Judas - Amos Oz - E-Book

Judas E-Book

Amos Oz

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Beschreibung

Im Winter 1959 kommt der junge Schmuel Asch nach Jerusalem, um seine Magisterarbeit zu schreiben. Allein und ohne finanzielle Unterstützung, braucht er dringend eine Nebenbeschäftigung. Eine Anzeige führt ihn ins Haus eines eigentümlichen alten Mannes namens Wald; nachts liest er ihm vor und unterhält sich mit ihm – über die Ideale des Zionismus, über die jüdisch-arabischen Konflikte.
Und dort trifft er auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel, deren verstorbener Vater einer der maßgeblichen Anführer der zionistischen Bewegung war. Sogleich ist Schmuel gefesselt von der Schönheit und Unnahbarkeit dieser Frau. Nach und nach gelingt es Schmuel, ihr Geheimnis zu enthüllen – und damit auch das des alten Wald.
Amos Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zugleich ein Buch über das geteilte Jerusalem vor dem Sechs-Tage-Krieg, eine Geschichte seines Landes mit all seinen Konflikten, seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.

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Seitenzahl: 453

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Im Winter 1959/1960 beschließt Schmuel Asch, sein Studium in Jerusalem (Thema der geplanten Abschlussarbeit: Judas in der Perspektive der Juden) abzubrechen. Zum selben Zeitpunkt verlässt ihn seine Freundin, um einen früheren Freund zu heiraten. Dazu kommt, dass seine Eltern sich finanziell ruiniert haben und ihn nicht mehr unterstützen können. Daraufhin will Schmuel Jerusalem verlassen. Er entscheidet sich anders, als er eine Anzeige liest, die ihm ein Auskommen in Jerusalem erlaubt, auch wenn er sich verpflichten muss, von seinem Aufenthalt niemandem zu berichten. Die Anzeige führt ihn ins Haus eines eigentümlichen alten Mannes namens Gerschom Wald. Nachts liest er ihm vor und unterhält sich mit ihm – über die Ideale des Zionismus, über die jüdisch-arabischen Konflikte, kurz: über Gott und die Welt.

Und dort trifft er auf die geheimnisvolle Atalja Abrabanel, deren verstorbener Vater einer der Anführer der zionistischen Bewegung war. Sogleich ist Schmuel gefesselt von der Schönheit und Unnahbarkeit dieser Frau. Nach und nach gelingt es ihm, ihr Geheimnis zu enthüllen – und damit die menschliche Tragödie vor und nach der Gründung Israels im Jahr 1948.

Amos Oz hat einen Liebesroman geschrieben und zugleich ein Buch über das Land und das geteilte Jerusalem − eine Geschichte seines Landes mit seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung.

Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der international bekanntesten israelischen Schriftsteller. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1992), dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main (2005), dem Siegfried Unseld Preis (2010) und dem Siegfried Lenz Preis (2014). Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und erreichte eine Auflage in Millionenhöhe. Zuletzt erschien von Amos Oz das Buch Unter Freunden (2013).

Mirjam Pressler, geboren 1940, besuchte die Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main und lebt heute als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Landshut.

Amos Oz

Judas

Roman

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Habesora al pi Jehuda.

Das Buch erschien 2014 bei Keter, Jerusalem.

eBook Suhrkamp Verlag 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2015

© Amos Oz 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: David Bleja/fotolia

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74112-2

www.suhrkamp.de

Für Deborah Owen

Am Rand des Feldes läuft der Verräter

Nicht der Lebende sondern der Tote

Warf auf ihn den Stein.

    Nathan Alterman, Der Verräter

1.

Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt. An manchen Häusern sind die Zeichen des Kriegs noch zu erkennen, der die Stadt zehn Jahre zuvor geteilt hat. Gedämpfte ferne Akkordeonmelodien kann man hören oder, gegen Abend, hinter einem heruntergelassenen Rollladen, die sehnsüchtigen Klänge einer Mundharmonika.

In vielen Häusern hängen van Goghs Sternennacht oder das Weizenfeld mit Zypressen an der Wohnzimmerwand, und in den kleinen Zimmern bedecken noch immer Strohmatten den Boden, und Die Tage des Ziklag oder Doktor Schiwago liegen, aufgeklappt und umgedreht, am Rand der Schaumgummimatratze, die mit einem orientalisch gemusterten Tuch überzogen ist und auf der sich bestickte Kissen stapeln. Den ganzen Abend über brennt im Petroleumofen die blaue Flamme. In der Zimmerecke steht wie üblich eine Granatenhülse mit kunstvoll arrangierten getrockneten Disteln.

Anfang Dezember brach Schmuel Asch sein Studium an der Universität ab in der Absicht, Jerusalem zu verlassen wegen einer unglücklichen Liebe und einer Forschungsarbeit, mit der er nicht weiterkam, vor allem aber deshalb, weil Schmuel aufgrund der desaströsen finanziellen Lage seines Vaters gezwungen war, sich eine Arbeit zu suchen.

Er war ein kräftiger junger Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, empfindsam, ein Sozialist und Asthmatiker, schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen. Breite Schultern, kurzer, dicker Hals, genau wie seine Finger: dick und kurz, als würde an jedem ein Glied fehlen. Aus allen Poren im Gesicht und am Hals schossen gekräuselte Barthaare, die an Stahlwolle erinnerten. Dieser Bart breitete sich aus nach oben bis zu den wilden Locken und nach unten bis zu der wolligen Brustbehaarung. Von weitem sah es immer, sommers wie winters, aus, als sei er schweißüberströmt. Aber aus der Nähe, als angenehme Überraschung, merkte man, dass Schmuel Aschs Haut keinen säuerlichen Schweißgeruch verströmte, sondern den zarten Duft nach Babypuder. Er konnte sich von einer Minute auf die andere für neue Einfälle begeistern, vorausgesetzt, sie erschienen scharfsinnig und irgendwie revolutionär. Er neigte jedoch auch dazu, schnell zu ermüden, vielleicht wegen seines vergrößerten Herzens oder wegen seiner Asthmaerkrankung.

Tränen stiegen ihm in die Augen, und das verwirrte und beschämte ihn: Jammerte in einer Winternacht am Fuß eines Zauns ein Katzenjunges, das vielleicht seine Mutter verloren hatte, warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu und rieb sich an seinem Bein, wurden Schmuels Augen sofort feucht. Oder wenn sich am Ende eines mittelmäßigen Films über Einsamkeit und Verzweiflung im Edinson herausstellte, dass ausgerechnet die härteste Figur von allen Großherzigkeit bewies, kamen ihm sofort die Tränen und schnürten ihm den Hals zu. Wenn er aus dem Krankenhaus Sha’are Zedek trat und eine dünne Frau und ein Kind sah, beide ganz unbekannt, die sich schluchzend umarmten, stieg sofort das Weinen in ihm auf.

Damals war es üblich, Weinen für eine Sache der Frauen zu halten. Ein tränenüberströmter Mann rief Widerwillen hervor und sogar leichten Abscheu, ähnlich wie eine Frau, auf deren Kinn ein Bart spross. Schmuel schämte sich sehr wegen dieser Schwäche und gab sich die größte Mühe, sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Insgeheim stimmte er dem Spott zu, den seine Empfindlichkeit auslöste, und er fand sich sogar damit ab, dass seine Männlichkeit einen Kratzer hatte und sein Leben deshalb sehr wahrscheinlich nutzlos und ohne Ziel war.

Aber was tust du, fragte er sich manchmal aus einer gewissen Selbstverachtung heraus, was tust du eigentlich, was machst du, außer mitzuleiden? Hättest du diese Katze, zum Beispiel, nicht in deinen Mantel wickeln und mit nach Hause nehmen können? Wer hat dich daran gehindert? Und zu der weinenden Frau mit dem Kind hättest du einfach hingehen und sie fragen sollen, womit ihnen zu helfen wäre? Oder du hättest das Kind mit einem Buch und ein paar Keksen auf dem Balkon beschäftigt, während du dich mit der Frau in deinem Zimmer aufs Bett gesetzt und flüsternd besprochen hättest, was ihr zugestoßen ist und was du eventuell für sie tun könntest?

Einige Tage bevor sie ihn verließ, hatte Jardena gesagt: Du bist entweder wie ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt, und sogar wenn du auf einem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil – liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke.

