Mein erster Neger / Die Rosen des Heiligen Benedikt - Margit Schreiner - E-Book

Mein erster Neger / Die Rosen des Heiligen Benedikt E-Book

Margit Schreiner

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Beschreibung

Endlich wieder in Neuausgabe lieferbar: Margit Schreiners Erzählungen ›Mein erster Neger‹, zusammen mit ihrem Debutband ›Die Rosen des Heiligen Benedikt‹. Über die aus dem österreichischen Linz stammende Autorin schrieb Verena Auffermann in der Süddeutschen Zeitung: "Margit Schreiner beherrscht die Dramaturgie kurzer Erzählungen, weiß wie der Bogen zu spannen ist. Sie ist eine überzeugende Erzählerin kleiner Fluchten, deren Wege sie mit Schrecken unterlegt. Ihre Sprache ist unmanieriert, kurz, schnell und treffsicher."

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Seitenzahl: 384

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Inhalt

[Cover]

Titel

Die Rosendes Heiligen Benedikt

Scheidung auf österreichisch

Der Rechtsanwalt

Der Senner von der Kargeralm

Hassan

Bergheimerstraße Nr. 3

Der Glückwunsch

Der Schergentoni

Die Rosen des Heiligen Benedikt

Ein Zwischenfall

Der alte Mann und das Mädchen

Nachts

Der Brief

Lucie sagt

Die Bindermichler

Über das Geschlecht

Mein erster Neger

Widmung

Ankunft in Afrika

Die Mission

Vater

Mein erster Neger

Hendrich

Der Mann, der sein Pferd suchte

Befreiung

Die Hitsch und ihr Mann

Fressen

Der nordische Mensch

Safari-Lodge »Ernest Hemingway«

Übrigens: Habibi

Die Onkel-Story

Kenia

Der Junge und sein Hund

Das Abschiedsfest

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

Die Rosendes Heiligen Benedikt

Scheidung auf österreichisch

»Ich wüßte nicht«, sagte mein Mann und blätterte nachlässig in einem riesigen Stoß von Papieren, »wo die Geburtsurkunde meiner Mutter sein könnte.«

Ich horchte auf.

Auf dem Schoß meines Mannes saß seine jüngste, zweijährige Tochter, die er mir gerade vorgestellt hatte. Sie klammerte sich an seinen Hals und sah mich mit vorgeschobener Unterlippe an, als wollte ich ihr den Vater wegnehmen.

»Aber vielleicht«, sagte er, »verzichtet man ja darauf.«

Er erinnerte mich an unsere Heirat und daran, wie der zuständige Standesbeamte schließlich doch auf die Geburtsurkunde des Vaters meines Mannes verzichtet hatte.

»Mein Vater ist seit fünfundvierzig Jahren tot«, hatte mein Mann damals zu dem Beamten gesagt, »und kein Mensch weiß, wo genau er geboren ist.«

Der Vater meines Mannes kam aus Istrien. Seine Mutter ist in der Bukowina geboren.

»Ich finde meinen Staatsbürgerschaftsnachweis nicht mehr«, sagte mein Mann einige Monate später am Telephon. Ich hatte ihn in Triest angerufen, weil ich mich endlich scheiden lassen wollte. Er äußerte sich sehr entschieden dahingehend, daß ich seinen Staatsbürgerschaftsnachweis vor etwa einem Jahr in Empfang genommen und in unsere Scheidungsmappe eingereiht hätte. Aber dort war er nicht. In der Scheidungsmappe waren bis auf sein Maturazeugnis und einem alten, ungültigen Reisepaß ausschließlich meine eigenen Papiere, und das seit sieben Jahren.

Wir hatten vor neun Jahren in Tokyo geheiratet. Der Entschluß war gefaßt worden, weil ich als ehemalige Lebensgefährtin meines in Tokyo an der Universität Deutsch unterrichtenden späteren Mannes keine Aufenthaltsgenehmigung in Japan bekommen hatte und gezwungen gewesen war, alle drei Monate aus Japan auszureisen, um vom Ausland aus ein neues Touristenvisum zu beantragen. Das war zeitraubend und kostspielig gewesen.

Nach drei Jahren hatte ich gepaßt.

