renate von Jarchow wirkte ein wenig irritiert. »Ach so. Gut. Ja – gut. Vivian war vorhin hier und –«

»Leider musste sie wieder weg. Das Studium fordert sie«, mischte sich Schnabel mit lauter Stimme ein und übertönte seine Schwiegermutter. »Ich soll euch aber alle grüßen.« Dann hob er sein Glas und hielt es in Richtung Renate. »Prost.«

Renate von Jarchow nahm ihr Rotweinglas zur Hand und nippte daran.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Schnabel provozierend. »Nimm mal einen ordentlichen Schluck.«

Zögerlich führte die Frau das Glas an die Lippen und trank.

»Na. Geht doch«, stellte Schnabel mit einem spöttischen Seitenblick auf Sofie Bender fest. Dann stand er auf, ging zum Grill und legte neues Fleisch nach, während die Gespräche am Tisch fortgesetzt wurden. Kurz darauf stand Sofie Bender auf und nahm ihr Wasserglas in die Hand.

»Dass ihr so viel essen könnt.« Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist purer Eigennutz«, erwiderte Renate von Jarchow und ergänzte nach einer kleinen Kunstpause: »Das bringt uns Frauen in Form, ich meine, in solche, die Männer lieben.«

Es entstand ein betretenes Schweigen in der Runde.

Sofie Bender warf der Älteren einen bösen Blick zu. »Na ja. Wenn Männer Üppiges lieben.« Sie ging zwei Schritte, geriet ins Stolpern und streckte den Arm mit dem Glas vor. Es war nicht auszumachen, ob es Zufall oder Absicht war, dass sich der Inhalt über Renate von Jarchows Beine ergoss. »Oh – das tut mir leid«, sagte Sofie Bender spitz. »Eine Unebenheit im Bodenbelag.« Ehe jemand reagieren konnte, hatte sie eine Serviette vom Tisch gegriffen und wischte damit auf den Oberschenkeln der Älteren herum.

»Was soll das?«, empörte sich Renate von Jarchow. »Wenn jemand ungeschickt ist, dann bist du es.«

»Ist doch nur Wasser«, versuchte Levke Bast zu vermitteln.

»Klar«, schimpfte Renate von Jarchow. »Aber deshalb muss sie doch nicht wie verrückt die Papierserviette auf meiner Hose zerdrücken.«

Sofie Bender stapfte wütend durch den Garten zum Zaun, der das Grundstück begrenzte. Ihr Mann sah betreten auf seinen Teller und schwieg. Das Ehepaar Bast tauschte einen schnellen Blick, Meike Schnabel hatte den Mund vor Schreck geöffnet, und Holm hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.

Jenseits der Grundstücksgrenze dehnte sich die Marsch aus, so weit das Auge reichte. Am Horizont zeichnete sich eine Baumgruppe ab, in der sich das Herrenhaus Hoyerswort versteckte. Das historische Gebäude diente einst dem Staller, dem obersten landesherrlichen Beamten, als Residenz. Heute beherbergte es eine Töpferei, ein Gartencafé und ein exquisites Restaurant. Im Sommer fanden im Garten Konzerte statt, und Ruhesuchende konnten Ferienwohnungen mieten.

Die Lage der kleinen Wohnsiedlung mit den vier Häusern war ideal. Man wohnte mitten in der Natur, und die nahe Schule sowie der Sportplatz störten nicht. Es lebte sich gut in diesem kleinen Dorf, abseits und doch mittendrin.

Schnabel sah zur Grundstücksgrenze hinüber. Sofie Bender hatte sich gebückt und suchte etwas im Gras. Als sie wieder in die Höhe kam, winkte sie.

»Kommt mal her. Hier ist ein Igel.«

Die kleine Gesellschaft schien froh über diese Ablenkung zu sein. Levke war die Erste, die aufstand und über den kurz geschnittenen Rasen ging.

Meike Schnabel sagte: »Ich hole neues Brot« und verschwand im Haus, während Levke Bast mit dem Arm in der Luft herumruderte.

