Lebe vorwärts - Iris Lieser - E-Book

Lebe vorwärts E-Book

Iris Lieser

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Beschreibung

Witwe mit 38, und allein mit drei Kindern - so etwas ist eigentlich nicht vorgesehen! Doch Iris Lieser hat ihrem Mann versprochen, nach vorne zu schauen. Also sucht sie ihren Weg durch die ersten Stunden nach seinem Tod, die Beerdigung, das erste Jahr. Bis sie ganz allmählich lernt, die emotionale Handbremse wieder zu lösen, echte Freude zuzulassen, Frau und aus vollstem Herzen Mutter zu sein ...
Iris Liesers Bericht nimmt uns mit auf die emotionale Achterbahnfahrt ihres Lebens, das ihr eine große Liebe geschenkt und eine ebenso große Aufgabe auferlegt hat. Ein mutiges Buch für alle, die sich von Schicksalsschlägen nicht besiegen lassen wollen.

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Seitenzahl: 458

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungTeil 1 · Ein Tag: ZäsurAbschiedszeitKinderliebeAbsolutionTelefonateKommen und GehenEin buntes BildEndgültigkeitAbendritual»Man«Teil 2 · Eine Woche: ZwischenzeitDer etwas andere Brautstrauß»Es ist alles in Ordnung«Ein heiterer AbendZähe StundenFünfunddreißig EuroDie Nacht »davor«Solange ich lebeWir werden dein Lachen vermissenTeil 3 · Ein Jahr: StagnationJede WetteErste Schritte»Abschied und Neustart«Emotionale EinbrücheGleichgesinnteBjörnZeitverschiebungEin Mal durch alles durchTeil 4 · Ein Jahrzehnt: Vorwärts»Akute Depression«GelassenheitEin vertrauter GeruchAlleinverantwortungDas liebe GeldEndlich wieder ein ZuhauseRote KartenVorwärtsWas wäre, wenn?Danke!Quellen

Über das Buch

Witwe mit 38, und allein mit drei Kindern – so etwas ist eigentlich nicht vorgesehen! Doch Iris Lieser hat ihrem Mann versprochen, nach vorne zu schauen. Also sucht sie ihren Weg durch die ersten Stunden nach seinem Tod, die Beerdigung, das erste Jahr. Bis sie ganz allmählich lernt, die emotionale Handbremse wieder zu lösen, echte Freude zuzulassen, Frau und aus vollstem Herzen Mutter zu sein … Iris Liesers Bericht nimmt uns mit auf die emotionale Achterbahnfahrt ihres Lebens, das ihr eine große Liebe geschenkt und eine ebenso große Aufgabe auferlegt hat. Ein mutiges Buch für alle, die sich von Schicksalsschlägen nicht besiegen lassen wollen.

Über die Autorin

Iris Lieser, Jahrgang 1965, besuchte nach dem Abitur die Schule für medizinisch-technische Assistenten. Nach bestandenem Examen begann sie, als MTRA in der Abteilung für Radiologie eines großen Krefelder Krankenhauses zu arbeiten. Der Tod ihres Mannes Peter ließ sie mit drei heranwachsenden Kindern allein zurück. In der Folgezeit entdeckte sie ihre Freude am Schreiben. Sie hat Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht und ist Mitglied der Kempener Schreibwerkstatt. Von Iris Lieser erschien 2015 der Band: »Bis auf den letzten Schritt. Wie wir lebten, als wir wussten, uns bleibt nur noch ein Jahr«.

Weitere Informationen: www.iris-lieser.de

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart.

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Angela Kuepper, Münche

Titelillustration: © FinePic / shutterstock

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

www.luebbe.de

www.lesejury.de

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Für Julian

Teil 1

Ein Tag: Zäsur

Es gibt kein Jetzt.

Nur ein Davor.

Und ein Danach.

Das Davor ist vorbei.

Das Danach hat begonnen.

Im Bruchteil einer Sekunde.

Ein Augenblick nur,

der doch alles verändert

in der Welt der

Lebenden

und …

Liebenden.

Abschiedszeit

Vor genau zehn Monaten und acht Tagen hatte ich erfahren, dass dieser Augenblick kommen würde. Ich hatte ihn mir tausendmal vorgestellt, hatte versucht, mich auf so ziemlich jede Eventualität vorzubereiten. Doch Sterben lässt sich nicht planen. Und so traf mich die Erkenntnis an diesem Januarmorgen allen Gedankenbildern zum Trotz vollkommen unvorbereitet: Peter, den ich vor drei Sekunden zugedeckt und geküsst hatte, der mir gerade noch sein warmes Lächeln geschenkt hatte, war … tot.

Dabei hatte ich doch nur schnell duschen gehen wollen.

»Hast du alles, was du brauchst?«, hatte ich ihn gefragt.

»Habe ich. Geh du mal!«, hatte er lächelnd erwidert, und ich war in Richtung Badezimmer geeilt, um im Zeitraffer unter die Dusche zu springen und die Zähne zu putzen. So, wie ich seit Wochen alles, was mich auch nur für wenige Minuten von ihm trennte, im Zeitraffer erledigte. Wie ich immer zügig, manchmal geradezu hektisch agierte, um so schnell wie möglich wieder bei ihm zu sein. Doch eben, an der Türschwelle zum Flur, hatte mich etwas Unsichtbares abrupt inmitten der Bewegung gebremst. Es war kein Geräusch, kein Geruch, kein Bild – nichts, das sich durch einen meiner Sinne hätte erfassen lassen. Nur das Gefühl, dass etwas anders war. Dass sich innerhalb dieser lächerlichen drei Sekunden, die ich vom Bett bis zur Tür des Schlafzimmers benötigte, etwas geändert hatte.

Ich musste mich nicht umdrehen, um mich zu vergewissern. Ich wusste es einfach – und ich zweifelte keinen Moment an der Richtigkeit meiner Intuition. In dem knappen Jahr, das seit Peters Diagnose vergangen war, hatte mein Bauchgefühl mich nicht ein einziges Mal getäuscht. Warum sollte ich ihm ausgerechnet jetzt misstrauen?

In Zeitlupe setzte ich den rechten Fuß, der nach dem jähen Abstoppen noch in der Luft schwebte, auf dem Boden ab. Zwei, drei, vier Sekunden vergingen. Alles um mich herum war still. Wie zu der sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt, stand ich auf der Türschwelle, unfähig, mich zu rühren, und mit einem Gefühl totaler Leere im Kopf. Dann, plötzlich, rasten meine Gedanken los, sich kreuz und quer überschlagend, ein wildes Durcheinander, aus dem sich irgendwann zwei Fragen herausschälten:

Was soll ich jetzt tun?

Und vor allem: Was werde ich jetzt fühlen?

Was um alles in der Welt würde ich fühlen, wenn der Mann, den ich liebte, der Vater unserer drei Kinder, der Partner, an dessen Seite ich so gern den Rest meines Lebens verbracht hätte, tot in seinem Bett lag?

Panik? Entsetzen? Trauer? Wut? Welches der vielen Gefühle, die ich in den vergangenen Monaten so intensiv durchlebt hatte, würde auf mich einstürmen? Was fühlte »man« in solch einem Moment? Was war denn wohl »normal«?

Doch dann war alles ganz einfach. Meine Intuition übernahm die Regie. Die Starre löste sich, ich wandte den Kopf – und sah mir selbst dabei zu, wie ich auf Peter zustürmte, mich auf das Bett fallen ließ und ihn in meine Arme riss. Während ich ununterbrochen »Ja!« und »Du hast es geschafft!« stammelte, überflutete mich das wohl intensivste Glücksgefühl, das ich je erlebt hatte. Da waren kein Kummer, keine Zukunftsangst, kein Verlust. Nur das unbeschreibliche Glück, dass Peter diesen Schritt, den er ohne mich gehen musste, gegangen war.

Lächelnd.

***

Wir kannten uns aus der Schulzeit, hatten jedoch in jenen neun Jahren nie privaten Kontakt. Knapp sieben Jahre nach dem Abitur begegneten wir uns zufällig wieder. Inzwischen war Peter Medizinstudent im letzten, praktischen Jahr, wohingegen ich längst mein Examen als medizinisch-technische Radiologieassistentin bestanden hatte und in diesem Beruf tätig war. Er brachte mir einen Patienten zum Röntgen – und lud mich auf ein Bier ein. Wir verliebten uns in Überschallgeschwindigkeit. Sehr schnell wurde ich schwanger. Wir heirateten, drei Tage vor meinem achtundzwanzigsten Geburtstag wurde David geboren, knapp zwei Jahre später dann Kristin. Nach weiteren vier Jahren wurden wir abermals Eltern – Nesthäkchen Sophie war ein ebenso überraschendes wie willkommenes Geschenk. Auch wenn es in unserem gerade erst gebauten Haus am Niederrhein ein wenig eng und das Geld knapper wurde – unser »kleiner Mengenrabatt«, wie wir Sophie scherzhaft nannten, komplettierte das ungeheure Glück, das wir als Familie empfanden.

