Langeooger Lügen - Peter Gerdes - E-Book

Langeooger Lügen E-Book

Peter Gerdes

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Langeoog in Aufruhr: Ein anonymer Denunziant schwärzt Insulaner an, die ohne Genehmigung Dachböden, Schuppen und Lauben zu Ferienwohnungen ausgebaut haben und sie illegal vermieten. Hunderte Anzeigen liegen schon vor, nahezu täglich werden es mehr. Schon munkelt man, die Affäre betreffe ein Viertel aller Urlaubsdomizile. Die Zahl derer, die mit einer Anzeige rechnen müssen, wird immer größer. Da geschieht ein Mord. War das Opfer der Denunziant? Und gleich darauf ein zweiter Mord. Was war das Motiv? Und wer ist das nächste Opfer? Inselpolizist Lüppo Buss muss bei den Ermittlungen zunächst auf die Hilfe seines Freundes und Kollegen Stahnke verzichten, der anderweitig im Einsatz ist. Aber er bekommt unerwartete Hilfe: Die »Viererbande« schaltet sich ein …

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Peter Gerdes

Langeooger Lügen

Kriminalroman

Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet er das Festival »Ostfriesische Krimitage«. Seine Krimis wurden bereits für den niedersächsischen Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer. Neuere Veröffentlichungen: »Ostfriesische Verhältnisse«, »Langeooger Serientester«, »Friesisches Inferno« und »Ostfriesen morden anders«. www.petergerdes.com; www.tatort-taraxacum.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2019)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Tim Aßmann/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6480-5

Vorbemerkung

Alles gelogen – glauben Sie mir!

1.

Das Licht da unten ging später an als erwartet. Er war schon etwas unruhig geworden. Jetzt aber erstrahlten die übergroßen Fenster der Gartenhütte wie die Flächen eines illuminierten Kluntjes, und die Gestalt dahinter, die soeben den Schalter betätigt hatte, war deutlich zu sehen, als sie durch den Raum schlurfte.

Der Mann auf der Düne lächelte. Einwandfrei, dachte er. Kein Zweifel, das ist er. Schmal und schlaksig und schlampig und schlurig. Wie immer eben. Was für ein Vollpfosten!

Sein Lächeln wurde breiter, und er konnte spüren, wie seine Wange stärker gegen den Gewehrkolben drückte.

Der Boden unter ihm war immer noch warm. Ein heißer, sonnendurchfluteter Juli-Tag war das gewesen, ein Kurze-Hosen-Abend war es jetzt. In seinem dunkelgrauen Overall schwitzte er ein wenig. Aber sicher war sicher, der angestrahlte Wasserturm war nicht allzu weit weg, ebenso wenig wie das Toilettenhäuschen und die Promenade, da gab es Streulicht und womöglich nächtliche Spaziergänger. Hätte er sich mit bloßen Beinen auf die Lauer gelegt, kalkweiß wie sie waren, könnte ihn das vielleicht verraten.

Kalkweiß, und das in diesem traumhaften Sommer! Man kommt wirklich zu gar nichts mehr, außer zum Arbeiten, dachte er. Und dann kommen auch noch welche und wollen einem alles kaputt machen, einfach so.

Er fasste das Gewehr fester.

Die dürre Gestalt da unten im Gartenhäuschen taperte weiter hin und her. Der Typ schien irgendetwas auszumessen. Nackte Füße in ausgelatschten Sandalen, eine ausgeblichene, verfleckte, viel zu weite Jogginghose, ein labberiges T-Shirt, das an einer Seite aus dem Hosenbund hing. Was für ein Schlunz! Kopf und Schultern des Dürren waren nicht zu sehen, vom Fensterrahmen abgeschnitten, das machte der Winkel, der Schütze auf der Düne lag höher. Aber egal, das, was er sah, reichte ihm völlig.

Er war kleinere Trefferflächen gewohnt.

Die Waffe lag völlig ruhig, gebettet in die Fläche seiner linken Hand, die wiederum auf dem Dünengras ruhte. Perfekte Auflage. An seiner rechten Augenbraue spürte er den oberen Rand der Zieloptik. Der Rücken des schmalen Mannes schien zum Greifen nahe.

Jetzt blieb der Dünne einen Augenblick stehen, weiterhin abgewandt, die Arme halb erhoben. Der Mann auf der Düne spürte den Abzug an seinem Zeigefinger, suchte automatisch den Druckpunkt. Kernschuss-Situation, besser ging es nicht.

Aber nein, stopp. Noch nicht, noch war es zu früh. Er musste noch warten.

Vorsichtig löste er den Zeigefinger vom Schutzbügel des Abzugs, nahm den Kopf etwas zurück, massierte sich die Augenbraue. In seiner linken Handfläche konnte er spüren, wie das Gewehr leicht zur Seite kippte. Er ließ es kippen. Lieber gleich noch einmal neu ins Ziel gehen, als zu verkrampfen. Gleich, wenn es so weit war.

Weit hinter sich hörte er Schritte, rhythmische, stampfende Schritte. Dazu Stimmen, eine männliche, ungedämpft und dominant, und eine weibliche, die sich auf zustimmende Laute zu beschränken schien. Vorsichtig drehte er Kopf und Schultern: nichts zu sehen. Dann sahen die Jogger ihn ja wohl auch nicht.

Als er sich wieder nach vorne drehte, war da eine Veränderung. Erst erkannte er nicht, was es war. Sein Herz begann stärker zu pochen, und der Drang zu fliehen war stark. Er aber bezwang den Fluchtimpuls, bezwang auch sich selbst, zwang sich zur ruhigen Analyse. Wie im Wettkampf, dachte er, genau wie im Wettkampf. Das ist doch auch nichts anderes hier.

Gar nichts anderes. Es geht ums Gewinnen, ganz einfach.

Das half. Jetzt erkannte er auch, was sich verändert hatte. Im Nachbarhaus war ebenfalls Licht angeschaltet worden; durch die dünnen Vorhänge fiel ein Schimmer auf die Gasse zwischen den Häusern, genau in den Zwischenraum, den er sich als Schusskanal auserkoren hatte. Baugrund war teuer auf Langeoog, die Häuser standen entsprechend eng, und wenn man von einer Düne aus in einen nach hinten gelegenen Garten treffen wollte, musste man seinen Standort schon genau wählen.

Das hatte er getan. Seine Position war perfekt, daran änderte auch dieses Streulicht nichts.

