Jokers Spur - Angela Planert - E-Book
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Jokers Spur E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Als Falk Jokeretz, der von allen nur Joker genannt wird, sich auf dem Heimweg von einem bekannten Musik-Festival befindet, ahnt niemand, dass sich in Kürze das Leben des jungen Mannes nach einem schweren Verkehrsunfall von Grund auf ändern wird und danach nichts mehr so ist wie zuvor. Kaum einer weiß, dass ihn ein großes Geheimnis umgibt, nicht einmal er selbst. Noch im Krankenhaus sucht ihn die Polizei auf, wenig später entgeht er nur ganz knapp einem Anschlag, woraufhin er sich kurz darauf im Zeugenschutz wiederfindet. Doch auch dort ist seine Sicherheit nicht gewährleistet, denn in den Reihen der Polizei gibt es einen Verräter … Das Buch kann problemlos ohne seine Vorgänger gelesen werden

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S P U R

 

Herzensspuren Teil 3

 

 

 

 

 

© 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf – Friedrich-Herder-Straße 33

www.Angela-Planert.de

1. Auflage

 

Lektorat

Kerstin Peschel

© Cover- und Umschlaggestaltung

Farbenmelodie - Juliana Dorsch

https:/julianafabula.de/grafikdesign/

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Inhaltsverzeichnis

Am Boden4

Einschnitt11

In Stralsund18

Unter Verdacht25

Psychokram31

Nach Hause37

Trentino44

Lebendig51

Leben58

Fälschung65

Ausweglos72

Augenblick der Wahrheit79

Chaos87

Gipfel94

Unterwegs101

Unglaublich108

Vereint115

Spuren122

Weg129

 

 

Am Boden

Es glich einer rauschenden Mischung aus Euphorie, Glückseligkeit und einer Lebendigkeit, die seinesgleichen suchte. Ein vergleichbares Gefühl war Joker in seinem fast 19-jährigen jungen Leben bisher nicht vergönnt gewesen. Er spürte sein permanentes Grinsen, während die sommerliche Landschaft von Kiefernwäldern und bunt blühenden Wiesen an ihm vorbeizog. Vor allem das erschütternde Erlebnis, welches er nun seit drei Wochen mit sich herumtrug, ließ sich damit fast gänzlich aus seinen Gedanken verdrängen.

Noch immer nahm er das Vibrieren des Basses, den hämmernden Rhythmus der Musik in seinem Inneren, sogar in seinem Bauch wahr.

Selbst die Erinnerung an den tobenden Applaus des Publikums hallte wie eingebrannt in seinen Ohren. Die Jubelrufe, der anhaltende Beifall, die Forderung nach Zugabe, waren die großartigste Anerkennung, die er sich hatte vorstellen können. Mit einem vergleichbaren Zuspruch hatte keiner der Bandmitglieder auch nur im Entferntesten gerechnet. Innerhalb von einer Stunde hatte das hochgeladene Video ihres Auftrittes über tausend Klicks erhalten. Und bis vor einer Stunde, bis zu ihrer Abfahrt aus Gräfenhainichen waren die Zugriffe imposant weitergewachsen.

Die Einladung an sich, als jüngste Band auf dem Melt! Festival in Ferropolis der „Stadt aus Eisen“ auftreten zu dürfen, war schon Auszeichnung genug. Allein dort zu sein, unter den Festivalbesuchern zu der Musik zu tanzen, sich von ihr mitreißen zu lassen, fühlte sich für Joker nach einer rauschenden Droge an, von der er mehr, viel mehr wollte. Diese fantastische Atmosphäre mit dem in der Nacht beleuchteten Riesen-Bagger aus Stahl gab dem Festival einen unvergleichlich futuristischen Charme. Heute Abend wollten sie zu Hause im Biergarten gemeinsam als Band ihren Erfolg feiern.

Zur Sicherheit schaute Joker ein zweites Mal nach links, dann in den Spiegel, setzte den Blinker seines Bikes und zog gasgebend mit einem eleganten Schlenker auf die linke Autobahnspur. Im Rückspiel beobachtete er seine restliche Band; viel mehr den Wagen mit ihnen, einen Renault Trafic, den sie sich für dieses Wochenende ausgeliehen hatten, um ihr Equipment transportieren zu können. Kevin, der Einzige, der mit seinen dreiundzwanzig Jahren alt genug war, den Wagen zu fahren, folgte ihm im sicheren Abstand.

Mit einem glücklichen Grinsen im Gesicht schwelgte Joker erneut ganz bewusst in diesem Gefühl der Lebendigkeit, der Zufriedenheit und der unbändigen Freude.

Plötzlich nahm er einen dunklen SUV neben sich wahr, der mit dem Blinker anzeigte, dass dessen Fahrer überholen und damit auf die linke Spur wechseln wollte.

Bleib bloß drüben, schoss es Joker durch den Kopf.

Der SUV zog beharrlich von der mittleren auf die linke Spur. Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde musste Joker eine Entscheidung treffen, die vermutlich schwerwiegende Folgen für ihn haben konnte. Abbremsen kam nicht infrage, denn wie er im Rückspielgel bemerkte, hatte sich ein fremder PKW zwischen ihn und den Trafic gedrängelt, klebte ihm fast schon am Rücklicht. Er konnte nur Gas geben, um dem SUV zu entkommen. Andernfalls würde er gegen die Leitplanke gequetscht werden. Bei der relativ hohen Geschwindigkeit eine üble Vorstellung.

Joker beschleunigte.

 

„Hey krass, Leute!“ Melina lachte. „Der nächste Kommentar: Eure Mucke ist mega, eure Performance noch ausbaufähig!“ Sie wickelte eine Haarsträhne um den Finger und knabberte auf den Haarspitzen herum, was sie oft tat, wenn sie aufgeregt war.

Kevin suchte über den Rückspiegel kurz Blickkontakt zu ihr. „Da ist was dran!“

Lennard, der vorn neben Kevin saß, grummelte: „Du nun wieder!“

„Jetzt entspannt euch mal, ja?“ Paula schob ihr Cap, eines ihrer Markenzeichen, ein kleines Stück nach vorn. „Heute genießen wir unseren Erfolg und lassen ihn auf uns wirken. Nächste Woche schauen wir uns mal ein bisschen kritisch an.“

„Ich bin ja fast dafür, dass wir unseren Namen ändern sollten!“, schlug Lennard vor.

„Bist du bescheuert?“, fuhr Melina ihn von hinten an. „Gerade jetzt, wo uns das halbe Internet kennt!“ Für einen Moment ließ sie von ihrer Strähne ab.

„Also da geb’ ich Melina recht! Obendrein ist die Band Jokers Baby.“ Kevin sah erneut in den Rückspiegel, diesmal nur kurz, lenkte den Wagen auf die linke Spur und folgte damit dem Motorrad. Er hatte Jokers Mutter zugesichert, dass sie vorsichtig fahren würden.

„Was haste denn auf einmal gegen ‚Buscando‘?“ Philipp, der hinten zwischen den Mädchen saß, schaute von seinem Smartphone auf. „Ich sollte mir angewöhnen, beim Keyboardspielen öfter hochzuschauen. Melina kommt beim Singen sehr authentisch rüber und Paula scheint mit ihrem Schlagzeug zu meditieren. Das ist mir noch nie aufgefallen.“

„Ein spanischer Name passt einfach nicht zu uns!“ Lennard drehte sich, soweit es Autositz und Gurt zuließen, nach hinten um.

„Bei dir …“ Philipp sah von seinem Handy auf. „… fällt mir auf, dass du beim Gitarre spielen manchmal ein recht verbissenes Gesicht machst.“

„Ich mach doch kein verbissenes Gesicht!“ Empört setzte Lennard sich zurück.

„Chillt mal!“ Schlichtend hob Paula ihre Hände. „Können wir die Analyse bitte vertagen. Außerdem ist es Joker als Gründer gegenüber unfair, wenn wir das ohne sein Beisein diskutieren.“

„Hey? Was macht der denn?“ Kevin musste abbremsen, als ein weißer BMW sich zwischen ihren Wagen und Jokers Bike drängelte. „Sorry Leute!“ Nach seinem Empfinden war der Abstand für diese Geschwindigkeit viel zu gering, deshalb versuchte er, das zu korrigieren.

„Nichts passiert!“, lachte Paula und schob eine dunkle Locke unter ihr Cap.

„Scheiße! Ist der blind?“, fluchte Lennard. „Was ist das für ein krankes Arschloch?“

Im Renault Trafic saßen sie höher als in einem normalen PKW, konnten dadurch den Verkehr besser überschauen und wurden somit Zeuge, wie der dunkle SUV von der mittleren Spur zum Überholen ansetzte.

„Pass auf Joker!“, rief Melina und nahm fahrig ein Büschel Haare in den Mund, um darauf herumzukauen.

Kevin bremste ab. Er sah das Unglück kommen. Es war eine ausweglose Situation, mit der er kaum umzugehen wusste. Innerhalb weniger Sekunden folgte eine Kettenreaktion. „Scheiße! Nein!“ Er fühlte sich entsetzlich hilflos. Der Fahrer des SUVs beschleunigte während er auf die linke Spur hinüberzog und dabei offenbar das Bike übersah.

Joker blieb durch den drängelnden BMW hinter sich nur die Flucht nach vorn und gab Gas. Mit der für einen Fahranfänger gedrosselten Motorleistung war die Beschleunigung jedoch zu gering. Joker hatte keine Chance.

Das Bike rutschte durch den seitlichen Aufprall des SUVs am Hinterrad weg. Für Kevin sah es so aus, als ob Joker, um der Leitplanke zu entkommen, sich über die Motorhaube der Geländelimousine abzurollen versuchte. Er flog von dort auf die mittlere Spur und überschlug sich mehrfach auf der Fahrbahn.