Dreieinhalb sorgenfreie Jahre waren uns nach ihrer Geburt noch vergönnt. Mittlerweile war Peter als Facharzt für Anästhesie im selben Krankenhaus beschäftigt, in dem auch ich in Teilzeit arbeitete. Die Liebe zwischen Peter und mir wuchs mit jedem Jahr, unser Band wurde beständig stärker und umschloss unsere drei Kinder, die sich auf dieser Basis wunderbar entwickelten. Jedes auf seine individuelle Weise – es gab nicht den geringsten Grund zur Besorgnis.

Scheinbar unbegründete Panikattacken, die mich über Monate hinweg zunehmend ergriffen, waren die ersten Hinweise auf eine unterschwellige Veränderung. Sie verschwanden augenblicklich, nachdem mir Peter kurz nach seinem achtunddreißigsten Geburtstag gestand, seit Längerem starke Schmerzen im Oberbauch zu haben.

Die Untersuchungen ergaben ein verheerendes Bild. Darmkrebs – und bereits etliche tennisballgroße Metastasen in der Leber, nicht minder zahlreiche in den Lymphknoten. Wir wussten sofort, dass es keine Chance gab. Abgesehen von einem Wunder, an das wir nicht glaubten, auf das wir aber dennoch insgeheim und wider jede Vernunft hofften. Oder hoffen wollten.

Die Chemotherapie schenkte uns Zeit. Zeit, die wir intensiv nutzten. Zum Leben, zum Lieben, zum Lachen, zum Weinen – aber auch, um die Kinder ganz vorsichtig darauf vorzubereiten, dass sie ihren Vater verlieren würden. Und um uns selbst in unzähligen ehrlichen Gesprächen der unabwendbaren Tatsache zu stellen, dass wir den Wunsch nicht verwirklichen konnten, miteinander alt zu werden.

»Ich will, dass du wieder heiratest. Ich möchte, dass du wieder glücklich wirst!«, sagte Peter etliche Male.

»Mein zukünftiges Leben ist eben mein zukünftiges Leben«, erwiderte ich, unfähig und nicht willens, über den Zeitpunkt seines Todes hinaus zu denken. Doch irgendwo in mir wuchs die Dankbarkeit: Was auch immer auf mich zukäme, ich hatte sein Einverständnis.

Etwa ein halbes Jahr lang hielt die chemische Keule das Wachstum der bösartigen Zellen in Schach. Vom Beginn des Frühlings bis zur Herbstmitte hatte Peter keine Schmerzen, konnte wieder arbeiten gehen und, von den Behandlungen abgesehen, so leben, wie er es sich wünschte: so normal wie eben möglich. Bis die ersten drei kleinen Lungenmetastasen das endgültige Aus signalisierten.

Von da an drehte sich die Abwärtsspirale immer schneller. Gute Phasen wechselten mit schlechten, Optimismus mit schwärzestem Pessimismus. Gleichzeitig wurde das Band zwischen uns beiden immer straffer. Jeder fühlte sich unvollständig, wenn er vom anderen getrennt war. Peter, der seiner Umgebung meist ein strahlendes Lächeln zeigte, erlaubte mir, an seinen Ängsten und Hoffnungen teilzuhaben, was ich als Auszeichnung und als Zeichen für die Absolutheit unserer Liebe empfand.

Die Welt wurde immer kleiner. Wir lebten eine Art familiäres Atommodell, bei dem der Kern aus fünf Menschen bestand. Eltern, Geschwister und Freunde kreisten wie auf einer Elektronenbahn um uns herum.

Seit Anfang Dezember war es dann nur noch dem Morphium zu verdanken – zuerst in Form eines Pflasters, später dann einer intravenösen Pumpe –, dass Peter weitgehend schmerzfrei war. Michael Greifenstein, ein Freund und ehemaliger Kollege, nunmehr Schmerztherapeut mit eigener Praxis, kam nahezu täglich, um die Dosierung zu kontrollieren und gegebenenfalls anzupassen. Doch gegen die Konsequenzen der nicht mehr einzudämmenden Metastasierung der Lunge hatte auch er nur wenige Chancen. Anfangs half ein Spray, die Anfälle von Atemnot zu lindern. Seit dem Vortag stand ein Sauerstoffgerät neben Peters Bett. Und ebenfalls seit gestern wusste ich, dass Michael die Morphiumdosis so weit erhöhen würde, dass Peter den unabwendbaren Erstickungstod nicht in vollem Bewusstsein erleben müsste …

Dazu würde es nun nicht mehr kommen. Hinter uns lag eine letzte anstrengende und gleichzeitig über alle Maßen liebevolle gemeinsame Nacht. Trotz aller Vorzeichen hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Hatte mich darauf eingestellt, ihn tagelang in einem morphiumbedingten Gnadenkoma dem Tod entgegendämmern sehen zu müssen.

Was hatte Michael am gestrigen Abend prophezeit? »Eine Woche. Vielleicht zwei. Es wird eine harte Zeit für dich und die Kinder werden.«

»Das macht nichts. Hauptsache, er muss nicht leiden«, hatte ich voller Überzeugung entgegnet. Und dennoch hatte ich Angst verspürt, sie aber mit Erfolg verdrängt. Wichtig war nur noch, dass Peter sich nicht quälte. Die Kinder und ich würden auch diese Zeit aushalten, und wenn sie noch so schwer würde.

Jetzt war Peter tot. Wir mussten nichts mehr »aushalten«, nicht zusehen, wie er sich in den Tod schlief.

»Wenn der Lebensfaden so überdehnt wird, beginnt man, auf ein Zerreißen zu hoffen«, hatte er Weihnachten auf seine letzte, liebevoll ausgewählte Karte an mich geschrieben. Hatte mir seit ein paar Tagen immer wieder in Gesprächen offenbart, dass er lieber heute als morgen sterben wollte, den Tod geradezu herbeisehnte. Schon vor Wochen hatte auch ich mir eingestanden, dass ich diesen Moment nicht mehr als Bedrohung, sondern als Erlösung anzusehen begann. Immer wieder mitzuerleben, wie er panisch nach Luft rang, immer wieder hilflos danebenzustehen und außer meiner Liebe nichts zu haben, was die Quälerei lindern konnte, hatte den Wunsch in mir aufkeimen und wachsen lassen, er möge schnellstmöglich sterben dürfen.

Denn aus dem »Sterben müssen« war ein »Sterben dürfen« geworden. Der Tod hatte den Schrecken verloren, wurde zum Ziel. Ein Ziel, das er nun erreicht hatte.

***

Ich hörte mich immer wieder dieselben Worte stammeln: »Geh! Du hast es geschafft! Du darfst gehen!« Bis ich irgendwann still wurde, ihn weiterhin im Arm hielt und nachzudenken begann. Dies hier war unser ganz persönlicher Abschied. Mein ganz persönlicher Abschied. Ein Blick auf die Uhr machte mir klar, dass mir dafür nicht allzu viel Zeit blieb. Selbst wenn ich sie nicht weckte, würde zumindest die pflichtbewusste achtjährige Kristin sehr bald aufwachen, ins Bad gehen und sich wundern, warum ich noch nicht in der Küche hantierte und das Frühstück machte. Ich durfte es nicht riskieren, dass sie unvorbereitet im elterlichen Schlafzimmer auftauchte.

Ein paar Minuten lang lag ich mit geschlossenen Augen da, spürte ein allerletztes Mal Peters Nähe. Alles war wie immer. Abgesehen davon, dass sein Herz nicht mehr schlug, als ich meinen Kopf auf seine Brust legte. Behutsam richtete ich mich auf.

»Peter«, sagte ich leise, »du wirst verstehen, dass ich dich jetzt loslassen und gehen muss. Aber ich komme gleich wieder und bringe die Kinder mit.«

Langsam stand ich auf. Zog meinen Bademantel an, dimmte die Nachttischlampe, griff zum Feuerzeug, das ich schon vor Tagen in einem Regal deponiert hatte, und zündete die Teelichter in ihren bunten Gläsern an, die Peter vor einigen Wochen von einer Kollegin geschenkt bekommen hatte. Die Flammen tauchten den Raum in weiches Licht. Alles war bereit.

Auf dem Weg zur Tür hielt ich inne. Drehte mich noch einmal um, nahm das Bild in mich auf. Ging zum Bett zurück und küsste ihn ein weiteres Mal.

