Martin Niemöller - Michael Heymel - E-Book

Martin Niemöller E-Book

Michael Heymel

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Beschreibung

Als führende Gestalt im Kirchenkampf gegen Hitler, als profilierter Vertreter des bundesdeutschen Protestantismus und als streitbarer, gegen die deutsche Wiederbewaffnung aufbegehrender religiöser Pazifist gehört Martin Niemöller (1892-1984) heute zu den bekanntesten Kirchenmännern des 20. Jahrhunderts. Dass er zum Mann des Widerstands, zum Friedenskämpfer und kirchlichen Nonkonformisten wurde, war freilich alles andere als selbstverständlich. Der kaiserliche Marineoffizier und U-Boot-Kommandant, der Pfarrer in der Weimarer Republik teilte die deutschnationalen Auffassungen und antidemokratischen Ressentiments vieler seiner Zeitgenossen - bis die nationalsozialistische Diktatur und ihr Kampf gegen das Christentum Niemöller dazu brachten, sich aus den überkommenen Denkmustern des obrigkeitstreuen Nationalprotestantismus zu lösen. Der ausgwiesene Niemöller-Kenner Michael Heymel erzählt diese auch politisch hochinteressante, spannende Geschichte einer erstaunlichen Emanzipation aus souveräner Quellenkenntnis neu.

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Seitenzahl: 535

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Michael Heymel

Martin Niemöller

Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG

© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitgliederder WBG ermöglicht.Lektorat: Dr. Hildegard Mannheims, BonnSatz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. DonauEinbandabbildung: © akg-images Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-650-40196-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-650-40198-4eBook (epub): 978-3-650-40199-1

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Inhaltsverzeichnis

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Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Einführung

   I. Vom Marineoffizier zum Pfarrer in Berlin-Dahlem

1. Kindheit und Jugend in Lippstadt und Elberfeld (1892–1910)

2. Seekadett und U-Boot-Kommandant (1910–1919)

3. Auswanderungspläne und Heirat mit Else Bremer (1919)

4. Theologiestudium und Weg ins Pfarramt (1920–1924)

5. Geschäftsführer und Pfarrer der Inneren Mission in Münster (1924–1931)

6. Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem (1931–1937)

7. Der Dahlemer Prediger

Christus expulsus

Predigtarbeit

8. Pastor einer Bekennenden Gemeinde

  II. Der Weg in die kirchliche Opposition

1. Ein Pfarrer erkennt seine Verantwortung

2. Trügerische Hoffnungen

3. Gegen die ‚Gleichschaltung‘ von Staat und Kirche

4. Die Bekennende Kirche formiert sich: die Gründung des Pfarrernotbundes

5. Die Bekenntnissynode von Barmen (1934)

6. Ein deutscher Patriot wirbt für das Christentum

 III. Persönlicher Gefangener Adolf Hitlers

1. Der Empfang der ‚Kirchenführer‘

2. Die letzten Tage als freier Mann

3. Verhaftung und Untersuchungshaft in Moabit (1937–1938)

4. Prozess vor dem Berliner Sondergericht und überraschender Freispruch (1938)

5. Im KZ Sachsenhausen (1938–1941)

6. Die Verbreitung der letzten 28 Dahlemer Predigten im In- und Ausland (seit 1938)

7. „Ein Held von beinahe mythischer Statur“ – Niemöller als Objekt der Phantasie

8. Im KZ Dachau (1941–1945)

Die Geburtsstunde des ökumenischen Niemöller in Dachau

9. Befreiung im letzten Augenblick (1945)

 IV. Prophetischer Prediger des Evangeliums

1. Kein Neuanfang in Dahlem (1945–1948)

2. Streit um die Neuordnung der Kirche: die Konferenz von Treysa (1945)

Eine Reportage aus Treysa

3. „Die deutsch-nationalen Töne wollen wir von jetzt an nicht mehr hören“ (1945) – Als Bußprediger in Deutschland unterwegs (1945–1947)

Buße beginnt in der Kirche

Glaube als Umkehr zum Leben

Buße: der einzige Weg ins Freie

4. Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945) und Darmstädter Wort (1947)

5. Stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD (1945–1949) und Präsident des Kirchlichen Außenamtes (1945–1956)

Verantwortung für die Flüchtlinge

Kritik an der Entnazifizierung

Auseinandersetzungen um das Kirchliche Außenamt

Niemöllers Verhältnis zu Bischof Dibelius

  V. Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN)

1. Die Berufung zum Kirchenpräsidenten (1947)

2. Erster im Leitungskollegium, aber kein Bischof (1947–1964)

Die Kirchenordnung der EKHN aus Niemöllers Sicht

Frauen im Pfarramt

Das Interview mit Günter Gaus

3. Vorzeitiger Rücktritt vom Amt des Kirchenpräsidenten (1964) und Auszug aus der Kirchensynode

4. Die EKHN – eine „Niemöller-Kirche“?

5. Verlegenheit mit dem Erbe von Barmen 1934

6. Konflikte mit ‚Bekenntnistreuen‘ und moderner Theologie

7. „Antisemitismus ist Antichristentum“ (1957) – Unterwegs zu einem neuen Verhältnis zum Judentum

Niemöller und der Staat Israel

Über Niemöller hinaus: der Grundartikel der EKHN

 VI. Niemöllers Weg zum radikalen Pazifisten

1. Reisender in Sachen Ökumene und Weltfrieden (1946–1965)

2. Niemöllers Bemühen um die deutsche Einheit und sein Kampf gegen die Militarisierung Westdeutschlands (1946–1959)

Das Higgins-Interview

Die Reise nach Moskau

Streit um die Wiederbewaffnung

3. Das Wiesbadener Gespräch und das Nein zum Atomkrieg (1954)

Freundschaft mit Albert Schweitzer

4. Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft (1957ff.)

5. Die Kasseler Rede (1959)

6. Kämpfer für Frieden und Versöhnung (1949–1983)

Streit um die Militärseelsorge

Beistand für Kriegsdienstverweigerer

Aufregung um DKP-Pfarrer

Niemöller, die Parteien und die Demokratie

Solidarität mit Vietnam

„Der Glaubende kämpft um Menschen“

Kritik am bürgerlichen ‚Christentum‘

7. Unruhiger Ruhestand – die letzten Jahre (1965–1984)

Erfahrungen mit Musik

Bruderschaft aller Menschen

Das bekannteste Niemöller-Zitat

Die letzten Jahre

VII. Schluss: Ein deutscher Protestant von Weltrang

 

Anmerkungen

Bibliographie

Danksagung

Bildnachweise

Personenregister

Einführung

Der Name Martin Niemöllers ist heute – neben dem von Dietrich Bonhoeffer – im angelsächsischen Sprachraum mehr als im deutschen präsent: Jedes Schulkind in den USA weiß, dass Niemöller ein mutiger Mann des Widerstands gegen die Nazis war, und lernt seinen Ausspruch: „First they came for the Socialists, and I did not speak out …“ (die deutsche Originalversion des häufig abgewandelten Zitats lautet: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte“).

Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D. C. erinnert an ihn als „einen hervorragenden protestantischen Pfarrer, der als ausgesprochener öffentlicher Gegner Adolf Hitlers hervortrat und trotz seines glühenden Nationalismus die letzten sieben Jahre der NS-Regierung in Konzentrationslagern verbrachte“.1 Auch wenn diese US-amerikanische Sicht die historische Wirklichkeit verzerrt und Niemöllers Kampf gegen die Kirchenpolitik des NS-Staates überhöht: Niemöller gilt weltweit als einer der bekanntesten Deutschen des 20. Jahrhunderts, ein Vertreter des „guten“ Deutschland.

Von seiner Herkunft und Prägung durch ein Pfarrhaus deutsch-nationaler Lutheraner, wurde er zu einer führenden Gestalt des Kirchenkampfes, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Ökumene. Schon früh nahm er im Münsteraner Stadtparlament politische Verantwortung wahr. Bis ins hohe Alter mischte er sich immer wieder in die Politik ein, wenn er vitale Interessen der Kirche und der Menschen verletzt sah. In seinem Lebensweg spiegeln sich die großen Themen des Jahrhunderts: zwei Weltkriege, der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs, Aufstieg und Fall des totalitären NS-Staates, der Holocaust, die Teilung Deutschlands in zwei deutsche Staaten, die Stellung der Kirchen zum Weltgeschehen, die fortschreitende Globalisierung und die Verantwortung für das Leben in der einen Welt, für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Dieses Buch zeichnet aus theologischer und zeitgeschichtlicher Perspektive Niemöllers Leben mit seinen Spannungen, Auseinandersetzungen, Umbrüchen und Krisen nach. Es stellt seinen Weg vom kaiserlichen U-Boot-Kommandanten zum streitbaren Protestanten und Friedenskämpfer dar. Das Bild von Niemöller im westlichen und östlichen Ausland soll dem Bild gegenübergestellt werden, das die deutsche Öffentlichkeit von ihm hatte und teilweise immer noch hat. In den Jahren seit 1945 konfrontierte Niemöller die Deutschen mit ihrer Schuld; das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945, das er mit unterzeichnete, war wesentlich von ihm bestimmt. Im Ausland trat er dagegen als Fürsprecher seines Volkes auf. Mit seinem Mut und seiner Zivilcourage, die sich aus Charakterfestigkeit und Glaube speisen, mit seinem wachen Verantwortungsbewusstsein und seiner bis ins hohe Alter unverminderten Lernbereitschaft kann Niemöller heute für viele Menschen ein Vorbild sein.

