Mädchenwohnheim - Marie Louise Fischer - E-Book

Mädchenwohnheim E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Natürlich sind sie alle gut untergebracht in ihrem Münchner Mädchenwohnheim, allein schon deshalb, weil sie wegen häuslicher Schwierigkeiten ihre Elternhäuser verlassen haben. Dennoch haben Gitte, Lola und Angi, die Neue, und die vielen anderen Bewohnerinnen des Heims ihre kleinen Kümmernisse und Probleme: Lolas Eltern verstehen die Ansichten und die Sprache ihrer Tochter nicht mehr, darum verließ Lola das Elternhaus. Angi begreift nicht die Strenge der Heimaufsicht und schon gar nicht die Zurückhaltung des wesentlich älteren Freundes, mit dem sie doch so gern etwas erleben möchte. Gitte, ein liebenswertes Ding und über beide Ohren verliebt, muss die erste große Liebesenttäuschung verwinden, um dann aber doch ihr Glück zu finden. -

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Marie Louise Fischer

Mädchenwohnheim

Roman

Saga Egmont

Mädchenwohnheim

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1975 by Lübbe Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719404

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Der Bus rollte die Leopoldstraße hinunter. Noch war der Frühsommerhimmel über München hell, aber schon flammten in Schwabing die verlockenden Leuchtschriften über den Eingängen der Nachtlokale auf: der Bars, der Diskotheken, der Theater, Drugstores und Tanzetablissements.

In Gitte, die auf der hinteren Plattform des Busses stand und hinausblickte, erweckten sie eine prickelnde, schmerzhafte Sehnsucht. Sie wollte nicht einfach ausgehen, nicht mit irgendjemandem; das hätte sie jeden Abend haben können, aber das hätte ihr keinen Spaß gemacht, ohne den Mann, den sie liebte. Doch der lebte viele hunderte Kilometer weit entfernt. Das Herz zog sich ihr zusammen, wenn sie an sein liebes Gesicht dachte. Peter! - Lautlos formten ihre Lippen seinen Namen, und doch kam es ihr selber vor wie ein Schrei. »Na, was ist?« fragte der junge Mann neben ihr, Andreas Kramer, Lehrling im medizinisch-biologischen Institut wie sie selber. »Kommst du nun mit?«

»Nein!« entgegnete sie. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, bis du es endlich kapierst!«

»Mensch, was bist du bloß für eine Flasche! Wenn man dich so ansieht, kann man sich gar nicht vorstellen, was für eine Flasche du bist!«

Sie nahm es ihm nicht übel, denn sie verstand seinen Ärger. »Mach dir nichts draus, Andy, du findest schon ’ne andere. Ich bin sowieso zu alt für dich.«

»Na hör mal. Ich bin achtzehn!«

»Eben. Ich auch.«

Der Bus hielt.

Gitte drängte zum Ausgang. »Tschau, Andy. Bis morgen.«

Sie sprang ab, überquerte die Fahrbahn und bog in die Ainmillerstraße, ein großes, schlankes Mädchen in einem beigen Ledermantel und hochhackigen, schmalen Stiefeln. Die rote Schirmmütze, die sie sich schief auf den Kopf gesetzt hatte, gab ihr etwas Keckes; sie wirkte sehr hübsch mit der reinen Haut, den grauen, von langen, schwarz getuschten Wimpern umgebenen Augen.

Während sie die Straße hinaufeilte, freute sie sich schon auf einen gemütlichen Abend mit ihrer Zimmerkameradin. In der rechten Hand trug sie eine Plastiktüte mit einer Flasche Diätwein - Diät wegen der schlanken Linie -, den sie sich und ihrer Freundin gönnen wollte.

Schon von weitem sah sie das hell erleuchtete Portal des Mädchenwohnheims, eines modernen Gebäudes, dessen Fassade mit rötlichen Kunststeinen verkleidet war.

