Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Jahr 1537, das für Henry VIII. so verheißungsvoll begonnen hat, endet in einer Tragödie. Geplagt von starken Stimmungsschwankungen und einem dahinsiechenden Körper, wird der König zu einem unberechenbaren Faktor für seine Umgebung, während Thomas Cromwell sich anschickt, die Zukunft Englands nach seinen Ideen zu gestalten. Doch er macht einen Fehler.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Martina Lorenz
DIE TUDOR-DYNASTIE
TEIL III
KEIN ANDERER WILLE
Roman
Romanreihe und Autorin
Es gibt Dinge, die waren, Dinge, die vielleicht waren, und Dinge, die hätten sein können. Diese Idee ist die Grundlage des mehrteiligen historischen Familienromans über die Tudors. Hinter den geschichtlichen Tatsachen stehen Menschen mit ganz unterschiedlichen Beweggründen: Ehrgeiz, Pflichtgefühl, Liebe, Angst, Rache. Einige halten die Macht in der Hand, einige fallen ihr zum Opfer. Manchmal sind es dieselben.
Die Romanreihe im Überblick
Band I: Machtspiele (1486 – 1526)
ISBN Printausgabe 978-3-945886-08-3
Band II: Sie ist mein Tod (1526 – 1537)
ISBN Printausgabe 978-3-945886-09-0
Band III: Kein anderer Wille (1537 – 1547)
ISBN Printausgabe 978-3-945886-10-6
Martina Lorenz wurde 1963 geboren, studierte Linguistik, Anglistik und Germanistik und war Lehrerin für Fremdsprachen. Ihre Hobbys sind Schreiben, Malen, Geschichte und Königshäuser. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Schwäbisch Gmünd.
»In den Tudors vereint sich eine bewegte Familiengeschichte mit spannenden historischen Ereignissen, die England grundlegend und nachhaltig veränderten. Ich hatte meine erste Begegnung mit den Tudors in meinem Englischbuch der 8. Klasse, und seither haben sie mich nicht mehr losgelassen.« M.L.
Über dieses Buch
Nein, er zweifelte nicht mehr an Gottes Gerechtigkeit.
Er wusste, dass sie nicht existierte.
Das Jahr 1537, das für Henry VIII. so verheißungsvoll begonnen hat, endet in einer Tragödie. Geplagt von Stimmungsschwankungen und einem dahinsiechenden Körper, wird der König zu einem unberechenbaren Faktor für seine Umgebung, während Thomas Cromwell sich anschickt, die Zukunft Englands nach seinen Ideen zu gestalten. Doch er macht einen Fehler.
Band III des mehrteiligen Romanzyklus erzählt die Geschichte der Tudors und ihrer Weggefährten von 1537 bis 1547, dem Todesjahr Henrys VIII.
Impressum
Inhalt © 2020 by Martina Lorenz
Cover © 2020 by Martina Lorenz /canva.com
Verlag: Sprache & Text
Martina Lorenz
Ludwig-Bölkow-Str. 19 73568 [email protected]
Erstveröffentlichung Printausgabe 2020
e-book-Veröffentlichung 2024 (epubli)
Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für
die drei wichtigsten Menschen
in meinem Leben
Martin
Maxim & Sebastian
Mitte September 1537 begab sich Königin Jane, die dritte Gemahlin Henrys VIII., nach Hampton Court, wo ihr Wöchnerinnengemach für sie bereitstand. Sie war schwerfällig geworden, und ihr Leib hatte mittlerweile einen so gewaltigen Umfang, dass gemunkelt wurde, die Ärzte hätten sich im Geburtstermin getäuscht und das Kind, der lang ersehnte Thronerbe, sei jeden Tag fällig. Trotz ihrer Unbeweglichkeit und der typischen Beschwerden am Ende einer Schwangerschaft fühlte Jane sich gut. Das Kind in ihr regte sich lebhaft, und sie hatte mit ihrer Schwester Elizabeth Cromwell und ihrer Stieftochter Mary zwei angenehme und sehr fürsorgliche Gefährtinnen um sich. Vor allem Mary wich kaum von Janes Seite und versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Es geschah nicht nur aus Dankbarkeit darüber, dass Mary in Jane eine zweite Mutter gefunden hatte, der sie sich anvertrauen konnte und die – bei aller Liebe, die Mary für ihre leibliche Mutter empfand – doch so viel weltoffener war und keine Scheu hatte, über Dinge zu sprechen, die Katharina aus Pietät und Moral niemals erwähnt hätte. Es war auch eine nicht zu unterdrückende Neugier und Anteilnahme an den körperlichen Vorgängen einer Schwangerschaft, die Mary stets Janes Nähe suchen ließ. Sie konnte Jane alles fragen, und diese erzählte bereitwillig, wie es sich anfühlte, wenn das Baby sich bewegte, ließ Mary sogar mit der Hand die kleinen Tritte fühlen, sie sprach mit ihr über die schwerer und voller werdenden Brüste und erklärte ihr, woher es kam, dass sie nun so häufig austreten musste. Es war eine Welt unter Frauen, wie Mary sie bisher nie gekannt hatte, und sie sog dieses Weiblichsein förmlich in sich auf. Ihre Regelschmerzen hatten sich durch Janes Kräutertränke und Salben ebenfalls gebessert und waren nun wenigstens so erträglich, dass Mary nicht voller Angst jeder Blutung entgegensah.
Sie betrachtete Jane, die in der milden Spätsommersonne am Fenster saß und auf den Park hinunterblickte. Wie glücklich sie aussah, wie zufrieden. Mary hatte den Eindruck, als habe ihre Stiefmutter durch die Schwangerschaft eine ganz neue Sicherheit und ein Selbstbewusstsein gewonnen, die sie vorher an ihr nicht bemerkt hatte. Sie vollzog ihre Rolle als Königin mit einer natürlichen, freundlichen Autorität und hatte in den vergangenen Monaten mit sanfter Entschlossenheit ihren Hofstaat von jeglichem Boleynschen Firlefanz und Pomp befreit. Mary dachte daran, wie Lady Lisle Jane nahezu angefleht hatte, dass ihre beiden Töchter bei ihr Hofdamen werden konnten, aber Jane hatte ihr eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie maximal eine aufnehmen würde, und auch dies nur, wenn diese angemessen ausgestattet war, denn für die Garderobe ihrer Hofdamen wollte sie nicht aufkommen. Anne Bassett, die ältere der beiden Schwestern, fand schließlich Gnade vor Janes Augen, nachdem sie eilig die französischen Hauben und die dicht mit Perlen bestickten Mieder gegen gediegenere und weniger auffällige Kleidung ausgetauscht hatte.
Was Mary an Jane damals am meisten bewundert hatte, war ihre Ruhe, die sie bewahrte, obwohl sie über Anne Bassetts Auftreten verärgert war. Mary wusste, dass sie selbst ein hitziges Temperament besaß und diese Angelegenheit niemals so gelassen hätte regeln können.
»Was ist, Mary?«, fragte Jane plötzlich. »Du schaust mich schon die ganze Zeit an. Hast du etwas auf dem Herzen?«
Mary schüttelte den Kopf. »Ihr seid … so vollkommen«, sagte sie leise.
Jane lächelte erstaunt, dann erhob sie sich und kam zu Mary. »Wir sind alle Gottes Geschöpfe und so vollkommen, wie er uns geschaffen hat«, sagte sie und legte Mary liebevoll den Arm um die Schulter. »Und wirklich vollkommen werden wir erst durch die Erlösung unseres Herrn Jesus Christus.«
Mary nickte. »Ja, ich weiß. Aber wenn ich Euch so sehe, dann merke ich, dass eine Frau ihre Erfüllung und Bestimmung in ihrer Rolle als Mutter findet.«
»Es ist wahr«, sagte Jane nach kurzem Nachdenken und ließ sich schwerfällig auf einem Stuhl nieder. »Durch das Kind in mir habe ich eine Selbstsicherheit gewonnen, von der ich früher nicht zu träumen gewagt hätte. Ich habe ein Stück mehr zu mir gefunden.«
»Ich hoffe, dass ich eines Tages auch Kinder haben werde. Kinder sind etwas so Wunderbares, und wenn ich Euch so sehe in Eurem Glück, dann wünsche ich mir nichts sehnlicher, als auch Mutter zu werden.«
»Zweifelst du etwa daran?«
Mary zuckte die Schultern. »Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt jemals einen Ehemann finden werde. Bisher hat nichts funktioniert, und wer weiß, ob mich überhaupt noch jemand haben will. Was bin ich denn? Ich habe keinen Anspruch auf den Thron, katholische Kandidaten sehen meine Position skeptisch, zu Recht, ich kann es ja verstehen, und für protestantische komme ich schon gar nicht in Frage. Abgesehen davon, dass auch sie für mich nicht in Frage kämen. Und ich will eigentlich auch nicht nur aus irgendeinem politischen Kalkül heraus verheiratet werden«, fügte sie trotzig hinzu.