Von welchem Standort aus lässt sich das Leben dieses Mannes erzählen? Die Biographien von Dietmar Schmidt und James Bentley wurden zu Lebzeiten Niemöllers geschrieben. Es fehlt die historische Distanz. Das Buch des evangelischen Journalisten Schmidt, der sich zeitweise in die NS-Ideologie verstrickt und nach Kriegsende zum Radikaldemokraten gewandelt hatte,2 erschien zuerst 1959 (auch in engl. Übersetzung), dann wesentlich erweitert 1983. Es will vor allem die Entwicklung der Persönlichkeit Niemöllers schildern. Der britische Historiker und frühere anglikanische Pfarrer Bentley konnte wie Schmidt noch auf Interviews mit Niemöller zurückgreifen. Seine Biographie kam 1984 im englischen Original, 1985 auf Deutsch heraus. Beide Autoren gehen auf wichtige Aspekte des Kirchenkampfes ein, beide schildern in Ausschnitten die Nachkriegsjahre. Eine ausführliche Darstellung von Niemöllers Wirken im Kirchenkampf hat 1971 der Kirchenhistoriker Jürgen Schmidt vorgelegt. Die jüngste Biographie des westfälischen Pfarrers Matthias Schreiber, zuerst 1997 erschienen, nimmt distanzierter und kritischer als ihre Vorgänger das politische und gesellschaftliche Wirken Niemöllers in den Blick. Das entspricht dem Interesse an den politischen Stellungnahmen, die vor allem in Niemöllers letzten 30 Lebensjahren die Öffentlichkeit beschäftigten und sein öffentliches Bild zumal in Deutschland bestimmten.

Schon der im Jahr 1992 zum 100. Geburtstag Niemöllers im Auftrag der EKHN herausgegebene Begleitband „Protestant. Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller“ zur gleichnamigen Ausstellung richtete die Aufmerksamkeit auf Brüche und Widersprüche in Niemöllers Weg und verstand seine Biographie als Spiegelung der Geschichte des deutschen Protestantismus. Dieser historisch-kritische Ansatz verbietet jede Form hagiographischer Biographik. Niemöller eignet sich dafür nicht, wie er auch selbst jeder ‚Heldenverehrung‘ seiner Person entgegentrat.

Wer Niemöller annähernd gerecht werden will, muss ihn als Kind seiner Zeit sehen und ihn im zeitgeschichtlichen Kontext darstellen. Der Horizont seines Wirkens wie auch seiner Wirkungsgeschichte ist die Ökumene. Deshalb ist es unabdingbar, der deutschen Perspektive die Außenperspektive gegenüberzustellen und die öffentliche Wahrnehmung des Kirchenmannes und Friedensaktivisten mit der kirchlichen Sicht und Niemöllers Selbstzeugnissen zu kontrastieren. Neben der vorliegenden Primär- und Sekundärliteratur ist auch Material aus Niemöllers Nachlass heranzuziehen, der im Zentralarchiv der EKHN in Darmstadt aufbewahrt wird. Ein Nachteil aller bisherigen Biographien liegt darin, dass sie seine dokumentierten Predigten, Reden und Vorträge nur unzureichend berücksichtigen und seine weitverzweigten Korrespondenzen kaum auswerten. Dies soll hier zumindest in Ausschnitten nachgeholt werden.

Beim Schreiben einer Biographie will ich mich davor hüten, nur eine „Gescheitheit aus den Akten“ (Th. Heuss) zu erwerben. Gegengewichte können Gespräche mit Zeitzeugen und persönliche Eindrücke aus Begegnungen, Film- und Tondokumenten sein. Man kann Niemöller in Interviews hören und sehen, auch in dem Dokumentarfilm „Rebell wider Willen“, den Hannes Karnick und Wolfgang Richter 1985 produziert haben – einige Jahre früher wäre ein solcher Film als historisches Dokument freilich noch wertvoller gewesen, weil er dann noch mehr von Niemöllers Spontaneität und kämpferischer Energie vermittelt hätte.

Ich schreibe als Privatdozent für Praktische Theologe und als Pfarrer der EKHN über Martin Niemöller. Er hat diese Landeskirche bis 1964 als ihr erster Kirchenpräsident geprägt. 1992 und 2009 wurde kirchenoffiziell an ihn erinnert, wie es auch 2017 wieder geschehen wird. Doch sein Erbe, vor allem seine Orientierung an der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, bereitet der liberalen EKHN zuweilen Verlegenheit. Wozu verpflichtet Niemöllers Erbe? Darüber wäre nachzudenken und auch zu streiten. Seit 2008 hatte ich Gelegenheit, im Zentralarchiv der EKHN am Niemöller-Nachlass zu arbeiten, der etwa 100 laufende Meter umfasst. Ein Produkt dieser Arbeit war die kritische Edition aller Predigten aus Martin Niemöllers Dahlemer Zeit (2011). Ohne diesen Hintergrund wäre es mir kaum möglich gewesen, über sein Leben zu schreiben.

Abb. 1: Eine von Niemöller benutzte Pfeife und zwei Predigtmanuskripte. Links: Maschinenschrift der Predigt vom 21.9.1958 zu Mt 5,7 zum 100-jährigen Bestehen des Elisabethenstifts in Darmstadt. Rechts: Handschrift der Predigt vom Sonntag Estomihi, 12.2.1961, zu Lk 18,31-43 in der Annenkirche Berlin-Dahlem.

I. Vom Marineoffizier zum Pfarrer in Berlin-Dahlem

1. Kindheit und Jugend in Lippstadt und Wuppertal-Elberfeld (1892–1910)

Am 14. Januar 1892, einem Donnerstag, wurde Martin Niemöller in Lippstadt/Westfalen geboren. Ein evangelischer Preuße! Geburtsort und Elternhaus machten ihn dazu. Landesherr war Wilhelm II. von Hohenzollern, König von Preußen und deutscher Kaiser, zugleich auch oberster Bischof (summus episcopus) der evangelischen Kirchen der altpreußischen Union, deren Geist Niemöllers Elternhaus erfüllte. Dass der Junge den Vornamen Martin erhielt, war ein Bekenntnis zu Martin Luther und zur Reformation. Lippstadt war die erste Stadt in Westfalen gewesen, die sich der Reformation angeschlossen hatte. Im alten Pfarrhaus in der Brüderstraße 13 verbrachte er die ersten acht Lebensjahre.

Der Vater Heinrich Niemöller (1859–1941) war lutherischer Pfarrer in Lippstadt, seit 1900 in der Arbeitergemeinde Elberfeld. Er war Sohn eines Dorfschullehrers und Organisten. Bauern und Müller gehören zu seinen Vorfahren. Seine politische Haltung war, wie die der meisten evangelischen Pfarrer, kaisertreu und deutschnational. Martins Mutter Paula, geb. Müller (1868–1956), eine Kaufmannstochter, stammte mütterlicherseits aus hugenottischer Familie. Der älteste Sohn Heinrich starb 1894 im Alter von 4 Jahren. Martin (geb. 1892) bekam noch vier Geschwister: Magdalene (geb. 1894), Pauline (geb. 1896), Wilhelm (geb. 1898) und Maria (geb. 1901). Der jüngere Bruder Wilhelm (1898–1983) wurde Pfarrer in Bielefeld und Kirchenhistoriker, der sich vor allem der Erforschung und Darstellung des Kirchenkampfes während der NS-Zeit widmete.

Beide Eltern waren reformiert getauft. Der Vater wurde aber durch seine Schulzeit in Schulpforta sowie durch Amtsverständnis und pastorale Lebensführung zum „Lutheraner“. Sein ökumenisches Interesse und seine diakonische Arbeit bewahrten ihn freilich vor konfessionalistischer Enge.3

Abb. 2: Marienkirche und Geburtshaus in Lippstadt/Westfalen.

Es war ein typisches evangelisches Pfarrhaus, in dem Martin aufwuchs. Die Pfarrersfamilie galt als Vorbild für das Gemeindeleben; mit Hausandachten und Gebeten lebte sie der Gemeinde evangelisches Christsein vor. Martin Luther und seine Frau Katharina von Bora hatten für dieses Lebensmodell Maßstäbe gesetzt, auch für den Kinderreichtum der Pfarrfamilie. Heinrich Niemöller orientierte sich am Vorbild des Hausvaters Luther, „unser lieber ‚Vater Luther‘“, wie er ihn in patriarchaler Herzlichkeit nannte.4 Im 19. Jahrhundert wurde das Pfarrhaus als Inbegriff bürgerlicher Erziehung gerühmt. Musik, Literatur und Philosophie wurden gepflegt. Viele prominente Schriftsteller, Philosophen und Gelehrte kamen aus dem protestantischen Pfarrhaus. Hier wurden soziale Tugenden eines bürgerlich disziplinierten, „ordentlichen“ Lebens eingeübt.