Der Akt war sehr einfach gewesen. Wir fuhren nach der Arbeit mit der Schnellbahn von Tamagawagakuen, wo wir wohnten, nach Machida, wo das Gemeindeamt war. Ein freundlich lächelnder Herr legte uns ein mit Zeichenschrift eng bedrucktes Papier vor, das damals auch mein Mann noch nicht lesen konnte und das beglaubigt ins Deutsche übersetzen zu lassen uns dann bei der Scheidung eine schöne Stange Geld kosten sollte, wir setzten unsere Unterschrift darunter, und der freundlich lächelnde Herr setzte einen dicken roten Stempel über unsere Unterschrift. Im Anschluß daran feierten wir alle drei unsere Hochzeit, indem wir Sushi – rohen Fisch auf gesäuerten Reisbällchen – aßen, was meine Lieblingsspeise war. Es war einer der schönsten Tage unserer Ehe.

Dann allerdings begannen die Schwierigkeiten. Die Beschaffung der Papiere, die die österreichische Botschaft in Tokyo zur Bestätigung unserer Heirat verlangte, erwies sich, zumindest was die Papiere meines Mannes anbelangte, als so kompliziert, daß wir in den Sommerferien nach Österreich fliegen mußten, um alles zu besorgen, was uns selbst an Ort und Stelle nicht vollständig gelang. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß in der damals noch vorhandenen Geburtsurkunde der Mutter meines Mannes an der letzten Ziffer des Geburtsjahres herumradiert worden war, weshalb der österreichische Standesbeamte eine Überprüfung und Bestätigung der Echtheit der Papiere im heutigen Rumänien verlangte, die sich über Wochen hinzog. Als die Papiere ungeprüft wieder zurückkamen (die Stadt, in der die Mutter meines Mannes geboren ist, oder zumindest das kirchliche Taufregister gibt es nicht mehr), gab der Standesbeamte auf. Er verzichtete nicht nur auf jede weitere Überprüfung unserer Papiere, sondern sogar, wie gesagt, auf die Geburtsurkunde des Vaters meines Mannes, was er zudem schriftlich bestätigte, so daß auch der Beamte bei der österreichischen Botschaft in Tokyo nach unserer Rückkehr auf die Urkunde verzichtete und, nachdem die Heiratsurkunde aus Machida sowie Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung meines Mannes aus dem Japanischen ins Englische und verschiedene Urkunden aus dem Deutschen ins Japanische übersetzt worden waren, unsere Heirat anerkannt werden konnte.

Nach Anerkennung unserer Eheschließung durch die österreichische Botschaft aßen wir Sushi in einem guten Restaurant in Shinjuku – ohne Beamte.

Wahrscheinlich ist der Staatsbürgerschaftsnachweis meines Mannes bei seinem Umzug von Japan nach Österreich verlorengegangen. Wir lebten damals bereits getrennt, und ich war längst nach Salzburg zurückgekehrt. Mein Mann hatte zu der Zeit eine japanische Freundin, die ihm beim Umzug half. Die brachte unter anderem seine Pakete zur Post. Wie er später feststellen mußte, sind zwei von den damals von dieser Freundin zur Post gebrachten Paketen niemals in Österreich angekommen. Es seien, sagte er, hauptsächlich Photos in diesen Paketen gewesen, darunter die Aktphotos, von denen er in einer bestimmten Phase unserer Ehe unzählige gemacht hatte.

Aber was heißt schon hauptsächlich? Ich frage mich heute wie damals, ob in einem der beiden Pakete nicht auch sein Staatsbürgerschaftsnachweis gewesen sein könnte. Falls er nicht ohnehin irgendwo in seiner Wohnung in Triest herumliegt. Mein Mann war nämlich immer schon äußerst schlampig, was auch einer der Gründe war, warum ich ihn verlassen habe. Es kann daher natürlich auch sein, daß er seinen Staatsbürgerschaftsnachweis einfach verschlampt und dann nie wieder gründlich genug gesucht hat. »Der Leidensdruck reicht nicht«, sagte der Psychologe, den ich seit fünf Jahren regelmäßig aufsuche, »ein Mensch wie Ihr Mann braucht mehr als verlassen zu werden, um Scheidungswillen zu entwickeln.«

Wie aber hätte der Leidensdruck größer sein können? Seine Freundin, eine Italienerin, mit der er seit nunmehr sieben Jahren zusammenlebt und drei Kinder hat, bedrängte ihn, wie sie mir selbst am Telephon versicherte, tagtäglich, die Sache endlich hinter sich zu bringen.

