Katrin mit der großen Klappe - Marie Louise Fischer - E-Book

Katrin mit der großen Klappe E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Katrin ist immer eine der Ersten und gibt den Ton an. Selbstbewusst weiß sie zu allem und jedem etwas zu sagen. Katrin ist schlichtweg angesagt. Das ist ja auch keine Überraschung, wenn man in einem tollen Haus lebt, das ihr berühmter Vater sein Eigen nennt. Doch dann kommt heraus, dass Katrin gewaltig angegeben und sich alles nur ausgedacht hat. Was nun? Der Sturz ist zunächst gewaltig. An der Nase herumführen lassen sich die anderen nur ungern. Jetzt ist die andere – die gute – Seite in Katrin gefragt. Nun muss sie beweisen, was auch ohne die schöne Fassade in ihr steckt. Und das wird die anderen noch viel mehr überzeugen.-

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Marie Louise Fischer

Katrin mit der großen Klappe

SAGA Egmont

Katrin mit der großen Klappe

Katrin mit der goßen Klappe (Die Mädchen von der Parkschule, 1)

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1968 by F. Schneider, Germany

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711719503

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Die Mädchen aus der sechsten Klasse

Goldener Herbstsonnenschein fiel durch die großen Fenster der hellen modernen Parkschule und malte gelbe Kringel auf die Wände und die Tische der Klasse 6a.

Ein vorwitziger Strahl schien es ganz besonders auf Olga Helwig abgesehen zu haben. Er spielte in ihren roten Lokken, ließ sie aufleuchten, kitzelte ihr die Nase, so daß sie lächeln mußte.

Olga schloß die Augen. Ohne daß sie es merkte, glitten ihre Gedanken aus der Schulstunde fort und zurück in die herrliche Zeit der großen Ferien.

Frau Dr. Mohrmann ließ, während sie sprach, den Blick über die Klasse gleiten, begegnete neunundzwanzig interessierten, gelangweilten oder immerhin gefaßten Augenpaaren. Nur Olga Helwigs dunkelblaue Augen waren nicht zu sehen, sie hatten sich hinter den Lidern mit den dichten hellen Wimpern völlig verschanzt.

Aber das brachte die Klassenlehrerin nicht aus dem Konzept. „… und deshalb“, schloß sie ihren Vortrag, „leben wir hier und heute in einer Industriegesellschaft!“ Mit zwei, drei leisen Schritten stand sie vor dem Platz der Träumerin, peng, schlug sie mit dem Lineal auf den Schultisch. „Olga, bitte!“

Olga riß erschrocken die Augen auf. Sie war weit, weit fort gewesen, hatte sich in Gedanken am Strand der Nordsee geaalt. Sie war ganz überrascht, plötzlich Frau Dr. Mohrmann vor sich zu sehen. „Was?“ stammelte sie. „Wie bitte!“

„Wiederhole, was ich eben gesagt habe!“

Olga erhob sich, sehr langsam, um Zeit zu gewinnen, und dachte krampfhaft nach. Sie konnte nicht hoffen, daß Silvy Heinze ihr von hinten vorsagte oder Ruth Kleiber, ihre Tischnachbarin, ihr einen Zettel zuschob. Dafür stand Frau Dr. Mohrmann zu nahe. Sie mußte zugeben, daß sie geträumt hatte — und das würde zumindest eine saftige Strafarbeit bedeuten —, oder sich eine Antwort einfallen lassen. Tatsächlich hatte sie Frau Dr. Mohrmanns Worte gehört, aber sie nicht wirklich aufgenommen.

„Na, wird’s bald!“ drängte die Lehrerin.

„Sie haben gesagt, daß wir … wir auf einer Geburtstagsgesellschaft leben!“ brachte Olga mit dem Mut der Verzweiflung heraus.

Die ganze 6a brach in ein brüllendes Gelächter aus. Auch Olgas Freundinnen Silvy und Ruth konnten nicht anders, sie mußten mitlachen, und Katrin Bärs tiefe Stimme übertönte alle anderen.

Olga wurde glutrot, Tränen stiegen ihr in die Augen.