»Du möchtest aus Liebe heiraten, das ist verständlich. Diesen Wunsch hat doch jede Frau«, sagte Jane und fasste sich verstohlen mit der Hand auf den Bauch. Sie hatte das Gefühl, dass er sich zusammenzog, ein eigenartiges Krampfen, nicht schmerzhaft, aber unangenehm. Sie veränderte ihre Sitzposition, doch da war es schon wieder vorbei. »Gibt es denn jemanden, den du dir als Ehemann vorstellen könntest? Wenn nur dein Herz spräche, ungeachtet aller religiösen, politischen oder standesgemäßen Faktoren?«, fragte sie.
Mary wurde rot, und Jane lächelte verschmitzt. Es gab also jemanden, das konnte Mary nicht verbergen.
»Ich … es ist mir peinlich, darüber zu reden. Es … ich schäme mich, es ist nicht richtig …«
»Peinlich, weil du Gefühle hast? Daran ist nichts Unrechtes. Nun sag schon, wer hat dein Herz erobert?«
Mary schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht sagen, dass er mein Herz erobert hat. Es ist nur … ach, es hat ohnehin keinen Sinn.«
»Deswegen kannst du trotzdem darüber sprechen. Du vertraust mir doch?«
»Ihr würdet es niemandem sagen – auch meinem Vater nicht?«
»Nein, ich werde es niemandem sagen. Versprochen.«
Mary holte tief Luft, sie schien sich immer noch nicht überwinden zu können: »Es ist … er ist seit langem schon nicht mehr in England, und er ist viel älter als ich, ich weiß auch nicht, er … ich bewundere ihn und seine Aufrichtigkeit, und er …« Mary schwieg verlegen, und Jane sah sie abwartend an. »Es ist Reginald Pole. Als seine Mutter noch in meinen Diensten war, hat er sie öfter besucht, und …« Nun verstummte Mary endgültig.
»Er ist ein anständiger, netter und gutaussehender Mann«, sagte Jane und rechnete. Reginald Pole war sogar eine ganze Ecke älter als sie selbst, er musste weit über dreißig sein. Aber darum ging es jetzt nicht. Die Verbindung würde nie zustande kommen, allein schon deswegen, weil Pole sich der katholischen Kirche verschrieben hatte.
Jane konnte an diesem Abend lange nicht einschlafen. Das Gespräch mit Mary ging ihr nicht aus dem Kopf, vor allem, was diese über das Muttersein gesagt hatte.
Sie hatte Mary nicht angelogen damit, dass sie glücklich war in ihrer Schwangerschaft. Aber sie hatte ihr nicht gesagt, dass sie Angst hatte vor der Geburt. Sie hatte Angst, dass das Kind zu groß sein könnte. Wenn sie ihren gewaltigen Bauch betrachtete, war diese Vermutung durchaus berechtigt. Sie hatte Angst vor den Schmerzen. Und sie hatte Angst, dass es ein Mädchen sein könnte. Sie wünschte, sie könne immer in diesem Zustand der Erwartung bleiben. So, wie es jetzt war, war alles gut. Aber der Tag der Entbindung kam näher und ihr grauste davor.
Am 7. Oktober 1537 schenkte Frances Grey, die Tochter von Charles Brandon und Henrys verstorbener Schwester Mary, einem gesunden Mädchen das Leben, welches, wie ihr Großvater dem König bereits angekündigt hatte, auf den Namen Jane getauft wurde.
Die kleine Jane stand allerdings nicht lange im Mittelpunkt, denn ganz London schaute mit wachsender Ungeduld nach Hampton Court, wo am Nachmittag des 9. Oktober bei Königin Jane endlich die Wehen einsetzten.
Als bekannt wurde, dass die Geburt des Thronfolgers begonnen hatte, wurden überall im ganzen Land Glocken geläutet, und in allen Kirchen betete man um eine komplikationslose und gesunde Niederkunft der Königin. Die Gebete und Gesänge dauerten den ganzen folgenden Tag an, und als auch der 11. Oktober sich schon neigte, ohne dass erlösende Nachrichten aus Hampton Court eintrafen, machten sich Unruhe und Besorgnis in der Bevölkerung breit. Es konnte nicht sein, dass die Königin noch immer nicht entbunden hatte. Die Prozession, die am Abend des 11. Oktober von der St. Paul’s Kathedrale zur Westminster Abtei schritt, trug ernste Gesichter, und die Gebete für die Königin wurden drängender und inständiger.
Jane lag in den Kissen und schrie. Die Schmerzen rissen wie mit glühenden Zangen an ihrem geschundenen Leib; sie hatte das Gefühl, von einer unsichtbaren Macht in ihrem Inneren zerbrochen zu werden.
»Es kommt nicht voran«, sagten die Hebammen zueinander. »Sie ist zu schwach.«
Eine neue Welle von Schmerz überwältigte Jane; eine der Hebammen warf sich auf ihren sich windenden Körper und versuchte, dem Kind den Weg nach draußen zu bahnen. Es war vergeblich. Die Wehe ebbte ab, und Jane schloss keuchend die Augen, in dem Wissen, dass die höllischen Schmerzen gleich wieder über sie herfallen würden. »Lass mich sterben«, sagte sie tonlos vor sich hin, »rette das Kind und lass mich sterben. Nimm mir diese Schmerzen – aaaaaAAAAAAh!« Ihr Schmerzensschrei erstickte und endete in einem hohen, schwachen Wimmern, sie schnappte nach Luft und schrie erneut ihre Qualen hinaus.
Der mittlerweile herbeigerufene Dr. Butts wagte, es auszusprechen: »Wir müssen den König informieren, für den Fall, dass eine Entscheidung getroffen werden muss. Wir können vielleicht nur ein Leben erhalten: das der Mutter oder das des Kindes.«
Dr. Butts ließ vorsorglich alles für einen Kaiserschnitt bereitlegen. Er hatte diese Operation noch nie durchgeführt, aber es war die einzige Möglichkeit, die er in diesem Moment noch sah, um wenigstens das Kind zu retten. Für die Mutter sah er keine Hoffnung mehr, egal, wie diese Sache ausging. Wenn das Kind aus ihr herausgeschnitten werden musste, würde sie an der Wunde verbluten. Würde das Kind in ihr bleiben, weil sie zu schwach war, es zu entbinden, dann würde es in ihr absterben und sie schließlich mit in den Tod nehmen.
Nelly Osborne, eine junge Hebamme, konnte es nicht akzeptieren, dass man Jane mehr oder weniger aufgegeben hatte. Sie setzte sich ans Kopfende zu Jane, die mittlerweile fast ohnmächtig in den schweißgetränkten, verschmierten Laken lag und griff ihre kalte, klatschnasse Hand.
»Madam, ich bitte Euch, Ihr müsst nun ganz, ganz stark sein. Gebt all Eure Kraft und schiebt das Kind aus Euch heraus. Atmet aus, wenn die Schmerzen kommen und presst, presst! Es wird alles gut. Kommt, jetzt! Ich helfe Euch!« Nelly Osborne drückte während der nächsten Wehe auf Janes Bauch, und tatsächlich merkte sie, wie etwas in Gang kam. Das Kind bewegte sich. Gott sei Dank. »Euer Kind lebt, Madam, und es wird bald da sein«, sagte sie zu Jane, der diese Worte noch einmal letzte Kräfte verliehen. »Weiter so, Madam, Ihr macht das sehr gut! Noch einmal, ja!«
Jane presste und schrie, sie meinte, bersten zu müssen, aber sie wollte diesem Kind das Leben schenken. Es würde das Letzte sein, was sie auf dieser Welt tun konnte, und sie musste durchhalten für ihr, für Henrys Kind.
»Der Kopf kommt«, hörte sie jemanden sagen, dann riss eine neue Schmerzwelle sie fort.
Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein zartes Wimmern und Quäken. In ihrem Kopf drehte sich alles, und im Zimmer hing der widerliche metallische Geruch von Blut. Sie zwang sich, die Augen offenzuhalten und erkannte das lächelnde Gesicht der jungen Hebamme.
»Ihr habt einen gesunden Sohn, Hoheit. Es ist alles gut. Ihr habt es geschafft.«
Jane schloss die Augen wieder. Ein Sohn. Gesund. Sie hatte einen gesunden Sohn geboren. Sie spürte, wie ihr etwas Weiches, Warmes, Lebendiges in den Arm gelegt wurde, und dann überwältigten sie die Tränen des Glücks, der Erschöpfung und der Erleichterung. Sie konnte es nicht fassen, dass sie hier lag, lebend, ohne Schmerzen, und dieses wunderbare kleine Wesen, ihr eigenes Fleisch und Blut, Henrys Erben, in den Armen halten durfte. Alle Qualen der letzten Tage waren vergessen. Es war der schönste Moment ihres Lebens, der 12. Oktober 1537, kurz nach zwei Uhr morgens.
Aus irgendeinem Winkel des Palasts hörte sie Fanfaren, die den König ankündigten. Wenige Minuten später kniete er an ihrem Bett, und sie hielt ihm stolz den Sohn entgegen.