Dann straffte ich die Schultern, ging mit energischen Schritten durch die Tür und schloss sie sicherheitshalber hinter mir. Die Kinder warteten. Sie brauchten mich. Dringender als jemals zuvor. Doch auch ich würde Hilfe brauchen, um die Lawine zu bewältigen, die in den nächsten Tagen auf mich zurollen würde. Noch zehn Minuten, bis der erste Wecker klingelte – ich schlich die Treppe hinunter und griff zum Telefon …

Kinderliebe

»Völzel?«

Er hob beim ersten Läuten ab, als hätte er auf den Anruf gewartet. Seine Stimme klang trotz der frühen Stunde sehr wach. Geradezu wachsam.

»Bernd?«

»Ja?«

»Peter hat es geschafft.«

Ich sprach es so aus, wie ich es empfand. Natürlich war Peter gestorben, tot, lebte nicht mehr oder mit welchen Worten auch immer man diesen Zustand beschreiben konnte. Aber für mich hatte er es tatsächlich »geschafft«. Bernd würde es nicht nur verstehen, sondern genauso empfinden.

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Bernd atmete hörbar ein und aus, dann fragte er leise und zögernd:

»Wie …?«

»Nach einer intensiven, anstrengenden Nacht am Ende dann doch zum Glück ganz ruhig und ohne Schmerzen.«

Er schwieg eine Zeit lang.

»Ich bin sehr froh für ihn. Wie geht es dir jetzt damit?«

»Gut, Bernd!« Meine Stimme war fest. »Ich weiß, dass ich alles richtiggemacht habe. Und es war dann doch so schnell, so voller Frieden – dass ich momentan sehr glücklich bin.«

»Ich verstehe dich. Sehr gut sogar. Wir werden hier gleich alles regeln, dann wird Kathrin sich auf den Weg machen. Ich denke an dich!«

Der letzte Satz war keine Floskel. Ich wusste, dass er tatsächlich an mich denken würde. Nicht nur heute, sondern vermutlich noch viele Tage, Wochen, Monate lang. Und nicht nur an mich, sondern auch an Peter, der sein Freund gewesen war. Und ebenso an unsere Kinder, die Bernd hatte heranwachsen sehen.

Die vierjährige Sophie war sein Patenkind. Vor der Taufe hatte er Peter und mir gesagt, dass er diese Patenschaft nicht leichtfertig eingehen, sondern sich fortan als Begleiter auf dem Lebensweg unserer Tochter verstehen wollte. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er diese Einstellung leben und mir zukünftig eng zur Seite stehen würde.

Irgendwann im Lauf des Vormittags würde Kathrin kommen. Bernds Frau, meine Freundin. Einer der wenigen Menschen, die ich jetzt in meiner Nähe haben wollte.

Ich hatte sie vor fünf Tagen darum gebeten. Als mir klar geworden war, dass es nicht mehr lange dauern würde – und ich mir zugestanden hatte, die erste Zeit nach Peters Tod zu planen.

Nun war es so weit. Kathrin würde ihre Mutter anrufen, damit diese die Aufsicht über den Völzel’schen Nachwuchs, die zehnjährigen Zwillinge Dana und Johannes sowie den siebenjährigen Manuel, übernähme. Dann würde meine Freundin sich ins Auto setzen und zwei oder drei Tage einfach nur da sein. Dabei all das machen, was mich unterstützte. Pragmatisch und kritiklos. Ich sah ihrem Besuch voller Dankbarkeit entgegen.

***

Ich legte den Hörer zurück auf die Ladestation. Keinen Moment zu früh, denn über mir klapperte die Badezimmertür. Eilig lief ich auf die erste Etage und setzte mich abwartend auf die unterste Treppenstufe, die zum Dachgeschoss hinaufführte. Dort befand sich das Zimmer von David, unserem Ältesten, der in zwei Monaten seinen elften Geburtstag feiern würde. Die Toilettenspülung ging, der Wasserhahn wurde auf- und wieder zugedreht. Anschließend tapste Kristin auf nackten Füßen in den Flur.

»Mama! Was machst du da?«, fragte sie verwundert.

»Das erkläre ich dir gleich. Bitte zieh deine Hausschuhe an, geh zu David hoch und mach ihn wach. Ich wecke Sophie und komme mit ihr nach.«

»Aber ich muss zur Schule! Was …«

»Bitte«, unterbrach ich sie, »frag nicht, mach einfach!«

Anscheinend spürte sie, wie ernst es mir war. Ohne jeden weiteren Kommentar wandte sie sich ab und folgte meiner Aufforderung, während ich leise ins Nebenzimmer trat. Beim Anblick unserer Jüngsten musste ich schlucken. Sophie lag quer in ihrem noch viel zu großen Bett, ihr großes Stoffpony fest im Arm. Ihre Haare standen wirr vom Kopf ab, und auf ihrem kleinen Gesicht lag ein seliges Lächeln.

Ich seufzte. Es half nichts. Ich musste sie aus dem Schlaf und aus ihrer behüteten Kindheit reißen. Mit ihren vier Jahren hatte sie das Ausmaß von Peters Erkrankung noch nicht vollständig erfassen können, waren »Sterben« und »Tod« irrationale Begriffe.

Doch nun musste ich ihre kleine, noch immer weitgehend heile Welt zerstören. Ihr kindliches Urvertrauen in die Einheit »Mama und Papa« vernichten. Von jetzt an gab es nur noch »Mama«. Von jetzt an waren meine Kinder Halbwaisen. Und ich war … Witwe. Was für scheußliche Worte es doch gab!

Ich küsste sie auf die Wange.

»Sophie? Süße, wach auf!«

Sie knurrte unwillig und drehte mir den Rücken zu.

»Sophie! Du musst wach werden.«

»Nein. Ich will nicht«, meckerte sie im Halbschlaf.

»Doch. Du musst!«, drängelte ich und rüttelte an ihrer Schulter. »Es ist wichtig. Ich muss mit euch reden.«

Sie schlug die Augen auf und war sofort hellwach. Normalerweise hätte sie jetzt losgeplappert. Doch sie schien zu spüren, dass es kein normaler Moment war. Schweigend schlüpfte sie mit meiner Hilfe in Bademantel und Hausschuhe, schweigend ließ sie sich von mir auf den Arm nehmen, was sie von dem Moment an, seit sie selbst laufen konnte, nur noch zugelassen hatte, wenn sie krank war. Ich trug sie nach oben. Schweigend setzte sie sich zwischen David und Kristin auf den Teppich. Alle drei Kinder sahen mich mit dem gleichen Blick an: einer Mischung aus Ahnung und Angst.

Ich setzte mich ihnen gegenüber und holte tief Luft.

»Papa ist tot. Er ist vor wenigen Minuten gestorben. Er hat es geschafft.«

Wie oft hatte ich darüber nachgegrübelt, wie ich es den Kindern wohl am besten sagen würde. Hatte mir all die Formulierungen durch den Kopf gehen lassen, die das Sterben beschönigen, dem Wort »tot« die Schärfe nehmen sollen.

Papa ist für immer eingeschlafen.

Was für ein Quatsch! Was sollen Kinder, speziell Sophie, sich darunter vorstellen? Wer einschläft, der wird nach kindlichem Verständnis auch irgendwann wieder wach. Und »für immer« ist viel zu abstrakt. Eine solche Wortwahl kam also auf keinen Fall infrage.

Papa ist jetzt im Himmel.

Ich ahnte Sophies berechtigte Fragen im Voraus: Was macht er da? Wie ist er da hingekommen? Und wann kommt er wieder runter?

Auch keine Lösung. Eher noch schlimmer.

Wie so oft war ich zu der Einsicht gekommen, dass es nur einen Weg gab: den ehrlichen. Klare Worte, die die Dinge beim Namen nannten. So, wie wir immer ehrlich mit den Kindern gesprochen hatten. Auch wenn es der schmerzhafteste Weg war. Unsere Aufrichtigkeit war die Basis für das tiefe Vertrauen, das die Kinder uns entgegenbrachten.

Sekundenlang blieben die Gesichter meiner Kinder völlig ausdruckslos. Genau wie ich eine halbe Stunde zuvor brauchten auch sie ihre Zeit, die Wucht des Geschehens zu begreifen. Dann versteinerten Davids Züge, während sich in den Augen der Mädchen Tränen sammelten. Alle drei beobachteten mich. Und alle sagten kein Wort.