Die Eingangstür war offen. Gitte stieß sie auf. Im Aufenthaltsraum sah sie Jungen und Mädchen vor dem Fernseher sitzen. Sie wandte sich nach links, wo hinter einem meist offenen Schiebefenster die jeweilige diensthabende Aufsicht saß. Heute war es Fräulein Zöllner, eine gelernte Jugendfürsorgerin.

Sie war jung, freundlich und allgemein beliebt.

»’n Abend, Gitte«, grüßte sie, »schweren Tag gehabt?«

»Lässt sich ertragen.«

»Dein Essen steht im Ofen.«

»Danke, Fräulein Zöllner. Habe ich Post?«

Fräulein Zöllner ließ den Blick über die Postfächer gleiten. »Leider nein«, sagte sie, »oder doch: ein Paket für dich!«

Gitte wurde zwischen zwei ganz und gar verschiedenen Gefühlen hin und her gerissen: Enttäuschung darüber, dass Peter nicht geschrieben hatte, und Freude über das Paket, das bestimmt von zu Hause kam. Sie ging um die Ecke herum und trat in die Wachstube, in der es einen Schreibtisch und verschiedene Stühle gab.

Das Paket stand in der Ecke seitlich unter dem Schiebefenster. Gitte hob es hoch. Es war schwer.

»Dann esse ich heute Abend lieber nichts«, erklärte sie lächelnd, »meine Mutter hat bestimmt was Gutes eingepackt, und doppelte Rationen kann ich mir nicht leisten.«

»Aber du bist doch so schlank, Gitte!«

»Weil ich aufpasse.« Sie wandte sich zur Tür.

»Moment mal, Gitte!« rief Fräulein Zöllner. »Ich weiß, du hast es jetzt eilig auszupacken, aber setz dich doch einen Moment.«

Gitte krauste die Stirn; sie war schon zwei Jahre im Wohnheim, gleich seit sie von dem heimatlichen Dorf in Norddeutschland nach München gekommen war, und sie wusste aus Erfahrung, dass solche Aussprachen selten etwas Gutes brachten. »Ja …?« sagte sie zögernd. »Ich wüsste nicht, dass ich was angestellt hätte.«

»Du doch nicht. Wie kommst du denn auf so was.« Fräulein Zöllner kramte in einem Stoß Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. »Es handelt sich um etwas ganz anderes … Fräulein Tyssen hat eine Neue auf euer Zimmer gelegt.«

»Was?« Gitte hätte vor Schreck fast das Paket fallen lassen und legte es rasch auf die Schreibtischkante.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

»Du und Lola, ihr wohnt in einem Dreierzimmer, das weißt du doch. Ihr hattet Glück, dass ihr die letzten Monate allein geblieben seid. Aber das konnte doch nicht ewig dauem.«

»Ist denn nirgends anders was frei?«

»Doch. Aber Frau Tyssen meint, dass sie am besten zu euch passt.«

»Wer ist sie denn?«

»Sie heißt Angi, ist fünfzehn Jahre alt und Gymnasiastin.«

Gitte ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Ausgerechnet! Uns bleibt aber auch nichts erspart!«

»Seid nett zu ihr, ja? Helft ihr, sich zurechtzufinden.« Gitte erhob sich langsam. »Wo ist sie denn her?«

»Aus München. Häusliche Schwierigkeiten. Das Übliche.«

Gitte nahm ihr Paket. »Da kann man wohl nichts machen.« Sie zog eine Grimasse. »Immer auf uns Kleine.«

Die Neue stand, nur mit Höschen und Strumpfhose bekleidet, vor ihrem Bett und wühlte in ihrem geöffneten Koffer.

»’n Abend, Angi!« grüßte Gitte so herzlich, wie es ihr möglich war. »Willkommen in …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.

Die Neue fuhr herum, kreuzte die Arme über dem nackten Busen und rief: »Kannst du nicht anklopfen!« Sie war ziemlich mollig, hatte ein rundes Gesicht mit einem kräftigen Kinn, und das rötliche, in der Mitte gescheitelte Haar stand ihr weit vom Kopf und wirkte wie eine Löwenmähne.