Damit meinte Jardena einerseits Schmuels ewige Müdigkeit, andererseits etwas grundsätzlich Stürmisches an seinem Gang, der immer ein geheimes Rennen verbarg: Beim Treppensteigen nahm er stets zwei Stufen auf einmal. Belebte Straßen überquerte er diagonal, schnell, mit Todesverachtung, ohne nach rechts oder links zu schauen, als stürze er sich in ein Handgemenge, den Kopf mit den Locken vorgestreckt, als freue er sich auf einen bevorstehenden Kampf, den Oberkörper nach vorn gebeugt, sodass der Eindruck entstand, seine Beine würden panisch dem Körper und der Körper dem Kopf hinterherlaufen und als hätten die Beine Angst, Schmuel könne um die Straßenecke verschwinden und sie allein zurücklassen. Er rannte den ganzen Tag, schwer atmend, fieberhaft, nicht weil er Angst hatte, zur Vorlesung oder zu einem politischen Treffen zu spät zu kommen, sondern weil er jederzeit, morgens und abends, alles erledigen wollte, was auf seinem Plan stand. Um endlich in die Ruhe seines Zimmers zurückzukehren. Jeder Tag seines Lebens, so kam ihm vor, war wie ein zermürbendes Hindernisrennen im Kreis, vom Schlaf, aus dem er morgens gerissen wurde, bis zurück unter die warme Winterzudecke.

Jedem, der es hören wollte, hielt er gerne Vorträge, besonders seinen Freunden vom Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung: Er liebte es, zu erklären, zu begründen, zu widerlegen, zu widersprechen, zu argumentieren. Er sprach lange, genüsslich, spitzfindig und überlegt.

Aber wenn man ihm antwortete, wenn er den Vorstellungen anderer zuhören sollte, wurde Schmuel sofort ungeduldig, unaufmerksam und abgelenkt, ihn überkam eine so heftige Müdigkeit, dass ihm die Augen zufielen und der gelockte Kopf auf seine Brust sank.

Er genoss es auch, vor Jardena glühende Reden zu halten, Vorurteile zu zerstören und Ansichten ins Wanken zu bringen, Schlussfolgerungen aus Vermutungen zu entwickeln und Vermutungen aus Schlussfolgerungen. Doch wenn sie etwas sagte, sanken seine Lider fast immer nach zwei, drei Minuten. Sie warf ihm vor, dass er ihr überhaupt nicht zuhöre, er leugnete es, und wenn sie ihn aufforderte, zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte, wechselte er das Thema und fing mit den Irrtümern Ben Gurions an. Er war entgegenkommend, großzügig, voll guten Willens und weich wie ein Wollhandschuh, er tat alles, was er konnte, um allen zu gefallen, war jedoch gleichzeitig verwirrt und ungeduldig: Er vergaß, wo er den zweiten Strumpf hingelegt hatte, was der Hausbesitzer eigentlich von ihm gewollt und wem er das Heft mit seinen Vorlesungsnotizen geliehen hatte. Hingegen irrte er sich nie, wenn er mit Nachdruck anführte, was Kropotkin nach dem ersten Zusammentreffen über Netschajew gesagt hatte und was er zwei Jahre später von ihm hielt. Und wer von den Jüngern Jesu weniger sprach als die anderen.

Obwohl sie seine Sprunghaftigkeit liebte, seine Hilflosigkeit und das, was sie als die Eigenschaft eines zutraulichen Hundes betrachtete, der im Überschwang außer sich geriet, eines großen Hundes, der sich ständig an einen drückt und einem die Knie mit seinem Geifer benetzt, beschloss Jardena, sich von ihm zu trennen und den Heiratsantrag ihres früheren Freundes anzunehmen, eines fleißigen und schweigsamen Hydrologen namens Nescher Scharschawski, eines Fachmanns zum Sammeln von Regenwasser, der fast immer im Voraus wusste, was sie wollte. Nescher Scharschawski kaufte ihr zum Geburtstag am Datum nach dem allgemeinen Kalender ein schönes Halstuch, und dann kaufte er ihr noch ein grünes orientalisches Kleid zum Geburtstag nach dem jüdischen Kalender, der zwei Tage später stattfand. Er erinnerte sich sogar an die Geburtstage ihrer Eltern.

2.

Drei Wochen vor Jardenas Hochzeitstermin verzweifelte Schmuel endgültig an Jesus in den Augen der Juden, einer M.A.-Arbeit, die er mit großer Begeisterung begonnen hatte, elektrisiert von der Macht der umwälzenden Einsicht, die aufblitzte, als er das Thema gewählt hatte. Doch als er angefangen hatte, Details zu prüfen und zu recherchieren, war ihm klar geworden, dass an seinen Geistesblitzen nichts Neues war, das alles war schon vor seiner Geburt gedruckt erschienen, Anfang der Dreißiger, in Anmerkung zu einem kleinen Aufsatz, den sein hervorragender Lehrer, Professor Gustav Jom-Tow Eisenschloss, geschrieben hatte.

Auch im Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung kam es zu einer Krise: Der Arbeitskreis traf sich jeden Mittwoch um acht Uhr abends im verrauchten Café mit niedriger Decke in einer der Hintergassen im Viertel Jagia Kapajim. Handwerker, Installateure, Elektriker, Anstreicher und Drucker verabredeten sich dort manchmal, um Backgammon zu spielen, deshalb hielten die Genossen des Arbeitskreises das Café für mehr oder weniger proletarisch. Allerdings kamen die Anstreicher und Radiotechniker nicht an den Tisch der sozialistischen Erneuerer, manchmal stellte einer von ihnen eine Frage oder machte eine Bemerkung über zwei Tische hinweg, oder einer vom Arbeitskreis stand auf, trat furchtlos zum Tisch der Backgammonspieler und bat die Arbeiter um Feuer für seine Zigarette.

Nach langen Auseinandersetzungen stimmten fast alle Mitglieder des Arbeitskreises den Enthüllungen des XX. Kongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion über die Schreckensherrschaft von Stalin zu, doch eine Gruppe von Unbelehrbaren verlangte nicht nur erneut, Stalin die Treue zu halten, sondern auch dessen grundsätzliche Haltung zur Diktatur des Proletariats gutzuheißen, wie Lenin sie festgelegt hatte. Zwei Genossen gingen sogar so weit, die Ideen des jungen Marx als Einwand gegen die späteren Lehren des erwachsenen Marx zu benutzen. Als Schmuel Asch versuchte, die Wogen zu glätten, verkündeten vier von sechs Genossen ihr Ausscheiden aus dem Arbeitskreis und die Gründung einer neuen Zelle. Unter den vier Abtrünnigen befanden sich die beiden einzigen Frauen des Arbeitskreises, ohne die die ganze Sache sinnlos geworden zu sein schien.

Im selben Monat verlor Schmuels Vater seinen jahrelangen juristischen Kampf durch die verschiedensten Instanzen gegen seinen älteren Partner bei der kleinen Firma in Haifa (Möwe GmbH, Technisches Zeichnen, Kartographie und Luftaufnahmen), da ein Einspruch von ihm definitiv gescheitert war. Schmuels Eltern fühlten sich gezwungen, die monatlichen Unterstützungen einzustellen, die er seit Beginn seines Studiums erhalten hatte. Er ging hinunter in den Hof, suchte und fand hinter den Müllcontainern drei, vier alte Kartons, brachte sie hinauf in sein gemietetes Zimmer im Viertel Tel Arza und stopfte jeden Tag Bücher, Kleidungsstücke und andere Sachen wahllos hinein. Dabei hatte er noch nicht die geringste Ahnung, wohin er sich wenden sollte.

Ein paar Abende streunte Schmuel, ein schwindliger Bär, den man aus seinem Winterschlaf gerissen hatte, durch die verregneten Straßen. Mit schweren, schnellen Schritten durchquerte er die Straßen des Stadtzentrums, die wegen der Kälte und des Windes fast menschenleer waren. Ein paar Mal stand er nach Einbruch der Dunkelheit im Regen, nachdem er zum Viertel Nachalat Schiwa hinuntergegangen war und durch das Eisentor des Gebäudes gestarrt hatte, in dem Jardena nun nicht mehr wohnte. Manchmal führten ihn seine Füße irrtümlich in verlassene winterliche Gegenden, die er nicht kannte, nach Nachla’ot, nach Beit-Israel, nach Achwa oder nach Musrara, er trat in Pfützen, wich Mülleimern aus, die einfach auf die Straße gekippt worden waren. Zwei, drei Mal schob er den Kopf nach vorn, als kämpfe er gegen die Betonmauer, die das israelische vom jordanischen Jerusalem trennte.