Frau Dr. Mohrmann hatte sich umgedreht und war zum Lehrtisch zurückgegangen. Ihre Schultern unter dem schikken hellen Twinset zuckten wie von unterdrücktem Lachen, aber als sie sich jetzt der Klasse zuwandte, war sie schon wieder ganz ernst. „Ruhe!“ donnerte sie. „Was soll denn das!? Ihr habt es gerade nötig, eine Kameradin auszulachen. Als wenn nicht jede von euch schon einmal eine selten dumme Antwort gegeben hätte!“

Den meisten der Schülerinnen erstarb das Lachen im Halse. Frau Dr. Mohrmann war jung und hübsch, aber sehr energisch, und es war nicht ratsam, sich mit ihr anzulegen.

Nur Katrin Bär lachte weiter, und da die anderen verstummten, schien ihr tiefes Gelächter auf einmal doppelte Lautstärke zu gewinnen. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, den großen Mund mit den weißen ebenmäßigen Zähnen so weit aufgerissen, daß man ihr bis in den Hals hinabsehen konnte, ihre schwarzen Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt.

„Katrin“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „da du gerade so guter Laune bist, wird es dir sicher besondere Freude machen, uns den Begriff Industriegesellschaft noch einmal zu erklären.“

Katrin klappte ihren Mund zu. „Na klar“, sagte sie dann, „warum denn nicht? Die Gesellschaft ist die menschliche Gemeinschaft, in der wir leben, und Industrie …“ Sie machte eine kleine Pause.

Sofort rief Silvy Heinze, die die ganze Zeit mit ihrem rechten Arm geschlenkert und mit Daumen und Mittelfinger geschnalzt hatte, dazwischen: „Industrie ist, wenn die Lebensmittel in der Fabrik hergestellt werden!“

Wieder lachte die ganze Klasse, nur Olga Helwig saß mit zusammengepreßten Lippen und verdunkelten Augen da. Sie verzog keine Miene, sondern starrte blicklos und schweigend geradeaus.

Ruth Kleiber, ihre Tischnachbarin, stieß sie an. „Menschenskind, Olga, warum lachst du denn nicht mit? Diesmal ist doch jemand anders der Dumme.“

Aber Olga ging gar nicht darauf ein, sie schob nur das Kinn noch ein bißchen höher.

„Wenn ich Lebensmittel sage“, schrie Silvy in das Gelächter hinein, „so meine ich natürlich nicht Kohl und Obst und … und Hasenbraten, sondern eben alles, was man zum Leben braucht!“

„Verbrauchsgüter also“, sagte Katrin.

„Was denn sonst?“

„Wenn du es weißt, warum sagst du es denn nicht?“

„Ich wollte dir ja bloß helfen!“

„Ha, ha, ha! Auf deine Hilfe bin ich zum Glück nicht angewiesen“, erklärte Katrin großspurig.

„Wenn ihr mit eurem privaten Gezänk fertig seid“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „können wir vielleicht weitergehen!“

„Ja, bitte“, sagte Katrin und warf Silvy einen Blick von oben herab zu. „Was ich gerade sagen wollte … Industriegesellschaft ist eine Gemeinschaft, die durch die Industrie geprägt wird.“

„Sehr gut“, lobte Frau Dr. Mohrmann.

Katrin setzte sich und murmelte: „Kleine Fische!“ — Aber sie tat es vorsichtshalber so leise, daß die Lehrerin sie nicht hören konnte.

Silvy Heinze meldete sich so nachdrücklich, daß Frau Dr. Mohrmann nicht umhin konnte, sie aufzurufen.

„Es gibt aber auch eine Lebensmittelindustrie!“ sagte Silvy und sah sich herausfordernd im Kreise ihrer Mitschülerinnen um, als wäre sie fest entschlossen, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. Aber dazu kam es gar nicht.

„Stimmt“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „aber die Lebensmittel werden in der Industrie nicht hergestellt, sondern nur verarbeitet.“

„Aber nicht mehr lange“, behauptete Silvy. „Vielleicht kann man schon bald Lebensmittel künstlich erzeugen …“

„Chemisches Brot?“ fragte eine Schülerin von ganz hinten.