»Edward«, murmelte er ergriffen und streichelte behutsam über das kleine Gesicht. »Er sieht uns beiden ähnlich«, sagte er zu Jane und lachte. »Ach, Jane, wie wunderschön er ist. Ich bin so glücklich und so stolz. Und er wurde am St.-Edwards-Tag geboren, ist das nicht perfekt? Ich werde gleich Herolde losschicken, die die frohe Nachricht verkünden. England hat einen Erben!«
Die Stadt tobte. Ein wahrer Freudentaumel hatte sie ergriffen, als Edwards Geburt bekannt wurde. Nach dem langen Bangen und den schlimmen Vorahnungen, die Janes lange Niederkunft begleitet hatten, war der Jubel nun umso größer. Alle Kirchenglocken läuteten, das Te Deum wurde gesungen, der trübe Herbsthimmel wurde erhellt durch Leuchtfeuer, Kanonenschüsse donnerten über die Themse, und am Hafen entzündeten die Kaufleute der Hanse hundert Fackeln und schenkten Wein und Bier gratis aus. Überall in London entstanden spontane Feste, die Menschen trafen sich auf der Straße, um die Geburt des Thronerben zu feiern. Auch hier gab es den ganzen Tag Wein und Bier auf Kosten des Königs, und als es Abend wurde, schwankten nicht wenige vom Alkohol beseelt durch die girlandengeschmückten Straßen und ließen in lauten Rufen Prinz Edward hochleben.
In Hampton Court herrschte Hochbetrieb. Vorbereitungen für die Taufe mussten getroffen und die Räumlichkeiten für den kleinen Prinzen hergerichtet werden. Aus Angst, die Pest, die immer noch in und um London grassierte, oder eine andere Krankheit könne das Leben seines kleinen Sohnes gefährden, ließ Henry alle Räume, mit denen Edward in Verbindung stand, gründlichst reinigen. Die Wände und Zimmerdecken mussten abgewaschen werden, die Böden wurden zuerst gekehrt und dann ebenfalls nass aufgewischt. Kein Staubkörnchen durfte irgendwo liegenbleiben, und nur wenige und ganz bestimmte Personen hatten Zutritt. Auch die Korridore, die Edwards Räume mit Janes und Henrys Räumen verbanden, wurden diesem Reinigungsritual unterzogen, das nach Henrys Anweisung von nun an täglich stattzufinden hatte.
Jane bestand darauf, Thomas Cromwell in einem persönlichen Brief über ihre glückliche Niederkunft zu informieren.
»Willst du dich nicht ein wenig ausruhen, meine Liebe?«, fragte Henry sie.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Mir geht es so gut, ich würde am liebsten aufstehen. Lass mich das ruhig tun. Und wir wollten uns noch über die Taufpaten unterhalten. Ich möchte gern Mary dabeihaben.«
Jane strotzte vor Energie. Es war unglaublich nach dieser schweren Geburt. Gott sei Dank, dachte Henry, Gott sei Dank war das alles gut gegangen.
Am 15. Oktober wurde Edward in der Kapelle von Hampton Court getauft. Janes Wunsch, Mary zu seiner Taufpatin zu machen, war bei Henry auf offene Ohren gestoßen, und er hatte das Gefühl, er hätte Mary keine größere Freude machen können. Außer ihr hatte man die Herzöge von Norfolk und Suffolk zu Paten gewählt, auch Thomas Cranmer, der außerdem die Taufzeremonie vollzog. Danach trug man Edward in einer feierlichen Prozession in die Gemächer seiner Mutter, wo diese zusammen mit dem König wartete. Jane lag halb aufgerichtet auf einem mit karmesinrotem Damast bezogenen Ruhebett, eingehüllt in einen ebenfalls karmesinroten Umhang mit Hermelinbesatz. Das lange blonde Haar floss ihr offen über die Schultern und ließ sie im Schein der Fackeln, die zu der mitternächtlichen Stunde brannten, aussehen, als sei sie mit Gold übergossen.
Janes Augen glänzten, als Lady Exeter den Prinzen in seinem weißen Taufgewand hereintrug. Hinter ihr schritt Mary mit der kleinen Elizabeth an der Hand.
»Wir sind eine richtige Familie«, flüsterte Jane Henry zu, der neben ihr saß.
Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich danke dir von Herzen für das Glück, das ich mit dir erleben darf«, flüsterte er zurück.
Nachdem Jane ihrem Sohn den Segen erteilt hatte und er zum Schlafen weggebracht worden war, reichte man Erfrischungen, Gebäck und Wein. Jane lag auf ihrem Bett und betrachtete die Szenerie. Sie war nun doch etwas erschöpft, musste sie bei sich feststellen. Das Geplauder der Gäste wurde ein undefiniertes Rauschen, und das Flackern der Fackeln strengte ihre Augen an. Sie hatte Mühe, sie nicht einfach zufallen zu lassen, so müde war sie auf einmal. Man reichte ihr einen Teller mit süßen Waffeln, aber sie lehnte ab. Nein, sie konnte jetzt nichts zu sich nehmen. Ihr war schlecht, und sie fühlte sich schwach. Aber das sollte niemand bemerken. Nicht einmal Henry. Er sah so glücklich aus, und gerade prostete er sich mit seinem Schwager, ihrem Bruder Edward, zu. Der war auch Vater geworden, seine Frau hatte am selben Tag wie Jane ebenfalls einen Jungen geboren, und auch er sollte Edward heißen.
Als das Fest sich endlich auflöste, standen Jane Schweißperlen auf der Stirn, und der Glanz in ihren Augen war Fieber. Sie schlief nicht gut in den wenigen Stunden, die ihr von der Nacht noch blieben. Da die Taufe traditionell um Mitternacht stattgefunden hatte, war es schon früher Morgen, bis Jane endlich zur Ruhe kam, und ihre Hoffnung, dass sie sich im Schlaf erholen würde, erfüllte sich nicht. Sie hatte Leibschmerzen, zwang sich aber zum Essen. Mittags bekam sie Durchfall, so heftig, dass sie danach völlig geschwächt und apathisch im Bett lag. »Vielleicht war irgendetwas an den Speisen nicht in Ordnung«, vermuteten ihre Hofdamen, aber das war unlogisch, denn niemand sonst hatte Symptome.
Henry kam am Abend; die Festivitäten, die er zu Ehren von Edwards Geburt angeordnet hatte, nahmen ihn sehr in Anspruch.
»Mein Liebes, man hat mir erst vorhin gesagt, dass du dich nicht wohlfühlst.«
»Es geht mir schon wieder besser«, sagte sie und lächelte ihm zu. Es stimmte, sie fühlte sich wieder besser. »Ich werde jetzt schlafen, und morgen bin ich bestimmt wieder in Ordnung. Ich kann dich doch nicht mit den ganzen Gästen allein lassen.«
Er küsste sie auf die Hand. Sie war heiß.
In der Nacht kehrten die Leibschmerzen zurück. Erbrechen und Durchfall wechselten sich ab und ließen Jane die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen. Sie fieberte und fröstelte zur gleichen Zeit, und als der Morgen anbrach, glaubte man nicht mehr an eine Magenverstimmung. Das furchtbare Wort »Kindbettfieber« stand den Ärzten im Gesicht, aber niemand sprach es aus, und alle, die sie betreuten, standen stumm und hilflos um das Bett, in dem Jane immer schwächer und elender wurde.
»Wir müssen den König informieren. Und den Bischof von Carlisle«, sagte Dr. Butts.
Jeder im Raum wusste, was diese Worte bedeuteten. Der Bischof von Carlisle war Janes Beichtvater. Dr. Butts hatte die letzte Ölung angeordnet.
Wie durch ein Wunder erholte sich Jane jedoch, als der Bischof von Carlisle bei ihr das Ritual durchführte, und sie fühlte sich danach so deutlich besser, dass sie wieder aufrecht im Bett sitzen und etwas zu sich nehmen konnte.
Niemand war erleichterter und glücklicher als Henry. Er hatte sich wahnsinnige Sorgen gemacht, nun aber sah er in Janes Genesung ein deutliches Zeichen Gottes, wie er seinem alten Freund Brandon anvertraute: »In dem Moment, als der Bischof ihr die Hostie geben wollte, hat sie sich erholt. Gott hat erkannt, dass er sie noch bei mir lassen muss. Er weiß, wie sehr ich sie liebe und brauche – ich wüsste nicht, wie ich ohne sie auskommen soll. Charles, ich bin so froh, dass es ihr wieder besser geht.«
Seine Freude wurde jäh zerstört, als ein Page ihm eine Notiz von Dr. Butts überreichte.
»Was ist?«, fragte Brandon, der Henrys bestürztes Gesicht bemerkte.
»Sie hat wieder Fieber bekommen.« Henry knüllte den Zettel zusammen und stapfte davon.
Drei Tage lag Jane zwischen Leben und Sterben. Sie hatte wenige wache Momente, die meiste Zeit dämmerte sie unruhig vor sich hin und stöhnte. Das Fieber stieg und stieg, sie war heiß und schweißig, und ihr Atem ging flach und gehetzt. Henry wollte nicht mehr von ihrer Seite weichen. Er starrte auf das ausgemergelte, blasse Gesicht. Das war nicht seine Jane, das konnte nicht sein. Gott konnte ihm das nicht antun. Er konnte sie, die alles richtig gemacht hatte, die so rein und perfekt war, nicht wegreißen. Nein. Er faltete die Hände und flehte ihn an, diesen Gott, dem er seit Jahrzehnten zu dienen und zu gefallen suchte.