Meine Jüngste bewegte sich als Erste. Sie stand auf, kam zu mir und kuschelte sich an mich. Kurz darauf folgte Kristin ihrem Beispiel. David schien mit sich zu kämpfen, doch am Ende hielt ich auch ihn im Arm. Noch immer war kein Wort gefallen. Erst mussten wir zusammenrücken, uns gegenseitig Nähe, Wärme, Halt und das Gefühl der Zusammengehörigkeit schenken.

»Es ist gut so!«, sagte ich in die Stille hinein. »Jetzt hat Papa keine Schmerzen und keine Atemnot mehr. Er ist ganz sanft gestorben. Darüber können wir sehr glücklich sein.«

»Dürfen wir zu ihm?«, fragte David leise.

»Natürlich. Wann immer ihr wollt. Und nur, wenn ihr wollt.«

Ich wusste, es würde nicht lange dauern.

»Ich will zu Papa!«, forderte Sophie dann auch prompt und machte Anstalten, sich aus dem Knäuel zu lösen, das wir vier auf dem Fußboden gebildet hatten.

»Dann komm«, antwortete ich, drückte alle noch einmal fest an mich und stand auf. Meine beiden Großen blieben reglos sitzen. Ihre Angst vor dem, was sie erwartete, dieselbe Furcht, die auch ich gehabt hatte, stand greifbar im Raum. Die Unbefangenheit, die meine vierjährige Tochter schützte, bot ihnen keine Zuflucht mehr. Mit acht und zehn Jahren waren sie alt genug, um die Geschehnisse zu verstehen.

»Kommt nach, wenn ihr möchtet. Papa liegt friedlich im Bett. Es gibt nichts, wovor ihr Angst haben müsst.«

Sie reagierten nicht auf meine Worte. Doch noch bevor Sophie und ich das Ende der Treppe erreicht hatten, rief Kristin: »Wartet auf mich!«

Sie eilte hinter uns her. Zu dritt standen wir an der geschlossenen Tür. Ich zögerte, sie zu öffnen, hoffte darauf, dass David sich entschied, uns zu folgen. Denn auch wenn ich keines der Kinder überreden oder gar zwingen wollte – aus meiner Sicht war es unbedingt erforderlich, dass sie Abschied nahmen. Dass sie ihren toten Vater sehen, anfassen, den Tod im wahrsten Sinne des Wortes »be-greifen« konnten. Erst recht, da ich wusste, dass Peter lächelte.

Natürlich hatte ich im Vorfeld abgewogen: War es richtig, unsere Kinder auf diese drastische Weise mit dem Tod zu konfrontieren? Oder war es besser, sie davor zu bewahren? Schützte ich sie, wenn ich dem Beispiel meiner Eltern folgte, die mich als Siebenjährige mit dem Satz »Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn gekannt hast!« trösteten, als mein erster Großvater starb? Der jedoch war in meiner kindlichen Erinnerung lebendig – sodass ich, unterstützt vom Prozess des Heranwachsens, etliche Jahre brauchte, um die Dimension »sterben« tatsächlich zu verstehen.

Wieder war ich meinem Bauchgefühl gefolgt, das sich eindeutig positioniert hatte: Auch wenn das letzte Bild der Erinnerung ein toter Peter wäre – darüber würden sie den lebendigen, den fröhlichen, den liebevollen Vater nicht vergessen! Die unzähligen Bilder, die im Zusammensein mit ihm entstanden waren, würden durch dieses letzte weder überlagert noch verdrängt werden. Doch es würde ihnen helfen, die Endgültigkeit zu erfassen. Und irgendwann zu akzeptieren.

Ich hielt die Klinke in der Hand, als ein Rascheln im Dachgeschoss davon zeugte, dass auch David aufstand. Mit gesenktem Kopf schlich er die Treppe herunter. So unbefangen wie möglich öffnete ich die Tür. Drei Paar Kinderaugen spähten vorsichtig in den Raum.

Wie so oft war es Sophie, die die Anspannung unterbrach.

»Papa!«, rief sie aus, lief auf ihn zu, warf sich einfach neben Peter und küsste ihn so ungezwungen wie immer. Ihr Verhalten nahm ihren Geschwistern die Scheu – deutlich langsamer, aber sichtlich entschlossen näherten sich auch David und Kristin dem Bett, verharrten einen Augenblick und kletterten dann hinein. Als Letzte folgte ich.

Erleichtert und glücklich legte ich mich auf meine Betthälfte und beobachtete die Kinder, die sich jetzt fast darum zankten, wer wo liegen konnte, um Peter so nah wie möglich zu sein. Als endlich jeder seinen Platz gefunden hatte, streichelten sie ihn, übersäten ihn mit Küssen und redeten mit ihm. Mit einem Unterschied: Ganz offensichtlich erwartete keines der Kinder eine Antwort mehr.

Vielleicht war die Situation grotesk – doch mir erschien sie als selbstverständlich, warm und voller Liebe. Ein letztes Mal, dass wir zu fünft in diesem Bett lagen. Möglicherweise war es aber auch das wichtigste der ungezählten Male zuvor.

Es dauerte etliche Minuten, bis die Zärtlichkeiten nachließen. Nahezu nahtlos stellte sich ein Gefühl der Beklommenheit bei den Kindern ein. Es wurde Zeit aufzustehen.

»Kommt«, sagte ich behutsam. »Sagt Papa …« Ich zögerte. Vielleicht war es Wortklauberei, aber ein »Auf Wiedersehen« erschien mir so schrecklich unangemessen. Andererseits: Was wissen wir Lebenden schon? Nichts! Wir können glauben, wir können hoffen, wir können darauf vertrauen, dass es ein Leben nach dem Tod und damit vielleicht tatsächlich ein Wiedersehen gibt. Doch gesichert weiß das niemand.

Dennoch: Ich selbst glaubte, hoffte, vertraute darauf. Ein Funken Zukunft in fernster Zeit. Diesen Funken durfte und wollte ich auch meinen Kindern nicht nehmen.

»Sagt Papa auf Wiedersehen. Irgendwann, irgendwo. Ein Stück von ihm wird bei uns bleiben, auch wenn wir ihn jetzt loslassen müssen.«

Dann verließ ich das Bett und ging zur Tür. Jedes Kind küsste Peter noch ein Mal und folgte mir.

»Geht schon mal nach unten«, forderte ich sie auf. Mein Kopf war leer. Bis zu diesem Moment hatte ich im Voraus gedacht – doch jetzt hatte ich keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Etwas verzagt zog ich die Tür ein Stück zu, schloss sie aber nicht ganz. Wenn eines unserer Kinder noch einmal das Bedürfnis haben sollte, zu Peter zu gehen, sollte es nicht durch die geschlossene Tür entmutigt oder gar daran gehindert werden.

Ohne jeden Plan folgte ich meinem Nachwuchs ins Wohnzimmer. Es war kurz nach halb sieben. Wir mussten darüber sprechen, wie der Tag weiterging.

Doch als ich die letzte Stufe erreicht hatte, passierte etwas Unerwartetes, etwas, das um diese Uhrzeit noch nie geschehen war: Es klingelte an der Haustür …

Absolution

Ich starrte sie an wie einen Geist. Auf dem kurzen Weg vom Auto bis zu unserem Haus hatte der Nieselregen ihre Haare und die Jacke bereits benetzt. Klein und durchgefroren stand sie im Licht der Außenlampe und blickte mich sorgenvoll und fragend an.

»Kind«, sagte meine Mutter, »ich bin wach geworden und hatte ganz plötzlich das Gefühl, dass du mich brauchst.«

Noch vor einem Jahr hätte ich mich vermutlich gewundert, an Zufall geglaubt oder nach rationalen Erklärungen gesucht. Doch in den Monaten, in denen Peter krank war, hatte ich zu oft erlebt, dass die Bindung zwischen Menschen, die sich lieben, auch bei räumlicher Distanz bestehen bleibt. Immer wieder hatten er und ich zum selben Zeitpunkt die gleichen Gedanken oder Gefühle gehabt. Immer wieder hatte einer von uns intuitiv gewusst, wann der andere ihn brauchte. Somit erschien es mir jetzt fast selbstverständlich, dass meine Mutter die Veränderung gespürt hatte, die geschehen war.

»Es ist vorbei«, bestätigte ich – und sie nickte, als habe sie nichts anderes erwartet. Ich zog sie ins Haus. Sie hängte die Jacke an die Garderobe, umarmte wortlos erst mich und danach jedes Kind, bis sie schließlich mit hängenden Armen im Wohnzimmer stand.

»Kann ich …?«, fragte sie leise und wies mit dem Kinn nach oben.