Mein Psychologe meinte, im Falle einer hartnäckig manischdepressiven Natur mit ausgeprägt sthenischem Stachel müßte wahrscheinlich erst ein völliger nervlicher Zusammenbruch erfolgen, bevor an Scheidung überhaupt zu denken sei.

Aber ich glaube, eher wäre ich zusammengebrochen. Vier Beziehungen waren bereits an meinem Ehestand gescheitert, und der Lebensmittelhändler in Viehhausen, wo ich damals wohnte, sprach mich jeden Tag mit einem anderen meiner beiden Nachnamen – Mädchen- und Gattennamen – sowie gelegentlich sogar einem der Namen eines meiner ständigen Begleiter an. Das Finanzamt sandte mir die Unterlagen für meinen Mann zu, die ich nach Triest weiterleitete, die aber wegen der Unzuverlässigkeit der italienischen Post meist nicht rechtzeitig dort eintrafen, was Mahnungen, Zahlungsaufforderungen und Gebührenvorschriften zur Folge hatte, die wiederum an mich gesandt wurden und deren Weiterleitung ebenfalls zu lange dauerte, so daß weitere Mahnungen, Zahlungsaufforderungen etc. eintrafen. Einmal stand bereits der Gerichtsvollzieher vor der Haustür, und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einer Nachbarwohnung in Sicherheit bringen.

Die österreichische Hundesteuerzahlungsaufforderung für seinen längst Triest verunreinigenden Dackel traf ebenfalls jedes Frühjahr bei mir ein, und beim Ansuchen um die Wohnbeihilfe meiner Magistratswohnung brauchte ich seinen Lohnzettel, der, wie man sich vorstellen kann, auch nie rechtzeitig eintraf und den ich dann auch noch beglaubigt übersetzen lassen mußte. Sogar bei meinem Kirchenaustritt vor nunmehr zehn Monaten wurde die Unterschrift meines Mannes verlangt. Er mußte persönlich anreisen und sie vor den Augen des Beamten der Kirchenaustrittsstelle leisten.

Mein Psychologe sagte, ich litte an einer Überfixierung auf den ehemaligen Partner, die bedingt sei durch ein gestörtes Lösungsverhalten von meinem Vater. Damit spielte er darauf an, daß mein Mann zwanzig Jahre älter war als ich. Er wurde voriges Jahr fünfzig Jahre alt. Da meine Mutter im selben Jahr siebzig und mein Vater achtzig Jahre alt wurden, hatten sich meine Eltern schon sehr auf die große gemeinsame Geburtstagsfeier gefreut.

Denn obwohl ich ihnen immer wieder erklärt hatte, daß wir getrennt lebten und die Scheidung unmittelbar bevorstünde, hatten sie mir in den letzten Jahren unserer Ehe nicht mehr geglaubt. Meine Mutter hatte mich immer wieder lächelnd gefragt, wie lange wir dieses Spiel eigentlich noch spielen wollten. Bei unserem großen Familientreffen vor acht Monaten hatte sie dabei auf meinen Bauch geschaut. Aber sie kann gar nichts gesehen haben. Ich war da erst im zweiten Monat schwanger.

Kurz darauf rief ich meinen Mann in Triest an, um ihm mitzuteilen, daß die Scheidung endgültig in den nächsten sieben Monaten vollzogen sein müßte. Er fragte mich nur, ob ich denn endlich die Sache mit der durch den Stempel unleserlich gewordenen Unterschrift auf unserer japanischen Heiratsurkunde geklärt hätte. Er glaube nämlich, sagte mein Mann und lachte, daß wir gar nicht geschieden werden könnten, solange nicht geklärt sei, ob wir überhaupt verheiratet gewesen seien.

Da war ich am Ende meiner Kräfte. Ich fühlte, wie die Dinge sich immer mehr verdichteten.

Nachdem ich lange panisch in der Wohnung auf und ab gegangen war, rief ich meinen Psychologen an und bat ihn um eine – von ihm Krisenintervention genannte – Sondersitzung, bei der er mir riet, den alten Schulfreund, auf den ich bei unseren Gesprächen über meine frühkindliche Sexualität immer wieder zu sprechen gekommen und der inzwischen ein bekannter Scheidungsanwalt geworden war, aufzusuchen.