»Komm mal, Michel. Der ist wirklich zutraulich.«

»So wie du?«, lästerte Kai Bender und schlug Michel Bast kumpelhaft auf die Schulter. »Lass uns mal gucken«, sagte er. »Ein paar Schritte tun uns gut.«

Bast nickte und folgte ihm zum Gartenzaun. Von unterwegs rief er Schnabel zu: »Du nicht, Holm?«

Schnabel winkte ab. Er trat an den Tisch neben den Stuhl seiner Schwiegermutter, stützte sich mit einer Hand auf der Rückenlehne ihres Sessels ab und legte die andere auf die Tischplatte.

»Vorsichtig«, mahnte Renate von Jarchow. »Das Glas.«

Schnabel grinste und griff zum Trinkgefäß.

»Nee, nicht das. Das andere.« Ihre Stimme klang leicht belegt. Mit Mühe unterdrückte sie ein Gähnen.

Schnabel reichte ihr das Glas. »Trink«, forderte er sie auf.

Die Frau setzte das Glas an. Schnabel sah schnell zur Grundstücksgrenze. Die beiden Nachbarspaare waren mit dem Igel beschäftigt. Meike befand sich noch im Haus. Er fasste Renates Rotweinglas am unteren Rand an und drückte es leicht in die Höhe. Renate hatte Probleme, die Menge zu trinken. Ihre Augen weiteten sich, und sie schluckte heftig. Erst als sie sich zu verschlucken drohte, ließ er von ihr ab.

»Du magst es doch heftig«, sagte er mit einem breiten Grinsen und kehrte zum Grill zurück, bevor Meike wieder in den Garten trat und sich zu ihrer Mutter gesellte.

Er stand mit dem Rücken zu den beiden Frauen und lächelte vergnügt in sich hinein. Erst als die kleine Gesellschaft genug von der Betrachtung des Igels hatte und an den Tisch zurückkehrte, nahm er auch wieder seinen Platz ein. Zwischendurch versorgte er die Gäste mit Getränken und Gegrilltem. Man unterhielt sich zu zahlreichen Themen, bis die Aufmerksamkeit auf einen kleinen Mann gelenkt wurde, der an der Hausecke auftauchte. Die lockigen Haare hingen ihm wild in die Stirn, das Gesicht war von einer Zornesröte überzogen.

»Das geht zu weit«, sagte er, und in der Erregung fiel es ihm schwer, seine Worte deutlich zu artikulieren. Er ließ seinen Blick über die Köpfe der Anwesenden schweifen und wich Holm Schnabels spöttischer Miene aus.

»Moin, Niko«, sagte Schnabel und lachte. »Du siehst aus, als wenn der Kessel gleich platzt.«

»Ich … ich … wir …«, schimpfte der Mann und stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Weshalb lasst ihr uns nicht zufrieden? Was haben wir euch getan?«

»Niko«, sagte Schnabel mit fast arrogant klingender Stimme, »glaube doch nicht, dass du oder deine Sippe wichtig seid. Niemand will etwas von euch.« Er sah provozierend in die Runde. »Oder?« Er wartete einen Moment. Als keiner antwortete, fuhr er fort: »Unsere Straße ist ausgesprochen friedlich. Hier kann jeder nach seiner Fasson selig werden.« Er beschrieb mit seiner Hand einen Halbkreis, der die Anwesenden umfasste. »Hast du einmal darüber nachgedacht? Vier Häuser gibt es in der Straße. Die Bewohner von dreien sitzen einträchtig beieinander. Wir pflegen eine freundschaftliche Nachbarschaft. Ist es nicht merkwürdig, dass nur du stänkerst? Frag dich selbst einmal, weshalb du mit deiner Frau nicht mit am Tisch sitzt. Platz genug ist da. Und Essen und Trinken auch. Aber … Nein! Herr und Frau Pfeiffer wollen lieber Zwist.«

Schnabel ging dem Mann ein paar Schritte entgegen. »Komm, Niko. Setz dich. Ich hole dir ein Glas. Ein kühles Bier und einen Schimmelreiter zum Magenanwärmen … Das beruhigt.«

»Ich … wir wollen keinen Alkohol.«

»Was trinkt man in Thailand?« Schnabel kratzte sich den Schläfenansatz, als müsse er nachdenken. »Richtig. Sang Som, den Thai-Whisky. Aber das ist doch Rum, oder? Oder das andere Zeug. Dieser weiße Schnaps.« Er schnippte mit den Fingern. »Lao Khao. Wird der nicht aus Klebreis destilliert? Aber – du bringst dir ja keinen Schnaps aus Thailand mit, sondern lieber eine Frau.«

Für einen Moment sah es aus, als würde sich Niko Pfeiffer auf den bulligen Schnabel stürzen wollen. Er schnappte nach Luft, fuchtelte wild mit den Händen in der Luft herum und entschloss sich, Renate von Jarchow anzusteuern, die das Geschehen aus halb geschlossenen Augen verfolgte.