»Warum sollte ich?« Gitte trug ihr Paket zu dem Tisch mit den drei Stühlen, der dicht am Fenster stand. »Ich wohne ja hier.«

»Du könntest trotzdem …«

»Hör mal, Angi, wenn ich dir einen guten Rat geben darf: fang nicht gleich an zu stänkern. Hier im Heim herrschen bestimmte Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, und du tätest gut daran, dich anzupassen, anstatt gleich alles auf den Kopf stellen zu wollen. Im Übrigen brauchst du dich nicht zu genieren. Ich weiß sehr gut, wie ein nacktes Mädchen aussieht.« Sie wies auf das Waschbecken, über dem die Becher mit Lolas und ihrer Zahnbürste standen. »Wir waschen uns ja hier im Zimmer.«

»Gibt es denn kein Bad?«

»Es gibt Bäder. Aber nicht genug, dass wir sie alle zugleich jeden Morgen und jeden Abend benutzen könnten. Also wird’s eingeteilt.« Sie reichte Angi die Hand. »Ich heiße Gitte. Und ich hoffe sehr, dass du dich bei uns wohl fühlen wirst.«

Angi erwiderte Gittes Händedruck, hielt aber den linken Arm immer noch krampfhaft über dem Busen. »Besser als zu Hause wird es hier allemal sein.«

»Das kommt darauf an.« Gitte nahm ihre Mütze ab und schlüpfte aus ihrem Mantel, unter dem sie einen grauen Minirock und einen selbst gestrickten, rotweißen Pullover trug.

»Auf was?« fragte Angi und schlüpfte rasch in einen ihrer Büstenhalter.

»Wie es bei dir zu Hause ist.«

»Grausam.«

Lola stürmte herein; sie trug lange Hosen, einen gelben Pullover mit Schal, ein zierliches Mädchen mit bräunlicher Haut, einem dunklen Lockenkopf und schwarzen, glänzenden Augen. Sie arbeitete als Lehrling bei der Münchner Bankgesellschaft. Jetzt fiel ihr erster Blick auf Angi. »Eine Neue?« rief sie. »Das hat gerade noch gefehlt!«

»Sei lieb zu ihr, Lola!« bat Gitte. »Sie ist ein Spatz, der gerade erst aus dem Nest gefallen ist.«

Lola trat zu ihr. »Grüß dich, Gitte! Warum bist du nicht zum Essen gekommen? Ich habe unten auf dich gewartet!«

»Darum!« Gitte wies auf ihr Paket. »Wir können uns einen gemütlichen Abend machen. Wein habe ich auch mitgebracht.«

»Tut mir leid, Alte. Aber ich habe noch was vor.«

Gitte hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Kenne ich ihn?«

»Nicht die Bohne. Eine ganz neue Eroberung. Ein Traumjunge!« Lola stellte das Kofferradio an und tanzte auf dem kleinen Platz zwischen den Betten und Schränken. »Endlich der Richtige.«

»Na dann viel Spaß«, sagte Gitte, »ich gratuliere.«

Lola zog sich in Sekundenschnelle splitternackt aus, räumte Hosen und Pullover in den Schrank, tat Strümpfe und Unterwäsche in den Schmutzbeutel und versuchte dann, Angi wegzuschieben, die gerade vor dem Spiegel stand. Angi dachte nicht daran, ihr den Platz zu räumen. »Ich war zuerst da.«

»Na, wenn schon. Räum’ erst mal auf.«

»Aber ich will mich zurechtmachen!«

»Bitte nach mir, mein Schatz!«

»Ich kann das nicht so schnell, sonst wird es nichts!« protestierte Angi. »Ich muss auch noch die Augenbrauen zupfen, und um neun bin ich verabredet!«

»Nimm den Taschenspiegel!« entgegnete Lola ungerührt; sie langte an Angi vorbei, drehte die Hähne auf und ließ Wasser in das Becken laufen.

Gitte hob den Kuchen, den ihr die Mutter gebacken hatte, aus dem Karton. »Um neun Uhr kannst du nirgendwo mehr hin«, erklärte sie.

Angi fuhr herum.