Als ich die Anwaltspraxis betrat, saß mein Schulfreund in weißem, bis zum Bauch geöffnetem Hemd und grauer Hose vor dem Kanzleicomputer und spielte Tennis gegen den Apparat. Als er mich bemerkte und sich mir zuwandte, funkelten seine dicken Brillengläser im Licht der Schreibtischlampe. Wir tauschten Erinnerungen an unsere Schulzeit aus, dann erklärte er mir das Computerspiel. Ich setzte mich, um das Gerät besser bedienen zu können, auf seinen Schoß und bemerkte gleich, daß ich ihm noch nicht gleichgültig war.

Von da an ging alles sehr schnell. Er übernahm alle Kontakte zu meinem Mann, setzte in nur zwei Tagen die notwendigen Schriftstücke auf, ließ sämtliche Urkunden beglaubigt vom Japanischen bzw. Englischen ins Deutsche übersetzen, erklärte die fehlenden Dokumente als unwichtig und legte am Gericht den Scheidungstermin fest.

Als mein Rechtsanwalt am Tag der Scheidung neben meinem Mann den langen weißen Gang entlangkam, an dessen Ende ich – sorgfältig geschnürt – vor der Tür des Scheidungsrichters wartete, winkte er mir schon von weitem zu. Sein Gesicht war gerötet, und seine Brillengläser funkelten hell. Mein Mann sah neben ihm sehr schmächtig aus, auch irgendwie gedrückt. Der Rechtsanwalt begrüßte mich mit je einem Kuß auf beide Wangen und klopfte dann meinem Mann auf die Schulter. Mein Mann sagte, seine Lebensgefährtin warte im Kaffeehaus. Dann öffnete der Rechtsanwalt die Tür des Scheidungsrichterzimmers.

Der Scheidungsrichter stand auf, als wir eintraten. Er war jung und hatte vorne sehr kurze Haare und im Nacken einen langen dünnen Zopf, was ich bemerkte, als er sich zur Seite wandte, um uns die Plätze anzuweisen. Mein Mann und ich saßen auf zwei Stühlen rechts von ihm, der Anwalt saß gegenüber auf einer schmalen Bank. Der Schreibtisch des Richters stand in der Mitte.

Der Scheidungsrichter las die von dem Rechtsanwalt aufgesetzten Schriftstücke so schnell vor, daß ich kaum etwas verstand. Von Zeit zu Zeit sah er dabei zu uns her. Der Anwalt auch. Mein Mann wirkte nervös. Ich sah so etwas sofort an den schmalen Falten neben seiner Nase und der gerunzelten Stirn. Ich befürchtete schon, er könnte einen Zwischenfall provozieren, der den Scheidungsprozeß unterbräche, was in meiner Lage besonders fatal gewesen wäre, als der Richter und der Anwalt plötzlich aufstanden. Wir blieben sitzen. Der Anwalt bedeutete uns mit der Hand, ebenfalls aufzustehen. Als wir alle standen, fragte der Richter uns, ob unsere Ehe unheilbar zerrüttet sei. Worauf mein Mann dann mit einem deutlichen »Nein« antwortete. Der Richter zuckte zusammen. Der Anwalt nahm seine Brille ab, und ich sah zum erstenmal seine Augen. Sie waren klein und blau. Und seltsam verschwommen.

Es sei vollkommen lächerlich, sagte mein Mann, in dem Zusammenhang von unheilbar zu sprechen. Nichts sei unheilbar, und niemand sei wirklich verloren. »Allein vielleicht«, sagte mein Mann und ging zum Fenster des Richterzimmers hin und sah hinaus auf die herbstlich kahlen Bäume, die Kieswege, auf denen Tauben saßen, und auf die leeren, rotgestrichenen Bänke. »Einsam und allein«, sagte er.

Der Anwalt flüsterte mit dem Richter, dann ging er mit meinem Mann vor die Tür. Ich weiß nicht, was er ihm da draußen gesagt hat, er hat es mir nie erzählt, aber als mein Mann hinter dem Rechtsanwalt wieder in das Richterzimmer kam, strahlte er übers ganze Gesicht. Er trat neben mich, nahm meine Hand und streichelte, ja tätschelte sie. Dabei sah er mich mit einem, wie mir schien, ganz versonnenen Lächeln an.