Martin wird ein wilder, eigenwilliger Junge. Vom Vater mögen seine westfälische Zähigkeit und Ausdauer, sein Pflichtbewusstsein und seine Arbeitskraft und sein klarer Blick für die Realitäten des Lebens ererbt sein, von der Mutter hat er das lebhafte Temperament, das starke Reaktionsvermögen, die Fähigkeit, das Wesentliche zu sehen, und die Unbestechlichkeit des Urteils.5 Was ihn besonders charakterisiert: „er will alles genau wissen“.6 Seine Spielsachen nimmt er auseinander, um herauszufinden, wie sie zusammengesetzt sind. Der Junge weiß schon früh, was er will, und erweist sich als begabter Schüler, der zielstrebig seinen Weg geht. Wie es scheint, trägt Martin bereits im Umgang mit den Geschwistern und Schulkameraden Züge einer Führungspersönlichkeit. Später wird er die Schülerkapelle des Gymnasiums leiten, bei der er sich allerdings, anders als bei den Geschwistern, erst Respekt erwerben muss.

Mit seinen Geschwistern wächst er relativ frei auf. Was ihm im Pfarrhaus zuteilwird, ist keine enge, falsch verstandene christliche Erziehung. „Meine ganze Moral habe ich aus einem Gespräch als 18-Jähriger mit meinem Vater: ‚Junge, Du darfst alles tun, wofür Du hinterher Gott danken kannst.‘“7 Das erste Buch, an das er sich später erinnern kann, ist eine Bilderbibel. 1898, zum ersten Schulgang, bekommt er von seiner Patentante sein erstes Buch geschenkt: das evangelische Gesangbuch von Westfalen.8

Abb. 3: Die Eltern: Heinrich und Paula Niemöller, geb. Müller, ca. 1937.

Im Elternhaus wird auf ein geordnetes gemeinsames Leben Wert gelegt. Der Vater war überzeugt, es sei „jedes christlichen Hausvaters selbstverständliche Pflicht, ‚Hauspriester‘ zu sein“ und „dem Worte Gottes, dem evangelischen Lied im Hause weiten Raum zu schaffen“.9 Dass er sich danach verhielt, bekräftigt Wilhelm Niemöller in seinem Buch über den „Vater Niemöller“:

„Der Hausvater sorgte für Ordnung und Pünktlichkeit. Es war ihm nicht gleichgültig, was aus den Schularbeiten seiner Kinder wurde. Aber er verlangte zum mindesten saubere Schrift und gute Ordnung, wie er auch von Zeit zu Zeit in den Stuben der Kinder erschien wie ein ‚Unteroffizier vom Dienst‘. (…) Die Morgen- und Abendandacht wurde – oft unter erheblichen Schwierigkeiten – regelmäßig gehalten. Da wurde viel gesungen und aus dem ‚Pilgerstab‘ von Spengler die Andacht gelesen. Der Sonntag fand die Familie im Gotteshaus beisammen. Da der Vater in Elberfeld in verschiedenen Kirchen der großen Gemeinde herumpredigen mußte, kam oft ein ansehnlicher Kirchweg zustande. Die ganze Familie zog dann mit dem Gesangbuch unter dem Arm hinter dem Prediger her.“10

Der Sohn beschreibt die unterschiedlichen Charaktere der Eltern: „Er war die harmonische Ruhe, sie war voller Temperament; er blickte in die Weite, sie sorgte, daß das Nächstliegende recht getan wurde; vielleicht kann man sagen: Er war das Herz und sie die Seele des Hauses.“11 Im Porträt der Mutter Paula hat er die Rolle der Pfarrfrau geradezu klassisch beschrieben. „Der Geist im Pfarrhaus“, so der Landpfarrer Carl Büchsel in seinen Erinnerungen, „hängt davon ab, wes Geistes Kind die Frau Pastorin ist.“12 Wie um dies zu bestätigen, berichtet Wilhelm Niemöller: „Sie hielt ihm den Rücken frei für seine große Arbeitsleistung und seine ausgedehnte Reisetätigkeit. Sie sorgte dafür, daß alle Sorgen des täglichen Lebens von ihm ferngehalten wurden. Sie trug die Hauptlast der Kindererziehung. Sie schrieb seine Manuskripte für die Drucklegung bis in die Nächte hinein. Sie schlug sich mit Kindern und Haushalt durch, wenn er auf lange Reisen ging.“13

Abb. 4: Martin Niemöller (Mitte) mit zwei Geschwistern: Wilhelm und Magdalene. Ausschnitt aus Familienfoto, ca. 1898.

Martin Niemöller schreibt, wie er selbst als Kind den Rhythmus im Pfarrhaus erlebte und was ihm dort mitgegeben wurde:

„Wir sind im Pfarrhaus aufgewachsen; und in Elberfeld wie in Lippstadt stand das Haus im Schutz einer Kirche: Die Kirchenglocken haben jeden unserer Tage eingeläutet und beschlossen, und wir haben die Kirche liebgewonnen als unsere zweite Heimat. Jeder Tag begann mit Gottes Wort, und am Abend war es das letzte, was wir hörten; es war ein starkes und frohes Wort, das uns geleitete, und es war ein starkes und fröhliches Leben, das uns umgab und trug; […] man kann über die Möglichkeiten einer christlichen Erziehung denken, wie man will; aber daß der Geist eines frommen Elternhauses mit zu den entscheidenden Gestaltungskräften eines Menschenlebens gehören kann, duldet für mich nach meinen eigenen Lebenserfahrungen keinen Zweifel; ja, es wird immer deutlicher, wie stark die ersten Eindrücke aus den Kinderjahren im elterlichen Pfarrhaus nicht allein als Erinnerung in mir lebendig geblieben sind, sondern in Jahrzehnten weitergewachsen sind und sich heute noch auswirken.“14

Deutlich wird hier die Atmosphäre des Pfarrhauses erkennbar, in der das biblische Wort das gemeinsame Leben bestimmt – so bildet sich protestantische Mentalität. Der Vater ist und bleibt für Martin eine prägende Gestalt. Heinrich Niemöller hat es lieber mit Menschen als mit Büchern zu tun, was ihn freilich nicht hindert, Bücher zu schreiben. Er konzentriert sich auf Predigt und Seelsorge, macht viele Besuche. Jede seiner Predigten schreibt er mit der Hand, eine Angewohnheit, die der Sohn von ihm übernimmt.15 Wie sein Vater hat Martin Niemöller „zeitlebens vor allem aus dem direkten Umgang mit Menschen gelernt“.16 Der Vater mit seinem ausgeglichenen, harmonischen Wesen ist es auch, der der Vorstellung des Sohnes von Jesus als dem jederzeit ansprechbaren Lehrer, Freund und Beschützer einen stabilen emotionalen Hintergrund gibt.

Der knapp Neunjährige begleitete in Elberfeld seinen Vater bei Hausbesuchen. Einmal saß er in der Stube eines frommen Webers, während der Vater mit dem Sterbenden betete. Ein Wandspruch im Rahmen, mit Glasperlen auf schwarzen Samt gestickt, fiel ihm an der weiß gekalkten Wand ins Auge: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Der Satz wurde zum vielzitierten Leitmotiv seiner Frömmigkeit. In seinen letzten Lebensjahren resümierte Niemöller: „Ich bin in punkto christlicher Ethik heute nicht schlauer als damals …“17

Der deutsche Protestantismus jener Zeit zeigte sich vaterländisch und kaisertreu. Die Atmosphäre im Pfarrhaus ist weltoffen, aber „Kaisertreue und ‚vaterländische Gesinnung‘ werden als notwendige Attribute christlicher Existenz empfunden“.18 Für Heinrich Niemöller hat die Verbindung von Thron und Altar nichts Fragwürdiges. Als Wilhelm II. 1892 unter Glockengeläut in die Wittenberger Schlosskirche einzog, stand der Pastor aus Lippstadt in Talar, Beffchen und Barett am Straßenrand. Im Hochgefühl deutsch-protestantischer Begeisterung wirft er sein Barett hoch in die Luft, als Fanfaren das Nahen des Kaiserpaars ankündigen.