»Lass sie am Leben, verschon meine Jane. Rette sie, um unseres Kindes willen … rette sie … Sie hat nichts getan, was dies verdient. Zeige dich nicht als der grausame Gott; man sagt, du bist der Gott der Liebe – ich flehe dich an, sei dieser Gott der Liebe und lass meine Jane leben!«
Die Zeit verstrich. Minuten, Stunden, ein weiterer Tag. Jane lag unverändert. Es wurde nicht besser, aber – und er klammerte sich verzweifelt an diesen Hoffnungsschimmer – es wurde auch nicht schlechter. Vielleicht hatte Gott doch ein Einsehen, hatte Gnade mit ihm, denn er wollte bestimmt nicht Jane bestrafen, wofür denn auch, diesen Engel auf Erden. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf, er wusste nicht mehr, was er überhaupt noch denken sollte. Was er ihr sagen sollte. Er hielt ihre Hand. Sie war kalt und heiß zugleich, und so kraftlos. Dann schlug sie die Augen auf.
»Jane.« Er beugte sich über sie, damit sie ihn besser sehen konnte. Sah sie ihn überhaupt?
»Henry.«
Oh, Gott sei Dank, sie erkannte ihn.
»Bist du zufrieden mit mir?« Sie sprach so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. Es war nur ein Hauch.
»Jane, meine liebste, teuerste Jane. Ich bin zufrieden mit dir, aber glücklich bin ich erst wieder, wenn du gesund bist. Du wirst gesund, versprich mir das, bitte Jane, mein Liebling …«
Sie hatte die Augen schon wieder geschlossen, er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Er küsste sie auf die bleiche Stirn. Ganz sanft, um sie nicht zu wecken. Die Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Ja, Jane, ich bin zufrieden mit dir. Du Glück meines Lebens.«
Er hörte ihren leisen Atem. Ganz ruhig atmete sie nun. Er legte seinen Kopf neben ihren auf das Kissen, und so verharrte er, bis er irgendwann merkte, dass sie nicht mehr atmete.
Sie war gegangen. So still und leise, wie sie einst in sein Leben gekommen war, hatte sie ihn jetzt verlassen.
Er küsste sie noch einmal. Auf die Stirn. Ganz sanft, um sie nicht zu wecken. »Schlaf gut, mein Engel.«
Dann ging er hinaus und überließ den im Vorzimmer Wartenden, was nun zu tun war.
Henry verließ Hampton Court noch vor dem Morgengrauen. Fort, nur fort von diesem Ort, der ihm vor kurzem noch alles Glück gewesen und nun alles Leid geworden war. Er ritt wie in Trance nach Windsor und verkroch sich in seine Gemächer. Auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer lag noch das Gratulationsschreiben von Franz I. zu Edwards Geburt. Mit müder Hand schob er es beiseite, so dass es ihm nicht ins Auge fiel, als er auf seinen Stuhl sank. Er fühlte sich leer, so unendlich leer.
Er erwachte und fand sich bekleidet auf seinem Bett liegend. Wie er dort hingekommen war, wusste er nicht. Es war kalt im Zimmer, und durch das grünliche Fensterglas drang spärliches Licht. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte, und es interessierte ihn auch nicht. Sein Denken und Fühlen schienen weit weg hinter einer dicken, weichen Wand. Jane war tot. Die Welt stand still.
Er erinnerte sich, dass er Norfolk und Cromwell Anweisungen gegeben hatte, ihre Bestattung auszurichten. »Geld spielt keine Rolle.« Mary würde Haupttrauernde sein. Auch das hatte er angeordnet. Er wusste, dass es niemanden gab, der diese Rolle besser erfüllen würde. Welch eine Gnade, dass das Staatsprotokoll die Teilnahme eines Herrschers an der Beerdigung seines Ehepartners nicht vorsah.
Er schleppte sich in sein Arbeitszimmer. Franz‘ Brief lag auf dem Boden. Auf dem Schreibtisch ein Blatt Papier:
Die göttliche Vorsehung hat meine Freude über die Geburt meines Sohnes mit der Bitterkeit des Todes derjenigen vermischt, die mir diese Freude schenkte.
Es war seine Handschrift, also musste er es verfasst haben. Er konnte sich nicht daran erinnern. Weiter unten stand, ebenfalls in seiner Schrift:
Meine geliebte Gemahlin, Königin Jane, verstarb am 24. Oktober 1537 um zwei Uhr morgens, auf die Stunde genau zwölf Tage nachdem sie England den königlichen Thronerben gebar. Schuld an ihrem Tod sind diejenigen, die sie betreuten und sie falscher Nahrung und Kälte aussetzten.
Auf einem kleinen Tisch nahe der Eingangstür hatten Diener ihm Essen und einen Krug Wein hingestellt. Er goss sich etwas ein und trank. Das Essen ignorierte er. Dann ging er mit schweren Schritten zurück in sein Bett und schloss die Augen.
Irgendwann riss es ihn hoch. Er hatte geträumt. Von Jane, die über eine blühende Wiese lief, einen Kranz Lavendelblüten in den offenen Haaren. Dann sah er sie daliegen, aufgebahrt in einem Meer von Kerzen, ganz in Weiß, schön und still. Der Schmerz der Trauer griff nach ihm, zerdrückte und zermalmte sein Herz mit eiserner Faust. Er krallte die Hände in die Kissen und schrie. Kurz darauf hörte er, wie jemand leise ins Zimmer trat. Natürlich, sie alle lauschten draußen vor der Tür und warteten nur darauf, dass er sich rührte.
»Raus!«, brüllte er, ohne den Kopf aus den Kissen zu heben. »Raus! Lasst mich in Ruhe!«
Der Atem der schwarzen Stute dampfte in der Novemberkälte. Mit dumpfen, schweren Schritten zog die Prozession vorwärts durch die graue Herbstlandschaft, in der jeder Baum, jeder Strauch mit seinen braunen, verwelkten Blättern ein eigenes Sinnbild für den Tod abgab. Mary vergrub ihre in schwarze Samthandschuhe gehüllten Hände in der Mähne des Tieres und starrte auf die schwarzverhangene Kutsche, auf der hoch oben ein hölzernes Abbild der Frau prangte, die sie in den letzten Monaten wie ihre eigene Mutter geliebt hatte und die nun ihren letzten Weg in die St. George's Kapelle nach Windsor antreten musste. Zehn Tage und Nächte war Janes Leichnam in Hampton Court aufgebahrt geblieben, und Mary hatte zusammen mit Janes Hofdamen die Totenwache gehalten. Sie war müde, und ihre Augen waren vom Weinen so verschwollen, dass sie kaum etwas sah. Vor dem Wagen mit dem Leichnam gingen zweihundert arme Männer, an ihrer Brust prangte Janes Wappen, eine Burg mit dem aufsteigenden Phönix. Alle hielten eine brennende Fackel in der Hand. Das Volk säumte die Straßen, viele, sehr viele weinten hemmungslos, als sie vorüberzogen, die Männer hielten den Hut an die Brust und neigten das bloße Haupt vor ihrer Königin.
Hinter Mary gingen, in schwarzen Samt gehüllt, neunundzwanzig junge Frauen, eine für jedes von Janes Lebensjahren, alle trugen wie Mary eine weiße Haube als Zeichen der Trauer.
Der Zug war in Windsor Castle angekommen. Durch den stillen Park ging es zur Kapelle, wo Erzbischof Cranmer sie erwartete. Die Tore waren weit offen und ließen den Eingang wie ein schwarzes Loch erscheinen. Mary stieg vom Pferd und schritt hinter den sechs Trägern, die den Sarg ins Innere brachten. Ihre lange schwarze Schleppe wurde von Lady Rochford gehalten. Man sprach die üblichen Gebete und Fürbitten, dann blieb Mary für eine weitere Totenwache am aufgebahrten Sarg der Toten zurück. Sie hoffte, dass ihr Vater, wenn die Nacht anbrach und überall Ruhe eingekehrt war, hierher kommen würde, um Abschied zu nehmen und seiner toten Frau die letzte Ehre zu erweisen, und auch, um seinen Schmerz mit dem ihren zu teilen. Sie hoffte bis zum Morgengrauen, aber der König erschien nicht.
Der 12. November war da, heute würde Jane endgültig der Erde übergeben werden.
Die Trauergemeinde versammelte sich. Das offene Grab im Boden des Chors machte Mary Angst. Sie konnte nicht hineinsehen, wollte sich nicht vorstellen, dass Jane, dieses leichte, freundliche Wesen, nun in diese kühle Schwärze hinuntergelassen werden sollte, für immer verschlossen vor Licht, Sonne und Wärme. Sie hatte Mühe, nicht ohnmächtig zu werden, als der Sarg sich nach unten senkte.