»Frau von Jarchow! Sagen Sie doch auch einmal was. Sprechen Sie ein Machtwort. Sie sind doch die einzige Vernünftige hier.« Pfeiffers Stimme wurde flehentlich. »Wir wollen nur unseren Frieden. Nichts anderes.«

»Wenn dir die Wohngegend nicht passt, dann zieh doch um«, schlug Schnabel vor.

»Du bist doch nicht ganz dicht«, schrie Pfeiffer aufgebracht. Er stand neben Renate von Jarchow. »Frau von Jarchow. Ich bitte Sie. Machen Sie Ihren Einfluss geltend.«

»Beruhigen Sie sich«, mischte sich Kai Bender ein. »Ich glaube, die Situation ist angeheizt. Herr Pfeiffer, Sie sollten nach Hause gehen. Trinken Sie einen Tee. Aufregung schadet allen. Oder, Renate?«

Die Angesprochene nickte schwach, als würde sie das Geschehen um sie herum nicht interessieren. Sie hatte sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten.

Pfeiffer streckte urplötzlich beide Arme vor, packte die Frau an den Schultern und schüttelte sie. »Frau Jarchow – Frau Jarchow«, rief er aufgebracht.

»Halt«, rief Kai Bender laut, sprang auf und versuchte, Pfeiffer vom Tisch zu ziehen.

Der stemmte sich dagegen, befreite sich von Benders Griff und strauchelte. Er fiel gegen Levke Bast, die ihrerseits versuchte, ihr Weinglas und das von Renate von Jarchow vor dem Umfallen zu retten.

»Aufhören!«, brüllte Meike Schnabel in das Durcheinander und versuchte, ihren Mann festzuhalten, der sich auf den wesentlich kleineren Pfeiffer stürzte.

Bender konnte seinen Arm hochreißen und Schnabel abwehren, bevor der Schlag Pfeiffer traf.

»Ruhe!«, schrie Meike Schnabel mit kraftvoller Stimme.

Es wirkte. Alle hielten inne und sahen sie an. Pfeiffer nutzte die Situation und wand sich aus Schnabels Griff. Niemand hielt ihn davon ab, sich zur Hausecke zu bewegen. Dort blieb er stehen und ballte die Faust.

»Ihr werdet es bereuen«, drohte er. »Alle.«

Dann verschwand er. Sie zuckten noch einmal zusammen, als es laut schepperte.

»Was war das?«, fragte Sofie Bender ängstlich.

»Der Idiot hat gegen die Gießkanne getreten«, sagte Schnabel und klopfte sich die Hände ab, als hätte er Staub daran.

»Und nun?«, fragte Bast.

»Nun trinken wir erst einmal auf den Schreck«, entschied Schnabel und füllte widerspruchslos die Gläser voll. Er zögerte kurz, als er vor den beiden Weingläsern stand, die Renate von Jarchow und Levke Bast zuzuordnen waren. Entschlossen goss er nach.

Es dauerte eine Weile, bis sich die Situation beruhigt hatte.

»Was war in den gefahren?«, wollte Sofie Bender wissen. »Er neigt ja zum Jähzorn, aber so habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Jeder hat mal einen schlechten Tag«, meinte Michel Bast. »Morgen hat er sich wieder beruhigt.«

»Der Pfeiffer war von Beginn an schwierig. Der gehört nicht hierher«, stellte Schnabel fest. »Oder, Renate?«

Die Angesprochene antwortete nicht. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Kopf war gegen die hohe Stuhllehne gefallen.