Er blieb stehen, um geistesabwesend die krummen Schilder zwischen verrostetem Stacheldraht zu betrachten: Halt! Grenze! Vorsicht, Minen! Gefahr – Niemandsland! Und auch: Aufpassen – dieses Gebiet ist einsehbar für feindliche Heckenschützen. Schmuel zögerte zwischen diesen Schildern, als hätte man eine Speisekarte vor ihm ausgebreitet, von der er sich etwas auswählen sollte.

Fast jeden Abend lief er so herum, wurde vom Regen nass bis auf die Knochen, aus seinem Bart tropfte Wasser, er zitterte vor Kälte und Verzweiflung, bis er am Schluss müde und erschöpft zurückging und sich im Bett zusammenrollte, bis zum nächsten Abend: Er wurde leicht müde, vielleicht wegen seines vergrößerten Herzens. Und wenn es tags darauf dämmerte, stand er schwerfällig auf, zog sich an, wickelte sich in seinen Mantel, der seit seinem Herumlaufen am Abend zuvor noch nicht getrocknet war, und wieder trugen ihn seine Füße bis zum Rand der Stadt, bis Talpiot, bis Arnona. Erst als er am Schlagbaum vor dem Kibbuz Ramat Rachel stand und der misstrauische Wachmann ihn mit seiner Taschenlampe anleuchtete, kam er zu sich, drehte sich um und machte sich mit schnellen, nervösen Schritten auf den Heimweg, Schritten, als wäre er auf der Flucht. Zu Hause aß er schnell zwei Scheiben Brot und ein Joghurt, breitete seine nassen Kleidungsstücke aus, verkroch sich wieder unter seiner Decke und versuchte lange vergeblich, die Kälte abzuschütteln. Endlich übermannte ihn der Schlaf. Bis zum nächsten Abend.

Einmal träumte er von einer Begegnung mit Stalin. Das Treffen fand im niedrigen Hinterzimmer des Cafés statt, in dem der Arbeitskreis zur sozialistischen Erneuerung zusammenkam. Stalin beauftragte Professor Gustav Jom-Tow Eisenschloss, Schmuels Vater aus allen Schwierigkeiten und allen finanziellen Verlusten herauszuhelfen, während Schmuel Stalin von Weitem, vom Aussichtsplatz auf dem Dach der Dormitio-Abtei auf der Spitze des Har Zion, das Stück der Klagemauer zeigte, das jenseits der Grenze lag, im jordanischen Teil Jerusalems. Er schaffte es einfach nicht, Stalin, der unter seinem Schnurrbart lächelte, zu erklären, warum die Juden Jesus abgelehnt hatten und bis heute immer noch darauf beharrten. Stalin bezeichnete Schmuel als »Judas«. Am Ende des Traums erschien für einen Moment die Gestalt Nescher Scharschawskis, der Stalin einen winselnden kleinen Hund in einer Blechdose hinhielt. Wegen des Winselns wachte Schmuel mit einem seltsam dumpfen Gefühl auf, da seine gewundenen Erklärungen die Situation noch verschlimmerten und bei Stalin sowohl Spott als auch Misstrauen geweckt hatten.

Regen und Wind trommelten an sein Fenster. Eine Waschschüssel aus Blech, die am Balkongitter hing, schlug gegen Morgen, als der Sturm zunahm, mit hohlen Klängen gegen das Geländer. Zwei Hunde, weit von seinem Haus und vielleicht sogar weit voneinander entfernt, hatten die ganze Nacht lang unaufhörlich gebellt, nur manchmal war das Bellen leiser geworden und in Jaulen übergegangen.

Ihm kam in den Sinn, Jerusalem zu verlassen und sich irgendwo an einem abgelegenen Ort eine nicht so schwere Arbeit zu suchen, vielleicht als Nachtwächter in den Bergen von Ramon, in denen, wie er gehört hatte, eine neue Wüstenstadt entstand. Inzwischen bekam er die Einladung zu Jardenas Hochzeit: Anscheinend hatten sie und Nescher Scharschawski, ihr gehorsamer Hydrologe, der Fachmann zum Sammeln von Regenwasser, es mit der Heirat sehr eilig. Sie konnten noch nicht einmal bis zum Ende des Winters abwarten. Schmuel beschloss, sie zu überraschen, die ganze Clique zu überraschen und diese Einladung anzunehmen. Gegen jede Gepflogenheit würde er plötzlich dort auftauchen, strahlend, geräuschvoll, lachend, schulterklopfend, als ungebetener Gast würde er in die Zeremonie hineinplatzen, an der nur der innere Kern der Familie und die intimsten Freunde teilnehmen sollten, und dann würde er sich fröhlich an der Hochzeitsfeier nach der Zeremonie beteiligen, er würde die allgemeine Freude teilen und im Rahmen des künstlerischen Programms einen Auftritt liefern, seine berühmte Imitation des wegen seines Akzents und seines Singsangs berühmten Professors Eisenschloss.

Doch am Morgen des Hochzeitstags bekam Schmuel Asch einen schweren Asthmaanfall und begab sich zur ärztlichen Ambulanz, dort versuchte man vergeblich, ihm mit einem Inhalator und mit verschiedenen Medikamenten gegen Allergien zu helfen. Man brachte ihn von der Ambulanz ins Krankenhaus Bikur Cholim.

Die Stunden von Jardenas Hochzeit verbrachte Schmuel in der Notaufnahme. Dann ihre ganze Hochzeitsnacht hindurch hing er ununterbrochen am Sauerstoffgerät. Am nächsten Tag beschloss er, aufzustehen und Jerusalem unverzüglich zu verlassen.

3.

Anfang Dezember, an einem Tag, an dem in Jerusalem ein mit Regen gemischter Schnee fiel, erklärte Schmuel Asch Professor Gustav Jom-Tow Eisenschloss und seinen übrigen Lehrern (von der Historischen Fakultät und den Religionswissenschaften), er wolle sein Studium abbrechen. Draußen im Wadi zogen Nebelfelder hin und her, die Schmuel an schmutzige Watte erinnerten.

Professor Eisenschloss war ein kleiner, penibler Mann mit einer bierglasdicken Brille und scharfen, eckigen Bewegungen, die denen eines Kuckucks glichen, der plötzlich aus dem Türchen einer Wanduhr schoss. Er war entsetzt, als er von Schmuel Aschs Plänen hörte.

»Aber wieso! Wie ist das möglich! Was ist in uns gefahren! Jesus in jüdischer Perspektive! Dadurch eröffnet sich ein unvergleichlich fruchtbares Feld von Forschungen! In der Gemara! Tosefta! In den Sammlungen der Gelehrten! In der Überlieferung des Volkes. Im Mittelalter! Wir sind dabei, eine Neuerung wiederzuentdecken! Nun? Was? Vielleicht setzen wir die Forschung trotzdem langsam fort? Ganz bestimmt wenden wir uns schleunigst von diesem negativen Gedanken ab, in der Mitte des Gefechts fahnenflüchtig zu werden!«

So sprach er, hauchte aus den Nasenlöchern Luft auf die Brillengläser und rieb sie energisch mit einem zerknitterten Taschentuch. Plötzlich, während er die Hand zu einem Händedruck ausstreckte, der fast gewalttätig war, sagte er mit einer völlig anderen, etwas scheuen Stimme: »Aber wenn wir uns, Gott behüte, plötzlich in finanziellen Schwierigkeiten befinden, ergibt sich vielleicht ein diskreter Weg, langsam und allmählich eine bescheidene Unterstützung aufzutreiben?« Und erneut drückte er Schmuels Hand so fest, bis seine Knochen ein leises Knacken hören ließen, und wieder brach es zornig aus ihm heraus:

»Wir geben nicht so leicht auf! Nicht bei Jesus, nicht bei den Juden und auch nicht bei Ihnen selbst! Wir werden Sie zu Ihrer Pflicht zurückführen!«

Im Flur, nachdem er das Büro des Professors verlassen hatte, lächelte Schmuel unwillkürlich, als er sich an die Studentenfeiern erinnerte, bei denen er selbst immer Gustav Jom-Tow Eisenschloss nachgemacht hatte, der plötzlich, wie der Kuckuck aus einer Uhr, in den Raum sprang und, wie üblich, in der ersten Person Plural und in didaktischem Ton sprach, sogar mit seiner Frau im Schlafzimmer.