»Und wieso nicht?«

»Weil du Punkt neun Uhr im Bett liegen musst. Da ist die erste Kontrolle.«

»Nein!« Angi war so fassungslos, dass sie beiseite trat.

»Doch«, feixte Lola und wusch sich mit klatschendem Waschlappen, »wenn du erst fünfzehn bist, ist für dich um Punkt neun Uhr Zapfenstreich!«

»Und du darfst weg?«

»Bis elf! Weil ich siebzehn bin. Und Gitte ist achtzehn und kriegt sogar ’nen eigenen Hausschlüssel. Auch wenn du platzt, Kleine, das sind Tatsachen, mit denen du dich abfinden musst.«

»Aber ich bin verabredet!«

Die beiden anderen Mädchen sagten nichts dazu. Gitte ordnete die frische Wäsche ein, die die Mutter ihr geschickt hatte, und Lola plantschte mit Wasser und Seife. Während sie sich wusch und anzog, summte sie, pfiff und sang die Melodien mit, die Bayern zwei sendete.

Angi kämpfte mit den Tränen.

»Gitte«, bat sie mit erstickter Stimme, »bitte, leih mir deinen Hausschlüssel.«

»Den Zahn«, sagte Lola herzlos, »kannst du dir gleich ziehn. Erstens bekommt sie den Schlüssel nur, wenn sie ihn braucht. Zweitens kämst du auch mit dem Schlüssel gar nicht an der Zöllner vorbei. Und drittens verstößt so was gegen die Hausordnung und kommt überhaupt nicht in Frage!«

»Dich habe ich ja nicht gefragt!« sagte Angi giftig.

»Sei froh, wenn ich dir trotzdem antworte! Nicht mal mir würde Gitte ’nen Hausschlüssel beschaffen, obwohl wir Freundinnen sind, und Recht hat sie, denn wer will schon hier herausfliegen? Ich jedenfalls nicht, und Gitte auch nicht.«

Angi saß, die Hände zwischen den Knien, auf der Bettkante, und die hellen Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Um neun Uhr Schluss … das ist ja mörderisch! Das ist ja noch viel schlimmer als zu Hause!«

»Ja, so kann’s einem gehen!« Lola zog sich eine schwarze, hautenge Jerseyhose an und über den Kopf einen schwarzen, ärmellosen Pulli, in den silberne Fäden und, auf der Schulter, eine silberne Rose eingewebt waren. »Hättest dich eben vorher erkundigen sollen.«

Gitte tat die Neue leid. »Sprich doch mal mit der Zöllner«, schlug sie vor. »Vielleicht gibt sie dir eine Sondererlaubnis.«

»Ausgeschlossen!« erklärte Fräulein Zöllner. »Du bist gerade den ersten Tag bei uns und willst schon Sonderausgang haben? Das ist völlig ausgeschlossen.« »Aber gerade deshalb muss ich doch fort«, beharrte Angi, »weil ich erst heute gekommen bin, und weil mein Freund nicht weiß …«

»Kannst du denn nicht mit ihm telefonieren?«

»Nein.«

Ein großes Mädchen in einem Fuchsfellmantel steckte den Kopf von der Tür her in die Wachstube. »Kann ich einen Schlüssel kriegen, bitte?« Sie trat herein. »Es wird sicher nicht so lange dauern, bloß zur Sicherheit.«

Fräulein Zöllner holte einen Ring aus der Schreibtischschublade, an dem viele gleichartige Schlüssel hingen und löste einen ab. »Wäre auch besser, Marlis, du musst früh aus den Federn.«

»Weiß ich doch, Fräulein Zöllner. Danke schön.« Marlis ließ den Schlüssel in der Tasche ihres Mantels verschwinden und wandte sich zum Gehen.

»Viel Spaß!«

Angi hatte den Vorgang mit Neid beobachtet. »Es ist für mich lebenswichtig, Fräulein Zöllner!«

Die Aufseherin schlug einen Schnellhefter auf. »Tut mir leid, Angi. Deine Eltern bitten ausdrücklich …«

»Meine Eltern!« schnaubte Angi.