Im Herbst 1898 darf er bei einer Fahrt nach Palästina dabei sein, als Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem eine deutsche Kirche einweiht. Bei der Überfahrt bewegt er sich im Kreis höherer Geistlicher, die das Kaiserpaar umgeben. Der Kaiser hat das Deutsche Reich zu einem Weltreich erklärt. Beim Festakt in Jerusalem hat der Kaiser als oberster Bischof der preußischen Kirchen einen imposanten Auftritt. Er fühlt sich als Schutzherr der christlichen Völker Europas. Vor dem Altar der Erlöserkirche ruft er die Versammlung auf, der „reinen Lehre des Evangeliums und unserer teuren evangelischen Kirche“ die Treue zu halten.19

So konservativ sein Verhältnis zu Kaiser und Vaterland ist, so aufgeschlossen steht Heinrich Niemöller einem Mann wie Johann Hinrich Wichern und Pastoren wie Stoecker und Naumann gegenüber, die sich für soziale Reformen einsetzten.20 Ein Pfarrer hatte sich zwar nach seiner Ansicht vor allem um Predigt und Seelsorge zu kümmern. Aber das schloss nicht aus, nach neuen Wegen zu suchen, wie man die ‚soziale Frage‘ lösen konnte. Er war beeindruckt von Adolf Stoecker, der zeitweise Hofprediger Kaiser Wilhelms II. war und sich politisch für einen christlichen Sozialismus engagierte. Der Hofprediger kam einmal sogar nach Lippstadt, um die Pfarrei zu besuchen. Stoecker fiel 1896 wegen seines politischen Amtsverständnisses beim Kaiser in Ungnade. Für Wilhelm II. waren politische Pastoren „ein Unding“. Ein Christ, so dekretierte Seine Majestät, sei „auch sozial, christlichsozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.“21

Das Interesse an der ‚sozialen Frage‘ dürfte Heinrich Niemöller nach 16 Jahren Pfarramt in Lippstadt zum Stellenwechsel veranlasst haben. Mit den Eltern zog Martin 1900 nach Wuppertal-Elberfeld, wo der Vater Pfarrer in einer Arbeitergemeinde wurde.

Am Gymnasium interessiert sich Martin für Mathematik und Physik. Dankbar erinnert er sich später an seine Lehrer. Nur der Religionsunterricht sei schlecht gewesen, weil er am Leben vorbeiging.22 Im Frühjahr 1910 legte er als Jahrgangsbester das Abitur ab.

2. Seekadett und U-Boot-Kommandant (1910–1919)

Die Marine war das Lieblingskind des Kaisers. Im kaisertreuen Elternhaus lag es daher nahe, dass Martin früh den Entschluss fasste, zur Marine zu gehen. Das Deutsche Reich wollte als Kolonialmacht Weltgeltung erlangen. Großadmiral Alfred von Tirpitz trieb den Flottenbau voran. Und seine Propaganda scheint auch den Schüler Martin Niemöller mitgerissen zu haben.23 Schon mit fünf Jahren wollte er Marineoffizier werden. Wie andere Jungen trug er sonntags den „Matrosenanzug“. In seinem Dachzimmer hing unter einer Menge von Bildern auch ein Werbeplakat der Marine, auf dem sämtliche Schiffstypen der deutschen Flotte verzeichnet waren. Martin kennt sie auswendig. Er malt immerzu Schiffe, seine Schwestern müssen ihm Flaggen nähen. Mit Nachhilfestunden verdient er sich das Geld für eine ansehnliche Marine-Bibliothek. Der Sechzehnjährige reist 1908 nach London, erkundet die Stadt mit dem Pferdebus und sucht die Themse mit ihren Docks und den Schiffen auf.

Zielstrebig erfüllte er sich seinen Traum. Er wurde Seekadett, 1912 Leutnant zur See. 1915 meldete er sich freiwillig zur U-Boot-Flottille, im Juni 1918 bekam er sein erstes Kommando auf einem U-Boot. Seine militärischen Erfolge wurden vom Kaiser als „sehr gut“ honoriert. Ein geradliniger Weg, so scheint es im Nachhinein, hatte ihn zum Ziel seiner Wünsche geführt.

Abb. 5: Martin Niemöller und sein Freund Hermann Bremer als Seekadetten, ca. 1910.

Im März 1910 war er als Seekadett in die kaiserliche Marine eingetreten, für einen Pfarrerssohn keineswegs ungewöhnlich, denn der Beruf des Offiziers war in der Kirche geachtet. Zu Beginn des Jahrhunderts teilten Vater und Sohn Niemöller mit vielen Deutschen die Auffassung, dass das Vaterland durch militärische Siege „einig und stark geworden ist“.24 Wie seine Eltern war auch der Sohn von der Richtigkeit des in der evangelischen Kirche allgemein geltenden Grundsatzes überzeugt: „Ein guter Christ ist auch ein guter Staatsbürger, und ein guter Christ ist auch ein guter Soldat“.25 Später erinnerte sich Niemöller:

„Ja, daß man als Christ Soldat sein konnte, war damals überhaupt noch kein Problem. Ich habe während des ganzen Krieges, während meiner ganzen U-Boot-Zeit immer meine Taschenbibel bei mir gehabt und habe auch häufig drin gelesen und daraus zu leben versucht, wie man das damals verstand. Das war eben noch: Man ist Christ und man ist Deutscher.“26

Nach der Grundausbildung an der Marineschule in Flensburg-Mürwik legte er zusammen mit anderen Kadetten am 7. Mai 1910 in der Kieler Garnisonskirche den Treueid auf den Kaiser ab. Den Fahneneid verstand er nicht nur als Treuebindung an das Kaiserhaus. Vor allem fühlte er sich durch ihn verpflichtet, „jeden Schaden von Volk und Vaterland abzuwenden“.27 Niemöller wurde zunächst auf das Schulschiff „Hertha“ abkommandiert, dann kam er auf die „Idiotenschaukel“, wie die alte „Thüringen“ genannt wurde. Seine Vorgesetzten entdeckten bald seine Fähigkeiten und schickten ihn zu einer Sonderausbildung als Torpedooffizier. Anfang 1913 kehrte Niemöller im Rang eines Oberleutnants zur See auf das Schlachtschiff zurück.

Nach Kriegsausbruch wurde die „Thüringen“ zur Enttäuschung ihrer Besatzung nach Wilhelmshaven zurückbeordert. Niemöller, der als zweiter Torpedooffizier vergeblich auf einen Einsatz gewartet hatte, meldete sich zur U-Boot-Flottille. Wie seine Kameraden wollte er dem langweiligen Wachdienst entkommen: „Wir jungen Leutnants träumten von Fliegerei und Unterseebooten, von Torpedobooten und Luftschiffen; denn freilich war es hart, sein Leben nutzlos als Wachhabender, mit der Schärpe um den Leib, an Deck eines zu Anker liegenden 23.000 Tonnen Schiffes zuzubringen, während Kameraden und Freunde den Krieg führten, in dem das ganze junge Deutschland sein Leben einsetzte.“28 Nach einem weiteren mehrmonatigen Ausbildungslehrgang wurde Niemöller im Februar 1916 zweiter Wachoffizier auf einem Minenboot. U 73 galt wegen seines schlechten Zustands als „schwimmender Sarg“. Dennoch gelang es bei zwei Einsätzen hin und wieder, ein feindliches Schiff zu versenken.

Abb. 6: Ein Schlachtschiff (SMS „Thüringen“) beim Torpedosetzen. Postkarte, ca. 1913. Im Vordergrund, Zweiter von rechts: Niemöller.

Als Niemöller erfuhr, dass der Kapitän eines anderen U-Boots einen Offizier mit seinen Qualifikationen suchte, ließ er sich dorthin versetzen und fuhr im Januar 1917 als Steuermann von U 39 im östlichen Mittelmeer. Nach einem kurzen Innendienst beim Admiralstab (Mittelmeerabteilung) in Berlin kam er im Juni 1917 als erster Offizier auf U 151, ein neues Unterseeboot mit 80-köpfiger Besatzung. U 151 stellte mit ihm an Bord einen Rekord auf: Es unternahm die längste Reise eines deutschen U-Boots auf See im Ersten Weltkrieg. Der erste Offizier hielt den Erfolg in seinem Kriegstagebuch fest: „Die längste Kriegsfahrt eines deutschen U-Bootes ist beendet: 114 Seetage; 11.400 Seemeilen Marsch; rund 50.000 Tonnen versenkt, nämlich 9 Dampfer, 5 Segler und 1 Zerstörer mit zusammen 17 Geschützen.“29 Mit derselben Präzision und Knappheit wird der spätere Pfarrer seine Tagebücher und Pfarramtskalender führen.

Im Mai/Juni 1918 war es so weit: Der Oberleutnant zur See Martin Niemöller erhielt sein erstes Kommando auf UC 67. Das Boot legt Minen, weicht feindlichen Flugzeugen und Schiffen aus und versenkt mehrere Schiffe. Noch Jahre später schwärmt er: „UC 67 erwies sich als ein feines Boot: Es lief mit seinen Dieselmaschinen noch immer seine guten 12,5 Seemeilen, tauchte wie eine Ente und hatte hervorragende Seeeigenschaften über und unter Wasser.“30 Kein Zweifel, Niemöller war von der Kriegstechnik jener Zeit fasziniert.

