Kein Platz mehr - Margit Schreiner - E-Book

Kein Platz mehr E-Book

Margit Schreiner

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zettel, Tagebücher, Korrespondenzen, Zeitungsartikel, Fotos, Nippes aller Art: "Allein die Dinge, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln!" Gewohnt überspitzt und mit reichlich schwarzem Humor wettert Margit Schreiner über die Fülle, mit der wir uns tagtäglich umgeben. Dabei bleibt niemand verschont: Bruno stapelt Unterlagen in seiner neu hinzugemieteten (um Platz zu schaffen!) Bibliothek, Hans und Maria kaufen zwar nichts Neues, schmeißen aber auch nichts weg, Rudi und Franca leben in einem vollgestellten Schloss am Lago Maggiore und selbst bei Willi auf dem Land wird es eng. Da hilft nur das Aus- und Aufräumen – wenngleich dies noch mehr zutage fördert. Ein so amüsanter wie treffender Roman über den Mangel an Platz, über Schriftsteller, die wie Messies leben, sowie über die problematische Müllentsorgung in Italien. Am Beispiel Japans geht Margit Schreiner der weltweiten Platzfrage nach, zeigt die irrwitzigen Folgen des Platzmangels und des Lärms auf ganze Gesellschaftsstrukturen. Wer glaubt, dass da nur noch die Flucht in den Himalaya oder den kanadischen Urwald bleibt, irrt sich. Denn ganz gleich, wie man es dreht und wendet: Es gibt keinen Platz mehr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 190

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Zitat

ALLEIN DIE DINGE...

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Für Stella und Jessica, die jetzt Platz haben.

»Doch das Leben – wenn wir an irgendeiner Straßenecke stehen, wenn wir durch die Programme surfen, wenn wir versuchen, uns im Internet zurechtzufinden oder eine kriselnde Beziehung in den Griff zu bekommen, wenn wir hören, dass ein enger Freund letzte Nacht gestorben ist – fliegt uns in grellen Splittern um die Ohren.«

David Shields, »Reality Hunger«. Ein Manifest

ALLEIN DIE DINGE, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln! Auch wenn man, so wie ich, ein paar Dutzend Mal umgezogen ist und dabei jeweils das meiste zurückgelassen hat. Es sammeln sich Bücher, Papiere, Unterlagen, Steuererklärungen, Kontoauszüge, Versicherungspolicen und so weiter an. Abgesehen natürlich von der Kleidung, dem Hausrat, den Bildern, Fotos, Schmuck, Kerzen, Zeitungsartikeln, Lampen, Möbeln et cetera.

In Italien lebten eine alte russische Prinzessin und ein ehemaliger italienischer General in der Wohnung neben mir, deren sieben Zimmer mit so vielen Wertgegenständen und Ramsch vollgestellt waren, dass nur schmale Gänge blieben, durch die man sich vorsichtig tasten musste. Bei der Einladung »Nehmen Sie doch Platz« war ich ratlos. Uralte Samtsofas, mit verschlissenem Brokat bezogene Stühle, wackelige Thonet-Sessel, alles war vollgeräumt mit Zeitungen, Büchern, Kleidungsstücken. Ich trank den angebotenen Kaffee schließlich stehend. Wie die Prinzessin und der General auch. Damals schwor ich mir, jede Ansammlung von Gegenständen über das Notwendige hinaus für meinen Teil zu vermeiden. Als ich Italien verließ, nahm ich nicht mehr mit als in meinem VW-Kombi Platz hatte. Im ersten Jahr in Österreich wurde genau das zum Problem: Ich konnte nicht einmal einen Knopf annähen, weil das Zubehör fehlte. Alles fehlte. Bereits nach drei Jahren sah die Sache schon ganz anders aus. Keine Ahnung, wie uns all das nützliche Zeug zugewachsen ist und immer noch zuwächst, sodass es keinen Ort in unserer hundertzwölf Quadratmeter großen Wohnung mehr gibt, wo noch für irgendetwas Platz wäre. Jetzt muss ich hinzufügen, es handelt sich um eine Dachwohnung mit durch die Schrägen bedingtem Mangel an Plätzen, an denen man Schränke, Kommoden etc. aufstellen könnte. Dafür gibt es aber überall Spitzböden, Verschläge, Hohlräume unter den Dachschrägen, in die man praktisch hineinkriechen muss, um all die unentbehrlichen Dinge, die aber nicht täglich gebraucht werden – Schlafsäcke, Zelte, Boote, Rollerblades, Wolle, aufblasbare Gästematratzen, Koffer, Taschen und so weiter –, hineinzustopfen. Dadurch verliere ich naturgemäß den Überblick. Und weil ich bei Bedarf zu faul bin, auf allen Vieren in die Verschläge zu kriechen, um die zweckmäßigste Tasche oder den zweckmäßigsten Koffer für den jeweiligen Anlass unter all den Taschen und Koffern zu suchen, stellt sich schließlich heraus, dass ein Koffer und eine Tasche zur Not für alle Gelegenheiten ausreichen.