Es war ein Wunder, dass zu diesem Zeitpunkt unmittelbar kein weiters Fahrzeug kam und die nachfolgenden Autos auf die rechte Spur ausweichen oder rechtzeitig abbremsen konnten. Zeitgleich gab es einen lauten Knall. Der BMW fuhr auf den SUV auf. Undefinierbare Teile flogen durch die Luft.

Melina kreischte und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Kevin brachte den Trafic kurz darauf mit einer Notbremsung zum Stehen. Er schaute in den Rückspiegel und betätigte den Warnblinker, dann schnallte er sich ab und riss gleichzeitig die Tür auf. „Paula, ruf einen Krankenwagen!“ Während er sich nach dem stockenden Verkehr umsah, rannte er sofort zu Joker, der reglos in einer merkwürdig verdrehten Körperhaltung auf dem Asphalt lag. Nur einen knappen Meter entfernt war ein orangefarbener Ford zum Stehen gekommen. Eine Frau stieg aus: „Oh mein Gott!“

Kevin kniete sich zu ihm. „Joker?“ Es war eine entsetzliche Vorstellung, dass er schwer verletzt sein könnte. Im ersten Moment wusste Kevin gar nicht, was er machen sollte. Unter dem Halstuch fühlte er nach Jokers Puls, dass er ihn überhaupt fand, hielt er für ein gutes Zeichen. „Sag doch was, Joker!“ Gerade als er den Kinnriemen des Motorradhelms öffnen wollte, kam Philipp dazu.

„Nein verdammt! Lass die Finger vom Helm!“ Achtsam klappte er das Visier hoch und überprüfte mit seiner Hand dicht an Jokers Mund die Atmung. „Er atmet!“

Kevin registriere nur beiläufig, dass einige ignorante Autofahrer rechts über den Standstreifen langsam am Unfallort vorbeifuhren.

„… nein, ich glaube nicht!“ Paula kam mit dem Handy am Ohr zu ihnen. „Die wollen wissen, ob er ansprechbar ist!“, sagte sie an Kevin gerichtet, der nur den Kopf schütteln konnte. Sein Hals war wie zugeschnürt. Mit einem eher flüchtigen Blick über Jokers Körper bemerkte er zahlreiche blutende Verletzungen, die unter der zerrissenen Lederkombi hervorlugten. Hoffentlich hatte der Leihwagen eine Erste-Hilfe-Tasche. Kevin erhob sich gerade, als eine Fremde mit solch einer roten Tasche auftauchte.

„Darf ich? Ich bin Krankenschwester!“, gab sie sich zu erkennen.

„Komm schon Joker, sieh mich an!“, versuchte Philipp eine Reaktion zu erhalten.

Die Frau hockte sich zu Philipp. „Zuerst sollten wir ihm den Helm abnehmen!“

„Aber er atmet!“, protestierte Philipp. „Ich habe gelernt …“

„Wenn wir das gemeinsam machen, passiert nichts!“, behauptete die Krankenschwester. Kevin sah ihr zu. Sie wirkte sehr routiniert und schien genau einen Plan zu haben, was sie als Nächstes zu tun hatte. Diese Situation, Joker in fachkundigen Händen zu wissen, nahm er mit großer Erleichterung auf.

Nach einem Moment schaute Kevin auf und konnte es kaum glauben. In seinem näheren Umfeld entdeckte er in der gaffenden Menge einige Leute mit einem Handy in der Hand, die offenbar Jokers Unglück filmten. Dabei erfasste er erst jetzt die Hälfte der Autobahn, die einem chaotischen Parkplatz glich. Doch jede Minute, die Joker schneller medizinische Hilfe erhielt, war womöglich für sein weiteres Leben ausschlaggebend. Hier würde aber kein Rettungsfahrzeug durchkommen. „Hey!“, machte er seiner Wut über die Gaffer Platz und versuchte obendrein gegen den Lärm der Gegenfahrbahn, wo der Verkehr unvermindert weiterrollte, anzukommen. „Rettungsgasse schaffen! Fahrt zur Seite!“ Er unterstrich seine Worte mit unmissverständlichen Handbewegungen. Nur zögernd kehrte die Menge zu ihren Autos zurück, einige fädelten sich nach rechts ein, um weiterzufahren.

Tatsächlich gab es aber auch hilfsbereite Mitmenschen, die sich um den BMW- sowie um den SUV-Fahrer kümmerten, die wahrscheinlich ebenfalls verletzt waren.

Im Augenwinkel nahm Kevin wahr, wie Lennard auf den SUV zugehen wollte. Er kannte den Hitzkopf und beschloss, ihn davon abzuhalten. „Lennard!“, fuhr Kevin ihn barsch an und packte den Freund am Arm. „Kümmere dich bitte um Melina!“ Zitternd und auffallend blass stand sie mit weit aufgerissenen Augen am Auto.

„Ohne dieses blinde Arsch…“, setzte Lennard zum Protest an.

„Keines deiner Worte macht den Unfall ungeschehen!“ Kevin schob den grummelnden Gitarristen auf den Trafic zu, dann blickte er zu seinem verwundeten Freund. Aus der Ferne näherten sich hörbar die Rettungswagensirenen, kurz darauf ein Rettungshubschrauber.

 

Schleppend begann er, seinen Körper vage wahrzunehmen. Zunächst registrierte er jedoch nur das heftige Hämmern in seinem Schädel aber es fühlte sich merkwürdig fremd an, als gehöre der Kopf nicht ihm. Es war äußerst seltsam: Für eine unbestimmte Zeit hing er in einem Zustand fest, den er weder als wach, noch als schlafend bezeichnet konnte. Er glich einem Vor-sich-hindämmern mit abwechselnden Phasen, die mal mehr von Schmerzen, mal mehr von diesem wattigen Gefühl bestimmt wurden. Obwohl er sich wiederholt bemühte, gänzlich zu erwachen, schien diese schwammige Empfindung ihn davon abzuhalten.

Zwischen seiner Wahrnehmung und seinen Gedanken meinte Joker Stunden würden vergehen. Zäh wie ein durchgekauter Kaugummi, zogen sich diese Eindrücke ohne eine Veränderung in die Länge.

Mit der Zeit wurde dann aber eine weit entfernte, jedoch sehr vertraute Stimme deutlicher. Joker versuchte, ihr mehrfach zu folgen, bis es ihm schließlich gelang:

„… jetzt machen wir diese Räuberbande auf, und nennen sie Tom-Sawyers-Bande. Jeder, der beitreten will, muss ’nen Eid schwören und seinen Namen mit Blut darunter schreiben“, hörte er seine Mutter sagen. „Jeder wollte mitmachen. Also holte Tom ein Blatt Papier hervor.“

Sein Lieblingsbuch! Als Kind hatte Joker davon geträumt, ein Leben wie Huckleberry zu führen. Ein leises Krächzen löste sich ungewollt aus seinem Rachen, der sich entsetzlich trocken, ja wund anfühlte.

„Guapo?“ Mutters sonst so energische Stimme zitterte, klang fast ängstlich. „Kannst du mich hören?“

„Ja – warum denn nicht!“, antworte Joker, bemerkte dann aber einen Moment später, dass er die Worte nur gedacht hatte.

„Kannst du deine Hand bewegen, Guapo?“

Dieses fremde Körpergefühl machte Joker Angst, weil er registrierte, dass seine ‚Leitungen‘ nicht wie gewohnt funktionierten, dass er offenbar die Köperkontrolle wie er es bisher kannte, verloren hatte. Das leichte Beugen seiner Finger war nur unter großer Anstrengung möglich. Seine Gelenke fühlten sich merkwürdig steif an. Vor allem blieb ihm die Bitte nach einem Schluck Wasser verwehrt.

„Guapo! Gott sei Dank!“, seufzte seine Mutter leise. Joker spürte ihre Hand auf seiner, anschließend einen zarten Kuss auf der Stirn. Augenblicklich riss ihn eine ungewöhnlich schwere Müdigkeit für eine unbestimmte Zeit mit sich.

„… ein Fortschritt, Frau Jokeretz“, vernahm Joker eine fremde männliche Stimme. „Ich habe es Ihnen ja gesagt, Ihr Sohn ist ein Kämpfer!“

Joker hörte keine Antwort von seiner Mutter, was ein befremdendes Unwohlsein in ihm hervorrief. Er sammelte all seine Konzentration. „Mamá?“, glitt ihm endlich flüsternd über die Lippen.

„Guapo!“ Er spürte ihre Hand auf seiner Wange, worauf er angestrengt seine Augen öffnete, ohne zunächst klar sehen zu können. Nur schemenhafte Umrisse, die sich in einem milchigen Licht bewegten.

„Hallo Falk!“, begrüßte ihn der Fremde.

Niemand, nannte ihn Falk. Solange er denken konnte, wurde er von allen nur Joker genannt. Zum einen lag das bei dem ungewöhnlichen Familiennamen nahe, ihn abzukürzen, und zum anderen sagte man Joker nach, dass er Glück brachte. Und Glück hatte er auf jeden Fall mit seiner großartigen Familie, mit seinen Freunden, sogar mit seinen Schulkameraden, die ihn bis auf wenige Ausnahmen mochten oder zumindest respektierten. Beinah jedes Projekt, welches er sich vornahm, glückte. Vor wenigen Wochen hatte er sein Abitur absolviert, obwohl seine Noten in all den Schuljahren eher durchschnittlich waren. Wenn er ehrlich war, hatten ihn die meisten Fächer nur gelangweilt. Aber nach dem Sommer wollte er in Berlin mit einem Musikstudium beginnen.

„Ich bin Doktor Hübner. Erinnerst du dich, was vorgefallen ist?“, riss ihn der Fremde aus seinen Gedanken.