Abb. 7: Zeichnung eines Kriegsschiffs mit Niemöllers Unterschrift, ca. 1917.

In seinem späteren Erinnerungsbuch „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) griff Niemöller auf seine Kriegstagebücher zurück, um möglichst genau von seinen Erlebnissen als Marineoffizier berichten zu können. Diese Erlebnisberichte bilden den Hauptteil des Buches. Wie andere U-Boot-Kommandanten hatte er die getroffenen und sinkenden Gegner fotografiert und konnte seine Berichte daher mit Bildern der versenkten feindlichen Schiffe illustrieren. Das Buch, geschrieben im Auftrag seines Verlegers, sollte beweisen, „daß ein guter Christ zugleich ein nationaler Mann sein könne“.31

Liest man heute seine Selbstbiographie, so ist deutlich zu spüren, mit welchem Stolz Niemöller auf die Jahre des U-Boot-Krieges zurückblickte und wie sehr ihn die Niederlage des kaiserlichen Deutschland, das Ende der Hohenzollernherrschaft in der Novemberrevolution von 1918, getroffen hatte – nicht nur in seinen persönlichen Lebensplänen, sondern auch in seiner gesamten inneren Haltung. Er trauerte der vergangenen „deutschen Herrlichkeit“ nach, stand der bürgerlichen Republik von Weimar ausgesprochen ablehnend gegenüber und hoffte darauf, dass sein Vaterland – sprich: das imperiale Deutschland – seine vormalige Weltgeltung gegenüber den anderen Mächten wiedererlangen würde.32

Jahre später zeichnete Niemöller Kriegsschiffe in seinen Amtskalender. Noch im Alter erzählte er am liebsten von den Abenteuern, die er als Marineoffizier im Ersten Weltkrieg erlebt hatte.33 In seinem Arbeitszimmer bewahrte er Bildreihen sinkender Schiffe von Kriegsgegnern bis zu seinem Tode sorgfältig auf.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist Niemöllers nationalkonservative Weltsicht tief erschüttert („Damals versank in mir eine Welt“). Mit der neuen demokratischen Staatsform kann er sich nicht abfinden. Der Weimarer Republik steht er ablehnend gegenüber, wie sein Erinnerungsbuch deutlich erkennen lässt: „Es kam mir zum Bewußtsein, […] daß ich es einfach nicht fertigbringen würde, dem neuen Staat, dessen Grundlinien schon erkennbar wurden, als Soldat zu dienen“.34 In seinem Gewissen fühlt er sich noch immer dem Kaiser zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Deswegen ist es für ihn völlig ausgeschlossen, dem Befehl zu folgen, U-Boote gemäß den Friedensverträgen an England auszuliefern. Niemöller verlangt einen Gesprächstermin beim Generalinspekteur. Als dieser ihn fragt, warum er sich dem Befehl widersetze, antwortet er: „Herr Kommodore, ich bin drei Jahre auf U-Booten gegen England gefahren; ich habe diesen Waffenstillstand nicht gewollt und nicht geschlossen. Meinetwegen können die Leute unsere U-Boote nach England bringen, die das versprochen haben. Ich tue es nicht!“35

Abb. 8: Niemöller als Marineoffizier.

Das klang respektlos, war aber für Niemöller keine Befehlsverweigerung. Die Weisungen der Verwalter der Revolution erkannte er nicht an. Er handelte im Gehorsam gegen den Kaiser, der, obschon bereits im Exil, für ihn noch immer die höchste politische Autorität war. „Ich habe Wilhelm II. einen Eid geschworen. Und der Eid hat mich nach 1918 belastet und mich eigentlich erst freigegeben, als ich 1941 im KZ die Nachricht bekam, daß der Kaiser gestorben war.“36

Genauso wie Niemöller dachten seine Offizierskollegen in der Marine. In ihren Augen waren die von den Politikern ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstands eine tiefe Demütigung. Wie Niemöller waren viele deutsche Offiziere enttäuscht über die Kapitulation der Regierung, die ihren tapferen vierjährigen Kampf völlig entwertete. Jahre später gestand ihm der ehemalige Kommodore Heinrich im vertraulichen Gespräch, dass er innerlich auf der Seite des aufsässigen Offiziers gestanden hatte.

Niemöller zweifelte nicht, wer die Schuld an der Niederlage trug: „Auf die Bundesgenossen war kein Verlaß mehr; aber, daß gerade in diesem Augenblick im deutschen Volk die selbstmörderische Zwietracht geschürt wurde, das war das Verbrechen von 1918.“37 Mit Recht sieht Matthias Schreiber in diesen Sätzen die ‚Dolchstoßlegende‘ in Reinform ausgedrückt. Niemöller habe, wie viele Deutschnationale, die Niederlage der unbezwingbaren deutschen Armee nicht als durch den äußeren Feind herbeigeführt gesehen, sondern durch den inneren, die ‚rote Revolution‘. Dass sich mit der Legende vom Vaterlandsverrat durch die Arbeiterschaft, noch vor der Konstitution der Weimarer Republik, bereits ihr Ende abzeichnete, konnte damals noch niemand wissen.

3. Auswanderungspläne und Heirat mit Else Bremer (1919)

Niemöller erlebt „Bitternis, Enttäuschung, Ratlosigkeit“ und spürt einen tiefen Groll gegen sein Volk. „Nur eins war mir damals vom ersten Augenblick an deutlich, daß mich von dieser ‚Revolution‘ und ihren offenen und verdeckten Drahtziehern eine Welt schied und in alle Zukunft scheiden würde.“38 Das Kommando, das man ihm beim Militär der jungen Republik anbot, lehnt er ab. Zum 1. April 1919 quittiert er den aktiven Marinedienst. Am liebsten wäre er nach Argentinien ausgewandert, um dort als Schafzüchter zu leben. Für enttäuschte Monarchisten jener Zeit war eine solche Idee nicht ungewöhnlich. Er fing sogar an, Spanisch zu lernen.39 Die Inflation machte jedoch seine Pläne unmöglich, denn von seiner wertlos gewordenen Offizierspension konnte er nicht mehr ausreisen oder sich gar in Argentinien Land kaufen.

Ohne sichere Berufsaussicht und hinreichende Mittel heiratete er zu Ostern 1919 Else Bremer, die Schwester seines im Krieg gefallenen Freundes Hermann Bremer; sein Vater traute das junge Paar in Elberfeld. Die Arztfamilie Bremer und die Pfarrersfamilie Niemöller waren gut miteinander bekannt, Else hatte den eineinhalb Jahre jüngeren Martin schon als Zehnjährigen gekannt. Doch bis zum Jahr 1917 hatte der Freund ihres Bruders, der immer wieder ins Haus kam, wegen des Altersunterschieds kaum tieferes Interesse bei ihr geweckt. Das änderte sich erst, als Martin, inzwischen Seekadett, für einige Zeit zum Admiralstab nach Berlin abkommandiert wird. Martin und Else sahen sich häufig, dazwischen hielten sie Briefkontakt. Im Sommer 1918 werfen sie „alle Vernunftgründe über Bord“ und verloben sich. Vater Bremer reagiert zunächst, wie Else erzählt, „ganz ablehnend“. Er „machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich mein Studium abgebrochen hatte“.40

Else hatte in Bonn und Berlin studiert, um Studienrätin zu werden. Ihr Tagebuch verrät aber auch, dass sie sich danach sehnte, in der Beziehung mit einem Mann Frau und Mutter zu werden.41 Wie sollte sie den inneren Konflikt lösen, der aus dem Wunsch nach Liebe und eigenständiger Berufstätigkeit entstand? Nur Frauen mussten zu dieser Zeit zwischen Familie und Beruf wählen. Denn für Beamtinnen galt noch bis 1919 die sogenannte Zölibatsklausel: Eine Lehrerin, die heiratete, konnte ihren Beruf nicht weiter ausüben. Else musste sich für das eine oder das andere entscheiden. Sie brach ihr Studium ab und entschied sich für die Ehe. Else Niemöller wird am weiteren beruflichen Weg ihres Mannes Anteil nehmen und als Pfarrfrau und Frau der Bekennenden Kirche eine zentrale Rolle spielen.42

Abb. 9: Else Niemöller, ca. 1934/35.

Auf einem Musterhof im Tecklenburger Land arbeitete Niemöller zwischen Mai und Oktober 1919 als Bauernknecht. Zeitlebens wird er sich seiner Heimat verbunden fühlen. Sein ausgeprägtes Bewusstsein, für sich und für sein Handeln verantwortlich zu sein, war ein Erbteil seiner Väter und Vorväter: „Der westfälische Bauer, der auf seinem Einzelhof lebt, hat das Gefühl: Mir darf keiner das, was ich für richtig halte, irgendwie bestreiten“,43 erklärt er später. Wie seine westfälischen Vorfahren will er Bauer werden. „Es war mir wie ein Traum, als ich so das erstemal hinter dem Pfluge ging und meine Furche über den Acker zog. ‚Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück …‘ Nein, ich wollte geradeaus sehen und getrost tun, was mir befohlen war. Noch ahnte ich nicht, daß hier für mich die Heimkehr, die Rückkehr zu Volk und Vaterland begann!“44 Mehr als alles andere ist es diese Wendung: ‚getrost tun, was mir befohlen war‘, in der sich die Persönlichkeit dieses Mannes enthüllt.