Erstaunlich ist, dass auch nach dem Auszug unserer erwachsenen Tochter mit all ihren Kleidern, Büchern, Tischen, Sesseln, Zeichnungen, Skizzen, Objekten, Andenken, Bücherregalen nicht etwa mehr Platz gewonnen wurde. Im Gegenteil! Wie meine Freundin Karla neulich richtig sagte, werden Möbel und Kleider, wenn man ausmistet, plötzlich immer mehr. Sie tauchen überall auf, wo man sie nie vermutet hätte. Selbst nachdem Bruno eine kleine zweite Wohnung ohne schräge Wände, unsere sogenannte Bibliothek, im Parterre des Hauses dazugekauft hatte, stellte sich keine Erleichterung ein. Im Gegenteil! Ich habe keine Ahnung, wo all die Bücher, die jetzt unten in der sogenannten Bibliothek stehen, eigentlich früher untergebracht waren. Wir haben jedenfalls in unserer Hauptwohnung unter dem Dach genauso viele Bücher stehen wie vorher auch, und in der sogenannten Bibliothek sind ebenfalls alle freien Wände mit Bücherregalen und darin natürlich mit Büchern vollgestellt. Außerdem hat Bruno für die Bibliothek zwei Couchen, zwei Schreibtische – einen riesengroßen und einen etwas kleineren, verstellbaren Stehschreibtisch – und einen Küchentisch mit vier Sesseln angeschafft. Auf dem Boden stapeln sich alle möglichen, von Bruno angeblich dringend gebrauchten Unterlagen. In den Zimmerecken türmen sich Koffer, Taschen, technische Geräte, die nur teilweise funktionieren, und Bootszubehör.

Von unseren zwei Kellerabteilen möchte ich gar nicht sprechen. Nur so viel: Sie sind randvoll! Will man zu Beginn des Winters die Sommerreifen wechseln, muss man praktisch zwei Kellerabteile vollständig ausräumen. Es stellt sich dann heraus, dass die Winterreifen unter den Terrassenmöbeln, den Werkzeugkisten und den Solarpanelen lagern.