Joker blinzelte und erkannte endlich ein männliches, kantiges Gesicht zu seiner Linken. Intensiv begann Joker zu überlegen. Weder war ihm klar, was geschehen war, noch warum er offenbar hier in einem Krankenhaus lag. Je mehr er versuchte, sich zu erinnern, desto mehr trat dieses wattige Gefühl in den Hintergrund. Seine Wahrnehmung, sein Körpergefühl kehrten gemächlich zurück und damit auch die zunehmenden Schmerzen. Sein Herzschlag verdoppelte sich, was akustisch durch ein leises Piepen, wahrscheinlich des EKGs, noch deutlicher wurde. Er verneinte mit einer sachten Kopfbewegung.

„Keine Sorge, Falk. Das passiert hin und wieder. Manchmal dauert es ein bisschen, bis alles wiederkommt.“

Von seinen Kopfschmerzen abgesehen, tat sein linker Arm mächtig weh, sein Brustkorb ebenfalls. Sogar Atemzüge waren schmerzhaft.

„Guapo!“ Seine Mutter stand zu seiner Rechten und knetete sanft seine Hand. „Du hattest einen schlimmen Unfall!“

Er erinnerte sich an keinen Unfall, ja nicht mal daran, irgendwohin unterwegs gewesen zu sein. Ungewollt stöhnte er auf, als er nur versuchte, sich aufzurichten.

„Ich gebe dir etwas gegen deine Schmerzen“, kündigte Doktor Hübner an und bevor Joker zum Protest ansetzen konnte, nahm dieses wattige Gefühl wieder zu.

 

Zwischen den Perioden mächtiger Beschwerden, kurzer Wachphasen und einem Vor-sich-dahindämmern war es Joker unmöglich, auch nur ein vages Zeitgefühl zu entwickeln. Wie viele Stunden oder gar Tage vergangen sein mochten, entzog sich seiner Einschätzung.

„Ich denke, wir können jetzt weiter die Schmerzmittelzufuhr reduzieren“, drang die inzwischen vertraute Stimme des Arztes in sein Bewusstsein. „Spätestens morgen brauche ich dann ein aktuelles CT.“

„Wenn ich Sie daran erinnern darf, heute ist der 22. Juli und damit morgen Ihr erster Urlaubstag, Doktor Hübner“, hörte er eine weibliche Stimme, vermutlich eine Schwester, antworten. Durch Joker ging ein Ruck. Der 22. Juli? Er war der Meinung, es wäre Juni. Überhaupt schien sein Gedächtnis eine mächtige Lücke aufzuweisen. Diese Tatsache, schockierte ihn zutiefst, überschattete die nahe Unterhaltung. In fünf Tagen wollte er seinen 19. Geburtstag auf einem Partyboot feiern, jedenfalls war das der Plan gewesen. Eine merkwürdige Unruhe packte ihn und er versuchte sich aufzusetzen.

„Beruhige dich Falk!“ Er nahm Hände auf seinen Schultern wahr, die Linke tat dabei gewaltig weh, von den dröhnenden Kopfschmerzen ganz abgesehen, die jetzt beim Öffnen seiner Augen sogar zunahmen. „Wir bemühen uns sehr darum, dass du bald mit deiner Reha beginnen kannst.“

„Reha?“, nuschelte Joker und überlegte, wozu er Derartiges benötigte.

„Deine Mutter kümmert sich bereits um alles, Falk.“

Joker sah sich flüchtig, soweit es ihm aus seiner liegenden Position möglich war, im Krankenzimmer um, dann ins Gesicht von Doktor Hübner, als dieser ein Gespräch mit ihm begann:

„Dass dir zunächst die Erinnerungen an den Motorradunfall fehlen, kommt durch das Schädel-Hirn-Trauma schon mal vor. Das ist kein Grund zur Sorge.“

Mit jeder Minute, die Joker von seinen Rippenbrüchen, seinem mehrfach gebrochenen linken Arm, der linken Schulter und den zahlreichen tiefen Hautabschürfungen sowie von seiner kollabierten Lunge erfuhr, wurden seine Gedanken klarer. Bisher hatten ihm offenbar die starken Medikamente keine Chance gegeben, seinen Körper wirklich wahrzunehmen. Bewusst fühlte er in alle Körperbereiche hinein, spürte schmerzvoll seine Verletzungen. Plötzlich hielt er inne, als ihm etwas sehr Entscheidendes auffiel. „Meine Beine?“ Er schluckte hart und wagte kaum, seine Befürchtung auszusprechen. „Was – was ist mit meinen Beinen?“ Ab der Hüfte hatte er keinerlei Empfindungen, keine Schmerzen, kein Gefühl, dass seine Extremitäten oder sein Gesäß überhaupt noch vorhanden waren.

„Durch den Sturz hast du dir deine Wirbelsäule verletzt, Falk“, begann der Mediziner im auffallend ruhigen Ton. „Der gebrochenen Wirbelkörper hat dein Rückenmark gequetscht. Das Positive daran ist, dass es nicht durchtrennt wurde und deine Chancen, wieder laufen zu können, damit sehr günstig stehen.“

Diese Nachricht, vielmehr die Tatsache fühlte sich schlimmer an, als ein gewaltiger Faustschlag mitten ins Gesicht. Er war immer vorsichtig gefahren, hatte nie in Erwägung gezogen, dass ihm irgendetwas zustoßen könnte. Ihm, dem Glücksjoker, würde Derartiges nicht passieren. Doch genau das war nun geschehen. War aus dem Glücksjoker ein Pechvogel geworden? Befand er sich am tiefen Abgrund seiner Träume und Wünsche oder würde es ein gutes Ende für ihn geben?

„Hey!“, ergriff Doktor Hübner Jokers rechte Schulter. „Auf dem Weg von der Unfallstelle bis hier ins Krankenhaus hast du uns gezeigt, was für ein Kämpfer in dir steckt. Ehrlich, ich habe schon ganz andere Fälle gehabt, die vollständig gesund geworden sind. Du hast also allen Grund, nach vorn zu schauen.“

Obgleich er den Entschluss fasste, jetzt erst mal positiv zu denken, mit dem Glauben an die Sache heranzugehen, dass er wieder laufen würde, wuchs diese alte Empfindung von Leere in seinem Inneren. All die Jahre seiner Kindheit hatte er mit verschiedenen Therapien verbracht und hatte damit letztlich die Leidenschaft zur Musik entdeckt. Mit jedem kommenden Gedanken wurde ihm deutlich, dass jedes von ihm geschriebene Liedstück, ein Ausdruck seiner Seele war. Mit jeder Note hatte er einen Weg gefunden, sich zu behandeln.

„Guapo! Guapo!“ Mamá hatte sein Gesicht zwischen die Hände genommen und sah ihm eindringlich in die Augen. „Wir sind alle für dich da!“

Joker hatte sie bis eben gar nicht bemerkt, oder war sie erst gekommen? „Mamá!“, kam ihm über die Lippen und obwohl er sonst nicht der Typ war, der nah am Wasser gebaute hatte, spürte er, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Diese Tatsache mit seinem verletzten Rückenmark, bewegte ihn immens.

„Abuelo sorgt gerade dafür, dass du schnell nach Hause kommen kannst, Maria hat bereits eine ausgezeichnete Physiotherapeutin gefunden und ich …“

„Mamá!“, unterbrach er sie energisch. Auf keinen Fall wollte er hören, wie man daheim alles für einen Rollstuhlfahrer vorbereiten würde. „Ich weiß nicht mal, was passiert ist oder wann! Warum erinnere ich mich nicht?“

Mamá setzte sich zu ihm ans Bett und erzählte, dass er auf dem Nachhauseweg vom Festival auf der Autobahn verunglückt und mit dem Hubschrauber nach Berlin Marzahn geflogen worden war. „Maria und Abuelo haben dich die letzten sieben Tage täglich besucht, vermutlich ist dir das durch die Medikamente entgangen. Kevin und Paula rufen jeden Tag an. Sie lassen dich herzlich grüßen und wollen herkommen, sobald du die Intensivstation verlassen hast.“

Joker schüttelte mechanisch den Kopf. Für ihn war es verständlich, dass man einen unschönen Unfall aus dem Gedächtnis streichen wollte, aber sogar die Fahrt, ja Tage davor, waren wie ausgelöscht. Er grübelte, warum er keinerlei Erinnerung an dieses für ihn große Ereignis hatte. War ihr Auftritt derart in die Hose gegangen, dass er es verdrängte? Er versuchte herauszufinden, welcher Tag, welche Gelegenheit ihm im Gedächtnis geblieben war. Jene Wochen lagen merkwürdig verschwommen in einer Vergangenheit, die ihm fast fremd vorkam.

„Guapo!“ Lächelnd strich sie ihm über die Wange. „Mia und Selina fragen ständig nach dir. Du fehlst ihnen.“

Joker nickte. Wie sollte er in Zukunft mit seinen Schwestern verstecken spielen, wie sollte er mit ihnen herumtoben? Ihm fiel der geplante Urlaub ein. „Sieht wohl so aus, als müsstet ihr ohne mich nach Valencia fliegen.“

„Glaubst du ernsthaft, wir lassen dich allein? Die Flüge sind längst storniert. Wir holen das nach.“

Joker bemerkte, dass sämtliche Themen seines Lebens sich von nun an um Rollstuhl, um Kompromisse, um seine Querschnittslähmung drehen würden. Darauf hatte ihn niemand vorbereitet.

Das war nicht der Plan!

 

Einschnitt

Erst mit der Computertomografie sowie weiteren Untersuchungen und Tests vor allem mit den zahlreichen Verbandswechseln wurde Joker das Ausmaß seiner Verletzungen bewusst. Sein linker Oberarmknochen, das Schlüsselbein und die linken Unterschenkelknochen hatten die Ärzte mit Titanplatten zusammengeschraubt.