»Wenn sie Vertrauen zu dir hätten, könntest du auch schon mit fünfzehn einen Hausschlüssel kriegen. Aber gerade daran hapert’s, scheint mir. Dein Freund passt deinen Eltern nicht, und deshalb …«

»Darüber möchte ich mit Ihnen nicht diskutieren!« Fräulein Zöllner lächelte nur. »Schade.«

Eine Ausländerin kam herein, die in ein anderes Zimmer umziehen wollte, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich mit der Aufseherin verständigt hatte.

Zwischendurch wandte sich Fräulein Zöllner wieder an Angi. »Du vertrödelst nur deine Zeit hier! Sicherlich bist du doch noch nicht mit Einräumen fertig!«

Aber Angi blieb. Sie bat und bettelte weiter, als die Ausländerin endlich gegangen war. Fräulein Zöllner ließ sich nicht erweichen.

Als Angi wieder nach oben kam, war Lola schon fort. Sie hatte sich, während Angi noch im Wachzimmer war, bei Fräulein Zöllner abgemeldet. Gitte saß allein am Tisch. Sie hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt, den Kuchen aufgeschnitten und aß und trank, während das Radio spielte und sie in einem Buch las.

Angi stürzte auf sie zu. »Du musst mir helfen, Gitte, du musst! Du bist meine letzte Rettung!«

»Komm, komm, Angi, mach’s nicht zu dramatisch! Sieh zu, dass du deinen Krempel weggeräumt kriegst, und dann spendier ich dir auch ein Glas.«

»Nein!« Angi schüttelte Gitte bei den Schultern. »Begreifst du denn nicht, in was für einer Situation ich stecke! Mein Freund weiß nicht, wo ich bin! Ich kann ihn nicht anrufen. Wenn ich ihn jetzt nicht benachrichtige, sehe ich ihn nie wieder. Er wartet auf mich vor dem ›Yellow‹.«

»Wenn er dich wirklich liebt …«

»Red doch nicht so blöd daher wie eine Erwachsene! Natürlich liebt er mich. Aber ich kann doch nicht von ihm verlangen, dass er sich lächerlich macht, indem er sämtliche Münchner Wohnheime und Internate abklappert. Wer weiß denn, wie weit die Liebe eines Mannes reicht? Und außerdem ist er kein Miesling, der ausgerechnet auf mich angewiesen ist!«

Gitte hatte nicht die geringste Lust, das Zimmer, das Lola und sie mit Postern, Plakaten, einer selbst gebatikten Tischdecke und bunten Kissen wohnlich gemacht hatten, noch einmal zu verlassen. Aber sie spürte, dass Angis Verzweiflung echt war, und sie wusste aus Erfahrung, wie sehr die Liebe schmerzen kann. »Na schön«, sagte sie mit einem Seufzer, »dann werde ich mich eben opfern. Wie heißt der Knabe? Und wie sieht er aus?«

»Oh, Gitte!« schrie Angi. »Du bist ein Engel! Das werd’ ich dir nie im Leben vergessen!«

Vor dem »Yellow Submarine«, das von außen wie ein riesiger, bunt bemalter Zementblock wirkte, standen einige junge Männer, einzeln oder in Gruppen, zusammen. Dennoch fand Gitte den Mann, den sie suchte, sehr rasch.

Thomas wirkte nicht ganz so blendend, wie Angi ihn beschrieben hatte, war aber immer noch ansehnlich genug, um ein Mädchen in sich verliebt zu machen. Er war schlank, breitschultrig und sehr viel älter als Angi, Anfang oder sogar Mitte zwanzig. Er trug einen hellen Dufflecoat, hatte den Kragen aufgeschlagen und die Hände in die Taschen vergraben. Das dichte, dunkle Haar war lang und wuchs ihm in leicht gelockten Koteletten über die Wangen.

»Herr van Wiek«, sagte Gitte.