»Natürlich«, antwortete ich. Als sie zögernd die Treppe hinaufging, auf jeder zweiten Stufe kurz verharrte, als müsse sie neuen Mut fassen, setzte ich mich aufs Sofa und bat:

»Kommt bitte mal her, ihr drei! Wir müssen darüber sprechen, wie es weitergeht. Ich weiß nicht, ob ihr lieber zu Hause bleibt oder in die Schule und den Kindergarten geht. Das darf jeder von euch selbst entscheiden.«

Sie überlegten kurz. Kristin reagierte zuerst.

»Ich MUSS in die Schule! Ich mache heute das Schwimmabzeichen in Bronze. Das will ich machen! Jetzt erst recht! Für Papa!«, sagte sie entschlossen.

»Dann mach das.«

Ich lächelte, denn genau mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet. Sie würde schwimmen, so schnell und so gut sie konnte, und darüber für einen kurzen Augenblick Vergessen oder zumindest Ablenkung finden. Ihre Klassenlehrerin hatte bereits in den vergangenen Monaten bewiesen, mit wie viel Fingerspitzengefühl sie der Situation begegnete.

In Kristins Abwesenheit hatte sie mit der Klasse gesprochen. Gleich mehrere Kinder hatten sich spontan angeboten, fortan auf meine Tochter »aufzupassen« und jeden Streit von ihr fernzuhalten. Kristin selbst wusste nichts von ihren »Schutzengeln«. Die erst neun- und zehnjährigen Mitschüler hatten Wort gehalten und ihr den Rückhalt gegeben, den sie so dringend brauchte. Somit konnte ich sie heute unbesorgt gehen lassen. Ihre Lehrerin und die Freunde würden sie zumindest ein wenig auffangen.

»Ich bleibe zu Hause! Als ob ich heute in die Schule gehen würde!« Davids Antwort war ebenso entschlossen. Seit einem halben Jahr besuchte er dasselbe Gymnasium, an dem Peter und ich unseren Schulabschluss gemacht hatten. Auch mit seinem Klassenlehrer hatte ich sofort nach der Einschulung ein Gespräch gesucht. Und auch ihn hatten die Fachlehrer und etliche Mitschüler und Freunde im Auge behalten, ohne dass er das bemerkt hatte. Unser soziales Netz hatte sich zehn Monate lang schützend um uns gelegt. Es würde jetzt nicht reißen.

»Ich auch. Ich bleibe zu Hause. Als ob ich heute in den Kindergarten gehe!«, echote Sophie mit einem Seitenblick auf ihren Bruder. Unwillkürlich lachte ich auf. Wie gut ich meine drei Kinder doch kannte! Jedes von ihnen verhielt sich genau so, wie ich es vermutet hatte.

»Dann ziehe ich mich jetzt an«, beschloss Kristin und wandte sich Richtung Treppe. Diese kam meine Mutter gerade herunter – mit blassem Gesicht, aber gefasst.

»Kannst du den Kindern Frühstück machen?«, bat ich sie. »Ich muss telefonieren, dann habe ich dafür den Rücken frei.«

Sie nickte bestätigend, offensichtlich froh über diese Aufgabe, und begann sofort, mit Geschirr zu klappern und den Kühlschrank zu inspizieren.

»Geht Omi bitte helfen!«, forderte ich David und Sophie auf und griff zum Telefon. Peter war gerade mal eine Stunde tot. Und obwohl ich mit mir haderte, tat ich genau das, was ich seiner vor wenigen Tagen geäußerten Meinung nach nicht hätte tun sollen: Ich rief seine Eltern an.

»Erspar es ihnen, mich so zu sehen«, hatte er mich gebeten. »Sie kommen damit nicht zurecht.«

Ich hatte ihm nicht widersprochen. Doch ich war der Ansicht, dass meine Schwiegereltern selbst entscheiden sollten, ob sie kommen wollten oder nicht. In Kürze müsste ich sie so oder so über den Tod ihres Sohnes informieren – es erst zu tun, wenn Peter nicht mehr zu Hause wäre, und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, sich in Ruhe zu verabschieden, erschien mir als unfair.

»Peter hat es geschafft. Er ist vor einer Stunde gestorben«, überfiel ich seinen Vater, der sich ebenso schnell, aber auch genauso argwöhnisch gemeldet hatte, wie Bernd es getan hatte. Er schwieg. Ich wartete.

»Wir kommen gleich«, hörte ich ihn sagen. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Gleich? Wann war gleich? Wenn sie sofort losführen, wären sie in spätestens einer halben Stunde hier. Und ich war immer noch im Schlafanzug! Plötzlich wurde ich hektisch. Gleich würden nicht nur meine Schwiegereltern kommen. Gleich würde wahrscheinlich ein noch nicht absehbares Chaos auf mich einstürmen! Dem konnte ich wohl kaum im Pyjama begegnen. Ich musste mich anziehen. Schleunigst! Welch ein Glück, dass meine Mutter sich um die Kinder kümmerte.

»Ich bin im Bad!«, rief ich in Richtung Küche und eilte die Treppe hinauf. Während ich mich auszog und frische Wäsche aus dem Schrank holte, erklärte ich meinem toten Mann:

»Entschuldige, dass ich momentan keine Zeit für dich habe. Deine Eltern kommen gleich. Ich weiß, dass du das eigentlich nicht wolltest. Aber mir erscheint es richtig zu sein. Du bist schließlich ihr Kind. Also sei nicht sauer, okay? Und nun muss ich mich beeilen.«

Mit ihm zu reden erschien mir als das Selbstverständlichste der Welt. Es würden Stunden vergehen, bis die Mitarbeiter des Beerdigungsinstitutes kämen. Noch war er da. Nichts daran befremdete mich. Er lag im Bett wie so oft. Liebevoll lächelnd, bis zum Hals zugedeckt mit der blau geblümten Bettwäsche, in der wir gemeinsam unzählige Nächte geschlafen hatten.

Meine Kleidung auf dem Arm haltend, drückte ich ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und ging endlich duschen. Eine Viertelstunde später stand ich wieder im Wohnzimmer. In der Zwischenzeit hatte meine Mutter Kaffee gekocht. Die Kinder frühstückten noch – schweigend, offensichtlich betrübt, aber ohne jede Spur von Nervosität. Im Stehen trank ich schnell ein paar Schlucke und überlegte, welche Schritte jetzt wohl die wichtigsten waren. Das meiste konnte warten. Erst einmal musste Michael informiert werden. Anstelle der geplanten Erhöhung des Morphiums würde er nun den Totenschein ausstellen. Ich war mir sicher, dass er in Peters Sinne darüber erleichtert wäre.

***

Michael kam eine anstrengende Stunde später. Zog mich an der Haustür kurz in den Arm, sah mich prüfend an.

»Wie geht es dir?«

»Gut. Nein, eigentlich sehr gut! Vielleicht hört es sich verrückt an, aber ich bin so unendlich glücklich«, entfuhr es mir.

Michael lächelte leise.

»Das kann ich gut nachvollziehen. Ich bin auch sehr froh, dass ihm all das erspart geblieben ist, was ansonsten nötig gewesen wäre. Können wir nach oben gehen?«

»Klar!«

Ich wandte mich ab und ging wieder mal die Treppe hinauf. Michael folgte mir mit zügigen Schritten. Im Schlafzimmer lehnte ich mich an eine Kommode, während er wortlos neben Peter stand und ihn traurig, aber aufmerksam betrachtete.

»Erzähl mir, wie die vergangene Nacht verlaufen ist«, bat er sanft.

Alles in mir spannte sich an, obwohl mir natürlich bewusst war, dass ich ihm Peters letzte Stunden schildern musste.

»Wann soll ich welche Medikamente einsetzen?«, hatte ich Michael am Vorabend gefragt.

»Vertrau deinem Gefühl! Du kannst keine Fehler machen«, hatte er ruhig geantwortet. Zwei Sätze, die mir den Mut und die Sicherheit gaben, in diesen letzten Stunden, die Peter bewusst erleben sollte, den Sauerstoff, die Beruhigungstropfen und das Morphium so einzusetzen, wie ich meinte, dass es richtig war. Es war wenig genug, was ich tun konnte, aber dieses wenige hatte immerhin seine Atemnot eingedämmt und für Linderung, ja, sogar für längere, friedvolle Phasen gesorgt.

Doch was, wenn ich – entgegen meinem Gefühl – alles falsch gemacht und Peter das Sterben erschwert hatte? Wenn Michael nach meinem Bericht die Stirn runzeln, den Kopf schütteln, mir gar Vorwürfe machen würde? Ich wagte kaum, daran zu denken.

Stockend, dann immer flüssiger erzählte ich von der Luftnot und der Panik, die Peter erlitten hatte und die sofort gewichen war, wenn ich ihm die Maske des Sauerstoffgerätes vor Mund und Nase gehalten hatte. Berichtete von seinem häufigen Drang, zur Toilette zu gehen, und von seiner Verbissenheit, aufzustehen und den Weg ins Bad zurückzulegen, auch wenn es ihn an den Rand seiner Kräfte gebracht hatte.