Wo die Lederkombi während des Unfalls ihre Schutzfunktion aufgegeben hatte, waren flächengroße, teilweise tiefe Wunden entstanden, womit sogar kleine Bewegungen in diesen Bereichen schmerzten. Es würde viel Zeit vergehen, bis seine Gesundheit halbwegs wiederhergestellt war. Sein gefühlloses „Untergestell“, die fehlenden Reflexe waren neben der anhaltenden Amnesie das Niederschmetternste für ihn. Mit den Überlegungen, wie sich seine Zukunft unter diesen Umständen gestalten würde, dachte er zum wohl hundertsten Mal darüber nach, wie sein Leben heute aussehen würde, wenn seine Familie damals in Spanien geblieben wäre. Früher hatte er geglaubt, dass diese unerklärliche Sehnsucht in ihm, diese Leere, mit der wunderschönen Stadt mit seiner uralten Kultur aber auch mit den futuristischen Gebäuden Valencias, wo er aufgewachsen war, zu tun hatte. Doch jeden Sommer, wenn sie für ein paar Wochen in ihre alte Heimat reisten, waren diese Empfindungen im Grunde nur noch schlimmer geworden.

Nur das Gefühl der Unbeschwertheit von Ferien, von Wiedersehensfreude hatte diesen Eindruck überschattet. Joker spürte, wie ihm die Tränen in den Augen standen. Valencia war unerreichbar für ihn – heute und morgen, vermutlich sogar die kommenden Monate. Überhaupt war im Augenblick an größere körperliche Betätigung gar nicht zu denken, sein linker Arm war ruhiggestellt, und doch sah er sich im Geiste schon gehen üben. Er wollte darum kämpfen, wieder der alte Joker zu werden, ein junger Mann, der Motorrad fuhr, Laufen ging, Wasserski fuhr und mit seinen Schwestern herumtollte. Den Rest seines Lebens im Rollstuhl zu verbringen, war für ihn keine Option. Obwohl er sich bemühte, positiv in die Zukunft zu sehen, wuchsen seine dunklen Gedanken mit jeder Stunde, die er ans Bett gefesselt über sein Gefühlsleben nachdachte.

Abwechslung folgte dann am Nachmittag des 27. Juli, als er endlich verlegt wurde.

„Herzlichen Glückwunsch“, lächelte der Pfleger am Fußende, der Jokers Krankenbett in den Fahrstuhl schob.

„Auch von mir alles Gute!“, schloss sich die Krankenschwester am Kopfende an.

„Danke!“ Joker dachte daran, wo er jetzt eigentlich sein wollte. Eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und Wut stieg in ihm auf.

„Ist vielleicht nicht die geilste Party hier, aber immerhin erlebst du deinen 19. Geburtstag“, sagte der Pfleger, als habe er Gedanken lesen können.

So gesehen, hatte er natürlich recht, doch war dies in diesem Moment, da Joker sich nach einer Feier, nach Geburtstagsgästen und Freunden, ja nach Lebendigkeit sehnte, wenig Trost.

Als sich die Fahrstuhltür öffnete und anschließend die Fahrt über den Flur ging, führte die Schwester eine Handbewegung aus, die offenbar ihrem Kollegen galt. Joker hielt es für unwichtig, denn ihn beschäftigte die Frage, ob er als Privatpatient ein Einzelzimmer oder ein Mehrbettzimmer bekam und würde seine Familie, seine Mamá ihn hier überhaupt finden? Woher sollten sie von seiner Verlegung erfahren?

„Tut mir leid, aber das Zimmer ist noch gar nicht fertig.“ Die Schwester schob sein Bett rechts an die Wand des Flures, die Infusionsflasche wackelte kurz.

„Warte hier und lauf ja nicht weg, in Ordnung?“, zwinkerte der Pfleger Joker zu, lief mit dieser Bemerkung am Bett vorbei und verschwand aus Jokers Blickfeld.

Hier auf dem Flur war es etwas luftiger, als in den stickigen Untersuchungsräumen, wo sich die seit Wochen anhaltende sommerliche Wärme aufgestaut hatte. Joker schlug das Laken, welches seinen Körper bedeckte, bis zum Bauchnabel zurück. Endlich waren die nervenden Elektroden des EKGs ab, die er die letzten Tage der Intensivstation auf der Brust zu kleben hatte. Besonders dankbar war er dafür, dass man ihn heute von dem störenden Krankenhaushemdchen befreit und dieses gegen ein Tank-Top von zu Hause getauscht hatte. Zumindest war ihm damit seine Kleidung vertraut.

Ungeduldig versuchte Joker, nach einer Weile einen Blick über das Kopfende des Bettes zu erhaschen. Das war jetzt fast zum Lachen! Während er sich Gedanken über die Ausstattung seines Krankenzimmers machte, gab es am Ende keinen Platz für ihn und er musste auf dem Flur ausharren. Mit dieser Überlegung kamen diese präsenten Empfindungen der Leere, dieser unerklärlichen Wut, die in seiner Kindheit für massive Gefühlsausbrüche gesorgt hatten, zurück. Sie schienen ihm gewaltiger, schmerzvoller als jemals zuvor. Wie an einem Ast über einem bodenlosen Schlund hängend, begannen seine Hände von ihrem Halt abzurutschen. Genau so fühlten sich die Emotionen an.

„Ich würde vorschlagen, du machst besser die Augen zu!“ Der Pfleger kehrte ans Bettende zurück.

„Wozu?“, fragte Joker zweifelnd.

Die Schwester beugte sich über seinen Kopf und mimte ein grimmiges Gesicht. „Nicht fragen! Augen zu!“

Auch wenn er darin keinen Sinn sah, gehorchte Joker. Es war ein seltsames Gefühl, da er spürte, wie das Bett zunächst den Flur hinuntergeschoben und schließlich nach rechts gedreht wurde.

„Schön zulassen!“, mahnte die Krankenschwester.

Der Klang der Schritte der Schwester sowie auch des Pflegers veränderten sich, hörte sich dumpfer an. Es ging offenbar noch mal ein Stück geradeaus, dann noch mal nach rechts. Das Bett ruckelte so, als wenn man es feststellen würde. Er meinte wahrzunehmende, dass das Pflegepersonal sich entfernte. Joker überlegte zu fragen, wann er seine Augen wieder aufmachen konnte, fand die Situation dann aber zu blöd und blinzelte.

Am Bettende präsentierte sich ein unerwarteter Anblick: Maria mit Selina auf dem Arm, daneben Mia, Abuelo und seine Mamá sangen, angestrahlt von der Nachmittagssonne, die streifenweise durch die heruntergelassene Jalousie drang, das spanisches Geburtstagslied, mit dem er aufgewachsen war.

Selina strahlte ihn an und winkte ihm zu, während sie in der anderen Hand ein Bündel Strippen hielt, an denen bunte Luftballons befestigt waren und auf denen in weißer Schrift „Felicitaciones“ gedruckt war.

Jokers Gefühlswelt stand Kopf. Eben noch war ihm nach einem Schrei der Traurigkeit, der Wut zumute und nun diese Überraschung. Er presste seine Lippen aufeinander, konnte jedoch seine Freudentränen kaum kontrollieren.

„Wir wünschen dir alles Gute, auf dass du bald nach Hause kommen kannst!“, endete Mamá, trat an seine linke Seite und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

„Alles Liebe für dich, mein Comodín!“ Maria drängte sich ebenfalls zu ihm vor, küsste ihn auf die rechte, auf die linke und nochmals auf die rechte Wange und entließ dabei Selina mit den Ballons aufs Bett, an seine Seite. „Schön vorsichtig sein, Selina“, mahnte sie die Siebenjährige auf Spanisch. Selina kniete sich zu ihm und musterte Jokers Rucksackverband, aber nur kurz. Die Luftballons, die sie ruckartig herunterzog, bereiteten ihr große Freude, wenn sie durch das Helium im Inneren der Ballons nach oben stiegen.

Mia kam von rechts auf ihn zu. „Herzlichen Glückwunsch!“, sagte sie und reckte sich, um ihr Gesicht sanft gegen seines zu drücken.

Neben seiner neunjährigen Schwester wartete sein Großvater: „Nicht, dass mein Enkel jetzt zur Heulsuse mutiert!“ Er wischte ihm mit dem Handrücken die Wange trocken. „Ich wünsche dir, dass du schnell auf die Beine kommst und wir deinen Ehrentag mit einer gebührenden Party nachfeiern können.“

„Mil Gracias …“ Jokers Stimme brach. Solche tiefbewegenden positiven Emotionen erlebte er zum ersten Mal und wusste daher kaum damit umzugehen.

„Warum weinst du denn?“, fragte Mia ihn mit ihren großen braunen Kulleraugen neugierig ansehend.

„Ich bin so glücklich, dass ihr alle hier seid.“ Sanft zog er Mia mit seiner Rechten zu sich heran, was ihm Schmerzen an den offenen, mit Schorf bedeckten Wunden am Unterarm verursachte. Doch in diesem Moment war Joker dankbar, mit einem Hochgefühl von dieser Pein abgelenkt zu werden.

„Können wir jetzt anfangen?“, wand sich Mia aus der Umarmung und drehte sich ungeduldig zu ihrem Großvater um.

Abuelo nickte lächelnd und wies dabei auf eine reich beladene Geburtstagstafel, die gegenüber vom Bett an der Wand hergerichtet war. Darüber hing eine „Felicitaciones“-, also eine „Herzlichen Glückwunsch“-Girlande. Die lange weiße Tischdecke verdeckte die drei Klapptische darunter, die Joker anhand der markanten Tischbeine wiedererkannte.

Mit einem stolzen Strahlen zeigte Mia auf einen mit buntem Zuckerwerk bedeckten Kuchen in Kastenform. „Den habe ich mit Abuelo für dich gebacken!“

Der Großvater, der Oliver hieß, von den meisten aber nur Olli genannt wurde, lachte: „Stimmt gar nicht! Ich habe nur ein paar Anweisungen gegeben.“

Tanzend erhoben sich die Ballons zur Zimmerdecke, als Selina vor Ungeduld auf ein Stück Kuchen vergaß, das Bündel weiterhin festzuhalten. Zielstrebig eilte sie zum Kuchenbuffet, wo sie mit ihren kleinen Händchen den geflochtenen Picknickkorb öffnete.