Bloß, dass dort offenbar jemand zu Hause war, passte ihm nicht. Damit hatte er nicht gerechnet. Eigentlich sollten doch alle beim Hafenfest sein, auf der anderen Seite der Insel, auf der Wattseite, die dem Festland zugewandt war. Er hatte sich vergewissert, wer in diesem Haus einquartiert war, ebenso wie im Nachbargebäude. Diese Typen ließen doch sonst keine Festivität aus!

Ebenso wenig wie er selbst, gestand sich der Mann auf der Düne ein. Auch er müsste jetzt eigentlich beim Hafenfest sein. War er ja auch, jedenfalls offiziell! Für diesen kleinen Abstecher hier hatte er eine hervorragende Ausrede. Nur für den Fall der Fälle, falls ihn hinterher jemand fragen sollte. Was aller Voraussicht nach nicht passieren würde.

Blöd, dass diese Leute da noch zu Hause waren! Was, wenn es jetzt gleich so weit war? Unwillkürlich drehte er sein linkes Handgelenk. Aber seine Armbanduhr hatte keine Leuchtziffern, wohlweislich, und so hell, dass er ohne die etwas hätte erkennen können, war es zum Glück nicht.

Das Licht im Nachbarhaus wurde wieder ausgeknipst. Wenig später klappte die Haustür. Laute, unbekümmerte Stimmen, scheppernde Fahrradbleche. Gelächter, das in zunehmender Entfernung verklang. Alles klar, jetzt waren die auch weg, feiern, wie vermutet. Endlich! Waren vorher wohl nur noch ’ne Runde auf Matratze gewesen. So oder so.

Der Kluntje im Garten schimmerte unverändert hell, und auch die dürre Gestalt war nach wie vor gut im Blickfeld. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Zeitpunkt näher rückte. Er fasste den Gewehrschaft wieder fester, kniff das linke Auge zu und ging ins Ziel. Wunderbar, besser konnte es kaum sein.

Plötzlich kam der Dürre näher, schien ihn durchs Okular förmlich anzuspringen. Auch das Leuchten des Gartenhaus-Kluntjes veränderte sich. Was zum …

Ach so, der Dürre hatte die gläserne Terrassentür entriegelt. Jetzt rollte er sie zur Seite. War ihm wohl zu warm dort drinnen. Das wurde ja immer besser! Nicht, dass ihn die Glasscheibe am Treffen gehindert hätte. Aber so war es natürlich optimal.

Für einen kurzen Moment war das Gesicht des Dürren in der Zieloptik aufgetaucht. Jetzt aber visierte der Mann in den Dünen wieder den schmalen Rücken an. Ruhig ein- und ausatmen. Finger krümmen, Druckpunkt nehmen.

Es knallte durchdringend. Ein Lichtblitz tauchte Dünen und Häuser für einen Sekundenbruchteil in gespenstisches Licht. Dann ein weiterer Knall, gefolgt vom Geknatter einer ganzen Salve. Die Lichtblitze schienen von einer gigantischen Discokugel zu kommen, in Rot, Gelb und Weiß.

Aus der Ferne waren Stimmen zu vernehmen, ein gedämpfter Chorsatz aus »Aaahh«, »Oohh« und »Jaaa«. Das Höhenfeuerwerk, der Höhepunkt des alljährlichen Hafenfests, hatte begonnen. Der Zeitpunkt war gekommen.

Mitten in eine Serie von Kanonenschlägen hinein krümmte der Mann in den Dünen seinen Zeigefinger. Das Knallen seines Gewehrs wurde vom Feuerwerkslärm verschluckt, und sollte jemand das Mündungsfeuer bemerkt haben, so hätte er es gewiss für einen Widerschein des Farbenspiels am Himmel gehalten. Tatsächlich aber blieb der Schuss unbemerkt.

Der dürre Mann im Gartenhaus brach lautlos zusammen und blieb regungslos liegen.

Der Mann in den Dünen beobachtete ihn noch eine halbe Minute lang durch sein Zielfernrohr. Kein Zucken, nicht die kleinste Bewegung, gut so. Dann richtete er seinen Oberkörper ein wenig auf und griff nach seinem Gitarrenkoffer. Da drinnen würde wohl niemand ein Gewehr vermuten.

Kaltes Metall berührte seine Stirn. Entsetzt riss er die Augen weit auf. Eine dunkle Silhouette beugte sich über ihn. Ein grauer Schemen, dem der Schein einer weiteren Feuerwerksrakete für den Bruchteil einer Sekunde Farbe und Gesicht verlieh.

»Du …?«, stieß der Mann hervor.

Der Pistolenschuss ging im Lärm des Feuerwerk-Finales unter.

2.

»Was, dreiunddreißig? Erst?« Nico Backhaus beugte sich über den Toten, mit weit ausgebreiteten Armen, sichtlich bemüht, nichts und niemanden zu berühren. »Sieht irgendwie älter aus, hager wie er ist. Ziemlich schlaffe Haut außerdem, so an der Wange und am Hals. Ich hätte ihn eher für über vierzig gehalten.«

Was bist du denn für ein Bürschchen, dachte Lüppo Buss, ohne eine Miene zu verziehen. Blond und rosig, wie frisch von der Schulbank, bestimmt zehn Jahre jünger als ich, aber schon Hauptkommissar. Wenn du mal überhaupt schon dreiunddreißig bist! Wie du so dastehst, machst du jedenfalls eher den Eindruck, als würdest du Twister spielen. In der Grundschule. Daran ändern auch deine Designer-Jeans und dein modisches Sakko nichts.

»Kommt vielleicht vom Arbeiten«, sagte der Inselpolizist laut. »Manfred Zempel war Tischler. Schon möglich, dass das mehr an die Substanz geht als … als …« Lüppo Buss rieb sich mit der Hand über den Mund, um sein Grinsen zu verbergen.

Nico Backhaus schaute hoch und schickte seinem Kollegen einen betont freundlichen Blick. »Sesselpupen ist das Wort, stimmt’s? Keine Ursache, ich helfe gern aus. Dafür bin ich ja hier.« Noch ein unterstreichendes Nicken, dann nahm er seine Twisterposition über der Leiche wieder ein.