»Dazwischen ist er immer wieder für ein paar Minuten eingeschlafen. Wenn er wach war, haben wir geredet. Viel geredet! Irgendwann habe ich …«

Ich stockte. Es fiel mir schwer, das in Worte zu fassen, was ich empfand. Die Szene war ergreifend gewesen. Und notwendig. Gleichzeitig belastete sie mich. Meine Stimme klang schrill, als ich weitersprach.

»Irgendwann habe ich ihn … weggeschickt. Ich habe ihm gesagt, dass du heute das Morphium erhöhen musst, damit er seinen Erstickungstod nicht bewusst miterleben muss. Damit habe ich ihn geradezu von mir weggetrieben.«

Es hatte mich unglaublich viel Kraft gekostet, Peter diese Wahrheit so ungeschönt zu sagen. Es kostete mich auch jetzt enorme Kraft, darüber zu sprechen.

»Und?« Wie immer blieb Michael gelassen.

»Er hat gesagt: ›Danke, dass du mich jetzt gehen lässt.‹ Zwei Stunden später ist er gestorben.«

Michael lächelte. Dann sah er mir fest in die Augen.

»Du hast alles richtiggemacht.«

Ein Stein, ein Felsbrocken, nein, gleich ein ganzes Gebirge fiel mir von der Seele! Während Michael Peter vorsichtig und würdevoll, aber dennoch routiniert untersuchte, stiegen mir Tränen der Erleichterung in die Augen. Ich hatte in der gesamten Nacht ausschließlich nach meiner Intuition gehandelt, musste oft so schnell reagieren, dass mir keine Zeit zum Nachdenken geblieben wäre. Doch was sich richtig anfühlt, muss nicht zwangsläufig richtig sein.

Michaels vier Worte waren meine ganz persönliche Absolution und rundeten das Glück und die Dankbarkeit ab, die mich seit Peters Tod innerlich jubilieren ließen.

Ich hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, was ich selbst eigentlich fühlte. Peter und ich waren so eng zusammengewachsen, dass ich momentan nur aus seiner Perspektive empfand. Was sein Tod für die Kinder und für mich bedeutete, war mir zu diesem Zeitpunkt schlichtweg egal. Wichtig war, dass es mir gelungen war, die Versprechen zu halten, die ich ihm voller Überzeugung gegeben hatte, und die mich dann doch so oft an und manchmal sogar über meine Grenzen gebracht hatten: Am Ende war er so gestorben, wie er es sich erhofft hatte – zu Hause bei mir und in all der Würde, die ihm so viel bedeutet hatte. Nichts anderes zählte.

Nachdem er seine Untersuchung beendet hatte, zog Michael die Decke behutsam bis zu Peters Kinn hoch, so, wie sie auch zuvor gelegen hatte. Dann richtete er sich auf, holte einige Papiere aus seiner Tasche und füllte sie aus.

»Ich werde später veranlassen, dass das Sauerstoffgerät abgeholt wird. Den Schein hier brauchst du für das Beerdigungsinstitut. Heute Nachmittag komme ich wieder, um den Sessel abzuholen.«

Der Ohrensessel, den Michael spontan von einem Nachbarn geliehen hatte und in dem mein Mann aufrecht sitzen und besser atmen konnte, war eine fantastische Idee gewesen. Nun war das Möbel überflüssig und wirkte wie ein Fremdkörper in unserem Schlafzimmer. Ebenso wie der unförmige Kasten, aus dem auf Knopfdruck Sauerstoff strömte. Zwei Zeugen der letzten Stunden, die ihren Zweck erfüllt hatten, jetzt aber nutzlos herumstanden. Es war gut, wenn sie schnellstmöglich entfernt wurden.

***

An der Haustür zog Michael mich noch einmal kurz in die Arme. Sechs Wochen lang war er ein fast täglicher Gast gewesen. Ein Geschenk des Himmels. Ohne seine Hilfe hätte Peter vermutlich seine letzten Tage im Krankenhaus oder im Hospiz verbringen müssen. Dort wären Menschen gewesen, die uns zur Seite gestanden und mir die Verantwortung abgenommen hätten. Mein Mann und ich hatten ein einziges Mal darüber gesprochen, ob es für mich und die Kinder leichter wäre. Alles in mir hatte sich dagegen gesträubt, und auch Peter, der mir trotz seines Wunsches, zu Hause zu sterben, selbst diesen Vorschlag gemacht hatte, war erleichtert gewesen, als ich mich dagegen entschied. Ich vermochte es in dem Wissen, Michael an meiner Seite zu haben. Dabei war mir bewusst, welch ein ungeheures Glück es war, dass dieser wunderbare Freund mit seiner ihm eigenen, ruhigen Selbstverständlichkeit seine Freizeit opferte.

Während ich ihm hinterhersah, als er zum Auto ging, schossen mir die Bilder der Erinnerung durch den Kopf. Peter, tief schlafend, nachdem er in der Onkologie das erste Morphiumpflaster bekommen hatte. All meine Versuche, ihn zu wecken, waren gescheitert. Einer inneren Eingebung folgend, hatte ich spätabends zum ersten Mal Michael angerufen, statt die Nummer des Notarztes zu wählen.

»Mach das Pflaster ab. Morphium zu dosieren ist nicht ganz einfach. Jeder reagiert anders darauf. Wenn ihr wollt, komme ich morgen und übernehme die Schmerztherapie.«

Wenn ihr wollt? Und ob wir wollten! Nichts lieber als das! Neben den Medikamenten brachte Michael das Lachen in unser Haus. Besonnen, aber auch immer mit einem kleinen Scherz hatte er für viel Fröhlichkeit gesorgt.

Wie komisch war der Anblick gewesen, als er vor ein paar Wochen eine Infusion anhängen wollte. Mangels passendem Ständer baute er sich selbst neben dem Bett auf und hielt die Flasche hoch. Peter und ich brachen in schallendes Gelächter aus.

»Du siehst aus wie die Freiheitsstatue!«, prustete Peter los.

Unter Lachtränen ergänzte ich: »Nur der Strahlenkranz fehlt!«

Mit stoischer Gelassenheit ertrug Michael die Lästerei, wechselte aber mehrfach verstohlen den erhobenen Arm, bis die Flüssigkeit endlich in Peters Venen getröpfelt war.

»Lacht ihr ruhig über mich! Wartet ab, ich komme nachher wieder. Ich habe nämlich eine Idee«, meinte er und grinste geheimnisvoll.

Stunden später klingelte er erneut an der Haustür, einen Akkuschrauber in der einen, einen Werkzeugkasten in der anderen Hand. Auf sein Geheiß hin schleppte ich kopfschüttelnd den Staubsauger nach oben, drei Kinder im Schlepptau, die ebenso neugierig waren wie ich. Während David, Kristin und Sophie ihn misstrauisch beäugten, bohrte Michael in aller Seelenruhe ein Loch in die Dachschräge über dem Bett, saugte den herabgefallenen Putz weg, klopfte einen Dübel in die Öffnung und drehte einen Haken ein.

»Der macht unser Haus kaputt!«, protestierte Sophie mit reichlicher Verspätung.

»Nein, macht er nicht.« Ich hätte Michael ob dieser Idee küssen können. Anstelle eines Infusionsständers, der unser liebevoll eingerichtetes Schlafzimmer automatisch in ein Krankenzimmer verwandelt hätte, nun dieser einfache Haken, der nicht weiter ins Auge fiel und dabei so effektiv war.

Eine kleine, aber eine von vielen Szenen, für die ich diesem Mann aus tiefstem Herzen dankbar war. Noch wichtiger als seine gute Laune aber war der Mut, den er mir immer wieder geschenkt hatte. Jede Frage hatte er beantwortet, mir damit den Rücken gestärkt.

»Du kannst das.« – »Du schaffst das.« – »Glaub an dich.« Sätze, die mein Selbstvertrauen stärkten, wenn ich Angst hatte, weil es Peter kurzfristig schlechter ging. Wenn ich dachte, ich könne Fehler machen, ihm womöglich Schmerzen zufügen.

»Du kannst das.« Er hatte recht gehabt. Es gab wohl nichts, das ich mehr wollte – allein deswegen konnte ich! Was ich allerdings nicht konnte, war Michael seine selbstlose Hilfsbereitschaft jemals zu vergelten.