Um den reich verzierten Kastenkuchen reihten sich eine Marzipantorte, verschiedene Kleingebäcke mit Streuseln und Pudding. Vermutlich das Beste an allem war Marias berühmte spanische Orangentorte.

Mit einem Porzellanteller aus dem Korb hüpfte Selina vor dem Fußende des Bettes auf und ab: „Das Burtstagskind muss sich als Erstes was aussuchen.“ Wörter mit der Anfangssilbe „ge“ bereiteten ihr zuweilen Schwierigkeiten, besonders wenn sie aufgeregt war.

„Die Eltern haben beschlossen, dass wir erst essen dürfen, wenn du dir was ausgesucht hast“, ergänzte Mia.

Joker lachte, jedoch nur kurz, denn seine gebrochenen Rippen machten sich dabei schmerzlich bemerkbar. „Dann möchte ich von allem etwas“, antwortete er auf Spanisch, worauf sich seine Schwestern zur Tafel wandten.

Obwohl Joker seit elf Jahren in Deutschland lebte, war für ihn die spanische Sprache viel mehr seine Muttersprache als die deutsche. Zudem unterhielt sich seine Mamá mit Maria und den Schwestern meist nur auf Spanisch.

Neben der Kuchenauswahl entdeckte Joker einen Strauß langstieliger roter Rosen. Von der Anzahl könnten es wirklich neunzehn sein. Vor der Vase reihten sich einige Geschenke in blauem Geschenkpapier mit cremefarbenen Stoffschleifen, die zu seiner Lieblingsfarbe einen schönen Kontrast gaben. Nur für einen Moment dachte Joker daran, dass ihm die Freiheit genommen war, die Präsente oder den Kuchen selbst zu holen.

Selina kam mit einem reichlich befüllten Kuchenteller auf ihn zu, platzierte ihn so eilig aufs Bett, dass das Stück Torte umfiel und sich etliche Krümel auf das weiße Bettlaken verteilten. Gelassen, wie es Marias Art war, stellte sie das Tortenstück mithilfe der Kuchengabel auf und fegte mit der Hand das kleine Krümel-Malheur vom Laken.

Allein diese ansprechende Kuchenauswahl war ein Geschenk. Seine Familie hatte an alles gedacht: Es gab auch selbst gemachten Eistee, Kakao sowie Kaffee. Anschließend bekam Joker verschiedene Rätsel gestellt. Für jede Lösung brachte Mia oder Selina ihm ein Geschenk, welches er auspacken durfte. Sogar das war mit dem ruhiggestellten linken Arm schwierig. Das neue Smartphone, sein altes war bei dem Unfall zu Bruch gegangen, bedeutete für ihn hier im Krankenhaus endlich wieder Kontakt zu seinen Freunden herstellen zu können und war das emotional kostbarste Geschenk von allen, abgesehen natürlich von dem Überraschungsbesuch seiner ganzen Familie natürlich.

 

„… aber jetzt verstehst du auch, warum wir hier feiern mussten. – Natürlich hat er sich gefreut!“, drangen die leisen Worte seines Großvaters in sein Bewusstsein.

Joker überlegte, ob er diese Geburtstagsüberraschung geträumt hatte. Da er die piependen und ploppenden Geräusche der Intensivstation vermisste, musste er sich überzeugen, wo er sich tatsächlich befand. Joker blinzelte. Sein erster Blick fiel auf die bunten Ballons, die noch immer an der Zimmerdecke hingen, vielmehr tanzen sie durch den Luftzug des offenstehenden Fensters an der Decke entlang.

„Da haben dich also unsere Rätsel derart gelangweilt, ja?“ Im Augenwinkel meinte Joker zu erkennen, wie sein Großvater gerade das Handy wegsteckte.

Joker drehte seinen Kopf, um ihn anzuschauen. „Tschuldigung!“, hörte er sich nuscheln.

„Dafür musst du dich nicht entschuldigen“, lachte sein Großvater. „Dein Aufenthalt hier im Krankenhaus hat ja schließlich seinen Grund. Maria ist mit deinen Schwestern auf dem Spielplatz und deine Mutter regelt ein paar Dinge.“

Joker richtete sich so gut er konnte auf und ließ seinen Blick durch das Zimmer streifen. Das Kuchenbuffet hatte sich reichlich gelichtet, die Geschenke waren bis auf drei ausgepackt.

„Wir hatten gehofft, dich heute wenigsten für ein paar Stunden entführen zu dürfen, aber das war aus medizinischer Sicht indiskutabel und wie mir scheint durchaus berechtigt.“ Er lächelte warmherzig. „Du brauchst eben noch sehr viel Ruhe, die du deinem Körper auch unbedingt zugestehen solltest.“

„Danke, dass ihr das hier alles für mich gemacht habt.“ Er fühlte sich glücklich, eine solch tolle Familie zu haben, obgleich er auch ein wenig erschrocken über sich war, weil er ungewollt eingeschlafen war. „Abuelo?“

„Ja?“ Erwartungsvoll sah ihn sein Großvater an.

„Kannst du mir helfen? Ich würde so gern mal duschen.“

„Das glaube ich dir gern, aber das ist im Augenblick mit den offenen Wunden unmöglich. Die Schwestern waschen dich doch, oder?“ Er nahm Jokers Hand.

„Bei der Wärme mal richtig duschen ist doch was ganz anderes. – Wenn das die Gewitterhexe macht, ist das in Ordnung, aber bei den jungen Schwestern frage ich mich dann immer, ob sich, da unten bei mir was regt. Ich würde es vermutlich nicht merken und das ist so ein scheiß Gefühl!“

Der Großvater zwinkerte ihm zu: „Verstehe, aber die Schwestern haben da ganz andere Patienten, glaub mir, und selbst wenn du eine Erektion bekommst, darum musst du dir keine Gedanken machen.“ Er löste den Griff.

„Mach ich aber, das wäre mir sehr unangenehm!“

„Aber Joker! Das ist ein ganz natürlicher Nervenimpuls des Parasympathikus.“ Er klopfte ihm sacht auf den Handrücken.

Als praktizierender Gynäkologe war Abuelo der ungeeignetste Gesprächspartner zu diesem Thema, den er sich vorstellen konnte. Allein schon diese vielen lateinischen Begriffe, die Joker zwar inzwischen zum größten Teil kannte, lagen jenseits einer normalen Unterhaltung. Davon aber abgesehen, war sein Großvater schwer in Ordnung und hatte für seine Enkelkinder stets ein offenes Ohr.

Kurz darauf kehrte seine Familie zum weiteren Geschenke auspacken, an sein Krankenbett zurück, um sich dann aber bald zu verabschieden. Joker bemerkte, wie mächtig ihn diese kleine Feier angestrengt hatte. Kaum dass die Zimmertür von außen geschlossen wurde, fielen ihm die Augen erneut zu.

 

Am nächsten Vormittag erhielt Joker seine erste Physiotherapie. Die Bewegungsübungen für seine Beine erschienen ihm durch die Gefühllosigkeit lächerlich, die für seine Schulter waren dagegen sehr schmerzhaft. Aufgrund einer wunden Stelle an der Achselhöhle, die infolge des Rucksackverbandes entstanden war, ließ die Therapeutin den kompakten Verband ab, was sich für Joker nach einem enormen Fortschritt anfühlte. Vermutlich herrschten hier in den Räumen um die 37 Grad Celsius. Ein ersehnter Luftzug entstand nur, solange die Tür zum Flur sowie das Fenster offenstanden.

Wehmütig dachte er an zu Hause, an die Villa seiner Eltern. Sie lag am Scharmützelsee und der beschauliche Ort Bad Saarow vermittelte eine friedliche, ja entspannende Atmosphäre, wie man es von Seebädern an der Ostsee her kennt. Obwohl das Grundstück über einen direkten Wasserzugang mit eigenem Bade- und Bootssteg verfügte, traf sich Joker in den Ferien häufig mit seinen Freunden im Strandbad, wo sie Gäste aus ganz Deutschland kennenlernten. Sehnsüchtig sah Joker nach draußen, malte in seiner Vorstellung den Ausblick auf den See aus, den er von seinem geräumigen Zimmer aus hatte. In diesem Moment hätte er wirklich alles dafür gegeben nach Hause zu dürfen. Um sich abzulenken, begann er mit dem Einrichten seines neuen Handys.

Kaum, dass er sein Google-Konto mit dem Handy verknüpft sowie WhatsApp installiert hatte, nahm er Kontakt zu seiner Band auf. Paula schrieb ihm als Erste aus der Band-Gruppe: „Cool, dass du von der Intensiv runter bist. Endlich können wir dich besuchen. Ach und Allet Jute und so.“ Joker antwortete mit einem „Danke“. Dann schicke Paula ihm kommentarlos einen Podcast.

Neugierig klickte Joker auf den Playbutton und lauschte offenbar einem Ausschnitt einer Radiosendung. „… der durch das Melt! Festival bekanntgewordene Bandleader der Gruppe „Buscando“ verunglückte am 15. Juli bei einem Verkehrsunfall. Mit ihrem Erfolgssong „El laberinto“ wünscht ihm seine Band alles Gute zu seinem heutigen Geburtstag und wir von Radio STAR FM schließen uns natürlich an. Gute Besserung Joker!“ Diese Worte der Anerkennung, die Geste seiner Band, zauberten Joker ein breites Lächeln ins Gesicht.