Die Beamten, die in Janes Dienst gestanden hatten, brachen ihre Stäbe über ihrem Sarg. Der Tod beendete alle Pflichten und Treuebündnisse. Die Glocken in ganz London begannen zu läuten, als die schwere Grabplatte sich über Janes Gruft legte. Auf ihr stand in Latein geschrieben:
Hier ruht Jane, der Phönix,
der durch seinen Tod einen anderen Phönix gebar.
Es ist schade, denn
niemals trug die Welt zwei von diesen auf einmal.
Janes Todesglocken läuteten an diesem Tag sechs Stunden ununterbrochen, und jeder einzelne Ton traf Henry wie ein Hieb, als müsse der schmerzlichste Verlust seines Lebens mit Hammerschlägen in sein Gehirn eingemeißelt werden.
Erst als am Nachmittag des 14. November das Requiem für Jane in der St. Paul's Kathedrale die offizielle Trauerzeremonie beendete, fühlte er sich in der Lage, sein Bett zu verlassen.
»Bringt mir schwarze Kleidung«, sagte er zu seinem Kammerherrn Thomas Heneage, der sofort zur Stelle war, als sein Herr sich regte. Heneage verzog sich und kam nach einer Weile mit den Gewändern zurück. Alles in Schwarz, wie befohlen, nur der Rock hatte als Verzierung rötlich schimmernde Granate aufgenäht.
»Sie müssen ausgetauscht werden gegen Onyx, sagt Cecil Bescheid. Das nächste Mal«, fügte er hinzu, als Heneage den Rock wieder an sich nehmen wollte.
Heneage half ihm beim Ankleiden. Vorsichtig zog er die Strumpfhose über den dicken Verband am Oberschenkel. Ein rötlich-gelber Fleck war zu sehen. Wann war der Verband das letzte Mal gewechselt worden? Henry wusste es nicht, es musste noch vor Janes Tod gewesen sein. Aber er ließ es nicht zu, dass Heneage ihn erneuerte. Er wollte das, was er nun beabsichtigte und zu dem er sich endlich durchgerungen hatte, ohne Verzögerung durchführen und sich dann nach Whitehall begeben. Cromwell hatte um eine Audienz gebeten, und die Vernunft sagte ihm, dass er wieder in die Welt zurückkehren musste, obwohl er sich am liebsten sofort wieder in sein Bett verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen hätte. Er zog den Rock trotz der Granatsteine an und hüllte sich dann in einen Umhang aus dickem schwarzem Samt mit einem Kragen aus Maulwurfspelz.
In der Dämmerung ging er langsam durch den unteren Hof zur Kapelle. Das Bein schmerzte. Es hatte geregnet, und die Luft roch feucht und modrig. November. Totenmonat. Die Natur zog sich zurück. Pflanzen starben und kamen wieder, wenn es Frühling wurde. Und wir Menschen?, dachte er bei sich.
Das Tor zur Kapelle ließ sich leicht öffnen, und er schloss es nicht, als er eintrat. Seine Schritte hallten in dem hohen Raum. Er trat vorsichtiger auf, als könne er jemanden durch das Geräusch stören.
Im Chor blieb er stehen und starrte das imposante Kirchenschiff entlang, an dessen Ende sich der prächtige Hochaltar befand. Wie glücklich hatte er hier vor einem Jahr gestanden, zusammen mit Jane. Hier sollte ihre Krönung stattfinden, und nun war der Ort zu ihrer Grabstätte geworden.
Er senkte den Blick. Er musste die Stelle, an der sie lag, nicht suchen, er hatte sie sofort beim Eintreten entdeckt, aber er hatte Angst, schreckliche Angst, darauf zu blicken. Nicht weit weg von seinen Füßen war auf dem kalten Steinboden die große rechteckige Aussparung, die eine schwarze Marmorplatte mit Messingbuchstaben bedeckte.
Hier ruht Jane, der Phönix
Jane. Er stöhnte. Ihr Motto fiel ihm ein. »Dienen und Gehorchen«. Ja, sie hatte gedient und gehorcht, sie hatte ihm den Sohn geboren und sich dabei selbst aufgegeben.
»Janey, meine geliebte Janey.«
Er sank vor der Marmorplatte auf die Knie und weinte hemmungslos und verzweifelt. Wie lange er dort kauerte, wusste er nicht. Seine Finger waren steif vor Kälte, als er sich endlich erhob und dem Ausgang zustrebte.
Als er die Kapelle verließ, kam ihm der Dekan entgegen.
»Gott sei mit Euch, Euer Majestät«, sagte er.
»Wenn Gott mit mir wäre, dann hätte er meine Frau nicht sterben lassen«, erwiderte Henry kalt und ging weiter, ohne den perplexen Geistlichen weiter zu beachten.
Thomas Cromwell erwartete ihn in Whitehall bereits.
»Dem Prinzen Edward geht es gut, Euer Majestät«, begann Cromwell. »Ich lasse mir täglich Bericht erstatten. Er ist wohlauf und gedeiht gut. Seine Amme sagt, er saugt kräftig. Das Haus in Havering ist bereit für seinen Umzug, alles wurde aufs Peinlichste gereinigt. Ich nehme an, dass Lady Bryan weiterhin die Aufsicht über ihn haben soll?«
Henry nickte. Er würde seinen Sohn in den nächsten Tagen besuchen, sobald die Schmerzen im Bein wieder nachließen.
»Dann ist die Frage, was mit dem hölzernen Abbild Eurer verstorbenen Gemahlin geschehen soll, welches während der Trauerprozession auf …«
»Sorgt dafür, dass es verschwindet. Wie, ist mir egal«, unterbrach Henry Cromwell. Er hasste diese lebensechten Nachbildungen der Toten. Sie lösten seit dem Tod seiner Mutter Grausen in ihm aus.
Cromwell nickte. »Euer Majestät müssen noch die Dauer der Hoftrauer festlegen.«
»Bis Ostern. Und sorgt dafür, dass ich genügend schwarze Kleidung bekomme.«
Cromwell machte sich eine Notiz. »Ich werde den Schneider informieren.«
»Noch etwas?«, fragte Henry ungeduldig.
Cromwell räusperte sich. »Euer Majestät … sollten sich Gedanken über eine neue Heirat machen.«
Henry sah Cromwell an, als habe der den Verstand verloren. »Das ist jetzt nicht Euer Ernst, Cromwell? Ihr wollt nicht im Ernst mit mir über eine neue Ehefrau sprechen, nachdem Königin Jane gerade einmal ein paar Tage in der Gruft liegt?«
Cromwell wand sich unter dem kalten, verächtlichen Blick seines Königs, aber er ließ nicht locker. »Ich würde nichts lieber tun, als Euch dieses Thema zu ersparen, aber ich fürchte, wir können es nicht ignorieren. Ihr habt nun einen Erben, Gott sei es gedankt und möge er ihn beschützen, aber wir alle wissen, wie fragil so ein Kinderleben sein kann und welchen Bedrohungen ein so zarter Körper ausgesetzt ist, irgendein heimtückisches Fieber, die Pest, Feinde …«
»Wollt Ihr ein Unglück etwa mit Gewalt herbeireden, oder was habt Ihr im Sinn?« Henry hatte sich erhoben, und Cromwell dachte im ersten Moment, er würde ihm einen Schlag verpassen, aber dann ließ der König sich unvermittelt wieder auf seinen Stuhl fallen. Ein schmerzhaftes Zucken ging über sein Gesicht.
»Keinesfalls will ich ein Unglück heraufbeschwören, Euer Majestät. Wir alle wünschen uns nichts sehnlicher, als dass Prinz Edward einmal Euch auf dem Thron nachfolgt und dass es bis dahin noch sehr viele Jahre dauert.« Mit einem kurzen Blick vergewisserte sich Cromwell, dass der König sich wieder beruhigt hatte, dann fuhr er fort: »Es ist nur insgesamt für eine Dynastie besser, wenn sie in ihrem Bestehen mehrfach abgesichert ist.«
Henry hatte das Gefühl, als habe ein Raubtier seine Zähne in sein Bein geschlagen und reiße an seinem Fleisch, so sehr schmerzte auf einmal sein Geschwür. Er musste dringend Dr. Butts konsultieren. Nur mit Mühe konnte er sich auf Cromwells Worte konzentrieren.
»Wir sind derzeit politisch in der günstigen Situation, dass wir sowohl für Franz als auch für den Kaiser als Partner interessant sind. Und es gäbe einige Heiratskandidatinnen …«
»Ich will nicht mehr heiraten! Ich war mit Jane so glücklich wie mit keiner anderen Frau. Alles, was danach käme, wäre ein schaler Abklatsch.«
»Aber politisch notwendig.« Cromwell klopfte sich innerlich selbst auf die Schulter für seine Courage. Irgendwann würde ihm der König dankbar sein, dass er so darauf beharrte. Auch wenn er es momentan nicht erkannte.