„Ja, vielleicht“, sagte Silvy, „aber möglicherweise auch Brot in Pillenform oder …“

Wieder lachten alle außer Olga, die immer noch mit verbissener und finsterer Miene dasaß.

„Es ist nicht ausgeschlossen, daß es eines Tages so weit kommt“, sagte Frau Dr. Mohrmann und ging zum Fenster hin.

Silvy benutzte den Augenblick, da sie der Klasse den Rücken zuwandte, um den anderen die Zunge herauszustrecken und ein lautloses: „Bäh!“ mit den Lippen zu formen.

„… aber wir wollen uns jetzt nicht mit der Zukunft und allen ihren Möglichkeiten befassen, sondern mit der Gegenwart.“ Frau Dr. Mohrmann ließ die Sonnenblende vor das vordere Fenster gleiten und drehte sich wieder um. „Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, was es für uns bedeutet, in einer Industriegesellschaft zu leben?“ fragte sie.

Niemand meldete sich, nicht einmal die siebengesdheite Silvy.

„Denkt, bitte, mal darüber nach!“

Ruth Kleiber hob, ein wenig zaghaft, den Finger.

„Ja?“

„Viele Sachen sind billiger als früher“, sagte Ruth unsicher und fügte in einem Atemzug hinzu: „Oder etwa nicht?“

„Natürlich nicht!“ rief Silvy, ohne gefragt zu sein. „Wie kommst du denn auf den Quatsch? Meine Mutter sagt, daß alles ständig teurer wird, und mein Vater …“

„Still!“ fuhr Frau Dr. Mohrmann dazwischen. „Jetzt ist Ruth dran! Bitte, Ruth, erkläre uns doch mal, warum du glaubst, daß viele Verbrauchsgüter billiger geworden sein könnten?“

„Ich weiß nicht“, sagte Ruth verwirrt.

„Irgend etwas wirst du dir doch dabei gedacht haben! Olga, willst du deiner Freundin nicht helfen?“

„Nein“, sagte Olga mit erstickter Stimme.

„Sie schmollt wieder mal!“ rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

„Daß dir das nicht selber albern vorkommt, Olga“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Bitte, wer von euch findet, daß Ruth recht hat? Wer weiß ein Argument, mit dem man Ruths Behauptung untermauern könnte?“

Leonore Müller hob den Finger, und Frau Dr. Mohrmann nickte ihr zu.

„Der Handwerker“, sagte Leonore langsam, „macht einen Gegenstand, sagen wir mal einen Anzug, von Anfang an. Nur der Stoff und die Zutaten werden ihm geliefert. Er schneidet den Anzug für einen einzelnen Menschen zu, näht ihn, läßt ihn anprobieren, vielleicht sogar zweimal und dreimal, füttert ihn, näht die Knöpfe an …“

„Wozu erzählst du uns das?“ rief Silvy. „Das wissen wir doch selber!“

„Silvy“, mahnte Frau Dr. Mohrmann, „wenn du noch einmal dazwischenredest, ist eine Strafarbeit fällig, verstanden?“

„Jawohl, Frau Doktor“, sagte Silvy — aber nicht etwa reuevoll, sondern in einem geradezu herablassenden Ton.

„In der Fabrik“, fuhr Leonore fort, „werden, sagen wir mal, hundert Anzüge auf einmal hergestellt, alle in einer Größe, und ich glaube, bloß der Zuschneider braucht ein wirklich gelernter Schneidermeister zu sein. Das Nähen, Füttern, Knöpfeannähen wird von Hilfsarbeitern durchgeführt, und zwar am laufenden Band. Einer oder eine setzt den ganzen Tag nur Ärmel ein, eine andere näht nichts als Knopflöcher, wieder eine andere nur die Knöpfe an! Also, worauf ich hinaus will, auf diese Weise muß ein Anzug billiger herzustellen sein, als wenn man sich einen vom Schneider machen läßt.“