Der Inselpolizist ließ seine Hand, wo sie war, obwohl er längst nicht mehr grinste. Jawohl, Sesselpuper, dachte er trotzig, dass du’s nur weißt, du grüner Junge! Kommst hier rüber aus Aurich, herbeordert von den hohen Herrschaften der übergeordneten Inspektion Aurich-Wittmund, strumpelst von der Fähre und sollst mir zeigen, wie der Hase läuft. Hier, auf meiner Insel! Eine Frechheit ist das.

Dabei hatte er so gehofft, dass man ihm diesmal keinen Festlandskollegen vor die Nase setzen würde, wie sonst so gut wie immer, wenn auf Langeoog ein Kapitalverbrechen geschah. Ein wenig hatte er sich natürlich auch davor gefürchtet, solch eine Aufgabe in Eigenregie bewältigen zu müssen – aber das war mehr so lampenfiebermäßige Furcht, wie vor einer Herausforderung eben, aus Sorge, womöglich zu versagen. Nur war die Lust, solch eine Herausforderung anzunehmen und zu bestehen, eben doch weit größer.

Am besten mit Stahnke an seiner Seite, quasi als Hilfestellung.

Tatsächlich war der bullige Hauptkommissar aus Leer der Erste gewesen, den er angerufen hatte, als er heute in aller Frühe aus dem Schlaf gerissen und zu dieser Leiche hier gerufen worden war. In der Hoffnung, Stahnke könnte sich gerade auf der Insel befinden, was ziemlich oft der Fall war, schließlich arbeitete seine Freundin hier in einer Klinik. Diese Hoffnung aber hatte nicht lange Bestand gehabt; Stahnke befand sich in Leer, hatte mit einem schwierigen Fall zu tun und war unabkömmlich. Behauptete er zumindest. »Das packst du schon«, hatte er Lüppo Buss aufzumuntern versucht und das Gespräch eilig beendet.

Na toll. Und jetzt musste er hier diesem Frischling zuarbeiten. Gab es etwas Entwürdigenderes?

Nico Backhaus twisterte immer noch um den Toten herum. Zempel lag auf dem Bauch, den Kopf leicht zur Seite gedreht, so dass die rechte Gesichtshälfte zu sehen war. Seine Hände lagen rechts und links in Kopfhöhe, so als hätte er sich seinem Mörder ergeben wollen. Was durchaus denkbar war, auch wenn der tödliche Schuss ihn in den Rücken getroffen hatte. Der Teppichboden unter ihm war in Brusthöhe vom ausgetretenen Blut dunkel gefärbt.

»Hat der eigentlich hier gewohnt?«, erkundigte sich Backhaus, ohne aufzublicken. »Ich meine, ist zwar nur ein Gartenhäuschen, aber doch ziemlich komplett eingerichtet. Kleines Bad, Küche, alles da.«

Der Inselpolizist schüttelte den Kopf. »Nee. Manni wohnt im Polderweg. Da hat er auch seine kleine Werkstatt.« Hatte, korrigierte er sich in Gedanken.

»Wer sagt es der Familie?«, fragte Backhaus mit einem Seitenblick, der erkennen ließ, dass er nicht gerade scharf darauf war. »Ich meine, da wäre doch derjenige von uns prädestiniert, der hier alles und jeden kennt …«

Drückeberger, dachte der Oberkommissar. Laut sagte er: »Danke für die Blumen, aber das können wir uns schenken. Manni Zempel lebte allein, und Angehörige hatte er auch keine mehr. Vor ein paar Monaten ist seine Tante gestorben, das war die letzte.«

»Entschuldigung?« Lüppo Buss fühlte sich sanft, aber nachdrücklich zur Seite gedrängt. Eine weiße Kapuzengestalt schob sich an ihm vorbei. Nico Backhaus hatte natürlich auch die Kriminaltechnik aus Aurich mitgebracht, und jetzt wuselten die Vermummten im Garten zwischen Pavillon und Wohnhaus herum. Rings um den Toten waren sie schon fertig, sonst hätten sie den Inselpolizisten ganz bestimmt nicht hier geduldet.

»Und? Wie ist die Spurenlage?« Nico Backhaus richtete sich auf und entfernte sich rückwärts von der Leiche. »Wissen wir schon, wie der Täter hier hereingekommen ist?«

»Durch die Tür«, erwiderte der Weiße in dem leicht genervten Tonfall, den jeder Kriminaltechniker offenbar schon in seiner Ausbildung beigebracht bekam.»Die ist nämlich von innen geöffnet worden. Keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung, und unter den zahlreichen Fingerabdrücken innen an Glas und Rahmen haben wir auch welche des Toten gefunden. Machen einen frischen Eindruck.«

»Dann hat er seinen Mörder also selbst hier hereingelassen«, stellte Nico Backhaus fest.

Der Kriminaltechniker wiegte den Kopf. »Wenn der überhaupt hier drinnen war. Der Teppichboden ist nämlich äußerst unergiebig. Kein Stäubchen, keine Fasern, keine erkennbaren Fußabdrücke außer denen des Opfers. Nichts ansonsten. Wie frisch gesaugt.«

Ein Mörder, der nach vollbrachter Tat den Teppich saugte? Ja, wollten die ihn hier veräppeln? Aber Lüppo Buss kannte sich selbst lange genug, um es nach Kräften zu vermeiden, immer gleich den ersten Gedanken auszusprechen, der ihm durch den Kopf schoss. So hielt er lieber den Mund.

Der zweite Gedanke ließ denn auch nicht lange auf sich warten. »Der Schuss wäre demnach also von draußen abgegeben worden?«

Der Weißgekleidete nickte bedächtig. »Wir suchen schon mal den Rasen und die Beete ab. Bisher aber noch ohne Resultat.«

Der Inselpolizist taxierte den Garten. Schmal, aber langgestreckt. Die nächste halbwegs brauchbare Deckung war mindestens ein Dutzend Schritte entfernt. Für einen Pistolen- oder Revolverschützen schon eine Herausforderung. Es sei denn, er hätte mitten auf dem Rasen gestanden. Was aber hier, dicht umgeben von Häusern, mehr als leichtsinnig gewesen wäre.