Evangelische Frömmigkeit, Familie, Volk, Vaterland gehören nach seinem Verständnis fest zusammen. Die Familie ist eine der Ordnungen, die Gott geschaffen hat. Hier wird christliche Gemeinschaft gelebt, hier empfängt die Volksgemeinschaft ihre Kraft. Die Tochter Brigitte (∗1920) beschreibt Niemöller nach ihrer Geburt als „blond und blauäugig“, Hans Joachim, genannt „Jochen“ (∗1922), der älteste Sohn, erhält den Namen von Niemöllers gefallenem Freund Emsmann: „und wir Eltern gaben ihm den Wunsch und das Gebet mit auf den Weg, er möchte ein ebenso gerader und ganzer deutscher Mann werden, wie dieser letzte U-Boots-Kommandant des großen Krieges“. Sohn Hans Jochen fiel im Februar 1945 als Soldat. Heinz Hermann (∗1924) wurde nach seinem Großvater väterlicherseits und „nach dem auf UB 104 gefallenen Freund und Schwager“ Hermann Bremer benannt. Johann („Jan“) Heinrichs (∗1925) zweiter Vorname erinnerte daran, dass die deutschen U-Boot-Offiziere sich alle ohne Rücksicht auf Rang und Vornamen mit „Heinrich“ anredeten. Die zweite Tochter Hertha (∗1928) wurde auf den Namen des alten Schulschiffs getauft, auf dem Niemöller 1910 als Seekadett gefahren war.

Bald stellte sich heraus, dass das Ehepaar keine selbständige Existenz in der Landwirtschaft realisieren konnte. Die Ersparnisse waren durch die Dauerinflation zusammengeschmolzen und reichten für einen eigenen Hof nicht aus. Bei Niemöller reift der Entschluss, in Münster Theologie zu studieren. Else hat ihn dabei nicht unmittelbar beeinflusst. Ihr erscheint seine Entscheidung stimmig. Wie er selbst im Rückblick zugibt, wuchs dieser Gedanke in ihm auf der Linie konservativ nationalistischer Überlegungen: „Das künftige Schicksal des Volkes lag bei der Familie, bei Schule und Kirche als den Quellorten schöpferischer Lebenskräfte eines Volkes.“45 Niemöller schwebte ein Beruf vor, in dem er an der Erneuerung seines Volkes mitwirken konnte. Dass diese Überlegungen auf eine antidemokratische, antiliberale Erneuerung der Gesellschaft abzielten, also auf das, was man später ‚konservative Revolution‘ nannte, lässt sich aus einer Passage seines autobiographischen Berichts von 1934 entnehmen, in der Niemöller die Stimmung unter den Landarbeitern schildert, mit denen er bei der Feldarbeit zusammentraf:

„Der Versailler ‚Frieden‘ war inzwischen bedingungslos angenommen und unterzeichnet worden, und langsam fingen auch die ‚kleinen‘ Leute, die irgendwie mit der Umwälzung sympathisierten, an zu begreifen, daß die Sache nicht gut enden konnte und daß von den Versprechungen, die ihnen fortgesetzt von den sozialistischen Agitatoren gemacht wurden, doch nichts in Erfüllung gehen würde. Es gab bei solchen Aussprachen wohl auch regelrechte Zusammenstöße; aber sie wurden schnell wieder verwunden, weil eine persönliche Beziehung blieb und immer neu zur Brücke wurde, die den aufgerissenen Spalt überwand. Dieser Umgang mit den Heuerleuten, die eigentlich kleine Pächter, aber nebenbei noch Lohnarbeiter waren, und die sich damals als ‚Proletarier‘ fühlten, im Grunde jedoch bodenständige Leute geblieben waren, öffnete mir die Augen dafür, daß jedenfalls ein großer Teil unseres Volkes die ‚neue‘ Zeit nur auf Grund einer Selbsttäuschung und ohne wahre innere Beteiligtheit als Fortschritt wertete. Das hatte sich gefährlich angehört, als es im Januar 1919 in Westerkappeln bei der Wahl zur Nationalversammlung plötzlich fast ein Drittel ‚Marxisten‘ gab; hier gewann ich einen Einblick, wie es um diesen ‚Marxismus‘ in Wahrheit stand. Es steckte nichts dahinter als künstlich aufgepeitschte Selbstsucht, die Vorteile witterte, und eine begreifliche Enttäuschung über die in der Revolution von 1918 offenbar gewordene Schwäche eines Systems, das sich so lange selbst als stark ausgegeben hatte. Und langsam merkte ich, wie verwandt und ähnlich mir diese Menschen waren, wie sie unter der gleichen Enttäuschung und Ratlosigkeit litten, die mich umtrieb und vor der ich mich auf die heimatliche Scholle und die Einsamkeit des bäuerlichen Lebens hatte flüchten wollen. Und unmerklich schlug ich neue Wurzeln in meinem Volkstum, und die Bitternis, die mich vergiftet hatte, wich allmählich wieder einer lebendigen Anteilnahme an dem, was die Menschen um mich bewegte. Es war, als ginge jetzt der Pflug über meinen Lebensacker, um ihn für ein Neues zu bereiten!“46

Manches deutet darauf hin, dass eine abendliche Begegnung im September 1919 mit Pfarrer Ernst Johann to Settel, der seit 1910 Pfarrer in Westerkappeln war, bei Niemöller zur Klärung beitrug; später erklärte er selbst, die Begegnung habe den entscheidenden Anstoß gegeben.47 Der auch schon früher gefasste und mit dem Vater erörterte Plan, ein Theologiestudium zu beginnen, erschien ihm im Dialog mit dem Pfarrer als sinnvolle Möglichkeit. Am selben Tag noch trägt er in sein Tagebuch die Frage ein: „Werde ich Theologe?“48 Anders als der Lehrerberuf schien ihm der Beruf des Pfarrers am ehesten geeignet, um wirklich frei seine Überzeugung äußern zu können. Und die Kirche erschien in seiner Lage als die verlässlichste konservative Macht.

Im Rückblick benennt er den entscheidenden Grund für seinen Weg ins Pfarramt:

„Es war kein eigentlich theologisches Interesse, was dahinter steckte und den Ausschlag gegeben hätte: für Theologie als Wissenschaft, die Probleme lösen will, hatte ich von Hause aus keine Ader. Aber daß das Hören auf die Christusbotschaft und der Glaube an Christus als den Herrn und Heiland neue, freie und starke Menschen macht, dafür hatte ich in meinem Leben Beispiele gesehen, und das hatte ich aus meinem Elternhaus als Erbe mitgenommen und im Auf und Ab, im Hin und Her meines Lebens festgehalten. Damit konnte ich, das war meine Überzeugung, meinem Volk aus ehrlichem und geradem Herzen dienen; und damit konnte ich ihm vielleicht mehr und besser helfen in seiner trostlosen völkischen Lage, als wenn ich still und zurückgezogen nur einen Hof bewirtschaftet hätte, wie ich mir das gedacht hatte.“49

Hinter der Entscheidung für den Pfarrberuf stand die Überzeugung: Wer die Christusbotschaft verkündet, dient seinem Volk. Niemöller wollte „an einer ernsthaften Erneuerung unseres Volkes [mitwirken]“ und dem deutschen Volk „in seiner trostlosen völkischen Lage“ helfen.50 Das „volksmissionarische Ziel, das Christentum als konservative Ordnungsmacht zur Geltung zu bringen“,51 ist ihm später im Beruf des Pfarrers wichtig, sah er sich darin doch „im Dienst für Volk und Vaterland“.52 Beide setzte er als vorgegebene Wirklichkeiten und Werte voraus und war überzeugt, jeder Deutsche habe „dem Vaterland mit ‚Hingabe‘ und ‚Opferbereitschaft‘ zu dienen“.53 Dieser Patriotismus bleibt eine treibende Kraft auch für sein späteres Handeln.

4. Theologiestudium und Weg ins Pfarramt (1920–1924)

Im Januar 1920, kurz nach seinem Bruder Wilhelm, begann der gerade 28-jährige Kapitänleutnant a. D. in Münster mit dem Theologiestudium. Schon kurz danach schließt sich der Theologiestudent mit anderen ehemaligen Offizieren einer deutschnationalen Studentengruppe an. Der Kapp-Putsch war durch den Generalstreik im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und durch andere Kampfmaßnahmen der Arbeiter beantwortet worden. Die Regierung mobilisierte die Reichswehr dagegen. Niemöller sympathisiert mit dem Kapp-Putsch. Er führt gegen die „Roten“ ein Bataillon der westfälischen Reichsbrigade und beteiligt sich als Kommandeur an der Niederschlagung der Arbeiterrevolte.54 Nach dreißig Tagen ist der blutige Kampf zu Ende. Niemöller lässt sich als „Befreier aus der Hölle des Bolschewismus“55 feiern, die Ordnung ist wiederhergestellt. Er kehrt ins theologische Seminar zurück.