Als sie merkte, daß Silvy sich kaum noch zurückhalten konnte, redete sie rasch weiter: „Das ist auch wirklich so! Das weiß ich von meinem Vater. Ein Anzug, den man fertig kauft, von der Stange nennt man das, ist billiger als ein vom Schneider gefertigter!“

„Ausgezeichnet, Leonore“, lobte Frau Dr. Mohrmann, „mir scheint, du hast dir über diese Dinge schon öfters den Kopf zerbrochen …“

Leonore strahlte, sagte aber rasch: „Ach, nein, das ist mir nur gerade so eingefallen. Ruth hat mich auf den Gedanken gebracht.“

„Einen sehr richtigen Gedanken“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „zu schade, daß du ihn nicht verteidigen konntest, Ruth. Es ist vollkommen richtig, die industrielle Herstellung und Bearbeitung hat die Verbrauchsgüter entscheidend verbilligt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts und vor allem zu Ende des vorigen, als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckte, waren viele Güter, deren Gebrauch uns heute ganz selbstverständlich ist, nur einer kleinen Gruppe von Reichen vorbehalten. Die armen Leute, und das waren damals die allermeisten, waren wirklich arm. Es fehlte ihnen nicht nur das Geld auf der Bank, sondern sie hatten auch keine Mäntel, stattdessen ein Umschlagtuch, höchstens ein Paar Schuhe, kein Kleid zum Wechseln, versteht ihr? Wenn wir heute hören, was damals alles kostete, so scheint uns das außerordentlich wenig. Aber wir vergessen, daß das Geld damals einen ganz anderen Wert hatte und daß die Menschen damals unverhältnismäßig weniger verdient haben. Wenn eure Eltern heute klagen, daß Lebensmittel und Verbrauchsgüter in den letzten Jahren teurer geworden sind, so hängt das mit dem schwankenden Wert des Geldes zusammen. Woran das liegt, ist zu kompliziert, um es euch begreiflich zu machen. Es ändert nichts an der Tatsache, daß die Industrie der breiten Masse, also uns allen, das Leben erleichtert hat. Sie hat uns Gebrauchsgüter und Lebensmittel erschwinglich gemacht und uns zudem den Zugang zu Luxusgütern eröffnet, von denen unsere Großeltern kaum zu träumen gewagt hätten. Was hat die Industrialisierung noch mit sich gebracht?“

„Reklame!“ platzte Olga heraus.

Einige der Mädchen lachten.

Olga sprang auf und schrie: „Ihr seid gemein! So gemein seid ihr! Ich kann sagen, was ich will, ich werde ausgelacht! Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Sie rannte zur Türe.

Aber Frau Dr. Mohrmann vertrat ihr den Weg und fing sie ab. „Hoppla“, sagte sie, „nun mal nicht so stürmisch! Deine Kameradinnen haben ja nur gelacht, weil du deinen Schmollwinkel so unerwartet verlassen hast. Deine Antwort war vollkommen richtig.“

„Dann war es doppelt gemein, mich auszulachen.“

„Unsinn, Olga, du bist einfach überempfindlich. Und fang jetzt bloß nicht an zu weinen, das ist doch wirklich zu albern.“

Olga kehrte langsam auf ihren Platz zurück, und es war ihr anzusehen, daß sie sich sehr schlecht behandelt fühlte.

„Die Industrie muß Reklame machen, sie muß werben, um das, was sie herstellt, zu verkaufen“, erklärte Frau Dr. Mohrmann. „Aber ich wollte eigentlich auf eine andere Antwort hinaus. Die Industrie hat einen ganz unmittelbaren Einfluß auf unser privates Leben … genauer gesagt … auf euer privates Leben! Denkt mal nach!“

Sie ließ ihren Schülerinnen Zeit, sah sich erwartungsvoll in der Klasse um, aber niemand meldete sich.

„Na, Silvy?“

„Es wird gestreikt.“

„Auch, aber das hat kaum etwas mit eurem privaten Leben zu tun … eurem Familienleben!“ Sie hatte das letzte Wort ganz besonders betont.

Aber keinem der Mädchen fiel ein, worauf sie hinaus wollte.