Als er durch die dann folgenden Nachrichten von Paula von dem grandiosen Erfolg beim Festival, von den zahlreichen Zugriffen auf ihr hochgeladenes Video und damit verbundenen Anfragen nach weiteren Auftritten erfuhr, war ihm nach einem Freudenschrei zumute. In den ersten Momenten war er überglücklich, doch mit jedem Gedanken an seine Band, an vergangene Events, wuchsen seine Zukunftsängste. Würde er jemals wieder öffentlich Musik machen wollen, wenn er dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen sein sollte?

Obwohl Paulas charakteristische Objektivität immer ansteckend war, ließen sich seine negativen Überlegungen nur schwer in den Hintergrund drängen. Während draußen die Sonne schien, das schönste Sommerwetter war, musste er hier im Bett ausharren. Das war für ihn als Kind des Sommers! kaum zu ertragen und er meinte, jeden Augenblick würde er durchdrehen.

Erst nach einer Weile hielt er inne, als ihm etwas auffiel. Um sich zu vergewissern, hörte er sich erneut die Aufnahme des Radiosenders an. Sein Unfall war erst am 15. Juli passiert!? „Verdammt!“, platze es aus ihm heraus.

Von den jüngsten zwölf Tagen abgesehen, die er hier im Krankenhaus zum Teil unter starken Medikamenten verbracht hatte, lagen seine letzten Erinnerungen irgendwo um den 17. Juni herum. Wie konnte das sein? Wieso fehlten ihm fast vier Wochen? Unweigerlich musste er an seine Facharbeit vom vergangenen Schuljahr denken, zu der er sich intensiv zum Thema Gehirnwäsche, speziell zum Projekt MK Ultra, dem geheimen Forschungsprogramm der CIA zur Bewusstseinskontrolle, auseinandergesetzt hatte. Diese Überlegung, man könnte ihn umprogrammiert haben, war natürlich total abwegig, oder etwa nicht? Welchen Grund sollte es dafür geben? Auch nur der Ansatz seiner Gedanken war lächerlich und doch begann seine Fantasie sich die absurdesten Möglichkeiten auszumalen, zumal er sich hier als Patient hilflos ausgeliefert sah.

„Dann wollen wir mal, Herr Jokeretz“, unterbrach eine junge Schwester in diesem Moment seine lebhaften Vorstellungen. Ihr folgte ein unbekannter athletischer Pfleger, der Joker einen Rollstuhl ans Bett schob.

„Was wollen wir denn?“, betonte Joker die deplatzierte Anrede.

„Professor Meier hat den Wunsch ihres Vaters genehmigt: Sie dürfen duschen!“, half die Schwester ihn beim Aufsetzten.

„Echt jetzt?“, vergewisserte Joker sich. Er war überrascht, dass Abuelo offenbar seine Bitte von gestern sehr ernst genommen und an die Mediziner hier weitergeleitet hatte.

„Ja echt!“, äffte der Pfleger hörbar genervt und unterstütze Joker beim Umsetzten in den Rollstuhl.

Joker konnte sein Glück kaum fassen! Endlich ein Lichtblick. „Mein Großvater wird sich geschmeichelt fühlen, dass Sie ihn für meinen Vater halten“, grinste er, die Schwester an.

 

Auch wenn der Vorgang des Duschens ein wenig anders ablief, als Joker es gewohnt war, schließlich musste er im Sitzen geduscht werden, war dieses saubere Gefühl unbeschreiblich wohltuend. Jetzt konnte er den Spruch, wie neu geboren, mit jeder Körperzelle nachvollziehen. Obendrein war der anfangs grummelnde Krankenpfleger im Grunde sehr nett und Joker war dankbar, dass ein Mann die Körperpflege übernommen hatte und ihm damit mögliche Peinlichkeiten erspart geblieben waren.

Auf dem Rückweg zu seinem Krankenzimmer musste der Pfleger Jokers Rollstuhl unerwartet zum Stehen bringen, als eine junge Frau ihnen vor die Füße sprang: „Du – du bist doch Joker! – von „Buscando“! Oh wie cool ist das denn!“ Bevor Joker die Situation realisierte, beugte sie sich zu ihm hinunter, schmiegte ihre Wange gegen seine und machte ein Selfie. „Wie geil!“, sagte sie noch, als sie sich das Bild auf dem Display anschaute. Ohne eine weitere Reaktion verschwand sie zu den Fahrstühlen.

Hoffentlich bin ich halbwegs gut getroffen, schoss es Joker durch den Kopf. Wie gut, dass ich zumindest frisch geduscht bin. Ob er blöd mit seinen nassen Haaren aussah? Das Foto würde schon nicht gleich auf Intergram mit fünfhundert Followern landen, hoffte er.

 

„Hey!“, drang eine vertraute Stimme in sein Bewusstsein. Blinzelnd öffnete Joker die Augen und erkannte Paula mit ihrem Cap neben sich. Hastig versuchte er sich aufzusetzen.

„Keine Panik! Bin ja gerad’ erst gekommen!“ Sie beugte sich zu ihm, gab ihm auf beide Wangen einen Kuss, so wie sie ihre Freunde stets begrüßte. „Siehst gut aus!“

„Findste?“, zweifelte Joker. Mal wieder war ihm entgangen, wann er eingeschlafen war. Es muss nach dem Mittagessen passiert sein.

Paula grinste. „Na jetzt siehste verpennt aus. Ich mein ja auch das Foto von heute Vormittag von Melisande Promijäger.“

„Melisande? – Wer ist das denn?“

Paula schaltete ihr Handy an und rief eine bestimmte Seite auf, die sie Joker zum Anschauen vors Gesicht hielt. „Die mit den dreitausendfünfhundert Followern.“

„Mierda!“, kam Joker das spanische Schimpfwort über die Lippen. Tatsächlich hatte Melisande dreitausendfünfhundertsiebenunddreißig Abonnenten. „Fack! Die sprang uns förmlich vor die Füße, hat ihr Selfie gemacht und bevor ich überhaupt kapiert hatte, was los ist, war sie auch schon wieder weg. Das war sehr merkwürdig!“

„Mach dir keinen Kopf, das ist gute Promotion!“

Joker schüttelte den Kopf. „Und wenn ich das gar nicht will?“

Paula lachte. „Wir sind genau da, wo viele Bands gern wären und du willst mir erzählen, dass es dir missfällt?“

„Nein – aber im Moment – das …“

„Scht!“ Paula legte ihre Hände auf seine Wangen, beugte sich zu ihm hinunter, bis ihr Gesicht ganz nah bei seinem war. Eine Geste, die für Paula untypisch war. „Wir – ich hatte eine scheiß Angst um dich.“ Ihr Blick war so intensiv. Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, doch stattdessen berührten ihre Lippen zart seinen Mund. „Nie wieder möchte ich für dich einen Rettungswagen rufen müssen! Nie wieder! Ist das klar?“

Drehte sich das Zimmer oder nur sein Bett? Wie ernst war dieser Kuss gemeint? Joker wusste kaum noch seinen Namen, so konsterniert war er. Paula kannte er jetzt seit sieben Jahren. Sie gab sich gern cool und zeigte meist wenig Emotionen in der Gruppe. Mit ihm allein sah das jedoch anders aus, aber empfand sie ehrliche Zuneigung zu ihm oder war das nur aus dem Affekt heraus?

„Joker, – ich muss dir was sagen. Das hätte ich schon längst machen sollen und neulich, – also durch den Unfall, da …“ Paula stockte und stellte sich schnell neben sein Bett, als die Zimmertür nach einem kurzen Klopfen aufging.

„Holah!“ Kevin kam herein und sah zu Joker, dann zu Paula.

„Hola!“, antwortet Joker. Er hatte es aufgegeben, Kevin zu korrigieren, denn jedes Mal betonte der Gitarrist das Wort falsch.

„Das tut so verdammt gut, dich zu sehen!“ Er wandte sich an Paula. „Hätte dich doch mitnehmen können!“

„Kein Ding! Bin schon seit heute früh unterwegs!“ Paula klang fremd. Ärgerte sie sich über irgendetwas?

„Wie fühlst du dich?“ Kevin sah Joker an.

„Ich schätze, ich kann dankbar sein, dass ihr so schnell reagiert habt.“ Joker sah von Kevin zu Paula. „Danke!“

„Das wollte ich aber gar nicht wissen.“ Kevin hob eine geballte Faust. „Verdammt hab’ ich mich scheiße gefühlt! Wir haben das Drama ja kommen sehen und konnten es dennoch nicht verhindern.“

Lediglich von den Erzählungen seiner Mutter wusste Joker, welche Umstände zu dem Unfall geführt hatten. Die Schuldfrage zu klären, machte weder den Unfall rückgängig, noch half es Joker, seine Gesundheit, vor allem seine Gehfähigkeit zurückzuerlangen.

 

In Stralsund

Mit einem zufriedenen Lächeln, die Klausuren in Digitaltechnik so mühelos bewältigt zu haben, durchquerte er nach seinem Mittagessen die sich zunehmend füllende Mensa der Universität Stralsund. Die meisten seiner älteren Kommilitonen zerbrachen sich wahrscheinlich an diesem Donnerstag noch den Kopf über die Aufgabenstellungen. Wie gut, dass er die vergangenen Tage den Stoff zu den abgefragten Themen intensiv studiert hatte, denn damit hatte er lückenlos sein Wissen abrufen können.

Nach seiner teils traumatischen Kindheit war dieses Studium hier für ihn von ganz besonderer Bedeutung, endlich das lernen zu können, was ihn interessierte, vor allem zeigen zu können, was in ihm steckte.

Inzwischen erreichte er den Parkplatz der Hochschule und dachte dabei an sein Vorhaben, morgen nach der bevorstehenden Klausur über das Wochenende nach Hause, nach Wismar zu Jana, Kyle und seinen Schwestern zu fahren.

Er wollte gerade den Zündschlüssel ins Motorrad stecken, als er eine vertraute Männerstimme neben sich hörte.