Auch Hans’ und Marias Wohnung quillt über, was offenbar auch passiert, wenn man gegen jede Art von Kaufrausch derart gefestigt ist wie die beiden. Hans trägt, seit er vor fünfzehn Jahren aus der Anwaltskanzlei, an der er beteiligt war, ausgestiegen ist, seine Anwaltshemden auf, Maria schneidert aus ererbten alten Seidenstoffen die elegantesten Kleider. Nicht einmal Bücher kaufen die beiden mehr, sondern beziehen ihre reichhaltige Lektüre stets aus der Bücherei. Wahrscheinlich wird die Überfüllung der Wohnung daran liegen, dass die beiden zwar nichts kaufen, aber andrerseits auch nichts wegwerfen. Hauptsächlich Andenken, die sie von ihren früheren Reisen mitgebracht haben, schöne, aber teilweise schon recht verstaubte, desolate chinesische, afrikanische, venezianische Masken, japanische Puppen, aber auch von Großmüttern selbst gestickte Deckchen, die wirklich wunderschöne Kommode der Großtante, eine Jugendstillampe mit einem lesenden jungen Mädchen, einen alten Bauernkasten, und unzählige Stoffe (Urgroßtante!), Wollreste, zwei Nähmaschinen und so weiter. Kurz zu erwähnen wären auch die von Hans seit frühester Jugend gesammelten Richard Löwenherz-, Tim & Struppi- und Asterix-Hefte sowie seine Gesamtausgaben von Karl May, Karl Marx, Engels und Lenin. Maria möchte natürlich auch nicht so kurz nach ihrer Pensionierung alle psychologischen Unterlagen, Bücher, Kongressberichte etc. wegwerfen.

Karla ist auch sehr arm dran. Sie hat vier Immobilien geerbt. Beziehungsweise hat sie eben nicht. Die Almhütte ist seit Urzeiten gepachtet. Ebenso die Holzhäuschen am Badesee, von denen Bruno und ich jeden Sommer eines beziehen dürfen. Pacht! Die Wohnung in Grado gehört wahrscheinlich einer im Pflegeheim dahinsiechenden Tante. Jedenfalls sind die Unterlagen, die ihren Erbanspruch bestätigen würden, schwer aufzutreiben. Das sehr schön gelegene Haus auf der Wilhelminenhöhe in Wien kann sie sich nicht leisten. Ist ja ständig was zu reparieren. Es war in den sechziger Jahren eine topmoderne Villa, entspricht aber mit seinen Teppichböden, dem Steingewölbe in der Küche und dem vielen Holz nicht mehr den Wünschen moderner Wohlhabender, die sich so ein Haus leisten könnten. Die wollen eher Glas und Stahl. Karla ist es nach viel Einsatz gelungen, einen Teil des Hauses an einen Barbesitzer zu vermieten, den anderen Teil an eine Schauspielerin während der Wiener Festwochen. Das Problem bei der Vermietung waren natürlich die vielen Dinge, die sich in all den Liegenschaften der Familie angesammelt haben. Ich möchte nichts aufzählen. Ich glaube, jeder kann sich das vorstellen. Karlas Vater war Segler, Bergsteiger, selbstständiger Wirtschaftsprüfer! Karla war drei Monate lang im Dauereinsatz. Gott sei Dank hat sie es trotz ihres herausragenden Talents aufgegeben, eine berühmte Schauspielerin werden zu wollen, sonst hätte sie ja gar keine Zeit dazu gehabt. Andrerseits hätte sie dann natürlich Geld. Aber Karla sagt, kein Geld kann für so ein Hundeleben entschädigen, das man als Schauspielerin, speziell wenn man aus finanziellen Gründen auch für Fernsehserien arbeitet, führen müsste. Dann lieber ausmisten, auch wenn, wie ich ja Karla bereits zitierte, beim Ausmisten Kleidung und Möbel immer mehr statt weniger werden.