Kai Bender rückte seinen Stuhl zurecht, hob sein Glas in Schnabels Richtung und sagte: »Prost.« Anschließend wischte er sich den Schaum mit dem Ärmel von den Lippen. »Wie geht es Hendrik?«, fragte er Meike Schnabel. »Ich habe euren Sohn schon lange nicht mehr gesehen.«

»Alles gut. Er fühlt sich wohl auf dem Internat.«

»Das ist etwas anderes als die kleinbürgerliche Welt in Oldenswort«, meinte Levke Bast.

»Ach«, widersprach ihr Mann. »Uns geht es doch gut. Wir haben unser Auskommen, die Nachbarschaft ist großartig.« Er sah die anderen der Reihe nach an. »Nicht jeder kann sich glücklich schätzen, die Nachbarn als Freunde zu haben.«

»Fast«, gab Schnabel zu bedenken. »Wenn da nicht Niko Pfeiffer mit seiner Sippe wäre. Der Kerl hätte doch auch zu seiner Frau nach Thailand ziehen können. Weshalb musste er sie hierherholen?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ist doch bescheuert, sich eine Frau zu kaufen und sie hierher zu verpflanzen.«

»Holm«, rief ihn Meike Schnabel zur Ordnung. »Das sind dumme Sprüche. Nikos Frau stammt aus Thailand – na und?«

»Die ist doch nicht hergekommen, weil die Menschen besonders nett sind und die Natur außergewöhnlich. Die wollte doch nur am Wohlstand partizipieren.«

»Blödsinn«, widersprach Sofie Bender. »Der Pfeiffer ist doch nicht reich. Was ist an dem schon dran?« Sie schenkte Levke Bast einen Seitenblick. »Was meinst du?«

»Wir sollten ihn zufriedenlassen. Er tut uns doch nichts.«

»Nee?« Schnabel wirkte aufgebracht. »Du hast doch seinen Auftritt miterlebt. Der hat doch einen Sockenschuss.«

»Lass uns das Thema wechseln«, schlug Kai Bender vor. »Wir sollten alle so friedlich sein wie Renate.«

Alle Augen wanderten zur älteren Frau. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, der Mund geöffnet. Sie schlief tief und fest.

»Wer schläft, der sündigt nicht«, stellte Michel Bast fest. »Renate sündigt auch nicht, wenn sie wach ist.«

Schnabel winkte ab. »Die Schwiegermutter ständig im Haus … Das ist kein Vergnügen.« Er rückte an Bast heran. »Willst du sie haben?«

Bast lachte. »Nee. Bestimmt nicht. Mir reichen meine drei Hühner.«

»Levke ist doch eine tolle Frau. Die hat alles im Griff. Und deine beiden Töchter …«

Bast blies die Wangen auf. »Zwei Mädchen im Teenageralter … Die sind strapaziös. Aber du hast recht. Levke ist klasse. Die managt alles mit stoischer Gelassenheit. Du verzichtest ja auf dieses Erlebnis.«

»Wieso?«, fragte Schnabel lauernd.

»Vivian ist außer Haus.«

Jetzt lachte Schnabel dröhnend auf. »Wir wollten sie auf die Uni in Tönning schicken, aber da gab es keine Studienplätze.«

»Uni in Tönn…?« Bast fiel in das Lachen ein, als er den Witz verstanden hatte.

Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als eine kleine Frau in den Garten trat. Sie blieb drei Meter vom Tisch entfernt stehen, stemmte ihre Fäuste in die Hüften und musterte die Gesellschaft.

»Hallo, Sumire«, begrüßte Meike Schnabel die Nachbarin.

»Hat Niko dich geschickt?«, schob Schnabel bissig hinterher. »Versteckt er sich hinter deinem thailändischen Rock?«

In den Augen der Frau blitzte es auf. »Wer hat Freude an mich und Familie zu schikanieren? Wir nur wollen in Frieden leben.« Sie zeigte mit der Hand nach links. »Ihr lebt in eurer Welt. Wir in unser.«

»Ihr Mann war sehr aufgebracht, als er vorhin hier auftauchte, Frau Pfeiffer-Ayutthaya«, sagte Kai Bender förmlich. »Er hat allerdings nicht verraten, was ihn so geärgert hat.«

»Niko geht es nicht gut. Sein Kreislauf. Ich habe Sorge um ihn. Warum ihr macht kaputt unsern Garten?«

»Wer hat in eurem Garten Unheil gestiftet?«, wollte Meike Schnabel wissen.