Am Abend tippte Schmuel Asch eine Anzeige, in der er wegen unerwarteter Umstände billig ein kleines Radiogerät (aus Bakelit) der Firma Philips anbot, eine Schreibmaschine »Hermes Baby«, einen gebrauchten Plattenspieler und zwanzig Platten: klassische Musik, Jazz und Chansons. Die Anzeige hängte er an das Schwarze Brett neben der Treppe zur Cafeteria im Keller des Kaplan-Hauses. Wegen der vielen Anzeigen und Reklamezettel brachte er sie so an, dass sie die kleinere Anzeige verdeckte: Es war ein hellblauer Zettel, auf dem Schmuel beim Abdecken gerade noch wahrnahm, dass sich auf ihm fünf, sechs Zeilen in korrekter, angenehm weiblicher Handschrift befanden.

Dann ging er, fast trabend, den gekräuselten Hirschkopf vorgestreckt, als müsse er vor dem dicken Hals fliehen, aus dem er herauswuchs, in Richtung der Bushaltestelle vor dem Campustor. Aber nach vierzig, fünfzig Schritten, er war auf der Höhe einer Bronzeplastik von Henry Moore, einer dicken, zusammengebrochenen Frau, machte er plötzlich auf dem Absatz kehrt und trabte zurück zum Kaplan-Haus, zum Schwarzen Brett neben der Treppe zur Cafeteria. Seine kurzen, dicken Finger beeilten sich, seine Räumungsannonce zu entfernen, um das zu lesen, was er selbst ein paar Minuten zuvor abgedeckt hatte:

Angebot eines persönlichen Kontakts

Einem alleinstehenden Studenten der Geisteswissenschaften, sensibler Gesprächspartner mit historischem Wissen, wird freies Wohnen und eine bescheidene monatliche Unterstützung geboten, wenn er bereit ist, einem behinderten Mann von siebzig Jahren jeden Abend fünf Stunden Gesellschaft zu leisten, einem kultivierten, gebildeten Menschen. Der Behinderte ist normalerweise fähig, sich selbst zu versorgen, und braucht eher einen Gesprächspartner als einen Helfer. Persönliche Bewerbungen bitte von Sonntag bis Donnerstag zwischen vier und sechs Uhr nachmittags in der Rav-Albas-Gasse 17, im Viertel Sche’arei Chesed (bitte an Atalja wenden). Wegen besonderer Umstände wird ein Bewerber von vornherein gebeten, schriftlich Geheimhaltung zuzusichern.

4.

Die Rav-Albas-Gasse am Hang von Sche’arei Chesed führte zum Tal des Kreuzes. Das Haus Nummer 17 war das letzte, damals endete das Viertel und die steinigen Felder begannen, die von hier bis zu den Überresten des arabischen Dorfs Scheich-Badr reichten. Die holprige Straße verwandelte sich gleich nach dem letzten Haus in einen felsigen Pfad, der allmählich in das Tal hinunterführte und sich in alle Richtungen schlängelte, unschlüssig, ob er sich in diese Wildnis begeben oder umkehren und zu bewohnten Gegenden zurückkehren solle. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Über den arabischen Hügeln dämmerte es, ein Licht, so weich und verlockend wie ein Duft. In der Ferne, zwischen den Felsen am Hang gegenüber, weidete eine kleine Herde mit einem Hirten, der sich in einen dunklen Umhang gewickelt hatte und kerzengerade zwischen einem Regen und dem nächsten unter dem bewölkten Abendhimmel saß und bewegungslos von dem kargen Hügel hinunter zu den letzten Häusern am westlichen Rand des arabischen Jerusalems blickte.

Das Haus selbst kam Schmuel Asch wie ein halber Keller vor, unterhalb des Straßenniveaus, als wäre es bis zu den Fenstern in der schweren Erde des Hangs versunken. Von der Straße aus gesehen glich es einem untersetzten Mann, breitschultrig und mit dunklem Hut, der auf die Knie gesunken war und in der Erde nach etwas suchte, was er verloren hatte.

Die beiden Flügel des verrosteten Eisentors hingen schon lange krumm in den Angeln und waren unter ihrem eigenen Gewicht zu Boden gefallen, als würden sie Wurzeln schlagen. Folglich war das Tor weder geschlossen noch offen. Der Abstand zwischen den beiden Torflügeln war gerade groß genug, um sich hindurchzuschieben, ohne mit den Schultern anzustoßen. Über dem Tor war ein Bogen aus rostigem Eisen gespannt, mit einem Davidstern an der Spitze, und in quadratischen Buchstaben standen darauf die Worte:

Zu Zion wird ein Erlöser kommen.

Jerusalem wird auferstehen.

Amen.

1914

Vom Tor aus ging Schmuel über sechs flache, rissige Steinstufen, die nicht zueinanderpassten, hinunter in einen kleinen Hof, der ihn schon auf den ersten Blick verzauberte und in ihm die Sehnsucht nach einem Ort weckte, an den er sich, auch wenn er es noch so sehr wünschte, nicht erinnern konnte. Eine Erinnerungsspur durchzuckte ihn, das Bild anderer Innenhöfe aus einer vergangenen Zeit, nur leider wusste er nicht, wo sie sich befanden oder wann er sie gesehen hatte, er wusste nur verschwommen, es waren keine winterlichen Höfe, wie dieser hier, im Gegenteil, sie waren sommerlich und lichtüberflutet. Diese Erinnerung weckte ein Gefühl zwischen Trauer und Freude: wie der einzelne Ton eines Cellos in einer dunklen Nacht.

Der Hof war von einer mannshohen Steinmauer umgeben und mit Steinfliesen gepflastert, die von den Jahren abgeschliffen waren und in einem von Grau durchzogenen Rotton schimmerten. Da und dort tanzten Lichtflecken über den Boden: Ein alter Feigenbaum und eine ausladende Weinlaube warfen Schatten und ihre Zweige waren so dick und so dicht beieinander, dass sogar jetzt, da sie einen Teil der Blätter abgeworfen hatten, nur zitternde Lichtflecken zu sehen waren. Als wäre das hier kein Hof, eher ein verborgenes Wasserbecken mit leichten Wellen.

An den Mauern und vor dem Haus und sogar auf den Fensterbänken blühten Geranien als kleine Flammenherde in Rot, Weiß, Rosa, Lila und Purpur. Die Geranien wuchsen in ausgemusterten verrosteten Gefäßen und alten Kannen, sie stiegen aus den Öffnungen von Gaskochern, wucherten zwischen Eimern, Schalen, Schüsseln und beschädigten Klobecken. All diese Gegenstände waren für ihre neue Funktion als Blumentöpfe mit Erde gefüllt worden. Die Fenster des Hauses waren vergittert und durch grüne Metallläden geschützt. Die Hauswände bestanden aus Jerusalemer Steinen, die ihre wilde, unbehauene Außenseite zeigten, und dahinter, hinter dem Haus und hinter den Mauern, erstreckte sich ein dichtes Gewirr aus Zypressen, die im Abendlicht nicht grün aussahen, sondern fast schwarz.

Über allem lag die Stille eines kalten Winterabends. Es war nicht die Art durchsichtiger Stille, die einen dazu bringt, sich in sie zu versenken, vielmehr eine gleichgültige, uralte Stille, die einem den Rücken zukehrt.

Das Hausdach bestand aus Ziegeln. Aus der Schräge wuchs eine kleine, dreieckige Gaube, die Schmuel an ein orangefarbenes Zelt erinnerte. Auch diese Gaube war mit ausgeblichenen Ziegeln gedeckt. Plötzlich wäre er am liebsten in diese Mansarde eingezogen, hätte sich dort mit einem Haufen Bücher und einer Flasche Rotwein verkrochen, einem Ofen und einer Winterzudecke, Plattenspieler und einigen Platten, und wäre nicht mehr hinausgegangen. In der Mansarde bleiben und sie nie wieder verlassen, zumindest nicht, solange draußen noch Winter herrschte.