Dabei ist das noch gar nichts, wenn ich an Rudi und Franca denke, die am Lago Maggiore inmitten wertvoller Sitzgruppen, Bilder, alter, staubiger Bücher, Barockkommoden, Renaissancekästen, Jugendstilschreibtischen ungeheuren Ausmaßes, Himmelbetten, zerschlissenen Perserteppichen und Ahnengalerien, in einem Schloss aus dem 17. Jahrhundert leben. Die Möbel sind den sechs Meter hohen Räumen angepasst, der Mensch wirkt seltsam klein darin. In dem großen Schlosspark tummeln sich Hunde, Katzen, ein Pferd und ein Esel (Fritzi), die ja alle auch versorgt werden müssen. Franca, die aus einem verarmten Visconti-Zweig stammt, hat das alles geerbt und nun am Hals. Man darf nämlich nicht glauben, dass man so ein Schloss gewinnbringend verkaufen kann. Offenbar kauft niemand gerne ein marodes Schloss. Wenn schon, dann für einen Euro. Franca verdient zwar als Ordinaria an der Universität einigermaßen, aber Rudi nicht. Er hat sich kurz vor seiner Pensionierung als Germanistik-Professor an der Universität von Bergamo mit neunundsechzig Jahren alles versaut, indem er sich geweigert hat, die seit Neuestem in Italien strikt befohlene EU-Anpassung mitzuvollziehen, nach der alle Protokolle, Lehrpläne und Prüfungsberichte in englischer Sprache verfasst werden müssen. Da er deutsche und österreichische Literatur unterrichtet, hat er alles in Deutsch berichtet, mit der Begründung, Studierenden deutschsprachiger Literatur stünde das Deutsche näher als das Englische. In der anschließenden Konferenz wurde er als aggressiv und zynisch bezeichnet, was ihm letztendlich die Verlängerung seiner Professur um zwei Jahre, die er aber für die Pensionsberechtigung gebraucht hätte, kostete. Jetzt sitzt er, wenn er nicht gerade Wäsche wäscht, Frühstück für die B&B-Gäste vorbereitet, einkauft oder kocht oder Fußballspiele im Fernsehen sieht, manchmal im Schlossgarten und schreibt Haikus.

Franca und Rudi haben versucht, bestimmte Möbel, Bilder, Bucherstausgaben bei Sotheby’s versteigern zu lassen, aber es ist alles unverkauft zurückgekommen. Das liegt einerseits an der Wirtschaftskrise, andrerseits daran, dass womöglich bei den insgesamt drei großen Einbrüchen ins Schloss – beim letzten sind die Diebe, während Franca und Rudi im Urlaub waren, mit Lastwagen angefahren gekommen – die besten Stücke bereits gestohlen wurden. Der Familienschmuck ist ebenfalls unauffindbar, wobei Franca den Verdacht hat, dass sie ihn in einer Lade eines der Schrankungetüme, die sie ausgemistet hatten, vergessen hat. Möglicherweise, sagt sie, hat nun ein Sperrmüllsammler ein schönes Zubrot. Die wertvollsten Bücher haben sie aus Geldmangel unter Wert verkauft. Bar vierzehntausend Euro auf den Tisch waren zu verlockend, um zu warten, bis in einer fernen Zukunft einmal der reelle zehnfache Preis gezahlt wird. Schließlich muss das Schloss im Winter beheizt werden. Das kostet. Und auch das Studium der beiden Söhne. Und das tägliche Brot. Rudi und Franca haben uns so leidgetan mit ihrem Schloss, dass wir bei unseren Besuchen dort jeden Abend ein gutes Essen mit bestem Prosecco und Wein ausgegeben haben. Die armen Säue essen ja nur die einfachste Pasta und trinken billigen Frizzante.

Auch mein Schriftstellerkollege Willi spricht davon, dass es langsam eng wird in seinem Haus auf dem Land. Seine beiden erwachsenen Kinder mit deren jeweiligen Lebensgefährten sind zwar endlich ausgezogen, aber selbst im Falle einer Reduktion von sechs auf zwei Hausbewohner wurde kein Platz gewonnen. Kann natürlich sein, dass die Kinder alles, was sie selbst im Moment nicht brauchen können, im Haus ihrer Eltern zurückgelassen haben, damit die schönen neuen Wohnungen, die sie mit ihren Lebensgefährten bezogen haben, nicht von Anfang an vollgestopft sind, aber es wird auch Katharinas Sammeltrieb eine gewisse Rolle spielen. Katharina sammelt nicht alles. Sie sammelt vor allem orientalische und mediterrane Handarbeit, also bemalte Teller, bunte Leuchtkörper, bestickte Decken, Tücher, kleine Figuren und so weiter. Und Muscheln, Steine, getrocknete Pflanzen, also insgesamt Gegenstände, die in der Regel schnell verstauben. Willi war immer dagegen. Nippes, hat er verächtlich gesagt und sich weiße Wände und leere Regale gewünscht. Aber seit seinem sechzigsten Geburtstag produziert er selbst leicht verstaubende Gegenstände, die er mit der ihm eigenen ironischen Betonung Kunstwerke nennt. Offenbar verwendet er dazu alle möglichen Gegenstände und Materialien, die ihm in die Hand fallen. Hausrat, Ramsch, alte Ofenrohre, Autoreifen.