»Als ich kam nach Deutschland, ich mich habe verliebt in kleine Gartenzwerge«, gestand Sumire Pfeiffer.

Schnabel lachte laut auf. »Tja. Einen hast du schließlich geheiratet.«

»Holm!« Meike Schnabel brüllte ihren Mann an, dass der erschrak. Dann wandte sie sich wieder Sumire Pfeiffer zu. »Man kann über die Gartenzwergkultur unterschiedlicher Meinung sein. Aber jeder soll das machen, was er gut findet.«

»Kennt ihr Thailand und seine Kultur? Die ist schön, aber ganz anders. Ich sofort war verliebt in deutsche Gemütlichkeit. Hübscher Garten. Gepflegt. Alles sauber. Und darin wohnen kleine Figuren. Ihr sagt Gartenzwerge. Aber nicht nur Männer mit Zipfelmütze und Bart. Auch kleine Tiere. Als ich gesehen das, mein Traum war, auch so was zu haben. Kleines Haus. Kleiner Garten. Und ein paar Figuren. Und nun? Immer wieder werden Zwerge umgeworfen. Warum?«

»Das können Tiere sein«, versuchte Kai Bender sie zu beruhigen.

Seine Frau lachte kurz auf. »Das ist alles? So viel Stress wegen ein paar umgefallenen Gartenzwergen?« Sie fasste sich an den Kopf. »Mein Gott.«

»Macht einen Bogen um unseren Garten«, sagte Sumire Pfeiffer. »Wie heißt es? ›Mein Garten ist mein Schloss‹?«

»Euer Garten ein Schloss? Das ist Komik pur.« Schnabel klopfte sich vergnügt auf die Schenkel. »›My home is my castle‹, meinst du.«

Sumire Pfeiffer warf ihm einen giftigen Blick zu. Dann war sie mit schnellen Schritten bei Renate von Jarchow. »Überall auf der Welt genießen alte Menschen hohen Respekt. Man vertraut ihrer Weisheit. Sagen Sie doch etwas. Sagen Sie, die hier sollen aufhalten mit ihrem Schabernack.«

Renate von Jarchow rührte sich nicht. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. In den kurzen Momenten, in denen es totenstill war, vernahm man nur ganz leise die gleichmäßigen Atemgeräusche.

»Wie gut, dass Renate das Drama nicht mitbekommt«, wisperte Michel Bast. »Holm hat sie mit Rotwein abgefüllt.«

»Die kann doch sonst einen Stiefel ab«, merkte Kai Bender an, der Basts Worte gehört hatte.

»Frau von Schnabel.« Sumire Pfeiffer sprach lauter.

»Die heißt Frau von Jarchow«, korrigierte Sofie Bender. Ihr Einwand blieb ungehört.

Plötzlich warf sich die Thailänderin auf den Boden, umarmte Renate von Jarchows Beine und klammerte sich daran fest. Gleichzeitig presste sie ihr Gesicht auf die Oberschenkel der schlafenden Frau.

»Jetzt ist sie vollkommen übergeschnappt«, raunte Michel Bast seiner Frau zu.

Sumire Pfeiffer japste nach Luft. Ihr Atem ging stoßweise. »Hören Sie mir bitte zu«, jammerte sie. »Bitte. Bitte.«

Die Anwesenden waren von der Aktion so überrascht, dass niemand eingriff. Als Holm Schnabel sich einmischen wollte, hielt ihn Kai Bender zurück.

»Nicht, Holm. Ich kümmere mich darum.«

Seine Frau trat ebenfalls vor. Sie packten Sumire Pfeiffer an den Oberarmen und versuchten, sie von Renate von Jarchow zu entfernen. Aber die Thailänderin hielt sich krampfhaft an den Beinen der schlafenden Frau fest. Sie sprach in ihrer Muttersprache. Es hörte sich flehentlich an.

»Jetzt ist genug«, fluchte Holm Schnabel.

Michel Bast hatte Mühe, den Hausherrn festzuhalten. Kai Bender wandte etwas mehr Kraft an, um Sumire Pfeiffer von Renate von Jarchow zu lösen. Es gelang schließlich mit Hilfe seiner Frau. Sie führten die aufgelöste und zornbebende Frau zu dem Weg, der zur Straße führte.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Bender sanft und strich vorsichtig über den Oberarm der Frau. »Wir sollten in den nächsten Tagen in Ruhe miteinander sprechen. Sie, Ihr Mann und ich. Wir finden eine Lösung.«

»Warum … hilft … uns … nicht die … alte Frau?«, stieß Sumire Pfeiffer hervor.