Nach einigem Zögern fragte der Richter noch einmal, ob unsere Ehe unheilbar zerrüttet sei. Er war, hatte ich den Eindruck, nun aufs höchste gespannt.

»Ja«, sagte da mein Mann und sah mich lächelnd an, und da hauchte auch ich mit einiger, letzter Kraft mein »Ja«.

Dann standen wir noch eine Weile Hand in Hand zusammen, mein Mann strahlend, ich ganz benommen, der Richter beglückwünschte uns, und der Anwalt hielt die Tür auf. Wir waren geschieden.

Und da begann dann diese ganz andere Geschichte mit dem Rechtsanwalt, der mein Jugendfreund gewesen war.

Der Rechtsanwalt

Ich hätte ihn nicht aus der ihm so vertrauten und lieben Landschaft reißen dürfen.

Er war Rechtsanwalt in L. Aber daß er seine Stelle verloren hat, ist ihm egal. Was ihn schmerzt und letztlich dahinsiechen läßt, ist der Verlust seiner Berge, der Verlust von frostigem Wind, Schneestürmen, einsamen Steinböcken auf Berggipfeln und vor allem der Verlust seiner Höhlen, die er mit Schleifsäcken, Steigbügeln und Carbidlampen durchforstete und vermaß. Er war Mitglied des Höhlenvereins in L.

Als ich ihn kennenlernte, anläßlich meiner Scheidung, bei der er mich vertrat, wog er 98 Kilo, war bei bester Gesundheit, und wir verliebten uns auf den ersten Blick ineinander. Was mir an ihm gefiel, waren die bergwasserblauen Augen, in denen ein seltsamer Glanz loderte, von dem ich nicht zu sagen vermochte, ob er aus eisiger Kälte oder sengender Hitze entstanden war. Sonst war er eine durchschnittliche Erscheinung, ein Rechtsanwalt eben, mit Brille und grauem Anzug.

Ich lud ihn am Abend nach meiner Scheidung zusammen mit meinem ehemaligen Mann zum Essen ein, und wir plauderten über dies und das und kamen schließlich auf Höhlen zu sprechen. Sofort loderte die mich so anziehende Hitze oder Kälte in den Augen des Anwalts auf, und er bot an, uns auf der Stelle in eine Höhle zu führen. Es war 23 Uhr. Mein gerade von mir geschiedener Mann fand die Idee ausgezeichnet, konnte aber sofort etliche Gründe aufzählen, warum er für seinen Teil nicht mitkommen könne, was er immer schon so gemacht hat und was im übrigen einer der Gründe war, warum ich mich von ihm scheiden ließ. Der Rechtsanwalt und ich, wir fuhren also alleine los. Ich hatte einiges getrunken, und die Scheidung, die einsamen Landstraßen und die nahe herantretenden schwarzen Bergrücken versetzten mich in einen solch trunkenseligen Zustand, daß ich heute glaube, damals schon muß der Entschluß in mir gereift sein, den Rechtsanwalt zu entführen. Ach, hätte ich ihn doch bei seinen Bergen und Höhlen gelassen.

Nach einer guten Stunde Autofahrt, nach der der Rechtsanwalt seinen grauen Anzug mit lehmverschmierten Blue jeans vertauscht und seine Brille abgenommen hatte, stiegen wir auf einem schmalen Pfad – die Wipfel der Bäume waren vom Mond beleuchtet, der Pfad von seiner Taschenlampe – etwa eine dreiviertel Stunde steil bergan. Es war gegen ein Uhr nachts, als wir die Höhle betraten. Der Höhleneingang war eng und schwarz, und es kam ein Wind aus dem Inneren des Berges. Glitschige Felsbrocken lagen herum, über die wir – Hand in Hand – balancierten. Die Höhle führte steil nach unten. Die Fingernägel in nasse Steinwände verkrallt, mit dem Fuß nach festem Boden tastend, kletterten wir hinab. Die Decke war niedrig und glänzte silbern im Schein der Taschenlampe. Es war eiskalt in der Höhle, und der Rechtsanwalt legte einen Arm um mich.

So eine Höhle ist ein weitverzweigtes System von Gängen, Räumen, Wasserläufen, Sackgassen, Schluchten, An- und Abstiegen usf., so daß der Laie völlig auf seinen Führer angewiesen ist.