»Ich habe keine Lust mehr, Thomas. Es widert mich alles an.«
Der Winter verlief grau, nasskalt und trostlos wie Henrys Stimmung. Es gab nichts, was ihn aufheiterte. Weihnachten ging still und unspektakulär vorbei. Keine Turniere, keine Tanzveranstaltungen. Zu sehr hing über dem ganzen Hof die Trauer um Jane. Außerdem war der König körperlich indisponiert.
Dr. Butts hatte es für nötig befunden, sein Geschwür mit dem Messer zu öffnen. Es waren Höllenschmerzen gewesen, und die scheußliche, stinkende Masse aus Blut, Eiter und zerfallenem Fleisch, die aus der Wunde hervorquoll, hatte ihn beinahe ohnmächtig werden lassen. Zwar waren danach seine Schmerzen etwas besser, aber sie waren nicht verschwunden, und der Schnitt, den Butts ihm zusammen mit dem Barbier gesetzt hatte, war tief und lang und machte keine Anstalten zu verheilen.
Zum Gehen brauchte Henry einen Stock, an Reiten oder andere sportliche Aktivitäten war nicht zu denken. Das Einzige, was ihm ein wenig Freude (und vor allem keine Schmerzen) bereitete, waren Essen und Trinken.
Er haderte mit Gott. Er zweifelte nicht mehr an dessen Gerechtigkeit, das hatte er die vergangenen Jahrzehnte zur Genüge getan, als er alles versuchte, um ihm zu gefallen und dafür den Sohn zu bekommen. Mit Jane endlich schien es, als habe er es geschafft, Gottes Wohlgefallen zu gewinnen – und dann strafte ihn Gott, indem er sie ihm brutal wegriss. Nein, er zweifelte nicht mehr an Gottes Gerechtigkeit. Er wusste, dass sie nicht existierte. Sie war ein Hirngespinst, mit dem die Gläubigen versuchten, ihr Leid besser zu ertragen.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in der Bibel zu lesen und nach Stellen zu suchen, die die Ungerechtigkeit Gottes belegten. Er fand sie haufenweise und schrieb sie heraus mit perfider Lust: Der verlorene Sohn, der in der Fremde sein Erbe verprasste und dann wieder beim Vater angekrochen kam – ein Fest wurde für ihn gefeiert, während dem anderen Sohn, der die ganze Zeit beim Vater geblieben war, für seine Treue noch nicht einmal gedankt wurde. Gerecht? Und Gottes Befehl an Abraham, er solle seinen einzigen Sohn töten, um ihm seinen Glauben zu beweisen – wie konnte man so etwas von einem Vater erwarten? Ein Gott, der so etwas verlangte, war keiner, der Vertrauen einflößte. Maria wurde ein Kind in den Schoß gesetzt, Gottes Sohn, den sie zu gebären und großzuziehen hatte, für den Lohn, dass sie am Kreuze dann seinen Tod erleben musste. Gab es eine größere Qual für eine Mutter, selbst wenn sie das Kind ungefragt empfangen hatte? Dann Hiob, der treue Diener Gottes, als Objekt einer fiesen Wette zwischen Gott und dem Teufel. Und als Hiob nach einer endlosen Serie von Schicksalsschlägen und Qualen dann schließlich doch zweifelte, wurde er von Gott nicht getröstet, sondern getadelt und als anmaßend hingestellt. Und – der Gipfel! – derjenige, der Jesus nach dessen Verhaftung im Garten Gethsemane dreimal verraten hatte, wurde schließlich der erste Papst! Die ganze katholische Kirche gründete sich auf einen Lügner und Verräter, und seit Petrus waren unzählige dieser Sorte nachgekommen, hatten auf dem Heiligen Stuhl Platz genommen, die Gläubigen ausgebeutet und an der Nase herumgeführt. Das Dreckspack in Rom hatte seit jeher nur ein Interesse verfolgt: Macht, Macht, Macht.
Stundenlang brütete Henry über solchen Gedanken und ließ sich während seiner Bibelstudien Unmengen an Essen und Wein bringen, Gott und der Mäßigkeit zum Trotz. Er wollte aufsässig sein. Wenn Gott ihn zu verachten und zu bestrafen suchte, dann wollte er wenigstens etwas davon haben. Und er würde der Welt zeigen, dass er sich nicht durch die leeren Worte eines Papstes oder seiner heuchelnden Erzbischöfe und Kardinäle schrecken ließ. Gott schaute zu, wie die Kirche den Menschen ein Himmelreich vorgaukelte und ihnen das Geld aus der Tasche zog. Er ließ zu, dass die Menschen mit gefälschten Reliquien betrogen wurden. Walsingham, Canterbury, die Menschen pilgerten nach wie vor in Scharen an das Grabmal von Thomas Becket, um ihm zu huldigen und sich seinen Segen zu erflehen. Küssten die Steine, die sein Blut benetzt hatte, in der Hoffnung, von ihrem Siechtum befreit zu werden. Becket, der einmal der beste Freund seines Königs gewesen und diesem als Erzbischof dann in den Rücken gefallen war. Henry fasste einen Entschluss. Er würde Thomas Beckets Grab zerstören lassen und ihm die Heiligenwürde absprechen. Ein Erzbischof, der seinen König verriet, war es nicht würdig, angebetet und verehrt zu werden. Der König war die Spitze des Staates und der Kirche, und er, Henry VIII., würde ein unmissverständliches Zeichen dafür setzen.
Nachts lag er im Bett und weinte. Er konnte Jane nicht vergessen, und er hatte keine Ahnung, wie er ohne sie klarkommen sollte.
Ab und zu besuchte er Edward. Der Junge gedieh wirklich prächtig. Schon mit vier Monaten bekam er ohne Probleme den ersten Zahn, und er blieb vor größeren Krankheiten verschont. Immer noch mussten jeden Tag seine komplette Bettwäsche ausgetauscht und Wände und Böden in allen Räumen seines Hauses in Essex geschrubbt werden. Henry hatte bereits jetzt veranlasst, dass, sobald der Junge entwöhnt wurde, alle Speisen, die er zu sich nahm, von einem Vorkoster auf Gift getestet werden mussten. »Und seht zu, dass er sich nicht verletzt, sonst gnade Euch Gott!« Insgeheim grinste er, wenn er mit Gott drohte. Sie glaubten noch an eine himmlische Gerechtigkeit und Strafe. Er war froh, dass er diesen Irrsinn hinter sich hatte. Er hatte Gott durchschaut. Er war lange genug von ihm verarscht worden, nun war Schluss.
Dennoch konnte er sich der Macht des Glaubens nicht entziehen, oder besser gesagt, den Systemen, die den rechten Glauben für sich beanspruchten. Der Papst hielt seit 1535 eine Bannbulle gegen ihn, die ihn nicht nur exkommunizierte, sondern ihm auch sein Königreich absprach. Veröffentlicht hatte Papst Paul III. sie bisher noch nicht; dafür hatte Kaiser Karl gesorgt, der nach Katharinas Tod und Marys Rehabilitierung keinen Anlass zur Feindschaft zwischen sich und England mehr sah und eher Interesse an einem Bündnis mit Henry zeigte, um damit Franz von Frankreich auszuhebeln. Mit denselben Ideen in die andere Richtung kratzte Frankreich an Henrys Tür. Cromwell hatte recht: Er war in der privilegierten Position, sich seinen Partner wählen zu können. Deshalb brachte Cromwell das Thema Heirat auch immer wieder auf den Tisch.
»Ich habe mir überlegt, wenn ich wieder heiraten sollte, dann bestimmt keine Spanierin mehr. Ihr habt doch sicher schon ein paar Kandidatinnen für mich ins Auge gefasst, so wie ich Euch kenne, Cromwell. Wie sieht es denn in Frankreich aus?«
Als Henry Ende Februar dies zu Cromwell sagte, war dieser nicht überrascht, denn er hatte gehofft, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Herr wieder zugänglich (und vernünftig) wurde. Henry merkte zu seinem Erstaunen selbst, dass mit dem Erwachen des Frühlings sein Lebensmut langsam zurückkehrte und nicht mehr jeder Gedanke, jeder Augenblick von der Trauer um Jane mit einem grauen Schleier überzogen war.
»In Frankreich gibt es ein paar sehr attraktive Kandidatinnen, alle eng mit Franz verwandt. Vielleicht Anna von Lothringen, die Tochter von Franz‘ Cousin.«
»Sie soll nicht besonders hübsch sein, habe ich einmal gehört.«
Cromwell stöhnte innerlich und warf einen kurzen Blick auf den König, der sich eine Platte mit Wildbret hatte auftragen lassen und gerade mit fettigen Händen eine Hasenkeule zum Mund balancierte. Er war in den vergangenen Monaten richtig fett geworden. Wenn man ihn so sah, konnte man kaum glauben, dass er einmal als der schönste Fürst Europas gegolten hatte. Mittlerweile musste er beim Sitzen die Beine spreizen, um seinem gewaltigen Bauch Platz zu lassen. Aber immerhin bekundete der König wieder Interesse an Frauen.