»Es wird sich alles klären«, sagte Bender und sah der Thailänderin nach, die mit hängenden Schultern die Straße hinunter in Richtung ihres Hauses schlich. Eigentlich war es eher ein Wanken.

Als er in den Garten zurückkehrte, herrschte immer noch Aufregung.

»Das ist nicht zu fassen«, schimpfte Schnabel. »Die Pfeiffers waren immer schon komisch. Aber jetzt sind sie komplett durchgedreht. Die sind doch nicht ganz dicht. Wir randalieren in ihrem beschissenen Garten. Die – mit ihren lächerlichen Gartenzwergen. Die haben keine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn ich da wirklich einmal aufräume.«

Bender klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Das war ganz schön heavy heute. Aber morgen sieht die Welt wieder anders aus. Schenk uns noch einen ein.«

Holm Schnabel brummte etwas Unverständliches und füllte anschließend sechs Schnapsgläser, die er aus dem Tiefkühler besorgt hatte, mit Aquavit. Er reichte jedem ein Glas. Auch Meike Schnabel und Levke Bast griffen zu, während Sofie Bender ihn angiftete.

»Hau ab mit dem Zeug.«

Renate von Jarchow schien von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen zu haben. Sie kauerte regungslos in ihrem Stuhl.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Aufregung legte.

»Die Stimmung ist hin«, stellte Michel Bast fest.

Seine Frau beugte sich zu ihm hinüber. »Die ist schon lange hin«, flüsterte sie. »Wir sollten uns in der nächsten Zeit ein wenig von den anderen fernhalten. Holm – der ist sonderbar geworden. Meike tut mir leid.«

»Du siehst Gespenster«, erwiderte er und war dankbar, dass Schnabel mit einem frisch gezapften Bier auftauchte.

Obwohl Kai Bender sich bemühte, die Gesprächsrunde neu zu beleben, war es atmosphärisch tot.

»Möchte noch jemand etwas essen?«, fragte Schnabel.

Nein! Danke! Allen war der Appetit vergangen.

»Wir haben selten einen so bewegten Grillabend erlebt«, stellte Meike Schnabel fest. »Wir sollten es für heute dabei belassen.« Sie stand auf und begann, das Geschirr zusammenzuräumen.

Levke Bast erhob sich ebenfalls. »Ich helfe dir.«

Sofie Bender stützte sich auf der Tischplatte ab. »Schade um den Abend. Ich muss nur schnell auf die Toilette. Dann bin ich bei euch.« Sie seufzte. »Hoffentlich ist der Abend keine Hypothek für das weitere Zusammenleben unserer kleinen Siedlung.«

»Pfeiffer, die alte Flöte, ist der Störfaktor«, schimpfte Schnabel lauthals, ließ noch ein halbes Glas Bier einlaufen und trank es in einem Schluck aus.

Kai Bender reckte sich, fasste sich ins Kreuz und entfernte sich Richtung Grundstücksgrenze. »Ich sehe einmal nach dem Igel. Der hat es gut. Lebt ohne Stress. Und wenn es einmal arg kommt, igelt er sich ein. Das sollte Niko Pfeiffer auch einmal probieren. Einfach mal Stacheln zeigen.« Er lächelte und zeigte auf Renate von Jarchow. »Du hast es auch gut, Renate. Du igelst dich ein – und das ohne Stacheln.«

»Hm«, meinte Michel Bast. »Ich glaube, die hat ganz kräftige Stacheln. Ich möchte von ihr nicht gepikst werden.« Er lehnte Benders Einladung, ihn zum Gartenzaun zu begleiten, ab und blieb mit Renate von Jarchow allein zurück.

ZWEI

Für eine Weile herrschte friedliche Stille im Garten, nur unterbrochen durch Meike Schnabel oder Levke Bast, die das Geschirr und die Lebensmittelreste ins Haus räumten. Sofie Bender hingegen tauchte trotz ihrer Zusicherung, zu helfen, nicht auf. Schließlich erschien Meike Schnabel mit einer Wolldecke.