Vor einem mir recht klein erscheinenden, lehmverkrusteten Höhlenraum blieb der Anwalt stehen und teilte mir mit, daß hier ein sogenannter Siphon gewesen sei, was nichts anderes heiße als eine bis zur Decke mit Wasser gefüllte Höhle, in der, bevor man sie ausgepumpt habe, ein Freund von ihm bei dem Versuch, die dahinterliegenden Höhlen zu erforschen, ertrunken sei. Höhlentauchen sei eine der gefährlichsten Arbeiten, sagte der Rechtsanwalt. Der Taucher wirble den Schlamm des Höhlenbodens auf und sei ausschließlich auf seine Geräte und das Seil angewiesen, das ihn mit seinem Ausgangspunkt verbinde. In diesem Fall, er deutete auf einen überhängenden Felsen in dem Höhlenraum, sei das Seil, welches den Taucher hätte zurückführen sollen, unter den Felsen gerutscht, der Taucher habe wegen des aufgewirbelten Schlamms die Orientierung verloren und schließlich, dem Seil folgend, versucht, sich durch den Zwischenraum zwischen Felsen und Boden zu zwängen. Dort eingeklemmt habe man ihn nach dem Auspumpen der Höhle gefunden.

Der Anwalt sprach darüber so sachlich, daß ich spürte: Er hatte keine Angst vor dem Tod.

Ich starrte lange auf die überhängenden Felsblöcke. Im Licht der Taschenlampe glichen die Wassertropfen auf den Felsen allesamt kleinen unbehaarten Spinnen, die in breiten Formationen, Trupp für Trupp, die Höhle durchhasteten. Mich überfiel plötzlich eine Art Platzangst. Und auch weil ich vom Wein, von der Scheidung und von der ungewohnten Anstrengung des Kletterns völlig erschöpft war, weinte ich seit Jahren zum erstenmal haltlos.

Der Rechtsanwalt führte mich durch die Höhle zurück.

Schon als wir den Höhlenausgang, vor dem eine in Mondlicht getauchte Baumgruppe stand, von weit innen her sahen, roch ich die Erde. Sie stank. In den Höhlen nämlich, in denen nichts wächst, ist die Luft alt und rein. Tritt man aber aus ihnen heraus, strömen die Gerüche einher. Wer weiß schon, ständig auf der Erde lebend, wie sie wirklich riecht.

Sie riecht nach Verwesung – und es ist ein wunderbarer, süßer Geruch.

Und wieder verfiel ich in einen rauschartigen Zustand, feierte meine Auferstehung. Luft, Mondlicht, Wärme und Verwesung umfingen mich, und ich sank mit dem Rechtsanwalt auf einer Mooslichtung nieder, wo wir uns auf der Stelle liebten. Auf dem Weg zum Auto liebten wir uns noch einmal auf einer Brücke, über deren Geländer gebeugt ich in die schwarzen Strudel eines Gebirgswassers sah.

Seit dieser Nacht war mir der Anwalt verfallen. Und es gibt keinen Zauber, der nur einseitig wirkt. Er sprach von meinen Augen wie von Bergkristallen, küßte unentwegt meine Bakkenknochen, trank aus meinem Mund wie aus Bergquellen, tastete forschend meinen Körper ab, und wenn er in mich drang, war es, als stiege er hinab in seine grundlosen Höhlen. Verzückt tauchte er am Ende wieder auf, nach Luft ringend und verzaubert. Da ich im Zeichen des Steinbocks geboren bin, nannte er mich Böcklein. Sonst sprach meistens ich. Ich erzählte ihm von der Arbeit an meinem Roman, der damals bereits fünfhundert Seiten umfaßte, von meinem Haß auf L., das mich in seiner Enge und Dummheit erdrückte, von den Ländern, in denen ich gelebt hatte, von meinen Plänen – und er lauschte mir glücklich.

Nach zwei Wochen sprach ich zum erstenmal von Italien. Ich hatte dort eine Zeitlang mit meinem geschiedenen Mann zugebracht, und das Haus in den Weinbergen war mir, von dem Anwalt selbst ausgehandelt, zugesprochen worden.

»Dort gehen wir hin«, sagte ich, »dort ist es warm. Wir bebauen das Land, und ich kann in Ruhe schreiben.«

Der Rechtsanwalt sah mich verzückt an und drang wieder in mich auf diese stürmische und doch zugleich aufmerksam tastende Weise, die mir inzwischen unentbehrlich geworden war. Aber auf all meine Reisevorbereitungen reagierte er seinerseits nicht. Er saß da, sah mich an und hörte mir zu, zog mich zu sich, und wir wälzten uns zwischen meinen halb gepackten Koffern und am Boden ausgebreiteten Kleidern und Büchern.