Cromwell machte einen neuen Vorschlag. »Christina von Dänemark, die Witwe von Francesco Sforza, dem Herzog von Mailand, soll sehr schön sein.«
»Habt Ihr sie gesehen?«
»Nein, aber das ist allgemein bekannt. Und Hutton, unser Gesandter in Brüssel, hat sie als äußerst liebreizend beschrieben. Ein bisschen wie Lady Shelton, sehr groß und sehr, sehr schlank, dunkle Haare, und ihr Lächeln soll bestrickend sein. Sie ist sechzehn.«
»Sie ist die Nichte des Kaisers, nicht wahr?«
»Ja, die Tochter seiner Schwester und des Königs von Dänemark. Sie lebt momentan allerdings in Brüssel, am Hof ihrer Tante Maria, und wartet auf eine neue Ehe.«
»Ich will sie sehen. Holbein soll ein Porträt von ihr anfertigen. Allerdings, wenn sie tatsächlich so dünn ist … Schaut mich an, ich habe ziemlich zugelegt, eine dünne Frau würde neben mir fast verschwinden. Vielleicht sollte ich lieber nach einer Braut Ausschau halten, die ein bisschen stattlicher ist? Nicht dick, ich mag keine dicken Frauen, aber …«
»Der Botschafter von Frankreich hat auch noch ein paar andere mögliche Kandidatinnen, eventuell sogar Franz‘ eigene Tochter Marguerite. Sie ist allerdings noch keine fünfzehn …«
»Ich möchte auf jeden Fall alle in Frage kommenden Frauen zuerst sehen, bevor ich mich auf eine festlege. Teilt das Castillon mit. Ich kaufe keine Katze im Sack, und ich traue Franz zu, dass er mir irgendeine hässliche Krähe unterjubeln würde, wenn er dadurch politische Vorteile hätte. Aber da mache ich nicht mit.«
Bei Henrys Forderungen machten allerdings auch der französische König und sein Botschafter Castillon nicht mit: »Mein König lässt mitteilen, dass wir uns nicht auf einem Pferdemarkt befinden, wo man alle Stuten zunächst probereiten kann, bevor man sich die beste aussucht.«
Henry war erbost über diese Reaktion. »Eine Unverschämtheit! Man sieht doch ganz deutlich, wer die schmutzigen Gedanken hat. Das ist typisch Franz, so war er schon immer! Aber gut, er muss ja nicht. Es gibt auch noch andere. Hat Holbein das Bild von dieser Christina von Mailand schon fertig?«
»Er ist nach Brüssel gereist, aber noch nicht zurück.« Cromwell überlegte kurz. »Es gäbe da noch eine weitere Dame, die Euch mit Sicherheit gefallen würde, auch von der Statur. Marie, die Tochter des Herzogs von Guise. Sie ist seit einem halben Jahr Witwe.«
»Aber sie ist Französin«, wandte der König ein. »Nach allem, was Franz mir da an den Kopf geworfen hat …«
»Der Herzog von Guise gehört zu den mächtigsten Männern in Frankreich. Natürlich ist er mit dem Haus Valois verwandt, aber er wird allein darüber entscheiden können, mit wem er seine Tochter verheiratet. Es gibt da zwar schon Verhandlungen mit James von Schottland, aber das muss ja nichts heißen.« Cromwell legte den Köder geschickt.
»Mein Neffe will sie heiraten?«
Cromwell nickte. »Für England wäre solch eine erneute katholische Allianz zwischen Schottland und Frankreich natürlich nicht gerade geschickt.«
»Wie sieht sie aus?« Die politischen Erwägungen ließen den König offensichtlich kalt.
»Alle Beschreibungen sind sich einig: Sie ist außergewöhnlich schön, dreiundzwanzig Jahre alt, hat dunkle Haare, ein ebenmäßiges, fein geschnittenes Gesicht – und sie hat bereits zwei Söhne geboren.« Cromwell verschwieg, dass der zweite Sohn kurz nach seiner Geburt wieder verstorben war. Marie de Guise hatte im letzten Jahr sowohl ihren Ehemann als auch eines ihrer Kinder verloren.
»Ihr werdet ihr meine Eheabsichten unterbreiten. Ich denke, sie ist genau die Richtige. James kann sich eine andere Braut suchen.«
Im April kam Edward an den Hof. Er war nun ein halbes Jahr alt, ein hübscher Junge mit blauen Augen und hellblondem Haar, in welchem bei Sonnenschein der Rotton seines Vaters schimmerte. Er war prächtig herausgeputzt. Lady Bryan achtete sehr darauf, dass der kleine Prinz auch wirklich als solcher behandelt wurde und gab eine beträchtliche Menge für seine Garderobe aus.
»Sind die Juwelen auch fest angenäht?«, fragte Henry sie ängstlich besorgt. Nicht auszudenken, wenn sich einer der Rubine oder Saphire an den Ärmeln des Kindes löste und Edward ihn womöglich verschluckte. Er stellte Lady Bryan eine Unmenge an Fragen, die das Wohl des Kindes betrafen. Aß er gut? Behielt er alles bei sich? Wurde sein Essen jeden Tag frisch bereitet und vorgekostet? Schlief er gut? Wurde seine Bettwäsche täglich gewechselt? Wurden seine Spielsachen mehrmals täglich gereinigt und die Böden gewischt? War er krank gewesen? Bis auf das Letzte bejahte Lady Bryan alles, und dass sie die letzte Frage reinen Gewissens mit Nein beantworten konnte, machte sie rundherum stolz.
Henry war froh und wiegte seinen Sohn auf den Knien. Er küsste ihn auf die weichen Wangen. Ein wenig blass schien er ihm. Aber es war nur der Teint, den er von seiner Mutter geerbt hatte. Ach, Jane. An solchen Tagen wurde es ihm immer wieder weh ums Herz, wenn er sich auch sonst mit ihrem Tod mittlerweile abgefunden hatte. Ach, es hätte nicht sein dürfen. Wie glücklich könnte sie nun hier mit ihm das Gedeihen Edwards beobachten. Henry seufzte tief, und dann fuhr ihm wieder die Angst in die Magengrube. Wenn der Junge nur gesund blieb! Wenn er nur verschont blieb vor Krankheit und Verletzung! Wenn er, Henry, nur eine Garantie dafür erwirken könnte, dass Edward einmal den Thron besteigen und das fortsetzen würde, was sein Großvater auf dem Schlachtfeld erkämpft und wofür sein Vater fast seine Seele verkauft hatte.
Edward lachte, und in seinem Mund wurden drei Zähne sichtbar, zwei unten, einer oben. Henry hob ihn hoch in die Luft und Edward kreischte vor Vergnügen und strampelte mit den dicken Beinchen. Doch, der Junge war ganz gesund und kräftig. Es gab keinen Grund zur Sorge.
Es sei denn, die Bedrohung käme von außen. Gab es jemanden, der Edward nach dem Leben trachtete? Gewiss, sein Essen wurde auf Gift untersucht – was aber, wenn jemand, womöglich jemand, dem man eigentlich vertraute, zu Edward vordrang und ihn einfach tötete? Oder entführte und dann ermordete? Für genügend Geld war schon mancher schwach geworden und hatte sein Gewissen verraten. Es war eine Gefahr, die nicht kontrollierbar war.
Und was, wenn er, Henry, vorzeitig sterben sollte? Zu früh, als dass Edward alt genug wäre, um als König zu herrschen? Er würde dann einen Vormund brauchen, der für ihn regierte. Es wäre fatal, wenn sich dadurch jemand an die Macht schmuggelte, der diese nicht mehr beanspruchen durfte. Womöglich darauf pochte, dass der Thron eigentlich ihm zustand und die Tudors ihn unrechtmäßig besetzt hielten. Die alte Plantagenet-Fehde mit den Nachkommen des Hauses York schwelte immer noch, weit unter der Oberfläche, sicherlich, aber sie war nicht aus der Welt. Er hatte nie wirklich aufgehört, an der Loyalität von Margaret Pole und ihrer drei Söhne zu zweifeln. Reginald, dem man damals den Titel des Erzbischofs angeboten hatte und der dann lieber das Land verlassen hatte, um sich unter die Fuchtel des Papstes zu begeben. Und Lady Margaret Pole, die Gräfin von Salisbury, hatte förmlich demonstriert, wie sehr sie sich Mary und Katharina verbunden fühlte, obwohl diese schon lange nicht mehr Königin war. Die Poles waren allesamt tief im Innern katholisch geblieben, und Margaret war wie Henrys Mutter eine Nichte Richards III., stammte somit also direkt aus der York-Linie. Außerdem war ihre Tochter Ursula verheiratet mit Henry Stafford, Sohn des Herzogs von Buckingham, den er vor mehr als fünfundzwanzig Jahren wegen Hochverrats hatte hinrichten lassen. All dies war gefährlich und Anlass genug, um der Familie Pole ein bisschen auf die Finger zu sehen, und sollte irgendein Verdacht aufkommen, dann würde er hart und unerbittlich durchgreifen.