Die Vorderseite des Hauses war von verzweigten Wachsblumenranken überzogen, sie klammerten sich mit scharfen Krallen in den Mauerritzen fest. Schmuel überquerte den Hof, bedächtig, um die auf den Fliesen tanzenden Lichtflecken zu erfassen, das graue Adergeflecht auf den rötlichen Steinen. Nun stand er vor einer grün gestrichenen, zweiflügligen Eisentür, auf der ein blinder Löwenkopf als Türklopfer prangte. Die Zähne des Löwen schlossen sich um einen großen Eisenring. Auf dem rechten Flügel der Tür stand in Reliefbuchstaben:

Beit Jehojachin Abrabanel, möge G’tt ihn

lebendig halten und beschützen, um den

gerechten G’tt zu verkünden

Unter dieser Schrift hing ein kleiner Zettel, mit zwei schmalen Klebestreifen an der Tür befestigt. Darauf stand in der Handschrift, die Schmuel bereits aus der Anzeige im Kaplan-Haus kannte, die einen »persönlichen Kontakt« angeboten hatte: eine hübsche, weibliche Schrift, ohne ein verbindendes »und« zwischen den Namen, die nur durch einen doppelten Abstand voneinander getrennt waren:

Atalja Abrabanel       Gerschom Wald

Vorsicht – zerbrochene Stufe direkt hinter der Tür

5.

»Gehen Sie bitte geradeaus und dann nach rechts, folgen Sie bitte der Lichtquelle, dann werden Sie zu mir kommen«, ließ sich eine nicht mehr junge Männerstimme aus dem Inneren des Hauses vernehmen. Es war eine tiefe Stimme, etwas amüsiert, als habe der Sprecher die Ankunft dieses Gastes genau zu diesem Zeitpunkt erwartet, als sei er jetzt zufrieden, recht gehabt zu haben, und genieße es, dass seine Erwartungen sich erfüllt hatten. Die Haustür war nicht abgeschlossen.

Schmuel Asch stolperte hinter dem Eingang, weil er eine Stufe nach oben erwartet hatte, keine, die nach unten führte. Und eigentlich war da keine Stufe, eher ein Ersatz, ein Holzbrett. Wenn ein Besucher mit seinem ganzen Gewicht darauf trat, ging es am anderen Ende hoch wie ein Hebel und drohte ihn umzuwerfen. Seine schnelle Reaktion bewahrte Schmuel vor einem bösen Sturz, denn als das Holzbrett unter seinem Fuß nach oben kippte, rettete er sich mit einem langen Satz auf den Steinfußboden, seine Locken flogen nach vorn und zogen ihn hinter sich her in den Flur, der fast ganz dunkel war, weil die Türen der Zimmer, die in ihn mündeten, geschlossen waren.

Je tiefer Schmuel in das Haus vordrang, sich mit der Stirn voraus einen Weg bahnend wie ein Säugling durch den Geburtskanal, umso deutlicher hatte er das Gefühl, dass der Flurboden nicht eben war, sondern leicht abschüssig: als wäre das ein Flussbett, kein dämmriger Flur. Zugleich registrierte seine Nase einen angenehmen Geruch, den Duft frisch gewaschener Wäsche, von zarter Sauberkeit, von Stärke und der Wärme eines Dampfbügeleisens.

An den Flur schloss sich ein weiterer, kürzerer an, von dessen Ende jenes Licht stammte, das ihm die heitere Stimme bei seinem Eintritt ins Haus versprochen hatte. Das Licht führte Schmuel Asch in eine Bibliothek mit hoher Decke, die Fensterläden fest verschlossen, die bläuliche Flamme eines Petroleumofens erwärmte den Raum. Das einzige elektrische Licht verbreitete konzentriert eine gebogene Schreibtischlampe über einem Stapel Bücher und Papiere, als würde sie diesen Büchern zuliebe auf die ganze Bibliothek verzichten.

Hinter dem warmen Lichtkegel, zwischen zwei Metallwagen, voll beladen mit Büchern, Aktenmappen und dicken Heften, saß ein alter Mann und sprach ins Telefon. Eine Wolldecke war über seine Schultern gebreitet, als wäre er in einen Gebetsmantel gehüllt. Er war ein hässlicher Mensch, lang und breit und krumm und bucklig, mit einer Nase so spitz wie der Schnabel eines durstigen Vogels, und die Krümmung seines Kinns erinnerte an eine Sense. Eine Fülle feiner, fast weiblicher Haare ergoss sich wie ein breiter, silbriger Wasserfall über seinen Nacken. Seine Augen waren halb verborgen unter dichten weißen Brauen, die aussahen wie ein milchfarbener Raureif. Sein Bart, ein Einstein-Bart, war ein kleiner Schneehügel. Ohne das Telefongespräch zu unterbrechen, warf der Mann dem Besucher einen prüfenden Blick zu, sein geschliffenes Kinn bewegte sich in Richtung linker Schulter, sein linkes Auge zwinkerte, während das rechte sich weit öffnete, ein rundes blaues Auge, unnatürlich vergrößert. Sein Gesichtsausdruck zeugte entweder von einer amüsierten Schlauheit oder von einem durchdringenden Sarkasmus, als habe er in einem Augenblick die wahre Natur des jungen Mannes vor ihm erkannt und seine Absicht bis ins Tiefste verstanden. Einen Moment später schaltete der Behinderte seinen Scheinwerferblick aus, bestätigte mit einem leichten Kopfnicken die Anwesenheit des Besuchers und wandte sich von ihm ab. Die ganze Zeit über hatte er unablässig und zänkisch in den Hörer gesprochen:

»Wenn jemand immer misstrauisch ist, wenn jemand immer davon ausgeht, dass ihn alle belügen, wer sein ganzes Leben als ständigen Zickzacklauf zum Ausweichen von Fallen versteht … Entschuldige, ist da bei mir ein Bote aufgetaucht? Oder ist es ein Handwerker, den ich nicht bestellt habe?« Er deckte die Sprechmuschel mit einer Hand ab, deren Finger im Licht der Schreibtischlampe rosa aufleuchteten, sodass sie fast durchsichtig schienen, Geisterfinger. Plötzlich erstrahlte auf seinem rauen, olivenstammartigen Gesicht unter dem dicken Schnurrbart ein schnelles, lausbubenhaftes Lächeln, als wisse er, wie er seinem Besucher, der noch nichts von seinem Schicksal wusste, eine Falle stellen könnte: »Setzen Sie sich. Hier. Warten Sie.«

Dann nahm er die Hand von der Sprechmuschel und fuhr fort, den Kopf mit dem weißen Haarwust noch immer zur linken Schulter geneigt:

»Ein verfolgter Mensch hat, ob er nun verfolgt wird, weil er selbst die anderen zu Verfolgern gemacht hat, oder ob er verfolgt wird, weil es in seiner erbärmlichen Fantasie von Feinden wimmelt, die Böses im Sinn haben, bei allem Unglück, so oder so einen moralischen Defekt: Schließlich liegt eine grundsätzliche Unehrlichkeit in der Freude am Verfolgtsein. Übrigens stehen einem solchen Menschen, das liegt in der Natur der Sache, Leid und Einsamkeit und Vorwürfe und Krankheiten eher bevor als anderen, mit anderen Worten – uns. Von Natur aus rechnet der Misstrauische stets mit einer Katastrophe. Ebenso wie Säure jedes Werkzeug verätzt, das mit ihr in Berührung kommt, verätzt Misstrauen alles, es zerstört auch den Misstrauischen selbst: Wenn einer sich Tag und Nacht vor den Menschen in Acht nimmt, wenn er ununterbrochen darüber nachdenkt, wie er Anschlägen entgeht, wie er Intrigen abwehrt und welche List er in Gang setzen könnte, um von Weitem eine Falle zu erkennen, die ihm gestellt wird – wird er zwangsläufig beschädigt. Das sind die Dinge, die den Menschen nicht leben lassen. Entschuldige bitte, einen Moment …«

Und wieder hielt er die Sprechmuschel mit seiner Geisterhand zu. Er wandte sich in ironischem Ton an Schmuel Asch, mit einer tiefen, müden, etwas heiseren Stimme: »Seien Sie so gut, warten Sie noch ein paar Sekunden. Sie dürfen gern meinen Reden zuhören. Auch wenn ein junger Mann wie Sie sein Leben sicherlich unter einen ganz anderen Stern stellt, nicht wahr?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm der Alte die Hand vom Telefon und redete weiter:

»Obwohl Misstrauen, Verfolgungswahn und sogar Menschenhass weit weniger gravierend sind als die Liebe zur gesamten Menschheit: Menschheitsliebe ist mit einem antiquierten Geruch von Blutvergießen verbunden. Grundloser Hass ist meiner Meinung nach weniger schlimm als grundlose Liebe: Menschheitsliebende Weltverbesserer sind diejenigen, die uns von alters her retten wollen, und niemand rettet uns vor ihnen, schließlich sind sie ja … Gut, gut, du hast recht. Wir wollen das nicht weiter vertiefen. Während du und ich noch alle möglichen Wege der Rettung und des Trostes erwägen, ist bei mir ein ärmlicher junger Mann mit dem Bart eines Höhlenmenschen aufgetaucht, ein kräftiger junger Mann in einem Militärmantel und vielleicht auch mit Militärschuhen. Ist er etwa gekommen, um auch mich einzuberufen? Deshalb machen wir hier einen Punkt, du und ich, wir können morgen unser Gespräch fortsetzen, übermorgen. Wir werden noch reden, mein Lieber, natürlich werden wir miteinander sprechen. Wir müssen miteinander sprechen. Was können Menschen wie wir denn anderes tun, als zu debattieren? Walfische jagen? Die Königin von Saba verführen? Übrigens, die Königin von Saba verführen, ich habe da eine private Deutung, eine anti-romantische, eigentlich kriminelle Deutung für den Spruch gefunden: ›Hass erregt Hader; aber Liebe deckt alle Übertretungen zu.‹ Während der Spruch ›sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können‹ mich immer an Feuerwehrsirenen erinnert. Richte der lieben Genia bitte Grüße aus, umarme und küsse sie in meinem Namen, umarme und küsse deine Genia auf meine Art, nicht auf deine Beamtenmanier. Sag ihr, dass ich das Leuchten ihres Gesichts vermisse. Nein, nicht das Leuchten deines Gesichts, mein Seelenfreund, du bist so langweilig wie deine ganze Generation. Ja. Auf Wiedersehen die Tage. Nein. Ich weiß nicht, wann Atalja zurückkommt. Sie tut, was sie will, und ich tue auch, was sie will. Ja. Auf Wiedersehen. Danke. Amen, wie du sagst, so Gott will.«

Danach wandte er sich Schmuel zu, der sich nach einigem Zögern vorsichtig auf einem Korbstuhl niedergelassen hatte, der ihm etwas wacklig vorkam, als würde er unter dem Gewicht seines kräftigen Körpers schwanken. Plötzlich ließ der Mann eine kräftige Stimme hören: »Wald!«

»Entschuldigung?«

»Wald! Wald! Ich heiße Wald. Und wer sind Sie? Ein Pionier? Ein Pionier aus dem Kibbuz? Direkt aus den Bergen Galiläas zu uns herabgestiegen? Oder sind Sie, im Gegenteil, aus der Negevwüste gekommen?«

»Ich bin von hier, aus Jerusalem, das heißt – aus Haifa, aber ich studiere hier. Das heißt, besser gesagt, ich habe studiert. Bis jetzt.«

»Bitte, junger Freund, Sie studieren oder haben studiert? Aus Haifa oder Jerusalem? ›Von der Tenne oder der Kelter?‹«

»Entschuldigung, ich werde es gleich erklären.«

»Und außerdem sind Sie doch bestimmt ein positiver Mensch? Nein? Kultiviert? Fortschrittlich? Ein idealistischer Weltverbesserer, der für Moral und Gerechtigkeit eintritt? Ideenverliebt und idealistisch wie ihr alle? Nein? Machen Sie den Mund auf und erklären Sie Ihre Worte, ›ein Wort geredet zu rechter Zeit‹.«

Er wartete geduldig auf eine Antwort, den Kopf zur linken Schulter geneigt, ein Auge zugekniffen, das andere weit geöffnet, wie ein Mensch, der darauf wartet, dass sich der Vorhang hebt und die Vorstellung beginnt, von der er sich eigentlich nicht viel erhofft, sodass ihm nichts anderes übrigbleibt, als abzuwarten, was die Figuren sich gegenseitig antun: wie sie sich gegenseitig in den Abgrund stürzen, falls es diesen Abgrund überhaupt gibt, und auf welche Art jede einzelne der Figuren sich selbst das nur für sie bestimmte Unglück zufügt.

Schmuel begann also erneut, und diesmal vorsichtiger: Er nannte seinen Vornamen und den Familiennamen, nein, nein, soweit er wisse, bestehe keine Verwandtschaft mit dem berühmten Schalom Asch, seine Familie bestehe aus Angestellten und Landvermessern, er stamme aus Haifa und studiere in Jerusalem beziehungsweise er habe studiert, Geschichte und Religionswissenschaften, obwohl er nicht religiös sei, überhaupt nicht, man könne sogar sagen, er sei ein bisschen das Gegenteil, aber irgendwie … Jesus, der Nazarener, und Judas Ischariot und die geistige Welt der Priester und Pharisäer, die Jesus ablehnten, und wie der Nazarener ausgerechnet in der Perspektive der Juden sehr schnell vom Verfolgten zum Symbol der Verfolgung und der Unterdrückung wurde … das habe er in seinen Augen mit dem Schicksal der großen Weltverbesserer der letzten Generationen gemein … Nun, das sei eine längere Geschichte, er hoffe, er störe nicht, er komme auf die Anzeige hin, die Anzeige »Angebot einer persönlichen Beziehung«, die er zufällig gesehen habe am Schwarzen Brett im Kaplan-Haus, am Eingang zur Cafeteria.

Bei Schmuels Worten richtete sich der Mann auf, ließ die karierte Wolldecke zu Boden fallen, stemmte sich unter komplizierten Bewegungen seines Oberkörpers zu seiner vollen verbogenen Größe hoch, fasste mit beiden Händen die Stuhllehne und stand seltsam gekrümmt auf den Beinen, obwohl man sehen konnte, dass nicht die Beine, sondern die kräftigen, sich auf die Lehne stützenden Arme das Gewicht des Körpers trugen. Er rührte offenbar die Krücken, die am Tisch lehnten, nicht an. Stark war er, gekrümmt, bucklig, groß gewachsen, sein Kopf stieß fast an den herunterhängenden Kronleuchter. Mit seiner Größe glich der Mann dem krumm gewordenen Stamm eines alten Olivenbaums. Er hatte breite Schultern, große Ohren und trotzdem wirkte er königlich mit seiner weißen Haarpracht, die ihm auf die Schulter fiel, mit den Schneewehen seiner Augenbrauen und dem dicken Bart, der weiß glänzte, als Schmuels Blick für einen Moment den Blick des Alten kreuzte. Schmuel stellte verwundert fest, dass, im Gegensatz zu der fröhlichen Stimme mit dem ironischen Ton, die blauen Augen bewölkt waren, voller Trauer.

Dann stützte sich der Mann mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte, und wieder verlagerte er sein ganzes Gewicht auf die Arme, und so bewegte er sich langsam an der Tischkante entlang, mit ungeheurer Anstrengung, wie ein riesiger Oktopus, der aufs Trockene geworfen war und jetzt darum kämpfte, über die Uferböschung zurück zum Wasser zu kriechen. So zog sich der Mann mit der Kraft seiner Armmuskeln den ganzen Tisch entlang, bis er einen gepolsterten Korbsessel erreicht hatte, eine Art Liegestuhl, der neben dem Schreibtisch auf ihn wartete, unter dem Fenster der Bibliothek. Hier, außerhalb des Lichtkegels der Schreibtischlampe, vollführte er eine komplizierte Reihe von Verrenkungen und Gewichtsverlagerungen mit Hilfe der Hände, bis es ihm gelang, seinen großen Körper in den Sessel zu bugsieren. Und sofort verkündete seine spöttische Stimme:

»Ach! Die Anzeige! Es gibt also eine Anzeige! Und ich habe in der Eile gesagt – bitte, aber eigentlich ist das eine Sache zwischen Ihnen und ihr. Ich habe mit ihren Geheimnissen nichts zu tun. Von mir aus können Sie hier sitzen und so lange auf sie warten, wie Sie wollen. Und was für einen Schatz verbergen Sie da? Das heißt unter Ihrem Bart? Bitte. Ich habe mir einen Scherz erlaubt. Und nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, ein kleines Nickerchen mache. Wie Sie sehen, ist der Betreffende hinfällig: Mit mir geht es bergab. Das heißt, es geht bergab, aber ich gehe nicht. Und Sie, junger Mann, setzen Sie sich, bitte setzen Sie sich, fürchten Sie sich nicht, Ihnen wird hier bei mir nichts Böses geschehen, setzen Sie sich, Sie können sich auch ein Buch oder zwei aussuchen und lesen, bis sie kommt, oder vielleicht ziehen Sie ebenfalls ein Nickerchen vor. Nun, nehmen Sie Platz, setzen Sie sich doch.«

Dann schwieg er. Und vielleicht schloss er die Augen, ausgestreckt auf seinem Lager, zugedeckt wie eine riesige Seidenraupenpuppe in einer karierten Wolldecke, die ihrer Vorgängerin ähnelte und ihn auf seinem neuen Platz erwartet hatte. Zugedeckt verwandelten sich seine Konturen in eine stille Hügelkette.