„Leonore!“ sagte Frau Dr. Mohrmann. „Du hast uns doch eben so schön den Unterschied zwischen Handwerkertum und Industrie erklärt …“

Leonores rundes braunes Gesicht wirkte ganz töricht, weil sie vor lauter Nachdenken die Stirn in Dackelfalten legte und den Mund offenstehen ließ. Sie begriff nicht, was die Lehrerin noch von ihr wollte.

„Was war denn dein Großvater?“ versuchte Frau Dr. Mohrmann ihr zu helfen.

„Mütterlicher- oder väterlicherseits?“ fragte Leonore zurück.

Einige ihrer Mitschülerinnen fanden das komisch, aber sie spürten alle, daß es unangebracht gewesen wäre, laut herauszulachen. Sie kicherten nur unterdrückt.

„Das ist gleich“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Mich interessiert nur der Beruf.“

„Der Großvater meines Vaters war Bauer und …“

„Stop! Bleiben wir dabei! Hat dir dein Vater mal etwas von seinem Großvater erzählt?“

Leonore schlang sich nachdenklich eine Strähne ihres braunen, schulterlangen Haares um den Zeigefinger. „Mein Urgroßvater hatte mindestens sieben Kinder, vielleicht waren es auch mehr, und wenn mein Vater in den Ferien zu Besuch auf den Bauernhof kam, dann mußte er mithelfen, die Ernte einzubringen. Mein Urgroßvater konnte keine Faulpelze leiden.“ Leonore brach ab. „Ja, mehr weiß ich nicht.“

„Danke, Leonore, das war schon sehr viel.“ Frau Dr. Mohrmann wandte sich an die Klasse. „Die Enkel des Urgroßvaters mußten also auf dem Hof mithelfen, und die Kinder des Urgroßvaters …“

„Die erst recht!“ rief Katrin.

„Und seine Frau?“

„Natürlich auch!“ sagte Silvy.

„Die ganze Familie half also zusammen, nicht wahr? So war es nicht nur bei den Bauern, sondern auch bei den Handwerkern und bei den Heimarbeitern. Die Familie half dem Vater bei der Arbeit. Und heute?“

„Brauchen wir nur noch der Mutter beim Abwaschen zu helfen!“ sagte eines der Mädchen.

„Tja, falls man keine Geschirrspülmaschine hat!“ ließ sich Katrin vernehmen.

„Bleiben wir erst mal beim Vater“, sagte Frau Dr. Mohrmann. „Was hat sich in der Industriegesellschaft geändert?“ Sie gab sich selber die Antwort. „Die meisten von euch werden sehr wenig von der Arbeit ihrer Väter wissen. Der Vater arbeitet nicht mehr zu Hause, nicht mehr in der Nähe der Wohnung, selten noch in einem Laden oder einem Betrieb, der in der Wohnung oder nahe dabei ist, sondern meistens in irgendeiner großen Firma, zu der die Familie keine Beziehung hat. Habe ich recht?“

Sie bekam so viele Antworten auf einmal, daß sie eine Weile warten mußte, bis sich der Sturm gelegt hatte.

„Fein“, sagte sie, „ich sehe, das ist ein Thema, das euch interessiert und über das ihr viel zu erzählen wißt. Dann wird es euch bestimmt freuen, einen Aufsatz darüber zu schreiben …“

Sie achtete nicht auf die langgezogenen „O - o - o - chs“, die hörbar wurden, sondern ging zur Wandtafel, nahm die Kreide und schrieb mit ihrer schönen flüssigen Schrift: „Was ich von dem Beruf meines Vaters weiß …“ Sie drehte sich zur Klasse hin um. „Wem gar nichts einfällt oder wer aus irgendwelchen anderen Gründen nicht über seinen Vater schreiben will, kann auch den Beruf eines Großvaters oder Urgroßvaters zum Thema nehmen. Ihr habt drei Tage Zeit.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, und genau in diesem Augenblick klingelte es zur großen Pause.