»Was willst du damit?«, fragte ihr Mann erstaunt.

»Es wird langsam kühl. Mama wird sich erkälten.«

»Die ist doch sonst eiskalt«, lästerte Schnabel und sah zu, wie seine Frau ihre Mutter in eine Wolldecke wickelte und den schlaffen Körper dabei hin- und herrollte. »Soll sie draußen übernachten?«, fragte er mit belegter Stimme. »Die kann oben weiterschlafen.« Er trat an den Stuhl heran und rüttelte an den Schultern. »Ehhh. Renate. Du hast genug gepennt. Husch, husch ins Körbchen.« Als sie sich nicht rührte, wurde sein Druck kräftiger. »Los. Aufstehen. Oder sollen wir dich nach oben tragen?«

»Nicht so grob«, fuhr ihn Meike Schnabel an.

»Die bewegt sich sonst nicht.« Er stand hinter seiner Schwiegermutter und legte die Hände fest auf ihre Schultern. Seine Finger krallten sich unterhalb des Schlüsselbeins in ihre Bluse. »Nun mach schon«, sagte er unwirsch und wich zurück, als der Kopf kraftlos zur Seite fiel. »Mann. So besoffen kannst du doch gar nicht sein.«

»Mit der stimmt etwas nicht«, sagte Sofie Bender und kam näher.

Levke Bast folgte ihrem Beispiel. »Die schläft nicht nur. Die ist ohne Bewusstsein.«

»Quatsch.« Holm Schnabel drängte die beiden Frauen zur Seite und tätschelte Renate von Jarchows Wangen. »Komm«, sagte er. »Du musst nur die Treppe hoch. Dann kannst du von mir aus bis Montag ausschlafen. Meike stellt dir auch einen Eimer ans Bett.«

»Da stimmt was nicht«, sagte Meike Schnabel mit gepresster Stimme und beugte sich über ihre Mutter. Der Kopf hing schlaff zur Seite herab. Der Mund war leicht geöffnet, ein Augenlid wies einen schmalen Spalt auf.

»Renate atmet nicht richtig«, meinte Levke Bast.

Kai Bender drängte sich in den Vordergrund und fühlte den Puls an der Halsschlagader. Dann richtete er sich auf und sagte ernst: »Meike. Du solltest den Notarzt rufen.«

»Nee. Nix«, sagte Holm Schnabel energisch. »Seid ihr verrückt? Was sollen die Leute im Dorf sagen, wenn der Rettungswagen hier mit viel Brimborium vorfährt. Das ganze Dorf zeigt dann auf Renate und ruft ihr hinterher: ›Seht, da kommt die besoffene Alte.‹ Neee. Wir rufen Bernd an.«

Dr. Bernd Löffelholz zeigte sich nicht begeistert, als Meike ihn schließlich erreichte. Er habe keinen Notdienst, erklärte er. Sie möge sich an den ärztlichen Bereitschaftsdienst wenden oder den Rettungsdienst informieren.

Schnabel riss seiner Frau den Telefonhörer aus der Hand. »Hör mal, Bernd«, rief er in das Gerät hinein. »Die ganze Familie ist bei dir Patient, seitdem du dich hier niedergelassen hast. Es gibt im Dorf noch eine andere erstklassige Praxis. Mach dich auf die Socken. Meiner Schwiegermutter geht es nicht gut. Aber fix.« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern blickte triumphierend in die Runde. »Dem habe ich es gezeigt«, sagte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Renate, du bist ’ne Granate«, stellte er mit schwerer Zunge fest.

»Ich gehe nach Hause«, beschloss Levke Bast. »Komm!«

Die Aufforderung galt ihrem Mann. Der wirkte unsicher.

Kai Bender nahm ihm die Antwort ab. »Ich bleibe noch bei Meike und Holm.«

Michel Bast nickte bedächtig. »Ich auch.«

»Bis später«, grüßte Levke Bast leise und wollte sich entfernen.

»Nun warte doch«, bat Michel Bast. »Ich komm ja gleich mit.«

»Möchte … hups … Möchte noch jemand was trinken?« Schnabels Frage war eher ein Lallen.

»Du hast genug getrunken«, sagte seine Frau.