Ich betätige mich seit einiger Zeit ebenfalls bildnerisch. Nur dass ich raumsparend mit verschiedenen Formaten von Moleskine-Heften arbeite, in die ich mit Copic-Stiften zeichne. Hauptsächlich alte Industrieanlagen und Blumen. Lieber Industrieanlagen. Das mit den Blumen wird ja schnell peinlich. In einem eigenen, dicken, großformatigen Moleskine-Heft zeichne ich ausschließlich mein Arbeitszimmer. Vom Bett aus. Ich habe vor, in Zeiten von Krankheiten, die ja mit dem Alter nicht weniger werden, zu zeichnen bis weit hinein in das Stadium eventuellen späteren Siechtums. Solange ich eben den Stift halten kann! Das Heft ist bereits fast voll mit Ansichten des Arbeitszimmers aus verschiedenen Blickwinkeln, mit verschiedenen Farben, reduziert und vergrößert, detailgenau und in der Totale, abstrakt und konkret, akribisch ausgeführt und hingefetzt, perspektivisch mehr oder weniger verschoben. Selbst die Moleskine-Hefte belegen inzwischen ein Bücherregal.

Wahrscheinlich ist der Sinn des Todes, endlich Platz zu machen.

Leider steht dem unser Traditionsbewusstsein im Weg, sodass folgende Generationen sich verpflichtet fühlen, so viel wie möglich von unserem Ramsch weiter aufzubewahren. Das kann ja auf Dauer nicht gut gehen. Wenn unsere Kinder mit ihren eigenen und unseren Erinnerungen leben müssen, können sie sich bald nicht mehr vorwärts und rückwärts bewegen. Tun sie es nicht, verfolgt sie das schlechte Gewissen. So wie das zum Beispiel bei mir war. Ich habe das Hab und Gut meiner Eltern verramscht. Weder Geschirr noch Möbel noch Teppiche noch Kleidung meiner Eltern entsprachen meinem Geschmack. Zum Verschenken oder gar zum Verkaufen ausgewählter Gegenstände oder Kleidung hatte ich keine Zeit, da ich damals in Italien lebte und die Wohnung möglichst rasch räumen musste. Nach kurzer Überprüfung einiger Dias – unzählige österreichische Seen und Almen, dazu Jesolo, Lignano, Bibione, Gabicce Mare, Sottomarina etc., im Vordergrund Menschen, die ich nicht kannte – habe ich die vierzig Schieber mit je zwanzig Dias in einen großen schwarzen Müllsack gekippt. Es war schrecklich. Als ob ich meine Eltern selbst entsorgt hätte. Die muffelnden Kleider meiner Mutter – fast alles nicht waschbar und offenbar in ihren letzten zehn Lebensjahren so gut wie nie in die Reinigung gebracht – ebenfalls. Das belastet.