Als er Cromwell damit beauftragte, zuckte ein kleines Lächeln um dessen Mundwinkel. »Ihr meint, ich soll sie bespitzeln lassen?«
»Wenn Ihr es so nennen wollt – ja. Ich traue ihnen nicht.«
Cromwell nickte. »Zu Recht. Auch der Brief der Gräfin an ihren Sohn Reginald, als dieser damals sein Buch von der Einheit der Kirche veröffentlichte, war nur gekünstelte Empörung, um bei uns kein Misstrauen zu wecken. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Poles zutiefst konspirativ sind und nur darauf lauern, den Thron wieder zu besteigen.« Cromwell schürte bewusst das Feuer, um dieser ihm so verhassten Familie endlich den Garaus machen zu können.
»Und genau das werden wir zu verhindern wissen, nicht wahr, Cromwell? Ich sehe, ich kann mich auf Euch verlassen. Gibt es sonst noch Neuigkeiten zu berichten?«
»Heute Morgen kam eine Nachricht aus Frankreich, aus dem Hause de Guise.«
»Oh!« Wenn sein Bein es zugelassen hätte, wäre Henry vor Spannung aufgesprungen. In diesem Fall war er seinem Bein dankbar, dass es seinen unkontrollierten emotionalen Ausbruch vor Cromwell verhindert hatte.
»Möchtet Ihr selbst lesen?«
Der König wehrte ab, und Cromwell entfaltete das Schreiben. Er kannte den Inhalt bereits. »Marie de Guise bedauert, Euch mitteilen zu lassen, dass sie ihre Wahl schon getroffen hat und deswegen Euren Antrag ablehnen muss. Sie wird im Mai Euren Neffen James von Schottland heiraten.«
»Oh.« Mit diesem zweiten »Oh« zerfielen alle Vorsätze Henrys, keine Emotionen zu zeigen. Tiefe Enttäuschung, ja Erschütterung lag in diesem kleinen, leise hervorgestoßenen Wort.
Im Sommer erfolgte ein weiterer Tiefschlag aus Europa.
»Franz von Frankreich und der Kaiser haben in Nizza einen Vertrag unterzeichnet, in dem sie sich Freundschaft für die nächsten zehn Jahre zusichern.« Cromwell sprach ruhig und sachlich wie immer, aber man sah ihm an, dass ihn diese Nachricht schockierte.
Henry ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und stieß die Luft aus.
Es war eine Scheiß-Situation, da waren sie sich einig, ohne dass sie darüber reden mussten. Frankreich und Spanien vereint, dazu eine Französin als Ehefrau des Schottenkönigs: England war umzingelt – oder isoliert, das war reine Betrachtungssache.
»Jetzt können wir darauf warten, dass der Bischof von Rom dies ausnützt und einen Feldzug im Namen des Katholizismus schürt«, sagte Henry schließlich.
»Mit Verlaub – das tut er bereits. Er hat Kardinal Pole ausdrücklich mit der Aufgabe betraut, England den wahren Glauben zurückzubringen, mit aller Unterstützung, die er dazu benötigt. Im Übrigen habe ich herausgefunden, dass Geoffrey Pole mit seinem Bruder Reginald heimlich korrespondiert. Sie planen wohl tatsächlich Euren Sturz. Nach meinen Informationen wollen sie Henry Courtenay auf den Thron bringen.«
»Ha!« Henry schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich habe es geahnt, nein, gewusst! Sie rotten sich hinter meinem Rücken zusammen! Habt Ihr ihn schon verhaftet?«
»Nein, Euer Majestät. Ich wollte die Sache noch ein wenig … gedeihen lassen. Es ist noch keine tatsächliche Gefahr in Verzug, und je mehr wir in dieser Sache zu fassen kriegen, desto besser. Mein Plan ist es, Henry Courtenay zum Sprechen zu bringen. Ich bin mir sicher, dass auch der andere Pole, Henry Lord Montague, in die Sache verwickelt ist.«
Der König nickte grimmig. »Cromwell, ich gebe Euch in dieser Sache freie Hand. Hauptsache, diese York-Brut wird ausgerottet.«
»Das wird geschehen, Ihr habt mein Wort. Und um noch einmal auf die andere Sache zurückzukommen: Eine Heirat mit Christina von Mailand wäre nun, nach dem Schulterschluss von Franz und Karl, von großem Vorteil.«
»An mir soll es nicht liegen. Das kann ich jetzt, nachdem ich Holbeins Bild endlich bekommen habe, mit Überzeugung sagen. Ich finde sie ausnehmend hübsch. Ihr könnt ihr meinen Antrag zukommen lassen.«
Die Freude und Entzückung über Holbeins Porträt von Christina von Mailand wurde im Herbst durch ihre Absage jäh zerstört. Hätte ich zwei Köpfe, so würde ich dem König von England herzlich gern einen zur Verfügung stellen, wurde sie in dem Bericht des Botschafters zitiert.
»Sie hat Esprit, mein König«, kommentierte Will Somers, Henrys Hofnarr, das Schreiben. »Witz und Mut, sie versteckt sich nicht hinter Ausflüchten.«
»Sie ist eine unverschämte, freche Göre, würde ich sagen.« Henry schüttete den fünften Becher Wein in sich hinein. Er musste seinen Frust ertränken, und mit niemand anderem ging das besser als mit Will.
»Sie ist erst sechzehn, und sie hängt offensichtlich am Leben.« Will Somers kicherte und füllte ihre beiden Becher erneut. Er betrachtete das Porträt, das Christina stehend in einem schwarzen Witwengewand und schwarzer Haube zeigte. »Wäre ja auch schade, sie hat ein hübsches Gesicht, nicht wahr? Leider sieht man vom Rest nicht viel. Ich finde, diese schwarze Robe lässt sie etwas unförmig und prüde erscheinen. Wir hätten doch viel lieber ihre zarten, knospenden Brüste angeschaut – wenigstens etwas hätte sie uns ja gönnen können, wenn sie es schon verschmäht, mit dem König von England das Ehebett zu teilen.«
»Sie soll sehr schlank sein. Tatsächlich würde ich das auf diesem Bild nicht unbedingt vermuten. Und von ihren schönen schwarzen Haaren, die sie angeblich hat, sieht man auch nichts.«
»Hübsch, schlank, schwarzhaarig und eine scharfe Zunge – hatten wir das nicht schon einmal?« Will Somers erhob sich. »Verzeiht, mein König, Euer Narr muss pissen.«
Will hatte recht. Diese Christina wäre nichts für ihn gewesen. Henry lag in seinem Bett und starrte in die Dunkelheit. Es war dennoch nur ein schwacher Trost für die Abfuhr, die er kassiert hatte. Henry drehte sich auf die Seite und massierte vorsichtig sein Bein.
Wenigstens die Sache mit den Poles hatte man im Griff. Kurz nach seinem Gespräch mit Cromwell war Geoffrey Pole in den Tower gekommen. Nach mehreren Verhören waren Henry Courtenay, der Marquis von Exeter, und Henry Pole gefolgt. Alle versicherten, in keiner Weise eine Verschwörung gegen den König geplant zu haben, gaben aber zu, Briefe mit dem Schlimmsten von allen, Kardinal Reginald Pole, gewechselt zu haben. Zudem gab es Indizien, dass sie über den baldigen Tod des Königs spekuliert hatten. Das war ausreichend für eine Hinrichtung.
Auch Lady Margaret Pole hatte er in den Tower werfen lassen. Man hatte bei einer Durchsuchung ihres Hauses Banner gefunden, die widerrechtlich Insignien und Embleme zeigten, die ausschließlich dem König vorbehalten waren. Ihre unschuldigen Erklärungen, dies stünde mit keiner bösen Absicht in Verbindung, da die Banner noch aus ihrer Jugendzeit (und somit der Regierungszeit Richards III.) stammten, ließ man nicht gelten. Sie hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, man musste sie förmlich aus dem Haus zerren. Nun hockte die alte Hexe in einer besonders kalten, feuchten Zelle, mit schlechtem Essen, dünnen, zerschlissenen Decken und nur in der Bekleidung, die sie bei ihrer Verhaftung getragen hatte. Mittlerweile war es November, und er hoffte, dass sie fror. Als weitere Verschwörer waren gestern auch Edward Neville und Nicholas Carew in Haft genommen worden. Henry lief es kalt den Rücken hinunter, wenn er daran dachte, wie nah diese Männer ihm gewesen waren. Beide hatten Zutritt in seine privaten Gemächer gehabt – wer weiß, wann einer den tödlichen Dolch gegen ihn gezückt hätte.
Das Jahr 1538 endete mit Blut und Verwüstung. Im Dezember rollten die Köpfe von Henry Courtenay, Henry Pole und Edward Neville.
Walsingham und Canterbury, die großen Wallfahrtsorte, fielen Henrys Zerstörungswelle zum Opfer. Der Schrein mit den sterblichen Überresten von Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury wurde von königlichen Kommissaren aufgebrochen, zerstört und geplündert, nachdem man Becket zuerst offiziell als Königsverräter und für unheilig erklärt hatte. Beckets Gebeine wurden verbrannt, Juwelen und Gold karrenweise abtransportiert, und zu Neujahr prangte der Régale de France, der prächtige Rubin aus Beckets Grab, auf einem Ring an Henrys Daumen.