Sein Studium scheint Niemöller nüchtern pragmatisch und zielbewusst absolviert zu haben. Zusammen mit Kommilitonen störte er demokratisch ausgerichtete Hochschulversammlungen oder organisierte Vorträge nationalgesinnter rechter Professoren und Politiker. Abends führte er theologische Gespräche mit seinem Bruder Wilhelm, um die morgens gehörten Vorlesungen zu verarbeiten. Seine Frau Else leistet ihm trotz wachsender Kinderschar Gesellschaft beim Studium theologischer Literatur und beim Anfertigen seiner Hausarbeiten.

Die erst 1914 gegründete Evangelisch-Theologische Fakultät Münster56 ist noch vom Geist der alten Zeit bestimmt. Von der ‚dialektischen Theologie‘ des Schweizers Karl Barth (1886–1968) ist dort 1920 noch nichts zu hören. Sie wird in Münster erst ab 1925 in der wissenschaftlichen Diskussion die Gemüter erregen. Später gestand Niemöller: „Ich hatte keine Ahnung, wer Karl Barth war!“57 Barths epochales Buch über den ‚Römerbrief‘ las er erst nach Abschluss des Studiums, brach die Lektüre aber nach den ersten Kapiteln ab, da es ihm, wie er bekannte, nicht gegeben sei, „in so viel Spiralen zu denken“.58

Die Münsteraner Professoren gehörten überwiegend der kirchlichen Rechten an und vertraten die modern-positive Richtung der Theologie, die die Ergebnisse der historischen Bibelkritik akzeptiert, allerdings in der Dogmatik konservativer denkt. In Münster gehörten zu ihnen die systematischen Theologen Karl Heim (1874–1958) und Georg Wehrung (1880–1959), die Kirchenhistoriker Georg Grützmacher (1866–1939) und Hugo Rothert (1846–1936), der Alttestamentler Wilhelm Rothstein (1853–1925), der Neutestamentler Otto Schmitz (1883–1957) sowie der praktische Theologe Julius Smend (1857–1930). Durch Lehrer wie Wehrung und Paul Althaus, von dem er 1922 in Bethel Vorträge hörte, scheint Niemöller von der Theologie der „Lutherrenaissance“ beeinflusst worden zu sein.59 Er nahm jedenfalls die von Wehrung vertretene Lehre der „Ordnungen“ auf, in der Staat, Nation, Ehe und Familie als von Gott geschaffene Lebensordnungen begriffen werden. Die „weltoffene und doch nicht weltgebundene Christlichkeit“ seines Elternhauses schien ihm darin bestätigt; zudem sah er in dieser Lehre die theologische Legitimation, politisches Engagement mit den Aufgaben des Predigers und Seelsorgers zu verbinden.60 Grützmacher vermittelte ihm Reformationsgeschichte, Rothert kirchliche Heimatkunde, d.h. westfälische Kirchengeschichte.

Einen Wechsel zu einer anderen Hochschule, etwa nach Bonn, hätte Niemöller sich zwar gewünscht, aber die bescheidenen Verhältnisse sprachen dagegen: Die kümmerliche Pension reichte nicht; die Familie musste versorgt werden, was nur mit regelmäßigen ‚Hamsterkäufen‘ auf dem Land möglich war; Stipendien banden ihn an die Heimat-Universität. Die Nachkriegsjahre seien die härtesten seines Lebens gewesen, meint er später. Ständig musste er zusehen, wie er sich und seine Familie ernährte. Da kam ihm die politische Lage überraschend zu Hilfe. Die Regierung hatte für Krisenzeiten eine Technische Nothilfe eingerichtet. Ende Juli 1922 begann er, als Rottenarbeiter, d.h. als Bahnunterhaltungsarbeiter, bei der Reichsbahn zu arbeiten. Bis zum Ende seines Vikariats verrichtete er dort verschiedene Arbeiten in Tag- und Nachtschichten.

Es scheint, als ob Niemöller sich in der konservativen Atmosphäre der Münsteraner Universität wohlfühlte. Die theologischen Lehrer waren kirchlich eingestellt, es gab enge Bindungen zur Gemeinde. Niemöller kam diese Art von Theologen entgegen: „Es war ja nicht meine Absicht, als ‚Fachmann‘ das Rad der theologischen Wissenschaft ein Stückchen weiterdrehen zu helfen, sondern eine ordentliche und ausreichende Grundlage für den Beruf des Pfarrers und für das Amt der Verkündigung zu bekommen. Und das hat mir Münster gegeben, nicht nur durch die akademischen Lehrer, die mir dort begegneten, sondern ebenso sehr durch die Prediger, die auf den evangelischen Kanzeln Münsters standen, und durch den persönlichen Umgang, den ich mit Kirchenmännern meiner westfälischen Heimat dort fand (…). Die unmittelbare Beschäftigung mit der Bibel aber wurde mir vom ersten Tage an das eigentliche Zentrum meines ganzen Studiums …“61

Auch Jahre danach ist das Verhältnis zu Münster von Dankbarkeit bestimmt, obwohl Niemöller 1940 aus dem KZ in einem Brief an den Vater schreibt, die theologische Fakultät von Münster erscheine ihm „mehr und mehr als eine klappernde, leerlaufende Mühle. (…) Jedenfalls gab es dort von dem, worauf es eigentlich für den Theologen und Pfarrer ankommt, beschämend wenig zu hören und zu lernen.“62

Im Januar 1923, während die französische Armee in die westdeutschen Industriezentren einmarschierte, lieferte Niemöller beim Konsistorium in Münster seine wissenschaftlichen Arbeiten für das theologische Examen ab. Sowohl im Fakultätsrat wie im westfälischen Konsistorium wurde der Theologiestudent nicht nur wegen seiner Leistungen, sondern auch aufgrund seines völkisch-nationalistischen Engagements wohlwollend beurteilt. Sein erstes Examen bestand er mit „vorzüglich“. Am 1. Mai 1923 begann sein Lehrvikariat bei Pfarrer Walter Kähler, das er nach dessen Weggang aus Münster bei Pfarrer Ewald Dicke fortsetzte.

5. Geschäftsführer und Pfarrer der Inneren Mission in Münster (1924–1931)

Die westfälische Kirchenleitung war schon während seines Vikariats auf Niemöller aufmerksam geworden und stellte ihn als Vikar einem nebenamtlichen Konsistorialrat, dem schon erwähnten Pfarrer Kähler, zur Seite. Zum 1. Dezember 1923 bestellte ihn der westfälische Generalsuperintendent D. Wilhelm Zöllner im Einvernehmen mit dem Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Pastor D. Friedrich von Bodelschwingh, als zweiten Geschäftsführer der Inneren Mission für die westfälische Kirchenprovinz.63 Obwohl Niemöller auf eine ländliche Pfarrstelle gehofft hatte, sagte er zu. Der Rest des Vikariats wurde ihm kurzerhand erlassen. Er hielt gerade noch am Silvesterabend in der Apostelkirche in Münster seine Examenspredigt und widmete sich danach sofort seinem neuen Amt. Die organisatorischen Fertigkeiten, die er als Geschäftsführer der Mission und als Stadtparlamentarier in Münster erwarb, wurden ihm für die spätere Zeit wichtig.

Im Kaiserreich hatte die kirchlich-diakonische Arbeit nahezu das Monopol für karitative Hilfen. Durch den neuen Staat, der säkulare Wohlfahrtspflege zum Verfassungsziel erklärt hatte, erhielt sie nun Konkurrenz. Die Innere Mission, Vorläufer des Diakonischen Werkes, sah sich in den zwanziger Jahren vor neue Aufgaben gestellt. Viele Menschen waren arbeitslos, es herrschte Wohnungsnot, und breite Bevölkerungsschichten waren verarmt.

Für Niemöller stellte sich in dieser Situation eine doppelte Aufgabe. Zum einen hatte er „die freie evangelische Liebestätigkeit in den einzelnen Städten und Kreisen zusammenzufassen und so zu gestalten, daß sie nicht von der öffentlichen Wohlfahrtspflege des Staates und der kommunalen Selbstverwaltung ausgesaugt und um ihre lebendige Kraft gebracht würde. Zu diesem Zweck war ich wochenlang unterwegs und sprach auf Synoden und Pfarrkonferenzen; zugleich hatte ich die Verhandlungen mit den staatlichen Stellen und mit der Provinzialverwaltung zu führen.“64 Das bedeutete, dass Niemöller mit seiner diakonischen Arbeit die Kirche dem als schädlich empfundenen Einfluss des Staates entziehen wollte. Dahinter stand das kirchliche Interesse, weiterhin auf die sittliche Erziehung des Volkes einzuwirken und diese nicht widerstandslos einer Behörde zu überlassen.