»Tühnkram.« Er konnte nicht verhindern, dass ein Teil des Biers, das er ins Glas füllen wollte, beim Zapfen auf die Bodenplatten verschüttet wurde.

Dann herrschte betretenes Schweigen, bis Dr. Löffelholz eintraf.

Der Arzt war im Freizeitlook gekleidet. Er grüßte knapp: »’n Abend«, und steuerte sofort Renate von Jarchow an, fühlte kurz den Puls, zog ein Augenlid in die Höhe und entnahm seiner Arzttasche ein Stethoskop.

»Was ist, Bernd?«, fragte Holm Schnabel aufgeregt.

»Pst.« Kai Bender legte den Zeigefinger auf die Lippen.

Dr. Löffelholz öffnete die zwei weiteren Knöpfe der ohnehin freizügig getragenen Bluse. Er legte den Schalltrichter des Stethoskops unterhalb des Busens auf die Brust der Frau.

Dr. Löffelholz’ Gesichtsausdruck wirkte hoch konzentriert. Er horchte angestrengt in sein Gerät hinein. Es zuckte kaum merklich um seine Mundwinkel. Dann zog er die Stirn kraus. Seine linke Hand fasste erneut zum Gelenk Renate von Jarchows und suchte den Puls. Anschließend hob er den Kopf und sah in die Runde. Sein Blick hielt kurz bei Holm Schnabel, wanderte dann weiter zu dessen Frau. Dr. Löffelholz bewegte unmerklich den Kopf. Jeder bekam es mit. Jeder verstand die Geste. Meike Schnabel hielt die Luft an. Ihre Miene erstarrte zu einer Maske. Die Augen weiteten sich. Es vergingen ein paar Herzschläge, bis sie ihre Hände hochnahm und vor den Mund presste. Es war das Begreifen, aber auch das Unverständnis vor dem Unwiderruflichen, das Menschen beim Erreichen einer solchen Nachricht erfasste. Das Bewusstsein, dass etwas geschehen war, was endgültig war.

Es herrschte Totenstille in der Runde. Selbst der leicht säuselnde Wind hatte sich gelegt, als würde er signalisieren wollen: Der Atem ist erloschen.

Fast alle zuckten zusammen, als Holm Schnabel losbrüllte: »Bernd. Du bist Arzt. Tu was.«

Dr. Löffelholz richtete sich auf. Langsam nahm er die Ohrbügel des Stethoskops aus den Ohren. »Meike. Holm«, sagte er ruhig. »Es tut mir leid.«

»Bernd!« Schnabel fuchtelte wild mit der Hand in der Luft herum. »Versuch es mit Wiederbelebung.«

Der Arzt machte eine besänftigende Geste. »Auch Ärzte können dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen.«

»Aber … wieso?« Schnabel war nicht zu beruhigen. Erst als Kai Bender ihm eine Hand auf die Schulter legte und leise auf ihn einsprach, beruhigte sich der Mann.

Seine Frau hatte angefangen, leise zu weinen. Dabei durchliefen Wellen ihren Körper.

Levke umarmte sie und zog sie zur Seite. »Es ist ein schwerer Moment für dich«, flüsterte sie. »Du musst jetzt tapfer sein.«

Meike Schnabel schien nicht zuzuhören.

»Wie soll das jetzt weitergehen?«, mischte sich Michel Bast mit belegter Stimme ein und sah nacheinander ratlos jeden Anwesenden an.

Sofie Bender, die sich im Hintergrund gehalten hatte, zuckte mit den Schultern. »In solchen Situationen ist man ratlos. Keiner ist darauf vorbereitet. Niemand hat einen Plan.« Dabei sah sie den Arzt an. »Sie müssen das doch wissen.«

»Der Doktor kann nur den Totenschein ausstellen«, sagte Levke Bast. Sie wandte sich an Meike Schnabel und nahm sie in den Arm. »Wir stehen euch zur Seite. Das ist doch klar. Wir helfen euch in dieser schweren Stunde.«

Schnabel ließ sich am Tisch nieder, stützte die Ellenbogen auf die Platte und legte das Gesicht in die Hände. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er. »Eben noch hat Renate mit uns gefeiert. Sie war fröhlich. Mittendrin. Sie hat gegessen und getrunken. Und nun …«