Rudi, mit dem ich vor Ewigkeiten kurze Zeit verheiratet war, wird nächstes Jahr siebzig. Da häuft sich auch einiges an. Besonders da er von seiner Mutter, die in zweiter Ehe mit einem Adeligen verheiratet war – Beamtenadel, hat Rudi immer gesagt –, schwere Renaissancemöbel, unzählige alte Bücher, Bilder, unter anderem von Kubin, Schiele und Thöny, der ein Onkel war, Briefwechsel mit Trakl, Rilke, Thomas Mann, Stefan Zweig, Rokoko- und Jugendstilöllampen sowie einen Schrein mit einem ägyptischen Totenkopf und Stoffresten, wahrscheinlich eines Pharaos, geerbt hat. Der zweite Mann seiner Mutter war Kunstwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Archäologe. Rudi hatte das Erbe jahrelang irgendwo in Österreich eingelagert, bis sich dann durch das Schloss endlich die Möglichkeit bot, zu all den dort bereits vorhandenen Möbeln, Büchern und Bildern auch noch sein Erbe anzuliefern. Auch in Rudis Fall ist mit den Jahren das Wertvollste verloren gegangen. Allerdings durch seine eigene Schuld. Er hatte während seines Studiums aus Geldmangel Blätter mit Skizzen Kubins zerschnitten und einzeln verkauft, weit unter Wert, wie er später feststellte. Der einigermaßen umfassende Briefwechsel des zweiten Mannes seiner Mutter mit Thomas Mann, der für Joseph und seine Brüder archäologische Auskünfte erbat, ist aus der Wohngemeinschaft, in der wir vor fast vierzig Jahren mit Sigi und Hans gewohnt haben, gestohlen worden. Wahrscheinlich von Aktmodellen der Kunstuniversität, die Rudi in meiner Abwesenheit in unserem Zimmer untergebracht hatte. Er selbst war in der Zwischenzeit zu seiner Mutter gezogen, die nach dem Tod des zweiten Mannes allein in der geräumigen Wohnung mit den Renaissancemöbeln, unzähligen alten Büchern und Bildern, Rokoko- und Jugendstilöllampen und dem Schrein mit dem ägyptischen Totenkopf lebte.

Aber egal. Tatsache ist, dass Rudi inmitten all der von seiner Mutter und Francas Familie ererbten Museumsstücke, die seine freie Bewegung behindern, nicht ausgesprochen unglücklich wirkt. Für sein Alter schaut er recht fit aus. Das muss er auch sein, sonst könnte er nicht mehrmals täglich die schweren Eisenriegel vor der großen Eingangstüre aus dem 17. Jahrhundert zur Seite schieben, wenn er das Haus verlassen oder betreten will. Auch die viele Bettwäsche, die es für die vielen Betten im Schloss gibt, wäscht er und hängt sie zum Trocknen im Innenhof auf, wozu er mit dem Wäschekorb unter dem Arm schmale, sehr steile Wendeltreppen überwinden muss. Dann wieder hinauf zum Bügeln. Die wöchentlichen Einkäufe im Supermarkt des nächsten größeren Ortes muss er auch in die Küche schleppen, in wieder schwer zu öffnende antike Küchenschränke und Kommoden einordnen und dann zu Speisen verarbeiten. Zum Geschirrabwaschen hat er zwar eine Geschirrspülmaschine, aber andere in seinem Alter erleiden ja schon beim Einräumen des Geschirrspülers einen Bandscheibenvorfall. Franca tut, obwohl sie zwanzig Jahre jünger ist als Rudi, so gut wie gar nichts in Küche und Haushalt. Es reicht ihr vollkommen, dass sie den ganzen Krempel geerbt hat, sagt sie, da will sie sich sonst nicht mehr damit beschäftigen. Sie selbst würde gerne in Mailand, wo sie an der Universität Geographie unterrichtet, in einer überschaubaren Wohnung mit Zentralheizung leben.