Schmuel wunderte sich etwas über die wiederholten Bitten, mit denen Herr Wald ihn aufgefordert hatte, sich zu setzen, obwohl ein Blick genügt hätte, um sich zu vergewissern, dass sein Gast die ganze Zeit auf seinem Platz saß, nicht aufstand und sich kein einziges Mal bewegte. Der leicht schief an der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand hängende Kalender, zwischen hohen Bücherregalen, zeigte ein Bild des Malers Reuven Rubin: ein Tal, Hügel, Olivenbäume, eine Ruine und einen sich schlängelnden Bergpfad. Schmuel empfand plötzlich den unbezähmbaren Drang, aufzustehen und das schiefe Bild gerade zu rücken. Dann setzte er sich wieder an seinen Platz. Gerschom Wald sagte nichts. Vielleicht schlummerte er und hatte nichts gesehen. Oder er hatte die Augen unter den buschigen weißen Augenbrauen noch nicht ganz geschlossen und alles gesehen und schwieg, weil die Korrektur in seinem Sinn war.

6.

Sie kam durch eine andere Tür, die Schmuel gar nicht bemerkt hatte. Es war auch keine wirkliche Tür, sondern eine Öffnung hinter einem Vorhang aus orientalischen Perlenschnüren in einer Zimmerecke. Sofort nach dem Eintreten streckte sie die Hand aus und knipste die Deckenlampe an, und das Zimmer wurde von elektrischem Licht hell erleuchtet. Die Schatten verschwanden hinter den Büchertürmen. Eine große Gestalt von etwa fünfundvierzig Jahren, die sich im Zimmer bewegte, als kenne sie ihre Ausstrahlung. Gekleidet war sie in ein helles, einfarbiges, knöchellanges Kleid, darüber trug sie einen glatten, roten Pulli. Ihre langen dunklen Haare fielen weich über die linke Brust. In den Haaren schaukelten zwei große Ohrringe aus Holz. Ihr Körper füllte das Kleid gut aus. Schuhe mit Absätzen betonten die Leichtigkeit ihrer Schritte, als sie von der Türöffnung zu Herrn Walds Korbsessel ging. Dort blieb sie stehen, eine Hand in der Hüfte, wie eine energische Bäuerin, die auf eine zaudernde Ziege wartet. Als sie die braunen, länglichen Augen auf Schmuel richtete, der sie anschaute, lächelte sie nicht, aber auf ihrem Gesicht vermischten sich neugieriges Wohlwollen und leichter Hochmut. Als würde sie fragen: Nun, und du? Was willst du? Was für eine kleine Überraschung bringst du uns heute? Und als wolle sie ihm sagen, sie lächle zwar noch nicht, aber ein Lächeln sei durchaus möglich und komme in Frage.

Sie hatte bei ihrem Eintritt einen zarten Veilchenduft mitgebracht, aber auch den leichten angenehmen Geruch nach frischer Wäsche und Stärke und Bügelwärme, ein Geruch, den seine Nase schon vorher wahrgenommen hatte, als er den Flur entlanggegangen war.

Schmuel entschuldigte sich: »Ich bin offenbar zu einer unpassenden Zeit gekommen?« Und schnell fügte er hinzu: »Ich bin hier wegen der Anzeige.«

Wieder trafen ihn die braunen, selbstsicheren Augen, sie betrachtete ihn interessiert und sogar mit einem gewissen Wohlgefallen, sie wich seinem Blick nicht aus, bis er die Lider senkte. Sie musterte seinen wilden Bart, wie man ohne Eile ein kleines zusammengekauertes Tier betrachtet. Dann nickte sie, nicht zu ihm, sondern zu Herrn Wald, als bestätige sie bereits getroffene Schlussfolgerungen. Schmuel Asch seinerseits warf ihr Blicke zu und schaute schnell wieder zur Seite, doch es reichte ihm, die Furche zu erkennen, die sich deutlich von der Nase zur Oberlippe zog. Diese Furche kam ihm ungewöhnlich tief vor, und trotzdem hübsch und anziehend. Sie nahm einen Stapel Bücher von einem der Stühle, setzte sich, schlug ein Bein über das andere und zog ihr Kleid zurecht.

Sie beeilte sich nicht mit einer Antwort auf seine Frage, ob er zu einem unpassenden Zeitpunkt hergekommen sei. Als habe sie beschlossen, seine Frage von allen Seiten zu erwägen, bis sie sicher sei, eine verantwortungsvolle und entschiedene Antwort zu geben. Am Schluss sagte sie: »Sie haben lange gewartet. Bestimmt haben Sie sich bereits unterhalten.«

Schmuel war überrascht von ihrer vollen, trägen Stimme, die trotzdem entschieden klang. Sicher. Ihre Art zu sprechen hatte nichts Fragendes, sie sprach wie jemand, der das Ergebnis einiger Überlegungen mitteilte, die er inzwischen angestellt hatte.

»Ihr Mann hat mir vorgeschlagen, auf Sie zu warten«, sagte Schmuel. »Nach der Anzeige habe ich verstanden, dass …«

Herr Wald öffnete die Augen und mischte sich ein. »Er hat gesagt, er heiße Asch, also kann man etwas erhoffen.«

Er wandte sich an Schmuel und korrigierte wie ein geduldiger Lehrer: »Ich bin nicht der Ehemann dieser Dame. Diese Ehre und dieses Vergnügen habe ich nicht. Atalja ist meine Kundin.«

Erst nach einer Pause, die es Schmuel ermöglichte, sich von seinem Erstaunen zu erholen, fügte er erklärend hinzu: »Kundin nicht im Sinne von Klientin, sondern im Sinn von Herrscherin. Wie im Vers: ›die Himmel und Erde geschaffen hat‹.«

Atalja: »Gut, macht so weiter, solange ihr wollt, mir scheint, euch beiden macht das Spaß.«

Sie sagte diesen Satz ohne Lächeln und auch ohne Pause zwischen dem »gut« und dem »macht so weiter«. Aber ihre warme Stimme war auch diesmal wie ein an Schmuel gerichtetes Versprechen, dass alles noch offen war, wenn er nur nicht übertrieb und sich nicht lächerlich machte. Sie stellte Schmuel ein paar kurze Fragen, von denen sie eine nachdrücklich und in einfacheren Worten wiederholte, weil sie mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Dann schwieg sie eine Weile, bevor sie zur Klärung noch einige Fragen hinzufügte.

Herr Wald sagte fröhlich: »Unser Gast ist sicher hungrig und durstig! Schließlich ist er direkt von den Höhen des Karmel zu uns gekommen. Ein paar Orangen, ein Stück Kuchen, eine Tasse Tee könnten hier Wunder bewirken.«

»Ihr beide setzt die Unterhaltung fort, und ich setze das Wasser auf.« Das Lächeln, das ihr offenbar schwer auf die Lippen kam, war jetzt an ihrer Stimme zu hören.

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging durch die Öffnung, die Schmuel Asch bis zu ihrer Ankunft überhaupt nicht bemerkt hatte. Doch jetzt, bei ihrem Weggehen, bewegten ihre Hüften den Vorhang aus orientalischen Perlenschnüren, der die Öffnung verdeckte. Auch als sie bereits verschwunden war, bewegte sich dieser Vorhang weiter, als schlüge er Wellen, er ließ sogar ein leises Plätschern hören oder ein Säuseln, von dem Schmuel wünschte, es würde nicht so bald aufhören.

7.

Manchmal geht das Leben nur langsam voran, es plätschert vor sich hin wie Wasser, das aus einer Regenrinne tropft und sich eine schmale Furche in den Garten gräbt. Dieses Rinnsal bleibt an jedem Erdklumpen hängen, wird gebremst, bildet eine kleine Pfütze, zögert, fräst sich durch den Erdklumpen, der ihm den Weg versperrt, oder gräbt sich unter ihm hindurch. Wegen der Hindernisse verteilt sich das Wasser und fließt in drei oder vier Rinnsalen weiter. Oder es gibt auf und versickert im Garten. Schmuel Asch, dessen Eltern auf einen Schlag ihre Ersparnisse verloren hatten, dessen Forschungen aufgehört hatten, dessen Universitätsstudium zu Ende war, dessen Freundin ihn verlassen hatte, um ihren früheren Freund zu heiraten, beschloss also, die angebotene Arbeit anzunehmen, die sich ihm in dem Haus in der Rav-Albas-Gasse bot. Inklusive »Pension« und inklusive eines bescheidenen monatlichen Salärs: jeden Tag einige Stunden mit dem körperbehinderten Mann verbringen und die restliche Zeit frei zu haben. Und da gab es ja auch noch Atalja, sie war fast doppelt so alt wie er, und trotzdem war er jedes Mal ein bisschen enttäuscht, wenn sie das Zimmer verließ. Schmuel bildete sich ein, eine Art Distanz oder einen Unterschied zwischen ihren Worten und ihrer Stimme wahrzunehmen. Sie sprach wenig und manchmal stichelnd, aber ihre Stimme war warm.