»Vielleicht also ein Gewehrschuss.« Nico Backhaus schien zum selben Resultat gekommen zu sein. Er deutete dorthin, wo sich der Teppichboden mit Blut vollgesogen hatte: »Das Projektil scheint vorne wieder ausgetreten zu sein. Ordentlich Wumms dahinter also, das würde passen. Habt ihr es schon gefunden?«

Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »In der in Frage kommenden Wand konnten wir keinen Einschuss entdecken. Kann ich mir noch nicht so recht erklären.«

An der betreffenden Wand gegenüber der Terrassentür hing ein großes Bild, ein Aquarell offenbar, das eine wind­zerzauste Dünenlandschaft mit leuchtend roten Wildrosen im Vordergrund zeigte, in einem gläsernen Rahmen mit Passepartout über einem niedrigen, mit Büchern vollgestopften Regal. Die Zimmerwand war mit weiß gestrichener Raufaser tapeziert. Ein Einschuss hätte hier auf jeden Fall deutlich sichtbar sein müssen.

Lüppo Buss drehte sich um, musterte vom mutmaßlich letzten Standort des Ermordeten aus durch die offene Terrassentür hindurch den Garten, den Durchgang zur Straße, die Fenster des Nachbarhauses. War der Schuss womöglich von dort gekommen? Da würde es Alibis zu überprüfen geben.

Obwohl: Gestern hatte doch das Hafenfest stattgefunden. Da war es vermutlich einfacher, zu fragen, wer nicht dort gewesen war.

Als der Inselpolizist einen Notizblock zückte, rutschte ihm der Kugelschreiber weg und fiel lautlos auf den weichen Teppichboden. Lüppo Buss ging in die Hocke, griff nach dem Stift, schaute hoch. Schob sich die Mütze in den Nacken, rieb sich die Stirn. Die Aussicht hatte sich entscheidend verändert.

Der Inselpolizist erhob sich, öffnete den Mund in der Absicht, sich bei Backhaus abzumelden, entschied sich jedoch anders. Wer war er denn! Und wer war der! Von wegen. Also marschierte er einfach los. Die KTU-Leute würdigten ihn keines Blickes.

Er musste einen kleinen Umweg machen, um nicht über Zäune steigen und geschütztes Terrain betreten zu müssen, aber er hatte sich die Stelle am Dünenkamm genau eingeprägt. Die struppigen Büsche dort schienen eine ideale Deckung zu bieten. Wenn Lüppo Buss auf jemanden in diesem Gartenhaus hätte schießen wollen, genau dieser Platz wäre seine Wahl gewesen.

Mit einem kurzen Kopfschütteln versuchte er, jeden Gedanken an Hauptkommissar Backhaus zu vertreiben.

Der Inselpolizist näherte sich dem Gebüsch von hinten, hielt jedoch in einiger Entfernung an. Diese Lücke dort zwischen den Dornenranken wäre genau der richtige Einschlupf, also musste er sie unbedingt meiden, um nicht mögliche Spuren zu zerstören. Er machte einen weiten Bogen nach rechts und näherte sich von der Seite her, unmittelbar am Dünenhang entlang.

Das Erste, was ihm ins Auge sprang, war ein schwarzer Gitarrenkoffer, der hier ziemlich deplatziert wirkte. Dann, als eine Windböe die dornigen Zweige der Büsche beiseite wehte und ein paar Sonnenstrahlen einließ, sah er etwas Metallenes schimmern. Die Silhouette eines Gewehrs war unverkennbar, eines Gewehrs mit langem Lauf und aufwändig aussehender Zieloptik. Hatte der Mörder etwa seine Waffe samt Behältnis hier zurückgelassen?

Der Inselpolizist trat noch zwei Schritte näher. Nein, korrigierte er sich, zurückgelassen hatte der Todesschütze die Sachen nicht. Er hatte sie immer noch bei sich.

Also war wirklich von hier oben geschossen worden. Und das tödliche Geschoss war, nachdem es das Opfer durchdrungen hatte, nicht in das Bild oder die Wand dahinter eingeschlagen, sondern in das Regal darunter. Irgendwo zwischen den Büchern dort musste es stecken. So weit, so logisch.

Aber warum war der Schütze jetzt tot?

Lüppo Buss musterte die kräftige Männergestalt, die in ihrem dunklen Overall auch bei Tageslicht unter den Büschen nur schlecht zu erkennen war. Der Kopf des Toten lag auf der rechten Seite, das Gesicht abgewandt; trotzdem kam der Mann dem Inselpolizisten vage bekannt vor. An der linken Schläfe war Blut auszumachen. Allem Anschein nach war dort ein Einschussloch.

Wie passte denn das zusammen?

Lüppo Buss rieb sich nachdenklich mit zwei Fingern den Nasenrücken. Zeit, die anderen zu holen und ihnen seinen Fund zu präsentieren. Sollten sie ruhig Mund und Nase aufsperren vor Staunen, die lieben Kollegen vom Festland! Langeoog war sein Revier, das dürfte damit ja wohl hinreichend bewiesen sein.

Und was das alles zu bedeuten hatte, das durfte ihm gerne der vorgesetzte Kollege Nico Backhaus erklären. Da war er ja nicht so.

Ehe der Inselpolizist den vorläufigen Rückzug antrat, ließ er noch einmal seinen Blick über die Leiche wandern, um das Bild nachhaltig in sich aufzunehmen. Von den ausgestreckten Armen, der Langwaffe und dem zerschossenen Kopf, dem stämmigen Rumpf und den Beinen bis zu den …

Auf einmal waren da zwei Paar Füße. Das zweite Paar stand aufrecht auf seinen Sohlen, wenn auch nicht allzu fest, wie die Spitze eines Gehstocks vermuten ließ. Lüppo Buss ließ seinen Blick gleich weiterwandern, aufwärts, hoch an der so unvermutet aufgetauchten Gestalt.

Nun, allzu hoch war das nicht. Die Gestalt war klein und gebeugt, wie eingeschrumpft. Das hutzelige Gesicht darüber bestand überwiegend aus spitzem Kinn und spitzer Nase, die einander fast zu berühren schienen, und einem so gut wie lippenlosen Mundspalt dazwischen. Der alte Klaas Reershemius, realisierte Lüppo Buss. Was hatte denn der hier zu suchen? Der sollte ihm bloß nicht den zweiten Tatort dieses noch jungen Tages kontaminieren!

Der Alte gab ein Grunzgeräusch von sich. Dann spuckte er herzhaft aus, direkt neben die Füße des Toten. Lüppo Buss schnappte nach Luft.