Bei Mandi und Else beträgt der Altersunterschied nur dreizehn Jahre, aber andersherum. Else ist dreizehn Jahre älter als Mandi. Was Mandi nie gestört hat. Im Gegenteil, hat er immer gesagt, er habe mit den jungen Dingern noch nie etwas anfangen können. Mandi selbst wirkt jünger, als er ist. Er ist der jugendlichste – inzwischen auch schon dreiundfünfzigjährige – Schriftsteller, den ich kenne. Im Grunde wirkt er bis heute wie ein etwas gealterter Student. Er hat Else in Zeiten ihrer größten Not kennengelernt. Else war achtunddreißig Jahre alt, als ihr Ehemann sich eines Tages ohne Vorwarnung abgesetzt und sie mit vier kleinen Kindern in einem ehemaligen Bauernhaus in Ansfelden zurückgelassen hat. Else wusste damals nicht, wie sie ihre Familie allein von ihrem Fotolaborantengehalt ernähren sollte. Da hat Mandi finanziell gar nichts beitragen können. Aber psychisch! Mandi hat immer etwas vor. Er hat Else mitgenommen ins Kino, zu Fußballspielen, Rockkonzerten und Lesungen und hatte immer eine Lösung für die Kinderbetreuung. Seine Studienkollegen haben abends bei Else in der geräumigen Bauernstube ihre Doktorarbeiten geschrieben oder im leer stehenden Stall mit ihrer Band geprobt oder auf Elses damals schon relativ großformatigem Fernsehbildschirm Videos geschaut, während die beiden außer Haus waren. Zu Essen war auch immer etwas da. Auf die paar Knödel mehr oder weniger, hat Else immer gesagt, kommt es auch nicht mehr an. Einige von Mandis Kollegen konnten auch zupacken, wenn es um Reparaturen im Haus oder Arbeiten im Garten ging. Die Kinder hat er immer wie Gleichaltrige behandelt und alles mit ihnen ausdiskutiert. Else hat mir einmal gesagt, dass es sehr wichtig für sie und die Kinder war, dass Mandi sich nie als Vaterersatz gefühlt hat. Das hätten die Kinder, die an ihrem leiblichen Vater gehangen und sein Verschwinden nie verstanden hatten, nicht akzeptiert. So hat sich Mandi neunundzwanzig Jahre lang durch die verschiedenen Kindes-, Jugend- und jetzt Erwachsenenentwicklungsstadien von Elses Kindern diskutiert, und ich glaube, sie lieben ihn alle. Auch wenn sie ganz offensichtlich seine Literatur und den damit zusammenhängenden Lebenswandel so wie Else selbst nie wirklich goutiert haben. Während sich nämlich Else, die fünfundvierzig Jahre lang im Fotolabor tätig war, in völliger Dunkelheit die Beine in den Leib gestanden hat, ist Mandi, so oft es ging, in der Weltgeschichte herumgereist. Er brauche das zum Arbeiten, hat er immer gesagt, aber geschrieben hat er dann hauptsächlich Romane und Erzählungen, die in Ansfelden spielten. Manchmal hat man den Eindruck, nach der Pensionierung dreht sich alles um. Wer vorher unterwegs war, bleibt jetzt zu Hause, wer immer zu Hause war, ist plötzlich weg. Mandi jedenfalls kann, seit Else in Pension ist und er deshalb einen Job annehmen musste, weil sich ja die meisten Schriftsteller nicht vom Schreiben ernähren können und Else jetzt noch weniger Geld hat als früher, nicht mehr weg. Und wenn, dann fährt Else mit. Das ist aber dann laut Mandi kein Arbeitsaufenthalt mehr, sondern Urlaub. Und Urlaub mag er eigentlich gar nicht.

Rudi will in keine Wohnung in Mailand ziehen. Es scheint so, als liebte er das Schloss. Trotz allem. Er kennt im Gegensatz zu Franca die Familiengeschichte der Viscontis und weiß, welche ihrer Ahnen auf welchen Bildern dargestellt sind. Möglicherweise liegt es ja daran, dass er selbst eben nur aus Beamtenadel stammt und jetzt zum Großadel aufgestiegen ist. Und wenn der noch so verarmt ist. Seit Rudi nicht mehr an der Universität unterrichtet, führt er Heiratswillige, die sich für fünfhundert Euro in feudalem Ambiente ihr Ja-Wort geben wollen, in den Wappensaal. Er kassiert auch persönlich jeden Monat die Miete vom Bürgermeister des Ortes, der den Nebentrakt des Schlosses bewohnt. Franca reist, wenn sie nicht gerade in Mailand unterrichtet, ständig in der Welt herum.