***

Langsam schloss ich die Tür hinter ihm, drehte mich um, ging ins Wohnzimmer zurück und betrachtete die Szene, die sich mir bot. Der Fernseher lief. Normalerweise wäre es undenkbar gewesen, ihn zu dieser frühen Uhrzeit anzustellen. Heute jedoch war ich Davids Bitte, den Kinderkanal einzuschalten, mit Erleichterung gefolgt. Der Film, der gerade lief, würde ihn und Sophie eine Zeit lang beschäftigen, sie ablenken – und ihnen vielleicht sogar das eine oder andere Lachen entlocken.

Kristin war längst aus dem Haus. Ihre Geschwister saßen eng nebeneinander auf dem Sofa und starrten gebannt auf den flimmernden Kasten. Auf der zweiten Couch hockten Peters Eltern, die etwa eine halbe Stunde vor Michael geklingelt hatten. Nachdem ich ihnen geöffnet hatte, waren sie sofort nach oben gegangen und Minuten später mit verweinten Gesichtern ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Meine Mutter hatte ihnen hilflos einen Kaffee angeboten, den sie jedoch abgelehnt hatten. Stattdessen hatten sie sich dort platziert, wo sie auch jetzt noch saßen. Schweigend, reglos und offensichtlich so unter Schock, dass sie der Situation ebenso wenig gewachsen waren wie ich, was meinen derzeitigen Umgang mit ihnen anging.

Was sagt man Eltern, die ihr Kind verloren haben, wenn man selbst über den Tod des »Kindes« in diesem Augenblick so dankbar ist? Die oft nur aus Unsicherheit dahingesagte Floskel »Herzliches Beileid«? Angesichts meines Glücksgefühls erschien sie mir mehr als unpassend – sie litten sehr, ich hingegen zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, jemals etwas anderes als Freude zu empfinden. Und es war gut, dass ich nicht ahnte, was mich erwartete …

Ratlos setzte ich mich zu meinen Kindern und suchte krampfhaft nach Worten. Peters Eltern befreiten mich aus der Verlegenheit. Sie standen auf und machten Anstalten, zu gehen.

»Findest du es nicht unpassend, die Kinder fernsehen zu lassen?«, fragte meine Schwiegermutter an der Tür.

»Nein, überhaupt nicht«, wehrte ich ihren Vorwurf ab. »Im Gegenteil, sie sollen alles machen, was sie möchten und was ihnen guttut. Peter hätte in umgekehrter Situation genau das Gleiche getan.«

Einen Augenblick lang wirkte sie nachdenklich. Sie entgegnete nichts, umarmte mich flüchtig und folgte ihrem Mann, der bereits am Wagen stand. Die Haltung der beiden drückte tiefsten Kummer aus. Sie taten mir aufrichtig leid. Peter war auch ihnen gegenüber von Anfang an offen gewesen und hatte keinen Hehl aus der schlechten Prognose gemacht.

Dennoch hatten sie sich bis zum Ende an Strohhalme geklammert, die nun unwiderruflich geknickt waren. Ihnen fehlte die Kraft, die Peter mir durch die unzähligen Gespräche für das »Danach« mit auf den Weg gegeben hatte. Ein älteres Ehepaar, das den jüngsten der fünf Söhne verloren hatte und zukünftig lernen musste, irgendwie mit diesem Verlust zu leben. Ich wünschte ihnen, dass sie einen Weg fänden.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, holte ich einen Zettel und einen Stift und setzte mich zu meiner Mutter in die Küche. Die beiden aus meiner Sicht allerwichtigsten Schritte waren erledigt. Bisher war ich noch keine Minute zur Ruhe gekommen. Ich brauchte einen Kaffee, eine Zigarette und ein wenig Zeit, um mich zu sortieren und die nächsten Punkte aufzuschreiben. Ansonsten drohte die Vielzahl der zu organisierenden Dinge mir über den Kopf zu wachsen. Meine Listen, die ich immer schrieb, wenn ich nichts vergessen durfte, würden mir auch jetzt helfen, dem Chaos um mich herum Struktur zu geben.

»Kann ich dir helfen?«, fragte meine Mutter.

»Bestimmt.«

Sie war in den vergangenen Monaten schon oft eine riesige Unterstützung gewesen. Doch selten war ich so froh über ihre Anwesenheit gewesen wie jetzt.

Telefonate

»Schule, Kindergarten, Anästhesie«, murmelte ich beim Schreiben vor mich hin. »Nicole, Frau Reinke und …« Ich kaute gedankenverloren auf dem Stift herum.

»Hast du dir schon überlegt, welches Bestattungsunternehmen du beauftragen willst?«, fragte meine Mutter sanft.

Ach ja, das auch noch! Nein, hatte ich nicht. Ich kannte keins. Bisher hatte ich um solche Institute einen großen Bogen gemacht.

»Nein. Welches hattest du damals bei deinem Vater?«

Dieses »Damals« war gerade mal anderthalb Jahre her. Mein zweiter Großvater war mit siebenundachtzig Jahren verstorben. Peter war fast ein halbes Jahrhundert jünger. Wie ungerecht das Leben doch sein konnte!

»Lüderscheidt. Die machen das sehr gut.«

»In Ordnung. Könntest du sie anrufen?«

Sie nickte. »Natürlich.«

Während sie die Telefonnummer heraussuchte, grübelte ich weiter über die Idee nach, die ich spontan geboren hatte. Sollte ich oder sollte ich nicht? Hätte Peter das gewollt? Dann gab ich mir einen Ruck und schrieb »Paulsen« auf meine Liste. Peter hätte mit Gewissheit nichts dagegen – und mir war es ganz plötzlich ein großes Bedürfnis, den Pfarrer, der uns getraut und unsere Kinder getauft hatte, diesen warmherzigen Geistlichen, darum zu bitten, zu uns nach Hause zu kommen, solange Peter noch da war. Auch wenn er ihn in Kürze beerdigen würde – hier war Peters Zuhause. Hier würde die Erinnerung an ihn weiterleben. Hier sollte der Abschied abgerundet werden.

Sosehr ich auch mit Gott haderte und ihn, hätte ich nur die Möglichkeit gehabt, am liebsten verprügeln würde – irgendwo in mir gab es einen tief verwurzelten Glauben und trotz allem einen Rest von Urvertrauen in ihn. Ein Fünkchen Hoffnung, dass an all dem, was man mir als Kind vom »lieben Gott« erzählt hatte, doch wenigstens ein kleines bisschen Wahrheit wäre. Peter hatte ähnlich empfunden. Wie mir war auch ihm unsere kirchliche Trauung um ein Vielfaches wichtiger gewesen als die standesamtliche. Somit hatte er das Datum der kirchlichen in unsere Ringe gravieren lassen, und wir hatten in den elf Jahren unserer Ehe diesen Tag als Hochzeitstag gefeiert, obwohl wir zwei Tage zuvor standesamtlich geheiratet hatten. Noch vor wenigen Tagen, während Peters kurzzeitigem Krankenhausaufenthalt, war Herr Paulsen bei mir gewesen. Sein Besuch hatte mir gutgetan. Nach dem Gespräch mit ihm hatte ich einen klitzekleinen Anflug von Frieden verspürt.

Ja, es fühlte sich richtig an. Ich setzte hinter seinen Namen ein dickes Ausrufezeichen. Hoffentlich hatte er Zeit!

Den Telefonhörer in der Hand, kam meine Mutter zurück.

»Erledigt. Frau Lüderscheidt kommt gegen elf.«

»Gut. Könntest du Sophie beim Anziehen helfen? In der Zeit kann ich meine Liste abtelefonieren.«

»Natürlich«, sagte sie erneut. Ich stand auf, ging zu meinen Kindern und nahm sie in den Arm.

»Wir machen jetzt mal den Fernseher aus. Ihr müsst euch anziehen.«

»Och, jetzt schon?«, maulte Sophie. »Das ist gerade so lustig.«

»Gar nichts ist lustig!« David war schneller in der Realität angekommen als seine kleine Schwester. Er betätigte die Fernbedienung und zog Sophie vom Sofa.

»Komm! Vielleicht dürfen wir nachher weitergucken?«

»Ihr dürft«, bestätigte ich. In den nächsten Tagen würden sie alles tun dürfen, was ihnen einen Hauch von Freude bereitete. Mit Peters Tod hatten die bisher gültigen familiären Regeln sowieso ein vorläufiges Ende gefunden. Zukünftig waren wir keine fünf-, sondern nur noch eine vierköpfige Familie, in der die Rollen, aber auch die Aufgaben modifiziert und teilweise neu verteilt werden mussten. Es lag an mir, uns vorsichtig zu diesem neuen Familienmodell zu formieren. Ich würde Geduld brauchen, aber die Zeit würde mir helfen.