Der alte Reershemius schien ihn noch gar nicht wahrgenommen zu haben. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Toten. »So«, murmelte er vor sich hin, so leise, dass nur der Inselpolizist es hören konnte. »So, nu hem se di dood maakt, Ulf Diekmann, du oll Rött! Mi wunnert dat neet, und di wall ook neet. Neet mehr.« Er nickte anhaltend. Dann setzte er auf Hochdeutsch hinzu: »Höchstens, dass es so lange gedauert hat.«

Der Alte drehte sich um und schlurfte davon. Der Inselpolizist starrte ihm fassungslos nach.

3.

»Zwei tote Insulaner – ein Doppelmord also.« Mehr eine Feststellung als eine Frage. Der TV-Reporter nickte dem Hauptkommissar über sein puscheliges Mikro hinweg auffordernd zu.

Nico Backhaus blieb höflich. »Nein, kein Doppelmord im eigentlichen Sinne, da wir davon ausgehen müssen, dass die beiden Personen von zwei verschiedenen Tätern getötet worden sind. Von einem Doppelmörder sprechen wir nur dann, wenn ein und dieselbe Person zwei Menschen umgebracht hat.«

»Und wieso schließen Sie das aus? Ich meine, dass beide Opfer vom selben Täter erschossen worden sein könnten?«

»Nun, weil wir bei Opfer Nummer zwei nur eine Tatwaffe gefunden haben, die ihn als denjenigen auszuweisen scheint, der Opfer Nummer eins erschossen hat. Tatwaffe Nummer zwei jedoch haben wir bei Opfer Nummer zwei nicht gefunden.«

»Ja, na gut, aber reicht denn nicht eine Waffe aus, um mehrere Morde zu begehen? In diesem Fall zwei, also einen Doppelmord?«

Lüppo Buss wandte sich ab. Ein letzter Seitenblick auf das Gesicht seines neuen Vorgesetzten verriet ihm, dass dieser bald selbst zu einem Doppelmord fähig sein dürfte, allen Schulungsmaßnahmen zum Trotz. Wieder einmal musste der Inselpolizist ein hämisches Grinsen kaschieren, indem er sich heftig über Mund und Kinn rieb.

Dabei hatte Backhaus doch schon alles so ausnehmend korrekt und detailliert erläutert! Auf dem Podium des kleinen Saales im Haus der Insel, der die vielköpfige Meute angereister Journalisten aller medialen Erscheinungsformen und Niveau-Stufen kaum zu fassen vermochte, hatte er eine erstklassige Figur gemacht, das musste der Neid ihm lassen. Wie und wo man die beiden Toten aufgefunden hatte, warum man das Projektil, mit dem die erste Tat begangen worden war, zunächst nicht hatte auffinden können, dass sich jedoch nach dessen Entdeckung mit absoluter Sicherheit hatte feststellen lassen, dass der tödliche Schuss aus der oben auf der Düne gefundenen Langwaffe abgegeben worden war. Auch die Rolle von Lüppo Buss bei der Überwindung dieser ersten ermittlungstechnischen Hindernisse war angemessen gewürdigt worden, doch, doch, da gab es nichts zu meckern.

Trotzdem büßte das Rätsel, vor dem sie standen, an Verzwicktheit dadurch kaum ein. Nach wie vor durchschauten sie nicht einmal im Ansatz, womit sie es hier zu tun hatten.

Der Inselpolizist fuhr herum, als ihn jemand leicht an der Schulter berührte. Wehe, dieser Nervtöter vom Prekariats-TV wollte jetzt auch noch ihn vor die Linse zerren! Aber nein, es war nur Marian Godehau, der Alleinredakteur des Langeooger Inselboten. Der hatte hier Heimrecht, ebenso wie er selbst. Lüppo Buss entspannte sich und erwiderte Marians genickten Gruß.

»Eins verstehe ich ja nicht«, sagte der Journalist leise, während er in seinem zerfledderten Notizblock blätterte. »Was hatte Manni Zempel im Gartenhaus von Etti Luitjens zu suchen?«

Lüppo Buss zuckte die Schultern. »Was weiß ich. War vielleicht auf der Suche nach etwas Neuem? Tant’ Etti vermietet ja schließlich.«

Marian schüttelte den Kopf. »Frau Luitjens vermietet nur an Feriengäste. An Dauermietern hat sie kein Interesse.«

»Tja, dann hatte er hier eben etwas zu tun. Irgendwelche Holzarbeiten.« Wieder zuckte der Inselpolizist die Achseln. »Schließlich ist Manni Tischler, nicht wahr? Vielmehr, er war es. Und Tischler nehmen doch wohl Aufträge an, soviel ich weiß.«

Marian wiegte zweifelnd den Kopf. »Manfred Zempel war Kunsttischler. Ich hab ihn mal interviewt, für eine Künstler-Serie letzten Sommer. Damals hat er gesagt, er sei ziemlich eigen, was die Art seiner Aufträge angehe. Sah sich eben selber auch eher als Künstler denn als schlichten Tischler. Möbel habe er gebaut, Tische oder Schränke, auch wohl repariert. Aber nur, wenn es etwas Besonderes sei, eine Herausforderung. So etwas wie dieses Treppengeländer in der alten Villa am Friedhof zum Beispiel, alles gedrechselt und geschnitzt, das sei was für ihn gewesen.«

Zum dritten Mal zuckte Lüppo Buss mit den Schultern. So langsam fand er das selber etwas einfallslos. »Ja und? Dann hat er eben bei Etti Luitjens ein … eine …« Er überlegte, welches Einrichtungsdetail des Tatort-Gartenhäuschens wohl am ehesten die Handschrift eines Kunsttischlers erkennen ließ. Aber es fiel ihm nichts ein. Alles quadratisch, praktisch, schlicht. Inbusschlüssel-Konfektion.

Fast wäre ihm das mit den Schultern zum vierten Mal passiert. Er warf Marian Godehau einen hilflosen Blick zu.

»Ja, nicht wahr? Merkwürdig.« Der Journalist kritzelte etwas auf seinen Block. »Was sagt denn Frau Luitjens dazu?«

»Ja die … hmm …« Der Inselpolizist räusperte sich. »Darüber darf ich dir gar keine Auskunft geben. Laufende Ermittlungen, du verstehst?« Mit der Hausbesitzerin hatte er noch gar nicht gesprochen. Er nahm sich vor, das baldmöglichst nachzuholen.