Ich kündigte meine Wohnung, schloß, Gott sei Dank, eine Krankenversicherung für den Rechtsanwalt ab und holte ihn eines Tages mit meinem schwer beladenen Auto von seiner Rechtsanwaltskanzlei ab. Er stieg in das Auto, ich warf die Tür zu, und wir fuhren los. Seine Aktentasche auf dem Schoß, die linke Hand auf meinem Knie, sah er verwundert auf die Gebirge, die wir überquerten. Als nach Cremona die Berge niedriger wurden, zündete er sich eine Zigarette an. »Wo genau liegt der Weinberg?« fragte er, und ich sagte: »Bei Neapel.« Danach schwiegen wir bis Bologna. Ich konnte nicht mehr Auto fahren, da mir die Autobahn mit ihren grellen Lichtern vor den Augen verschwamm, und ich hielt bei einem Motel zwischen Bologna und Florenz. Als ich das Zimmer aufgeschlossen hatte, fiel der Anwalt mit kaltem Feuer über mich her, biß mich, als ob er mich auffressen wollte, küßte mich, als ob er mich aussaugen wollte, liebte mich, als ob er mich auspumpen wollte. So lange, bis ich vor Erschöpfung einschlief. Als ich aufwachte, war er immer noch in mir und flüsterte mir seine Liebe ins Ohr.

Ich bezahlte die Hotelrechnung, und wir fuhren weiter.

Als wir am Nachmittag in meinem Weinberg standen und die Sonne unterging, lehnte er auf einer Schaufel, als wäre er schon immer Weinbauer gewesen.

Er verbesserte meine Zisternen, legte Terrassen im Weinberg an, band meine Tomaten hoch und lernte von unseren Nachbarn den Wein bestellen.

Anfangs ging ich überall mit, grub hier und dort in der Erde, aber am Ende der vierten Woche spürte ich, daß ich überflüssig war, und setzte mich an die Schreibmaschine, um ein Hörspiel zu verfassen, mit dem ich unseren Lebensunterhalt für das nächste Jahr zu finanzieren gedachte. Denn man darf nicht glauben, daß man sich von einem kleinen Weinberg ernähren kann.

Alles lief wunderbar, wir arbeiteten tagsüber, er im Wein und ich an meinem Schreibtisch, abends gingen wir im Ort spazieren, wo wir überall geachtet wurden, seit man bemerkt hatte, daß wir ernsthaft das Land bestellten, und nachts liebten wir uns auf der Terrasse, auf die der Mond und die Sterne schienen, im Weinberg, wo uns die Reben ins Gesicht hingen, oder im Bett, von wo wir die Holzwürmer im Gebälk nagen hörten und schwere Nachtfalter gegen das Moskitonetz vor dem Hauseingang torkeln sahen.

Nach einigen Monaten fiel mir zum erstenmal seine Blässe auf. Auch bemerkte ich, daß er nachts mehrmals aufstand und im Weinberg verschwand. Ich beachtete aber die, wie ich heute weiß, ersten Symptome seines Siechtums nicht weiter, bis ich eines Morgens, nervös von meiner Arbeit, um vier Uhr früh aufwachte und den Anwalt ansah, der, mir zugewandt, die rechte Hand auf meiner Scham liegend, von einer so durchscheinenden, ja ins Grüne spielenden Blässe war, daß ich zutiefst erschrak. Auch hatte er bestimmt zehn Kilo abgenommen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, ein paar Kilo weniger könnten ihm unmöglich schaden, und wandte mich wieder meinem Hörspiel zu, das ich noch in derselben Woche fertigstellen wollte.