Im Wäldchen der Parkschule

Der Architekt, der die Parkschule entworfen hatte, hatte sich für den Schulhof etwas Besonderes ausgedacht: ein Stück der alten Stadtwaldes war in das Schulgebäude einbezogen. Die Buchen und Tannen standen nur nicht mehr so dicht wie im Wald, das Unterholz war niedergemacht, der Boden planiert worden. Jetzt konnte man zwischen den Bäumen spazieren gehen, Nachlaufen und Verstecken spielen.

Der Baumbestand machte es den Lehrern einigermaßen schwierig, ihre Schäfchen während der Pause im Auge zu behalten. Aber die Schülerinnen liebten ihr „Wäldchen“, wie sie es zärtlich nannten, und in den Pausen war es immer der Hauptanziehungspunkt.

Die Mädchen der 6 a stürmten mit einer Geschwindigkeit aus der Klasse und die breite, geschwungene Treppe hinunter, als gälte es einen Weltrekord zu brechen, allen voran die Freundinnen Katrin, Silvy, Olga, Ruth und Leonore. Sie wollten ihren Lieblingsplatz, einen Bretterstapel, erreichen, der ihnen bei jeder Gelegenheit von den Mädchen der 8. Klasse streitig gemacht wurde.

Diesmal schafften sie es und kletterten mit Hallo hinauf. Der Bretterstapel lag so günstig, daß auch jetzt, im Spätherbst, das volle Sonnenlicht darauf fiel. Außerdem bot er eine wunderbare Aussicht auf den Stadtwald, der sich einen kleinen Berg hinaufzog und in gelben, roten, grünen und braunen Tönen leuchtete.

Die Mädchen reckten ihre Gesichter der Sonne entgegen, tun ihre sommerliche Bräune aufzufrischen. Nur Olga Helwig lehnte im Schatten einer Buche.

Leonore streckte ihr die Hand hin. „Komm, Olga, es ist noch ein Platz frei! Ich helfe dir rauf!“

Olga schüttelte stumm den Kopf.

„Laß sie doch“, sagte Katrin. „Sie bockt wieder mal!“

„Das ist nicht wahr!“ Olga stampfte mit dem Fuß auf, sie war rot geworden.

„Dann hat sie wahrscheinlich Angst vor Sommersprossen! “ behauptete Silvy.

„Ihr seid gemein!“ schrie Olga und stürzte davon.

Alle lachten, außer Leonore.

„Ihr müßt die arme Olga nicht immer so ärgern“, sagte sie. „Ihr wißt, wie überempfindlich sie ist. Außerdem ist das mit den Sommersprossen Quatsch. Im Herbst kriegt man gar keine mehr.“ Sie rutschte von dem Stapel herab.

„Wo willst du hin?“ fragte Ruth.

„Olga zurückholen. Allein findet sie sonst wieder eine ganze Woche nicht aus ihrem Bock heraus.“

„Und was wird aus uns?“ rief Ruth erschrocken. „Wenn die Achte kommt …“

„… müßt ihr sie eben zurückschlagen oder das Feld räumen!“ erklärte Leonore ungerührt und verschwand.

„Langsam fängt diese Olga wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen“, sagte Silvy.

„Nicht halb so sehr wie das Mohrchen“, sagte Katrin und biß kräftig in ein gut belegtes Butterbrot. „Was die uns immer erzählt … Industriegesellschaft! Ich möchte wetten, davon steht kein Wort im Lehrplan.“

„Ich finde das eigentlich ganz nett“, meinte Silvy gnädig, „Mohrchen läßt sich wenigstens hin und wieder mal was einfallen.“

„Ja, ein Aufsatzthema für uns!“ Katrin baumelte mit ihren langen Beinen und trommelte mit den Fersen gegen den Stapel, „Das heißt auf gut deutsch: wir müssen es ausbaden.“

„Ist doch gar nicht schwer!“ erklärte Ruth mit überraschender Sicherheit. „Über den Beruf meines Vaters kann ich Bände schreiben.“

„Kunststück! Dein Vater ist Friseur! Da kannst du immer zugucken, was er macht!“ rief Silvy. „Aber was soll ich sagen? Mein Vater ist Versicherungskaufmann. Könnt ihr euch da was drunter vorstellen?“