»Na klar. Verstehe ich vollkommen.« Marian lächelte, tippte sich mit dem Kuli grüßend an die Stirn und wandte sich ab.

Was sollte denn das? Konnte der Kerl etwa Gedanken lesen?

»Völlig korrekt. Solche Details gehen die Presse zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nichts an.« Nico Backhaus war an Lüppo Buss’ linker Schulter aufgetaucht, wie aus dem Nadelfilz gewachsen. »Wobei dieser fusselbirnige Zeilenschinder durchaus etwas Wahres gelassen ausgesprochen hat. Denn Frau Luitjens gibt an, Herrn Zempel definitiv nicht mit irgendwelchen Arbeiten an ihrem Gartenhäuschen beauftragt zu haben.« Backhaus grinste. »Natürlich habe ich mich längst mit ihr unterhalten. Eine resolute Dame übrigens. Sie kannte Manfred Zempel durchaus, ließ aber durchblicken, dass sie nicht sonderlich viel von ihm hielt.«

»Was Wunder!« Lüppo Buss schnaubte verächtlich. »Logisch kannte sie Manni. Hier auf Langeoog haben wir keine zweitausend ständigen Einwohner, da ist es normal, dass jeder jeden kennt. Und dass Tant’ Etti von Manni nichts gehalten hat, kann auch durchaus daran liegen, dass der für seine Arbeit auch Geld haben wollte. Das mag die Gute nicht so gern.« Er rieb Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand aneinander. »Sie meint nämlich, vom Geldausgeben wäre noch keiner reich geworden.«

»Da ist was dran«, feixte Backhaus. »Scheinen ja ein nettes Völkchen zu sein, diese Insulaner! Stammen wohl direkt von Strandräubern ab.«

»Vorsicht.« Lüppo Buss verschränkte seine muskulösen Unterarme vor der Brust; ein Abwehrbollwerk, welches deutlich machte, dass er bei derart pauschalen Vorurteilen immer noch mehr Insulaner als Polizist war. »Mit solchen Bemerkungen wird man hier schnell persona non grata. Und dann erfährt man von den Leuten gar nichts mehr.«

»Ist notiert.« Backhaus’ Grinsen aber ließ sich nur eine gute Sekunde lang unterdrücken. »Hauptsache, ich werde nicht persona non granata. Diese kleinen Krabben sind nämlich echt lecker.«

Jetzt musste auch Lüppo Buss lächeln. Obwohl er den Spruch schon derbe albern fand. »Wie ist Manni denn eigentlich in das Gartenhaus reingekommen, wenn er dort nichts zu suchen hatte?«, fragte er.

»Schlüssel unter dem Blumentopf. Man glaubt es nicht!«

»Ach. In Aurich ist das wohl nicht üblich.« Lüppo Buss bemerkte selbst, wie gereizt er klang. Völlig überflüssig eigentlich, sich über jedes Wort aufzuregen, das sein neuer Vorgesetzter von sich gab, jede einzelne Bemerkung als Angriff auf Langeoog und damit auf sich selbst zu interpretieren. Manche Dinge waren einfach blödsinnig, und solche Haustürschlüssel-Verstecke gehörten eindeutig dazu. Schwachsinn, darauf so beleidigt zu reagieren! Das war nun wirklich provinziell.

»In Aurich? Keine Ahnung. Da bin ich erst seit drei Wochen. Hab noch nicht einmal eine eigene Wohnung, sondern hause in einer Frühstückspension. Direkt an einer Durchgangsstraße. Da gibt’s nicht mal Blumentöpfe.«

»Drei Wochen erst? Wo warst du denn … äh, wo waren Sie denn vorher?«

Backhaus streckte Lüppo Buss die Hand hin: »Ich bin Nico. Ich meine, wenn es, äh, recht ist. Das Du muss ja eigentlich der Ältere vorschlagen.« Jetzt grinste er wieder: »Na ja, als Gesichtsältester könnte ich heute vielleicht durchgehen.«

Der Inselpolizist griff zu, ohne zu zögern. »Lüppo. Und glaube mir, gesichtsmäßig kann ich noch viel älter.« Erleichtert stimmte er in Nico Backhaus’ Lachen ein. Na bitte, dachte er, diese Peinlichkeit wäre also schon mal bereinigt. Und der Händedruck hatte sich angenehm kernig angefühlt.

»Hamburg«, sagte Backhaus.

Lüppo Buss brauchte einen Moment, bis er kapierte, dass das die Antwort auf seine letzte Frage war. »Ach so. Na, da ist die Wohnsituation ja noch viel schlechter, nach allem, was man hört.«

»Kannste glauben.« Backhaus lächelte schief. »Ich hatte da ’ne Bude nahe beim Sternschanzenpark. Offene Drogenszene und so. Wenn du da deinen Schlüssel unter einen Blumentopf legst, kannst du deine Wohnung auch gleich selber abfackeln.«

Nach Sesselpupen klang das nicht gerade, musste Lüppo Buss zugeben. Vielleicht hatte er seinen neuen Kollegen doch falsch eingeschätzt. Na, das sollte ihn freuen. Da stand weniger Frust bei der Zusammenarbeit in Aussicht und eine bessere Chance auf Erfolg. Und das war schließlich die Hauptsache.

»Apropos Frühstückspension.« Backhaus schnippte mit den Fingern. »Diese Frau Luitjens, mit der habe ich mich ja etwas länger unterhalten.«

Lüppo Buss nickte: »Na klar, länger. Da kommt man bei der kaum drum herum.«

»War aber ganz interessant.« Backhaus schob sich näher an Lüppo Buss heran und senkte seine Stimme. »Wusstest du, dass die Frau gar keine Zimmer vermietet?«

»Was?« Der Inselpolizist hatte Mühe, seine Stimme zu dämpfen. »Was ist das denn für ein Quatsch! Natürlich vermietet sie. An Feriengäste, wie praktisch jeder hier! Es gibt welche, die würden im Sommer am liebsten in den Keller ziehen, um noch ein Zimmer mehr vermieten zu können, wenn sie nur einen Keller hätten. Und genau so eine ist Tant’ Etti.«

»Mir hat sie aber gesagt, sie vermietet nicht.«

»Von wegen. Die beiden Zimmer unterm Dach, das nach vorne raus und das im Anbau. Na ja, und die Gartenhütte …« Nachdenklich rieb sich der Inselpolizist das Kinn. »Wobei die Hütte wohl noch nicht abgenommen ist. Offiziell, meine ich.«

»Mit anderen Worten, die Dame lügt«, stellte Backhaus fest.