Als das Hörspiel nach weiteren drei Wochen fertig war und ich es an verschiedene deutsche Rundfunkanstalten abgeschickt hatte, bei denen ich einen gewissen Ruf als Hörspielautorin genieße, so daß ich sicher sein konnte, daß mehrere Sender mein Stück übernehmen würden und eine Summe von mindestens 6oooo öS auf mein Konto eingehen würde, die wir im übrigen dringend benötigten – nach Abschicken dieses Hörspiels also sah ich, daß der Anwalt nur mehr ein Schatten seiner selbst war. Bei jedem anderen hätte ich gesagt, fünfundsiebzig Kilo seien ein normales Gewicht für einen Mann von 1,75 Meter Größe, beim Rechtsanwalt aber war es das Symptom einer furchtbaren Krankheit, zumal die Blässe nicht aus seinem Gesicht gewichen war, unter den Augen nachtblaue Schatten lagen, seine Stirn von Schweiß stets silbern glänzte und seine Haut sich anfühlte wie kalter, nasser Stein.

Bei der Weinernte, die kurz danach stattfand, mußte er sich mehrmals übergeben, da er den Geruch des faulenden, gärenden Weins in den Bottichen nicht vertrug.

Oft sah ich ihn auf seine Schaufel gestützt im Weinberg stehen und über die weite Ebene starren.

Ach, ich habe ihm die Höhlen nicht ersetzen können! Das seltsame kalte Feuer in seinen Augen war erloschen.

Wir liebten uns in der Zeit kaum noch, da er vor Erschöpfung meinen Körper nicht fand.

An dem Tag schließlich, an dem ein Teil meines Hörspielhonorars auf meinem Konto eintraf, gerade so viel, wie wir bei den geringen Bedürfnissen, die wir hatten, brauchten, um die nächsten Monate zu überstehen, stand er auf, torkelte im Zimmer umher, als hätte er jeglichen Orientierungssinn verloren, und folgte, wie mir schien, die Hände voran, einem unsichtbaren Seil, an das ihn jemand gebunden hatte. Schließlich fiel er erschöpft ins Bett zurück und redete wirres, unverständliches Zeug.

Erst als er bettlägrig war, bemerkte ich, daß seine Schwäche von einem Durchfall herrührte, der ihn, wie er mir gestand, seit Monaten mehr oder weniger plagte, bis er schließlich in einen Dauerzustand übergegangen war, der ihn alles, was er zu sich nahm, kurze Zeit später als dünne, übelriechende Flüssigkeit ausscheiden ließ.

Da wir in unserem Weinberg über keine Wassertoilette, sondern nur über eine dürftige ›fossa settica‹ verfügen, stinkt es jetzt ununterbrochen in unserem Zimmer scharf und süß von den mit brauner Flüssigkeit gefüllten Eimern, die ich alle paar Stunden auswechsle. So lebe ich also seither mit einer kaum noch zu bewältigenden Arbeitslast. Ich stehe um vier Uhr früh auf, wasche den Rechtsanwalt und wechsle seine Nachtschüssel aus. Dann arbeite ich im Wein – die Weinstöcke müssen beschnitten werden –, bestelle das Wintergemüse – Kohl, Kraut und große Köpfe Broccoli –, ernte die letzten Früchte, Feigen und Oliven – gehe den Hügel hinunter ins Dorf, besorge das Nötigste, vor allem Medikamente für den Anwalt, die jedoch bis jetzt nicht geholfen haben. Von zehn Uhr vormittags bis zwei Uhr nachmittags sitze ich an der Schreibmaschine und arbeite an dem Roman weiter, den ich für das Hörspiel unterbrochen habe und der mein Lebenswerk werden soll. Um zwei Uhr wasche ich den Anwalt, wechsle die Schüssel aus und füttere ihn mit flüssiger Nahrung; Fleisch oder Gemüse nimmt er nicht mehr zu sich. Dann arbeite ich noch einmal bis zum Sonnenuntergang im Land, wechsle die Schüssel des Rechtsanwalts aus, falle um acht Uhr erschöpft ins Bett und schlafe sofort ein.

Ich weiß nicht, wie lange das noch so weitergehen soll.

Vielleicht sollte ich den Rechtsanwalt zurückschaffen in seine Heimat, mit den Bergen, die er so liebt, den eisigen Schneestürmen, den einsamen Steinböcken und den Höhlen mit der reinen Luft.

Wenn es nicht schon zu spät ist.

Der Senner von der Kargeralm

In Österreich gibt es, wie jeder weiß, viele Berge.

Und auf den Bergen Almen. Dort verbringen die Senner das halbe Jahr mit ihrer Viehherde, in geringer oder ganz beträchtlicher Höhe, je nachdem, welche Tiere sie weiden und wo der Bauer seine Almen besitzt.

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