Doch erst mal gab es Wichtigeres! Zunächst mussten wir den heutigen Tag, die erste Woche und dann auch den ersten Monat irgendwie hinter uns bringen. Da war jeder Seelentröster willkommen. Selbst wenn es der Fernseher war, den die Kinder so liebten, dessen Nutzung Peter und ich aber streng limitiert hatten.

In der nächsten halben Stunde telefonierte ich mir die Finger wund. Ich begann mit den kurzen, formellen Anrufen:

»Ich möchte David für heute und eventuell auch für die nächsten Tage vom Unterricht abmelden. Sein Vater ist vorhin verstorben.«

Wie erwartet schwieg die Sekretärin des Gymnasiums betroffen, stammelte dann:

»Herzliches Beileid … Ich … ja, ich … gebe dem Klassenlehrer Bescheid. Wann …«

»Das kann ich noch nicht sagen. David soll selbst entscheiden, wann er wieder in die Schule gehen möchte. In so einem Fall wird das sicher kein Problem darstellen«, antwortete ich freundlich, aber bestimmt auf ihre nicht ausgesprochene Frage.

»Natürlich ist das kein Problem. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute«, murmelte sie zum Abschied.

Auch Frau Schmidt, die Leiterin des Kindergartens, informierte ich in knappen Worten über den Grund von Sophies Abwesenheit. Mehr war nicht nötig – wir hatten im Vorfeld verschiedene Gespräche über das Verhalten meiner kleinen Tochter geführt, das glücklicherweise nie Anlass zur Sorge gegeben hatte.

»Danke, dass Sie Bescheid sagen. Ich wünsche Ihnen alle Kraft der Welt! Wenn Sie Hilfe brauchen …«

»Ich weiß«, antwortete ich und beendete das Telefonat. Wenn es im Hinblick auf Sophie etwas gäbe, bei dem mich die Erzieherinnen unterstützen konnten, stünden sie hinter mir. Dieses Wissen gab mir ein beruhigendes Gefühl.

Jetzt warteten die wirklich schwierigen Telefonate. Weniger für mich – ich befand mich nach wie vor in einem Zustand irgendwo zwischen Glück und Aktionismus. Eher für diejenigen, deren Nummer ich nun wählen musste.

»Markus? Peter hat es heute Morgen geschafft.«

Gestern war er noch bei uns gewesen, Markus Heidkamp, der leitende Oberarzt der Abteilung für Anästhesie. War still gekommen und still wieder gegangen. Dazwischen hatte er gemeinsam mit Michael und Heiner, der das Sauerstoffgerät geliefert hatte, eine Stunde bei Peter verbracht.

Er schluckte hörbar.

»Danke, dass du angerufen hast. Ich werde es Professor Hennigs und den Kollegen mitteilen. Wie geht es dir?«

»Gut. Wirklich gut, Markus! Ich bin erleichtert und glücklich. Eine Bitte habe ich: Könntest du in der Röntgenabteilung Bescheid sagen? Dann kann ich mir dieses Gespräch sparen.«

»Natürlich! Und … halt den Kopf hoch!«

»Das mache ich. Keine Sorge!«, versprach ich ihm und legte auf, um gleich darauf die nächste Nummer zu wählen und ein weiteres Mal mein Sprüchlein aufzusagen. Zunächst blieb es am anderen Ende der Leitung still. Nicole, meine langjährige Freundin, hatte ganz offensichtlich größte Schwierigkeiten, diese Information zu verdauen.

»Soll ich nach der Arbeit zu dir kommen?«, fragte sie leise.

»Aus Berlin?«, fragte ich verdutzt zurück.

»Nein. Ich bin zurzeit zur Recherche in Düsseldorf. Sobald ich hier durch bin, kann ich mich auf den Weg machen und am späten Nachmittag oder frühen Abend bei dir sein. Vielleicht gibt es ja irgendetwas, wobei ich dir helfen kann.«

Ich überlegte kurz. Der heutige Abend schien mir ähnlich weit entfernt wie der nächste Sommerurlaub. So viele Dinge sollten und wollten bis dahin noch erledigt werden. Bisher hatte ich mich nur an kleinen Schritten entlanggehangelt. Bis zum weit entfernten Abend zu planen überstieg mein derzeitiges Vorstellungsvermögen.

Dennoch: Auch wenn meine Welt sich verändert hatte – es würde, nein, es musste weitergehen! Was also konnte es Besseres geben, als den Abend mit Kathrin und Nicole zu verbringen, die mich daran hindern würden, ins Grübeln zu verfallen? Ein Anflug von Vorfreude streifte mich.

»Gern. Kathrin wird auch da sein. Sie übernachtet hier.«

»Das ist gut! Dann bist du nicht allein. Ich muss morgen leider mit der ersten Maschine zurück, ansonsten hätte ich es dir auch angeboten.«

»Komm einfach, wenn du es einrichten kannst. Im Moment muss ich mich erst mal sortieren. Mir fehlt jeder Überblick, was noch zu erledigen ist«, bekannte ich ehrlich.

»Das kann ich mir vorstellen. Bitte, mach alles in Ruhe, kümmere dich in erster Linie um die Kinder und um dich, und lass dir helfen, wo immer es geht. Versprichst du mir das?«

Ich schmunzelte gerührt.

»Versprochen! Aber jetzt muss ich auflegen. Die nächsten Telefonate warten.«

»Bis nachher. Ich beeile mich. Und ich denke an euch.«

Ich strich ihren Namen auf der Liste durch und wählte erneut.

»Paulsen?«

»Guten Morgen, Herr Paulsen. Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber mein Mann ist vorhin gestorben. Und da wollte ich Sie bitten …«

Ein wenig verlegen brach ich ab. Er verstand mich dennoch.

»Ich komme gern. In einer Stunde könnte ich bei Ihnen sein. Passt das?«

»Das passt«, antwortete ich erleichtert. Er hatte nur drei kurze Sätze gesagt, aber schon seine Stimme hatte ausgereicht, um zu wissen, dass es eine gute Entscheidung war, ihn angerufen zu haben. Ich legte den Hörer zur Seite, denn ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, zu Peter zu gehen. Ihn noch einmal für ein oder zwei Minuten für mich allein zu haben.

Auf der Bettkante sitzend, streichelte ich sein Gesicht.

»Herr Paulsen kommt gleich. Du hast gesagt, ich solle danach alles so machen, wie es für mich richtig ist. Ich kann dich nicht mehr fragen, ob es auch dein Wunsch ist. Aber für mich fühlt es sich gut an.«

Peter lächelte unverändert. Ich nahm es als Bestätigung.

»Was soll er denn sonst machen?«, meldete sich meine innere Stimme ketzerisch zu Wort. »Du würdest ja wohl aus allen Wolken fallen, wenn er plötzlich die Stirn runzeln würde.«

Unwillkürlich musste ich auflachen.

»Das stimmt«, antwortete ich belustigt. »Es ist auch mehr mein Bauchgefühl, das mir signalisiert, dass Peter einverstanden ist. Aber dieses Bauchgefühl ist wichtig für mich.«

»Das verstehe ich. Du musst mit dir im Reinen sein. DAS hätte Peter gewollt!«

Und wie ich mit mir im Reinen war! Geradezu leichtfüßig sprang ich auf, verließ das Schlafzimmer und griff erneut zum Hörer. Schließlich gab es neben mir noch drei weitere Personen, um die es sich zu kümmern galt. Auch da brauchte ich Rückendeckung, jemanden, der mir im Zweifel zur Seite stünde, sollte mein Mutterinstinkt mich schlecht beraten oder gar gänzlich versagen.

Ich wählte die Handynummer der Kinderpsychologin. Mit Frau Reinke hatte ich bisher lediglich ein einziges, Mut machendes Gespräch geführt. Vor wenigen Tagen hatte sie sich in ihrem Büro allein mit David unterhalten – und mein kritischer Sohn hatte dieses Gespräch kurz und knapp mit »Die ist in Ordnung! Mit der kann man vernünftig quatschen« quittiert, was aus seinem Mund höchstes Lob bedeutete.

»Ich kann Ihnen anbieten, zu Ihnen zu kommen. Sie werden mich nicht bemerken, aber ich werde da sein und nur dann eingreifen, sofern ich den Eindruck habe, dass Sie oder die Kinder der Situation nicht gewachsen sind.«

Genau darauf hatte ich gehofft. Keine theatralischen Beileidsbekundungen, keine vermeintlich klugen Tipps im Vorfeld. Stattdessen schlichter, schnörkelloser Pragmatismus. Eine Frau, die von ihrem Wesen her zu mir zu passen schien.

»Gerne. Bis nachher«, sagte ich dankbar und strich zufrieden den letzten Namen auf meiner Liste durch.

Kommen und Gehen