Innerhalb von zwei Tagen räumte er sein Zimmer im Viertel Tel Arza und zog in das Haus mit dem gepflasterten Hof um, der von einem Feigenbaum und von Weinreben beschattet war, das Haus, das ihm schon beim ersten Anblick gut gefallen hatte. In fünf Umzugkartons und einem alten Seesack brachte er Kleider mit, Bücher, seine Schreibmaschine und gerollte Poster mit Abbildungen des Gekreuzigten in den Armen seiner Mutter und Poster mit Helden der kubanischen Revolution. Unter dem Arm trug er den Plattenspieler und auf den Händen ein Bündel Platten. Diesmal stolperte er nicht über das wacklige Holzbrett hinter der Eingangstür, er überwandt sie mit einem langen Schritt.

Atalja Abrabanel unterrichtete ihn über seine Pflichten und die Regeln des Hauses. Sie zeigte ihm die Wendeltreppe aus Eisen von der Küche zu seiner Mansarde. Am Fuß der Treppe stehend, erklärte sie ihm, was er zu tun hatte, erklärte ihm die Küchensituation und den Umgang mit der Wäsche, dabei ruhte eine Hand mit gespreizten Fingern auf ihrer Hüfte, während die andere kurz über seinen Pullover fuhr und einen Strohhalm oder ein trockenes Blatt, das sich an der Wolle verhakt hatte, von seinem Ärmel zupfte. Präzise, sachlich sagte sie, und das rief in ihm dennoch die Vorstellung eines dämmrigen, warmen Zimmers wach:

»Schauen Sie, es ist so: Wald ist ein Nachtmensch: Er schläft immer bis mittags, weil er die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden wach ist. Sie werden jeden Tag von fünf Uhr nachmittags bis abends um zehn oder elf bei ihm in der Bibliothek sein und sich mit ihm unterhalten. Und das ist mehr oder weniger Ihre ganze Aufgabe. Jeden Tag werden Sie um halb fünf den Petroleumofen füllen und anzünden. Sie werden die Fische im Aquarium füttern. Sie brauchen sich nicht besonders anstrengen, um Gesprächsthemen zu finden – er wird für einen ausreichenden Themenvorrat sorgen, obwohl Sie schnell feststellen werden, dass er zu jenen gehört, die vor allem deshalb sprechen, weil sie keinen Moment des Schweigens ertragen. Und Sie brauchen keine Angst davor zu haben, mit ihm zu streiten – im Gegenteil, er wird erst richtig lebendig, wenn man ihm widerspricht. Wie ein alter Hund, der froh ist, wenn ab und zu ein Fremder kommt, weil er dann einen Grund hat, sich aufzuregen und zu bellen. Und manchmal sogar ein bisschen zu beißen. Nur im Spaß, natürlich. Außerdem können Sie beide Tee trinken, soviel Sie wollen. Hier sind der Wasserkessel, die Tee-Essenz und der Zucker, und da die Keksdose. Jeden Abend um sieben müssen Sie in der Küche seinen Brei warm machen, der immer auf der Elektroplatte bereitsteht, zugedeckt mit Stanniolpapier, den müssen Sie ihm bringen. Meistens isst er seine Mahlzeit mit Appetit und schnell, manchmal nimmt er aber nur einen Happen, oder er weigert sich überhaupt zu essen, dann drängen Sie ihn nicht. Fragen Sie ihn nur, ob Sie das Tablett schon abräumen können, und lassen Sie dann alles auf dem Küchentisch stehen. Zur Toilette kann er aus eigener Kraft gehen, auf Krücken. Um zehn erinnern Sie ihn bitte daran, seine Medikamente zu nehmen. Und um elf oder sogar noch früher stellen Sie eine Thermoskanne mit heißem Tee für die Nacht neben seinen Korbsessel, dann können Sie gehen. Bevor Sie ihn allein lassen, gehen Sie noch einmal kurz in die Küche, spülen den Teller und das Glas aus und packen alles zum Trocknen in das Gestell über dem Spülbecken. Nachts liest er im Allgemeinen oder schreibt, aber morgens zerreißt er fast immer alles, was er in der Nacht geschrieben hat. Wenn er allein im Zimmer ist, spricht er manchmal mit sich selbst. Er diktiert sich laut, was er schreiben will, und manchmal diskutiert er sogar mit sich selbst. Oder er spricht stundenlang am Telefon mit einem seiner drei, vier alten Feinde. Wenn Sie zufällig hören, dass er außerhalb Ihrer Arbeitszeit laut wird, kümmern Sie sich nicht darum. Ganz selten passiert es, dass er nachts laut jammert. Dann sollten Sie nicht zu ihm gehen. Lassen Sie ihn in Ruhe. Und was mich betrifft« (für einen Moment wurde ihre Stimme von einem gewissen Zögern unterbrochen, das aber sofort wieder verschwand). – »Nicht wichtig. Schauen Sie: Hier ist das Gas. Hier der Mülleimer. Der Elektroherd. Hier sind Zucker und Kaffee. Biskuits. Kekse. Trockenobst. Im Kühlschrank gibt es Milch und verschiedene Käsesorten und etwas Obst und Gemüse. Hier oben finden Sie Konservendosen, Fleisch, Sardinen, Erbsen und Mais. Zum Teil stehen die Dosen schon seit der Zeit der Belagerung Jerusalems bei uns. Das hier ist der Küchenschrank, da sind die Stromsicherungen. Und hier das Brot. Wir haben eine Nachbarin von gegenüber, keine junge Frau mehr, Sara de Toledo, sie bringt jeden Mittag eine vegetarische Mahlzeit für Herrn Wald und gegen Abend den fertig gekochten Brei herüber und stellt die Sachen auf unsere Elektroplatten. Sie wird dafür bezahlt. Der Brei, den sie bringt, reicht bestimmt auch für Sie. Mittags müssen Sie sich selbst versorgen. Es gibt in der Nähe ein kleines vegetarisches Restaurant, in der Ussischkinstraße. Schauen Sie, das ist der Wäschekorb. Jeden Dienstag kommt eine Haushaltshilfe. Bella. Wenn Sie mögen, kann Bella auch für Sie waschen und oben bei Ihnen saubermachen, ohne dass Sie zusätzlich etwas bezahlen müssen. Aus irgendeinem Grund hatte einer der Leute, die vor Ihnen hier waren, große Angst vor Bella. Ich habe keine Ahnung, warum. Ihre Vorgänger waren auf der Suche nach sich selbst. Was sie fanden, weiß ich nicht, aber keiner hat es länger als ein paar Monate ausgehalten. Anfangs waren sie ganz begeistert von der Mansarde, später waren sie bedrückt. Bestimmt sind auch Sie hergekommen, um allein zu sein und um sich selbst zu finden. Oder um neue Lyrik zu schreiben. Man könnte meinen, Mord und Folter seien vorbei, man könnte meinen, die Welt sei ohne jedes Leid und glücklich geworden und warte nun ungeduldig darauf, dass endlich, endlich eine neue Lyrik entsteht. Schauen Sie, hier gibt es immer saubere Handtücher. Und das ist meine Tür. Lassen Sie sich ja nicht einfallen, mich zu suchen. Nie. Wenn Sie etwas brauchen, wenn es ein Problem geben sollte, dann legen Sie einfach einen Zettel auf den Küchentisch, und ich besorge im Lauf der Zeit alles, was Sie brauchen. Fangen Sie bloß nicht an, aus Einsamkeit oder so etwas zu mir gelaufen zu kommen, wie Ihre Vorgänger es getan haben. Dieses Haus fördert offenbar Einsamkeitsgefühle. Aber dafür bin ich nicht zuständig. Ich habe nichts anzubieten. Und noch etwas: Wenn er allein ist, spricht er nicht nur mit sich selbst,