Als wir letzthin für ein paar Tage am Lago Maggiore zu Besuch waren – Franca war gerade in Island bei einem Kongress zum nachhaltigen Umgang mit Naturressourcen –, habe ich Rudi ständig gesucht. Entweder ich habe ihn dann zwischen riesigen Bücherregalen gefunden oder er war in einem überdimensionalen, mit altrosa Samt überzogenen Fauteuil versunken oder er war hinter dem ungeheuren Aufbau seines enormen Schreibtisches verschwunden und schrieb Haikus oder ich fand ihn in einem kleinen Verschlag unter dem Dach, wo er auf einem verschlissenen Sofa lag. Allein die Wege, die ich dabei durch Säle, um Sitzgruppen herum, zwischen Sitzgruppen hindurch zurücklegen musste, haben mich erschöpft.

Aber warum in die Ferne schweifen! Bruno, der sich in letzter Zeit immer häufiger in unserer sogenannten Bibliothek aufhält, hat ebenfalls Schwierigkeiten, vom Bett zum Schreibtisch zu gelangen. Von der Küche ganz zu schweigen. In seinem Fall nicht wegen der weiten Wege – die Bibliothek samt Küche hat knapp sechsunddreißig Quadratmeter –, sondern wegen der Unterlagen, die sich überall stapeln. Unter Unterlagen versteht Bruno Urkunden, Steuererklärungen, Referate aus seiner Studienzeit, Filme, die er im Laufe seines Lebens gesehen und geliebt hat, Hörfunksendungen, alte Fotos, an denen er hängt, die erste Zeitschrift, die er als Schüler herausgegeben hat, Briefe, frühe Zeichnungen, Skizzen, die mindestens vierzig Jahre alt sind.

Dazu kämen noch all die Gegenstände, die sich im Laufe seiner ersten Ehe angesammelt haben, wenn nicht er, sondern seine Exfrau aus ihrem ehemaligen gemeinsamen Haus ausgezogen wäre. Auch davon hat er natürlich einen Teil mitgenommen, aber eben nur einen kleinen Teil, sonst bräuchten wir eine dritte Wohnung. Familien sind ja die allergrößten Sammler überhaupt. Das liegt zum Teil daran, dass die Gegenstände, die im Laufe einer Familienentwicklung gebraucht werden, variieren. Für kleine Kinder sind es Schwimmreifen, Spielzeugautos, Dreiräder, für mittlere Kinder Fahrräder, Rollerblades, Surfbretter, für jugendliche Kinder Computer, Drucker, iPhones, MP3-Player, Flachbildschirme etc. Wer nicht sofort ausmistet oder nicht mehr Gebrauchtes bei eBay weiterverkauft, bleibt auf allem sitzen. Das Zeug wird ja schnell unmodern. In einem Jahr sind Schwimmreifen im Entendesign in, im nächsten Jahr muss es ein Schwan sein. Das wird mit dem Alter der Kinder nicht leichter. Ein Tigersurfbrett kann heute total gefragt sein und morgen schon nur mehr peinlich. Von Smartphones, Tablets, Laptops gar nicht zu reden. Da kommen zum Design die verschiedensten Funktionen hinzu. Wenn dann die Eltern, im Falle Brunos mehr er selbst, auch noch die neuesten technischen Geräte wie digitale Film- und Fotokameras, Ferngläser mit integriertem Kompass, Riesentaschenlampen, die Notsignale blinken, GPS-Geräte, Laserdrucker usw. anschaffen, dann platzt auch ein geräumiges Haus, wie es Bruno und seine Ex-Ehefrau hatten beziehungsweise seine Ex-Ehefrau immer noch hat, aus den Nähten.