„Hallo Milan! Heiliger Schwede! Du bist richtig erwachsen geworden!“

Milan schaute auf, in Herrn Wolffs reifes Gesicht und nickte ihm zur Begrüßung zu. Seit der letzten Begegnung vor zwei Jahren hatte der Beamte eindeutig noch mehr Falten auf der Stirn bekommen und sein Haar wirkte noch grauer. Es schimmerte nun durchgehend Silber.

„Ich benötige mal wieder deine Hilfe, diesmal jedoch auf einer anderen Ebene. Bitte steig ein.“ Wolff hielt ihm die hintere Beifahrertür der schwarzen Limousine auf.

Wenn Wolff von der Kripo Brandenburg hier auftauche, gab es eine wichtige Aufgabe für Milan. Deshalb zögerte er keinen Augenblick, sein Motorrad abzuschließen, um sich zu Wolff auf die Rückbank zu setzen. Innerlich hoffte er innig, am Nachmittag zu seiner bedeutenden Verabredung fertig zu sein.

„Wie ich erfahren habe“, begann Wolff das Gespräch, nachdem der Fahrer vorn den Wagen gestartet hatte, „wirst du deine Masterarbeit für eine Firma aus Berlin schreiben.“

Milan, holte zur akustischen Verständigung, sein Smartphone hervor und gab seinen Text, in die Vorlese-App ein. „Gut informiert! Es ist aber eine Münchner Firma für medizinische Informatik, mit einer Zweigstelle in Berlin.“ Es gab nur wenige in seinem Umfeld, mit denen er sich als Stummer, über Gebärdensprache unterhalten konnte.

„Da hat wohl einer seiner Hausaufgaben nur halbherzig gemacht!“ Wolff lächelte. „Deine Eltern haben gut daran getan, dich damals auf die Schule für Hochbegabte zu schicken. Apropos – Wie geht es deiner Familie?“

Milan tippte seine Antwort in die App ein. „Ich bin ja selten zu Hause, aber ich denke ganz gut.“

„Wie alt sind deine Schwestern jetzt?“, erkundigte sich Wolff.

„Milina ist acht und Malou wird bald sechs“, gab die Vorlese-App monoton wieder.

„Und wie gehts es Herrn Rieck?“

Über das Smartphone gab Milan, darauf bedacht die richtigen Worte zu finden, den Text ein: „Soweit ich das beurteilen kann, kommt er zurzeit ganz gut klar.“

Er erinnerte sich an die ersten Monate nach Kyles gefährlichen Undercovereinsatz. Vermutlich hatte der Umzug nach Wismar, die damit verbundenen Veränderungen und Aufregungen, vor allem aber die Geburt seiner ersten Tochter, Kyle von seiner seelischen Qual abgelenkt. Umso dramatischer stürzte er dann ohne Vorwarnung in eine schwere Depression. Wie schlecht es ihm aber tatsächlich ging, wurde Jana erst durch seinen Suizidversuch deutlich, den sie im letzten Augenblick noch hatte verhindern können. Ein mehrwöchiger Krankenausaufenthalt mit intensiver psychologischer sowie psychiatrischer Betreuung folgte, die mehrfach mit bewegenden Rückschlägen die Familie zu zerreißen drohte. Erst nach zwei Jahren schien Kyle sein Gleichgewicht langsam zurückzugewinnen. Aber bis heute wussten weder Jana noch Milan selbst, was Kyle während seines Einsatzes hatte erdulden müssen und warum man ihn beinah zu Tode gefoltert hatte. Janas Liebe sowie ihr Verständnis hatte auch Milan geholfen, seinen Platz im Leben zu finden und für seine Schwestern ein vorbildlich großer Bruder zu sein. Milan war sich sicher, solange Kyle an der Seite seiner geliebten Jana blieb, würde alles gut werden.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fahrt bog die Limousine in der Barther Straße auf den Hof des Kriminalkommissariats Stralsund ab. Ungewöhnlich war, dass Wolff so gar nichts von seiner bevorstehenden Aufgabe verriet und überhaupt verdächtig schweigsam war. Erst als Wolff ihn in einen Verhörraum begleitete, bekam Milan eine Ahnung, was die Andeutung, Wolff benötige seine Hilfe, ‚diesmal auf anderer Ebene‘ bedeuten könnte.

„Was wird das hier?“, gab Milan seinen Text in die App ein.

Ein Polizist übergab Wolff im Vorbeigehen eine Akte, bevor der Kriminalbeamte die Tür hinter sich schloss und Milan bat, am Tisch Platz zu nehmen.

„Wann warst du das letzte Mal in Berlin?“, deute Wolff auf den gegenüberliegenden Stuhl, neben dem Milan zögernd stehen blieb.

„Was wird mir vorgeworfen?“, ließ Milan vorlesen. Er spürte Wut und Enttäuschung in sich hochkochen. Er hatte Wolff mehrmals mit seinem Computerwissen einen Gefallen erweisen können und das war der Dank dafür?

„Milan!“ Wolff versuchte abermals, ihn mit einer unmissverständlichen Geste zum Hinsetzen zu überreden. „Ich versuche nur, eine Angelegenheit aus der Welt zu räumen, von der ich glaube, dass du ganz schnell zur Aufklärung beitragen kannst.“

Milan sank schicksalsergeben auf den harten Holzstuhl.

„Also noch mal: Wann warst du das letzte Mal in Berlin?“

„Mitte Juni, als ich ein paar Tage bei Sergej war, um mich unter anderem für meine Masterarbeit zu bewerben“, gab die elektronische Stimme emotionslos wieder.

„Gut!“ Wolff nahm einen tiefen Atemzug. „Kannst du mir sagen, was du am 23. Juni gegen Abend unternommen hast?“

Milan nickte und tippte seinen Text ein. „Das ist Sergejs Geburtstag. Er hatte mich und seine Freundin Vanessa zum Essen eingeladen, vorher haben wir eine Dampferfahrt gemacht.“

„Und wo?“, fragte Wolff weiter.

„Südlich von Berlin am Scharmützelsee!“

Mit dem letzten Wort erschlafften Wolffs Gesichtsmuskeln. „Ich wünschte, du wärst woanders gewesen, Milan!“

Milan spürte, wie er seine Stirn in Falten legte.

Zum Verständnis holte Wolff ein Blatt Papier aus der Akte und schob es über den Tisch. „Dir muss ich das ja wohl nicht erklären.“

Milan studierte kurz den Laborbericht, gab den Text ein, den die App wiedergab. „Ein DNS-Vergleich?“ Er entdeckte den Namen der Person, mit der die Gewebeprobe verglichen worden war und schluckte die Erkenntnis hinunter, bevor er erneut den Text eingab. „Das ist meine DNS!?“

Wolff seufzte tief. „Die wir an einem Tatort gefunden haben.“

Tatort? Wiederholte Milan in Gedanken. Wurde er etwa des Mordes beschuldigt? Hatte er sich mit seinen unüberlegten Antworten gerade einen Strick um den Hals gelegt?

Wolff beugte sich über den Tisch und sprach jetzt sehr leise. „Milan? Wenn du Zeuge dieser grausamen Tat warst, bist du in großer Lebensgefahr. Es ist ganz wichtig, dass du ehrlich bist!“

Milan hatte das Gefühl, dass die Schlinge um seinen Hals zunehmend enger wurde. „Was werfen Sie mir vor?“

„Wir kennen uns beide zu lange …“

Unerwartet eilte ein Beamter in den Raum und tuschelte Wolff etwas ins Ohr.

„Geben Sie mir zehn Minuten!“, flüsterte Wolff für Milan hörbar zurück.

Der Kollege zögerte, nickte dann aber und verließ mit einem flüchtig zweifelnden Blick zu Milan den Verhörraum.

„Also gut! Karten auf den Tisch, Milan! Auch wenn du in deinem Alter nichts mehr befürchten musst, die Angelegenheit mit dem Zeugenschutz kann ich jederzeit rückgängig machen.“

Dieser Arsch!, schoss es Milan durch den Kopf. Doch das war die Angelegenheit, die er längst schon mal geklärt haben wollte. „Den Preis, den Kyle dafür zahlen musste, war viel zu hoch! Das war es nicht wert!“

„Darum geht es hier nicht, Milan!“

Auch wenn Wolff geschickt auswich, vermutete Milan, dass Kyles Untercovereinsatz seinerzeit mit einer Abmachung verknüpft war, die Milan seine neue Identität verschafft hatte, nur hatte Kyle das stets dementiert.

„Dass du am Tatort warst, beweist der DNS-Vergleich und …“ Wolff machte eine winkende Handbewegung, die offenbar hinter der verspiegelten Scheibe, Beachtung fand. Nur einen kleinen Augenblick später brachte eine Beamtin eine alte Holztruhe mit Metallbeschlägen herein und stellte sie vor Wolff auf den Tisch, um dann wieder zu gehen.

„Na? Kommt sie dir bekannt vor?“

Als kleiner Junge hatte Milan genau von einer solchen Truhe, ein wenig größer als ein Brotkasten, geträumt. Verblüfft bestaunte er sie von seinem Platz aus.

„Ich wusste gar nicht, dass du so viel für Musik übrighast“, begann Wolff, ein paar Gegenstände herausholend, Dinge, die zum Teil eine wichtige Rolle in Milans Kindheit gespielt hatten. Unter anderem ein Spielzeug-Krankenwagen, zwei Figuren von Wolverine und Iron Man, seinerzeit Milans Lieblingshelden, sowie einige Notenhefte, die ihm jedoch unbekannt waren. Bis auf die Hefte war es, als würde seine Kinderzeit in Form von Erinnerungstücken vor ihm liegen.

„Ich sehe, du erkennst die Dinge wieder!“, behauptete Wolff.