»Hört sich zumindest so an«, bestätigte Lüppo Buss. »Auch Langeooger lügen hin und wieder, genau wie die Leute anderswo auch.«

»Und genau wie anderswo werden sie ihre Gründe haben. Die würden mich mal interessieren.«

Der Inselpolizist kratzte sich nachdenklich im Nacken. »Tant’ Etti, vielmehr Frau Luitjens, behauptet, sie würde nicht vermieten, aber alle hier wissen, dass sie das doch tut. Außerdem behauptet sie, Mordopfer Manfred Zempel nicht mit Arbeiten in ihrem Gartenhaus beauftragt zu haben. Tja. Wer einmal lügt …«

Backhaus nickte. »Da sollten wir mal nachfassen. Wenn das auch gelogen war, dann dürfte es nicht so schwer herauszufinden sein. Willst du dich mal erkundigen? Nachbarschaft, andere Handwerker, dito Künstler, überhaupt und so?«

»Kann ich machen. Obwohl, eigentlich …«

»Was, eigentlich?«

»Na ja. Da wäre ja noch dieser Gitarrenkoffer.«

Nico Backhaus prustete los. »Ausgerechnet! Stell dir bloß mal die letzten Worte des Schützen vor: ›Isch ’abe gar keine Gitarre!‹«

Lüppo Buss stimmte mit Verspätung in das Lachen ein. »Die Mafia ist doch eher für Geigenkoffer bekannt. Eine MP passt da ja auch ganz gut rein.«

»Tja, auf größere Entfernungen muss es eben etwas Längeres sein«, meinte Backhaus. »Stell dir vor, er hätte noch einen Schalldämpfer benutzt! Dann hätte der Schütze sich eigens ein Cello kaufen müssen für die Tarnung. Oder wenigstens eine Cellotasche. Obwohl, so unauffällig wie ein Gitarrenkoffer wäre so ein Ding ja nicht.«

»Stimmt, Gitarren erregen am wenigsten Aufsehen. Viele Leute haben schließlich so ein Ding.« Lüppo Buss stutzte, fuhr sich erneut mit den Fingern unter den Hemdkragen, überlegte. »Tja, sehr viele Leute«, fuhr er dann fort. »Aber Ulf Diekmann nicht.«

»Keine Gitarre? Sicher?«

»Todsicher. Der hat Musikmachen immer für Zeitverschwendung gehalten«, sagte Lüppo Buss. Um sich gleich darauf zu korrigieren: »Außer Shanties natürlich. Hat ja sogar selber bei den Flinthörners mitgesungen. Aber das lief bei ihm vor allem unter Kontaktpflege. Die Musik selber war ihm immer herzlich egal. Na, und ein Instrument zu lernen, dazu hätte er gar nicht die Geduld gehabt.«

»Du kanntest den aber ziemlich gut.« Backhaus kniff die Augen zusammen.

Lüppo Buss zuckte die Schultern. »Ach, wie man sich halt so kennt auf einer Insel. Gar nicht so besonders gut. Ist viel Hörensagen dabei.« Er schmunzelte: »Aber hier auf Langeoog, da ist Hörensagen eine harte Währung.«

»Wie auch immer«, erwiderte Backhaus. »Wenn Diekmann keine Gitarre hatte, dann besaß er wohl auch keinen Gitarrenkoffer. Wem also gehört das Ding, in dem der Täter – beziehungsweise das zweite Opfer, will sagen, alles beides in einer Person – vermutlich die Tatwaffe transportiert hat? Jemandem aus seiner Familie vielleicht?«

»Kann ich gerne mal nachfragen«, sagte der Inselpolizist. »Vorher sollte ich mir das Ding allerdings noch einmal näher anschauen. Hab’s ja nur einmal kurz gesehen. Wo ist es jetzt eigentlich?«

»Ach, Mist.« Nico Backhaus schlug seine linke Faust in die rechte Handfläche. Es knallte eindrucksvoll. »Ich habe den Koffer zur kriminaltechnischen Untersuchung gegeben. Fürchte, er ist schon in Aurich.«

»Kann man nichts machen. Wie sah er denn aus? Schwarz, klar, so weit erinnere ich mich. Aber sonst? Besondere Kennzeichen? Neu oder abgenutzt?«

»Abgenutzt, auf jeden Fall.« Backhaus tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn, als gälte es, die Erinnerung vorsichtig loszuklopfen. »Ein großes, rot ausgeschlagenes Ding. Schätze mal, dass da alles bis hin zur Westerngitarre reingepasst hat. Und es klebte irgendetwas dran.«

»Ein Sticker?«

»Jaaa … kann aber auch ein CD-Cover gewesen sein.«

»Kannst du dich noch an den Namen erinnern?«, fragte der Inselpolizist gespannt.

»Tja – klingt komisch, aber es war irgendetwas mit waschen, glaube ich.«

»Washhouse Company?«

»Ja, genau!« Backhaus riss die Augen auf: »Kennst du auch wieder, was?«

»Na logisch«, erwiderte Lüppo Buss. »Und jetzt weiß ich auch, wo wir fragen müssen.«

4.

»Moin.« Ungewohnt sanft ließ Bodo Schmidt seinen schweren Körper auf die Bahnhofsbank sinken. Vielleicht, weil Harm Bengen dort bereits saß und sein Kopf auf dem dürren Hals heute noch stärker wackelte als üblich. Die Brille mit den flaschenbodendicken Gläsern rutschte bedenklich Richtung Nasenspitze.

»Moin«, nuschelte Bengen aus zahnlosem Mund zurück. »Auch endlich hoch aus der Furzmulde?«

Schwach, dachte Schmidt und würdigte diese Eröffnung der täglichen Verbal-Gefechte keiner Erwiderung. Ruhm gab es sowieso nicht zu ernten, solange die Viererbande nicht vollständig war.

Schmidt zog sein Taschentuch und wischte sich über die schweißnasse Glatze. »Wo sind die anderen denn?«, fragte er, während sein Blick über das Bahnhofsgelände schweifte. Nicht viel los im Moment; es wurde Zeit, dass die Inselbahn den nächsten Schwung Touristen von der Fähre herbrachte, damit es wieder etwas zu lästern gab.