Er lächelte interessiert. »Sollten wir uns kennen?«

»Nein. Ich komme von Angi. Sie kann die Verabredung nicht einhalten. Sie ist jetzt im Mädchenwohnheim in der Ainmillerstraße, und dort kann sie nach einundzwanzig Uhr nicht mehr fort.«

Thomas van Wiek zog eine leicht übertriebene und deshalb komische Grimasse des Entsetzens. »Nie?«

»Wenigstens vorläufig nicht.«

»Na, dann richten Sie ihr mein tief empfundenes Beileid aus.«

»Sie können sie besuchen.«

»Wann?«

»Jeden Tag. Wir haben einen Aufenthaltsraum, wo wir unsere Freunde empfangen dürfen.«

»Haben Sie einen Freund?« fragte Thomas van Wiek. Ihr Gesicht verschloss sich. »Das steht hier nicht zur Debatte.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Moment.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. »Warum haben Sie es denn so eilig? Ich wollte Sie gerade bitten, mir Gesellschaft zu leisten.«

Bis zu diesem Augenblick war er ihr sympathisch gewesen, aber dass er so schnell bereit war, Angi zu vergessen und sich mit ihr zu trösten, gefiel ihr ganz und gar nicht. »Nein«, sagte sie kalt, »ich denke nicht daran. Wie könnte ich mich denn mit Ihnen amüsieren, während Angi sich die Augen ausweint?«

»Ach so. Sie sind eine kleine Sentimentale.«

Er grinste.

Sie riss sich von ihm los. »Und Sie ein gemeiner Egoist!«

»He, soll ich Sie nicht wenigstens nach Hause fahren?« rief er ihr nach.

Aber sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern machte, dass sie davonkam.

Lola tanzte in der Amor-Bar. Mit Philip, genannt Fips, ihrem neuen Freund, Verkäufer im Supermarkt, einsneunzig groß, langes, blondes Haar und blaue Augen. Der Diskjockey legte einen Rock ’n’ Roll nach dem anderen auf. Die Stimmung war ganz groß, und Lola fühlte sich toll. Dennoch vergaß sie keine Sekunde, dass sie pünktlich im Heim sein musste.

»Guck doch nicht dauernd auf die Uhr«, schimpfte Fips, »das geht mir auf den Wecker.«

»Du, es ist Viertel vor elf. Ich muss sausen.«

»Quatsch.«

»Kein Quatsch.« Lola drängte sich durch die Tanzenden zur Garderobe; mit Erleichterung stellte sie fest, dass Fips ihr nachkam.

»Ist das denn so schlimm, wenn deine Leute sich aufregen?« Er half Lola in den Mantel.

»Ich lebe nicht bei meinen Leuten, sondern in einem Mädchenwohnheim, und wenn ich bis elf Uhr nicht da bin, stehe ich auf der Straße. Nicht nur diese Nacht, sondern sie feuern mich. Für immer.«

»Dann suchst du dir eben eine sturmfreie Bude.«

Sie holte tief Atem. »Fips, es ist besser, ich sag es dir gleich. Ich bin erst siebzehn, und ich stehe unter Fürsorge. Weil ich mal von zu Hause ausgerissen bin. Die haben mich da eingewiesen, weil ich nicht mehr zurückwollte. Aber wenn ich jetzt noch was anstelle, stecken sie mich womöglich in ein Erziehungsheim.«

»Ach, du große Scheiße!«

Sie versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Wenn du unter diesen Umständen lieber nichts mit mir zu tun haben möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen.«

Philip, genannt Fips, legte den Arm um Lolas Schulter. »Du spinnst wohl«, sagte er herzlich, »davon habe ich kein Wort gesagt.«

Lola riss sich los. »Aber du hast mich komisch angeguckt … gib’s doch zu!« Sie stieß die Tür zur Straße auf.

Fips folgte ihr ins Freie.

»Mensch, nimm doch Vernunft an«, redete er auf sie ein, »kann schon sein, dass ich ein bisschen schief aus der Wäsche geguckt habe …«

»Also doch!«

»Aber nicht wegen der Fürsorge. Warum bist du denn eigentlich von zu Hause weg?«

»Weil ich mich mit meinem Alten nicht verstanden habe, was denn sonst!« rief sie aufgebracht.