Milan schüttelte den Kopf und gab seinen Text in die Vorlese-App ein. „Was soll das hier? Das sind nicht meine Sachen!“ Ein wenig unheimlich war das schon. Seine Mutter hatte ihm die Spielfiguren damals zu seinem 4. Geburtstag geschenkt und er, dieser Kerl, der einer Anrede unwürdig war, hatte sie achtlos weggeworfen. Das hatte Milan mehr geschmerzt als die körperliche Misshandlung, die er hatte über sich ergehen lassen müssen.

„Meine Position in der Kripo habe ich unter anderem meiner Beobachtungsgabe zu verdanken. Du kennst diese Gegenstände, das war unübersehbar, obendrein, findet sich überall deine DNS.“

Das konnte hier nur ein übler Scherz sein.

„Wenn wir die Spuren zu dir zurückverfolgen können, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Täter bei dir aufkreuzen.“

„Ich mache von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und verlange einen Anwalt!“, wusste Milan sich an dieser Stelle per App aus der Affäre zu ziehen.

Wolff donnerte seine Faust auf den Tisch, sodass Milan zusammenfuhr: „Du bist in großer Gefahr! Kapier das doch, Junge!“ Wolff schien sich zu beruhigen. „Ich kann dich nur schützen, wenn du ehrlich zu mir bist, Milan! Ich vermute mal, dass du das alte Munitionslager als Versteck benutzt hast. Vielleicht warst du zufällig dort, hast dieser abscheulichen Hinrichtung beigewohnt und nun hast du Angst, jemand davon zu erzählen.“

Milan antwortete mit einem Kopfschütteln.

„Hast du die Männer gesehen? Kannst du sie identifizieren?“

Erneut schüttelte Milan den Kopf. Er war enttäuscht, dass Wolff, dem er bisher hatte vertrauen können, ihn unter falschen Voraussetzungen hierhergelockt hatte.

„Ich habe keinen Mord beobachtet!“, ließ Milan die App seine Worte vorlesen. Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. „Haben Sie meine Fingerabdrücke am Tatort gefunden?“

Mit dieser Frage wirkte Wolff unruhig. „Ich verstehe schon, du versuchst Zeit zu schinden!“ Er erhob sich und lief einige Mal hin und her, während er zu überlegen schien. „Dass du dort warst, ist ja wohl kaum abzustreiten! Was hast du zu verbergen, Milan?“

„Sie haben gar keine Fingerabdrücke!“, schloss Milan daraus. „Dann sind wir hier fertig!“ Er stand ebenfalls auf, um auf die Tür zu zugehen.

„Milan!“, warf Wolff ihm wütend nach.

Milan öffnete, entschlossen zu gehen, die Tür zum Flur.

„Beweise deine Behauptung!“, empfing ihn der Beamter von eben mit einem Fingerabdruckscanner an der Tür.

Milan zögerte. Er war sich unsicher, ob er auf seinen rechtlichen Beistand bestehen, oder kooperieren sollte. Wenn schon seine DNS am Tatort zu finden war, dann lag es nahe, dass ihn jemand reinlegen oder zumindest ihm etwas anhängen wollte und auch seine Fingerabdrücke dort benutzt hatte. Nur wer und wieso?

„Wolff hält große Stücke auf dich!“, bekräftigte der Kriminalbeamte mit dem Blick auf das Gerät.

Scheiß ich drauf!, dachte Milan. Obwohl sein Verstand dagegen arbeitete, folgte er einer inneren Stimme und legte seinen Zeigefinger auf den Scanner. Du bist so ein Idiot!, schoss ihm dabei durch den Kopf.

„Bitte warte hier!“ Mit diesen Worten ging der Beamte nach dem Scann mit dem Equipment den Flur hinunter und verschwand hinter einer der vielen Türen.

„Was auch immer passiert ist, womit man dich bedroht, ich kann dir helfen, Milan. Vertraue mir doch!“ Wolff trat hinter ihn.

Nach der hinterlistigen Nummer dem Kerl vertrauen? Milan seufzte tief und gab seinen Text in die App ein. „Ich war in Bad Saarow die ganze Zeit über mit Sergej und Vanessa zusammen, fragen Sie ihn. Und nein, diese Truhe gehört mir nicht.“

„Aber du hast die Gegenstände wiedererkannt!“ Wolff sah ihm intensiv in die Augen, als könne er Gedanken lesen.

„Diese Spielfiguren hatten eine Million andere Kinder, man konnte sie überall kaufen, wenn sie damit etwas beweisen wollen, wäre das ziemlich dünn!“

„Von deiner DNS abgesehen, haben wir darüber hinaus noch den Handschriftenvergleich.“

Handschriftenvergleich, wiederholte Milan in seinen Überlegungen.

„Ein Gutachter hat das“, Wolff hielt ihm die Hefte entgegen, „mit Schriftproben aus deiner Schultasche von damals verglichen. Es gibt eine fünfundneunzig prozentige Übereinstimmung. Vom Schreibstil her müsste das in etwa zur gleichen Zeit entstanden sein.“

Milan schluckte. Er hatte es verdrängt, dass er seine Schulsachen seinerzeit im Wald verteilt hatte. Auch seine DNS war dadurch in der Datenbank.

Darf ich?, deute er in Zeichensprache zu Wolff, der ihn aber nur fragend anschaute. So gab Milan die Worte in die App ein.

„Ach so – ja – natürlich“, stotterte Wolff und reichte Milan die Notenhefte.

Gespannt nahm sie Milan in die Hand. Bereits beim Durchblättern musste er zugeben, dass es wie seine eigene Handschrift aussah – nur hatte er Derartiges niemals geschrieben und in Bad Saarow war er in diesem Jahr das erste Mal gewesen. Obendrein hatte er erst auf dem Gymnasium Reutershagen angefangen, sich für Musik zu interessieren, als er das Tanzen für sich entdeckte. „Das sind aber nicht meine Aufzeichnungen!“, ließ Milan dann die App vorlesen.

„Tatsächlich?“, fragte Wolff schnippisch, nahm Milan das unterste Heft aus der Hand, schlug die letzte Seite auf, um ihm diese vor das Gesicht zu halten.

In der rechten unteren Ecke stand „J–27-07-2007“.

„Das J steht für Jansen dazu dein Geburtstag! Das spricht gegen deine Behauptungen.“

Milan schüttelte den Kopf; erst langsam, dann energisch. Er wusste ganz genau, dass er diese Hefte noch nie gesehen, geschweige denn beschrieben hatte.

„Warte kurz“, Wolff ging an Milan vorbei, den Flur hinunter.

Milan beobachtete ihn, wie er sich mit dem Beamten von eben unterhielt. Vermutlich stimmten die Fingerabdrücke überein und gleich würden die Handschellen um seine Handgelenke knacken. Milan ärgerte sich über sein Verhalten. Er hätte besser auf einen Anwalt bestehen und kein Wort sagen sollen. Das erste Mal wünschte er sich Sergej an seine Seite.

Nun kam Wolff wieder auf Milan zu. „Bitte!“, zeigte er in den Verhörraum. „Langsam wird die Sache kompliziert!“ Er warf die Notenhefte auf den Tisch, so wie es Milan von einem bestimmten Lehrer aus der Schulzeit kannte, wenn eine Arbeit unzufrieden ausgefallen war.

Eine merkwürdig schwammige Empfindung in seinem Magen machte Milan zu schaffen. Zum Glück war es mit diesem furchtbaren Gefühl von Sonntagnachmittag nicht vergleichbar. Aus heiterem Himmel war ihm heftig schlecht und schwindelig geworden. Sein Körper hatte sich angefühlt, als wäre er explodiert. Sogar unter Atemnot hatte er gelitten. Etwas Derartiges hatte er noch nie wahrgenommen, vor allem nicht scheinbar grundlos. Was sollte er von Wolffs Bemerkung halten? Schicksalsergeben folgte er Wolff in den Raum und setzte sich.

„Entgegen aller Erwartung gibt es in Bezug auf deine Fingerabdrücke keine Übereinstimmung.“

Milan benötigte einen Augenblick, bis er die Worte realisierte. „Dann kann ich gehen?“

„Wenn du mir erklären könntest, wie deine DNS auf die Leiche gekommen ist.“

Sie war auf der Leiche?, schoss es Milan durch den Kopf. Nach einem Schreckensmoment gab er seinen Text in die Vorlese-App ein. „Ich war nicht am Tatort! Fragen Sie Sergej!“

Wolf zeigte auf die Truhe. „Das stammt aber eindeutig aus der Zeit, bevor du wusstest, dass Sergej dein leiblicher Vater ist! Diese Gegenstände sind der Beweis dafür, dass du zumindest früher mal in diesem Munitionslager gewesen sein musst.“

Milan schüttelte abermals den Kopf. Selbst Wolff müsste doch auffallen, dass diese Angelegenheit irgendwie gestellt war. „Da bin ich nie gewesen!“, gab die App monoton wieder.

„Für einen jungen Mann mit deiner außergewöhnlichen Intelligenz müsste dir doch klar sein, wie zweifelhaft deine Behauptung ist.“

Strategisch gab Milan seinen Text zum Vorlesen ein: „Ich erkenne keine Verbindung zwischen Wahrheit und Intellekt. Was ich aber sehe, ist, dass diese ganze Sache hier nach einer Verschwörung aussieht.“

Wolff sah ihn prüfend an. „Du hast da jemand bestimmtes im Verdacht?“

Milan verneinte mit einer Kopfbewegung.

„Ich möchte dir ja gern glauben, Milan, aber …“ Wolff drehte sich um, als ein großer Mann mittleren Alters den Verhörraum betrat und ihn unterbrach.

„Wir machen jetzt weiter!“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„Bitte, nur noch …“, setzte Wolff zum Protest an.

„Sie hatten Ihre Zeit!“ Demonstrativ stellte er sich neben Wolff und deutete kurz mit dem Kopf zur Tür.

„Tut mir leid, Milan!“, seufzte Wolff und suchte erkennbar nach einem Ausweg, räumte dann aber letztlich das Feld.