»De Ocko mach woll noch bi d’ Schandarmen wesen«, nuschelte Bengen, den Blick stur geradeaus gerichtet.

Schmidt ließ beinahe sein Tuch fallen. »Bei der Polizei? Du lieber Himmel, was hat der denn ausgefressen? Auf der Höhenpromenade Damen belästigt?«

Bengen lachte kurz und bellend. »Wenn se di bi ’t Schlafittchen harrn, dann wullt ick dat woll glöven! Man de Ocko, de is nich so een.«

»Als ob ich so einer wäre!«, empörte sich Schmidt. »Sowas tu ich doch nicht!«

»Proten kummt vör doon«, orakelte Bengen. »Un proten deist du ja haast de heele Dach van nix anners.«

»Na und? Reden darf man doch wohl noch«, erwiderte Schmidt. Ein halbherziges Rückzugsgefecht. »Aber nun sag schon, was will Lüppo denn von unserem Ocko?«

»Na was wohl.« Auch Harm Bengen fiel jetzt ins Hochdeutsche. »Die ganze Insel redet von nichts anderem als von den beiden Morden, und du fragst, was die Polizei wohl zu fragen hat! Außerdem wollte nicht Lüppo etwas von Ocko, sondern dieser andere, der vom Festland.« Schmatzend leckte er sich die blassen Lippen. »Soll ja wohl ’nen höheren Rang haben, obwohl er noch ziemlich jung ist. Mann, das wird unseren Lüppo tüchtig ärgern.«

Kein schlechtes Thema für gehässige Kommentare der Bahnhofshocker – normalerweise. Heute aber schüttelte Schmidt nur ungeduldig den Kopf. »Wie jetzt? Die glauben doch wohl nicht, Ocko hätte etwas mit den Morden zu tun? Ich meine – hallo? Der Gute geht doch auch schon auf die achtzig zu.«

»Ach. Nur Junge kommen in Frage?« Bengen blinzelte Schmidt von der Seite her an. »Dann werden sie ja bald dich holen. Bist doch mit Abstand der Jüngste von uns.«

»Nun hör aber mal auf mit dem Blödsinn!«, fuhr Bodo Schmidt hoch. »Lästern schön und gut, aber das hier ist doch wirklich ernst! Was wollen die Bullen von Ocko Onken?«

»Reg dich bloß nicht so auf.« Bengens Kopf schwang gleichmäßig auf und ab wie der eines Hutablagendackels in einem Mittelklassewagen der sechziger Jahre; sein Gesicht hatte einen zufriedenen Ausdruck angenommen. »Ist doch reine Routine. Die interessieren sich wohl für alle, die irgendwas beim Hafenfest gemacht haben. Und Ocko war da ja auch mal kurz auf der Bühne.«

»Ach Gott, hat er die Leute wieder mit seinen plattdeutschen Döntjes genervt?« Schmidt zog ein angewidertes Gesicht, um zu verbergen, wie sehr er Ocko Onken darum beneidete, sich regelmäßig vor Publikum aufspielen zu können. Dann fiel ihm etwas auf. »Aber sag mal, die beiden Leichen wurden doch da hinten beim Wasserturm gefunden, und das Hafenfest war an der Wattseite. Wie kann denn das was miteinander zu tun gehabt haben?«

»Tja, da fragste watt«, nuschelte Bengen.

Schmidt schwieg noch einen Moment, aber bei dieser Feststellung schien es sein Banknachbar belassen zu wollen. Also fragte er weiter: »Und was ist mit Klaas, warum ist der nicht hier? Ist der auch bei der Polizei, weil er beim Hafenfest irgendwie in Erscheinung getreten ist?«

Wieder bellte Bengen einen kurzen Lacher. »Was du wohl denkst! Dem sind da doch viel zu viele Touris. Höchstens die Shanties würde er sich anhören, aber mit den meisten von den Flinthörners ist er ja über Kreuz, der olle Streithammel!«

»Hör mal, wer da spricht«, murmelte Schmidt.

»Watt?«

»Och, nichts.« Betont unbeteiligt verschränkte Bodo Schmidt die Arme über seinem massigen Bauch. Eine sanfte Brise wehte vom Wasserturm her und trug einen leicht säuerlichen Geruch mit sich. Dass dieser Harm Bengen auch sein ewig hellblaues Oberhemd so selten wechselte! Oder besaß er womöglich nur dieses eine?

»Jetzt, wo du’s sagst«, nuschelte Bengen.

»Wo ich was sage? Ich sag doch gar nichts«, knurrte Schmidt.

»Na doch! Ich meine, gerade eben. Von wegen Klaas Reershemius und der Polizei«, beharrte Bengen.

»Von mir aus. Na und?«

»Na ja. Tatsächlich hat unser Dorfsheriff vor ’ner Weile nach ihm gefragt.«

»Ach. Also doch! Dann war er tatsächlich beim Hafenfest?«

»Quatsch, nee.« Bengen schüttelte energisch seinen Kopf, und das sah nun wirklich beängstigend aus. »Er muss wohl dort gewesen sein, wo Lüppo Buss dem Ulf Diekmann seine Leiche gefunden hat. Obwohl die doch im Gebüsch gelegen haben soll, ziemlich gut versteckt. Und der Klaas, der soll sich wohl ziemlich merkwürdig benommen haben. Darum wollte Lüppo ihn sprechen. Aber er konnte ihn nirgends finden.«

»Na und?«, blaffte Schmidt. »Merkwürdig benehmen, das ist für Klaas doch völlig normal! Und wenn der nicht will, dann findet ihn niemand, das weißt du doch. Vor allem, wenn seine Frau was für ihn zu tun hat.«

Er verknotete seine Arme noch fester über dem Bauch und lehnte sich zurück, um deutlich zu machen, dass dieses Thema für ihn erledigt war.

Aber in seinem Kopf rumorte es.

5.

In der Buchhandlung Am Wasserturm herrschte Hochbetrieb, obwohl Sonntag war, und es dauerte ein Weilchen, ehe der Inselpolizist die Aufmerksamkeit des Buchhändlers auf sich lenken konnte.

»Moin, Lüppo! Scharf auf einen neuen Langeoog-Krimi?« Torsten Meyer lächelte freundlich und schüttelte ihm die Hand. »Obwohl, Mord und Totschlag habt ihr ja selber genügend zur Zeit, da sollte dein Bedarf eigentlich gedeckt sein.«