»Hätte ja auch ’nen anderen Grund haben können«, erklärte er nüchtern.

»Nun tu bloß nicht so, als würdest du dich unbändig für mein Schicksal interessieren!«

»Unbändig!« Fips lachte schallend.

»Das ist genau der richtige Ausdruck. Ich interessiere mich unbändig für dich, Kleine! Hast du das endlich kapiert?«

Sie blieb stehen und funkelte ihn aus ihren schwarzen Augen an. »Ich glaub’ dir kein Wort!«

Er nahm sie bei den Schultern, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie fest und lange auf den Mund, bis ihre Lippen weich wurden und sich ihm öffneten.

»Na, und was sagst du jetzt?« fragte er, als er sie endlich freigab.

»Das war ein richtiger Dauerbrenner!«

»’ne Liebeserklärung war das! Oder glaubst du, ich küsse jedes Mädchen so?«

»Man kann nie wissen«, behauptete sie, aber das Strahlen ihrer Augen strafte ihre Worte Lügen.

Ganz leise drückte Lola fünfzehn Minuten später die Klinke nieder und öffnete langsam, um ein Quietschen zu verhindern, die Tür zu ihrem Zimmer. Aber sie hätte nicht so rücksichtsvoll zu sein brauchen; die beiden anderen Mädchen waren noch wach. Gitte lag im Bett und las im Schein der Nachttischlampe. »Du, das war aber knapp«, sagte sie mit einem Blick auf das Zifferblatt ihres Weckers. »Ich wusste ja, dass die Zöllner Pforte hatte. Die gibt schon ein paar Minuten zu, wenn sie weiß, dass noch eine draußen ist.«

»So felsenfest würde ich mich darauf aber nicht verlassen.« Gitte klappte ihr Buch zu und verschränkte die Hände hinter dem Kopf »Auch wenn du dich heute wie ein Glückspilz fühlst.«

Lola, die schon aus ihrer langen, schwarzen Hose stieg, hielt mitten in der Bewegung inne. »Woher weißt du?«

»Man sieht’s dir an«, erwiderte Gitte mit einem Lächeln.

»Du, dieser Fips ist wirklich ganz große Klasse.« Lola zog sich weiter aus. »Der würde sogar dir gefallen. Ehrlich, ich bin schwer verliebt … was heißt verliebt, es ist die ganz große Liebe, du brauchst gar nicht zu grinsen.« Lola lief splitternackt hin und her und räumte ihre Sachen fort. »Er hat nur einen einzigen Fehler: er wohnt im Sankt-Josef-Heim.«

»Na und?«

»Das fragst du noch?« Lola begann am Waschbecken ihr Gesicht mit Watte und Lotion zu bearbeiten. »Die dürfen da doch kein Mädchen mit raufnehmen, wie wir hier keine Jungen!«

»So weit seid ihr also schon?« fragte Gitte.

Gleichzeitig ließ sich Angi, die Neue, aus dem dritten Bett vernehmen: »Warum eigentlich nicht?«

Lola wandte sich zunächst an die Freundin: »Natürlich nicht. Wofür hältst du mich? Aber früher oder später wird es so weit sein, das liegt doch in der Natur der Dinge, und schließlich macht man sich Gedanken.«

Sie schlüpfte in ihr geblümtes Nachthemd und war mit einem Satz im Bett.

»Und was deine Frage betrifft, meine liebe Angi, so ist sie nicht einmal so blöd, wie sie klingt.

Höre und staune: Es hat Zeiten hier in unserem trauten Heim gegeben, wo die Jungens mit auf die Zimmer rauf durften.«

Angi richtete sich auf den Ellbogen auf. »Tatsache?«

»Mein Wort drauf. Allerdings bloß bis zehn Uhr. Aber das war ja auch noch besser, als in die hohle Hand gespuckt.«

Gitte knipste ihre Nachttischlampe aus. »Das war ganz zu Anfang. Frau Tyssen hat’s verboten, nachdem ein paarmal welche in den Betten erwischt worden sind.«