Niemöllers ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie ist typisch für den Protestantismus jener Zeit, der immer noch der Monarchie verhaftet war und nicht wahrnahm, dass der demokratische Staat ein Partner im Kampf gegen Armut und Elend war oder hätte sein können. 1983 sprach er offen von der antidemokratischen Einstellung, die ihn in den 1920er Jahren mit seinem Bruder verband: „Was wir uns vorstellten von einem zukünftigen Deutschland, das war nicht die Weimarer Republik, sondern das …, als was sich der Nationalsozialismus gab. Mein Bruder, der wurde im Jahr 1923 Mitglied der NSDAP …“65 Später war Niemöller froh, anders als sein Bruder Wilhelm sich im Pfarramt nicht an eine politische Partei gebunden zu haben.

Neben dem Bemühen um Unabhängigkeit gegenüber der Republik stand aus Niemöllers Sicht die andere Aufgabe, „daß die gesamte ‚Innere Mission‘ der Provinz mit ihren mehreren hundert Anstalten und Einrichtungen zusammengefaßt und zu einer einheitlich kirchlichen Haltung und zu einem gemeinsamen Wollen und Handeln gebracht werden mußte“.66 Niemöller erkannte, dass er die soziale Tätigkeit der Kirche und die Mission im eigenen Volk, für die Johann Hinrich Wichern den Begriff der Inneren Mission geprägt hatte, enger mit der Organisation der amtlichen Kirche und der einzelnen Gemeinden verknüpfen musste, ohne die Selbständigkeit der Inneren Mission anzutasten.

Ging es ihm darum, die verschiedenen Vereine durch Sammlung für den Kulturkampf zu stärken und die Innere Mission „zur antidemokratischen Waffe zu schmieden“?67 Niemöllers Bestreben, die Unabhängigkeit von Einrichtungen der Inneren Mission wie etwa der Krankenanstalten von Bethel zu wahren, muss im Rahmen der damaligen politischen Vorgaben sozialer Arbeit als ein Bemühen um deren christliches Profil wahrgenommen werden. Die Weimarer Behörden waren „nicht bereit …, die Einrichtungen der Inneren Mission als qualifiziert für die Betreuung von Waisen und Behinderten anzuerkennen“.68 Daraus erklärt sich, dass Niemöller und seine Mitarbeiter alles taten, um die Innere Mission von staatlichen Zuschüssen und behördlicher Einmischung unabhängig zu halten und auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.

Bei der theologischen Konzeption für seine Arbeit ließ er sich weitgehend von Gedanken Johann Hinrich Wicherns leiten: Ein glaubender Christ, meinte er im Anschluss an Wichern, nehme am Schicksal des Nächsten teil und übe in der Nachfolge Jesu das Amt des guten Hirten aus. Die Kirche habe die Aufgabe, sich „in tätiger Liebe als die Gemeinschaft des Glaubens“69 zu erweisen. Sie müsse sich öffentlich als Volkskirche entfalten. Der Begriff ‚Volkskirche‘ war für Niemöller nicht gleichbedeutend mit „Angleichung der christlichen Botschaft an eine völkische Ideologie, sondern konkrete Erfüllung des göttlichen Missionsbefehls im deutschen Volk, allerdings mit dem besonderen Ziel, die Grundlagen für eine religiös-sittliche ‚Volksgemeinschaft‘ zu schaffen“.70

Sein erstes Büro ist ein kleines Zimmer im Diakonissenhaus von Münster. Die neue Arbeit erfordert Lust am Organisieren, diplomatisches Geschick, Freude am Reisen, lauter Eigenschaften, die wir heute als Managerqualitäten bezeichnen würden. Niemöller muss Aufgaben bewältigen, die für einen Pfarrer ungewöhnlich sind. Er modernisiert die Ausbildung der Diakonissen, Pfleger und Fürsorgerinnen, und er wird zum Bankier und Finanzmann, indem er eine eigene kirchliche Kreditbank gründet, die „Evangelische Darlehensgenossenschaft“. Sie sollte zur unabhängigen Finanzierung eigener Projekte dienen, dokumentierte aber auch Misstrauen gegenüber der Reichsbank und den Landesbanken. Mehr und mehr führt Niemöller das Leben eines Geschäftsreisenden; den größten Teil des Jahres ist er mit seinem Dienstwagen unterwegs.

Als zweiter und ab 1926 als erster Geschäftsführer hat Niemöller die Arbeitsfelder des Westfälischen Provinzialverbandes stetig erweitert und ausgebaut. Mit den zunehmenden Aufgaben vergrößerte sich auch sein Büro. Zu seiner Entlastung werden zwei weitere Pfarrer eingestellt. Wohnung und Büro liegen jetzt in einem zweistöckigen Haus aus rotem Klinkerstein, das die Innere Mission noch 1924 für den neuen Geschäftsführer bauen ließ. 1925 zogen die Niemöllers in die geräumige Wohnung im Erdgeschoss ein. In Münster wurden ihre nächsten drei Kinder geboren: Jan Heinrich (∗1925), Hertha (∗1927) und Jutta (∗1928). Erst beim jüngsten Sohn Martin Friedrich Eberhard (∗1935), der während des Kirchenkampfes zur Welt kommt, wird Niemöller von der Familientradition der Namengebung abweichen: Er erhält die Vornamen der drei Pfarrer, die damals in Dahlem gut zusammenarbeiteten.

Nebenbei beendete Niemöller sein Studium und absolvierte Anfang Mai 1924 seine Abschlussprüfung.71 Am 29. Juni 1924 wurde er mit zwei weiteren Pfarrern in der Erlöserkirche zu Münster von Oberkonsistorialrat Simon ordiniert; der Vater Heinrich Niemöller war als Assistent beteiligt. Als dem Ältesten der drei fiel Niemöller die Predigt zu. Er wählte dafür das Pauluswort: „Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin!“ (Phil 3,12) Bezeichnend ist, wie er dieses Wort auslegt: „Wer in seinen eigenen Augen fertig ist, ist vor Gott nicht vollkommen; wer aber in Gottes Augen vollkommen ist, ist vor sich selber niemals fertig!“72 Am Nachmittag desselben Tages taufte Niemöller in der Wohnung seinen Sohn Heinz Hermann (∗1924). Der Schreibtisch diente als Taufaltar, das Fenster war verhängt mit der letzten Flagge von UC 67, der Reichskriegsflagge, unter der der U-Boot-Kommandant mit seinem Boot am 29. November 1918 in Kiel eingelaufen war.

Abb. 10: Martin und Else Niemöller mit 2 Kindern (Jochen und Martin), ca. 1936.

Die Haustaufe, damals noch üblich, ist bezeichnend dafür, wie sich bei Niemöller familiäre und deutschnationale Bindungen mit evangelischer Frömmigkeit verbanden. Damit stimmte die Rolle der Ehefrau und Mutter überein. Kindererziehung war ihre Sache, das entsprach der traditionellen Rollenzuschreibung. Der Vater hat für die Familie wenig Zeit. Gelegentlich übernimmt er im Studierzimmer die Beaufsichtigung eines Kindes, unterbricht aber seine Arbeit nicht: „Dazu rauchte ich eine lange Pfeife und hüllte mich in eine dicke Qualmwolke, während ich zugleich meinen Sohn Hans Jochen zu beaufsichtigen hatte, der in seiner Wiege neben meinem Schreibtisch stand und sich frühzeitig und gründlich an ein verräuchertes Studierzimmer gewöhnte. Er hatte es darin nicht besser, als es sein Vater als kleines Kind gehabt hatte. Und auf diese Weise wurde eine Tradition weitergegeben.“73

Irgendwann zwischen 1925 und 1927 kam es im Haus des Kirchenhistorikers Georg Wehrung zur ersten Begegnung Niemöllers mit seinem späteren Freund Karl Barth, der viele Jahre danach von diesem Treffen erzählte: „Ich erinnere mich sehr deutlich, wie die Tür sich öffnete und wie dann in der Ecke hinter der Türe ein schlank aufgeschossener junger, nicht mehr ganz junger Mann dastand und mich scharf fixierte, und mein Eindruck war, daß ich ihm nicht eben sympathisch war, und mir meinerseits hat er eher eine gewisse Furcht eingeflößt durch sein stramm militärisches Wesen. Martin Niemöller und ich waren wohl … – und sind’s wohl bis heute – zwei sehr verschiedene Geschöpfe Gottes: er … ein westfälischer Preuße oder ein preußischer Westfale und ich ein Schweizer.“74

Im katholischen Münster bildeten die Evangelischen eine Minderheit. Niemöller stellte fest, dass sie im Stadtparlament nicht repräsentiert waren. Er ergriff die Initiative, um eine evangelische Fraktion aufzustellen. Im November 1929 zog sie ins Parlament ein, bestehend aus sieben Abgeordneten und Niemöller als Fraktionsführer. Keiner von ihnen gehörte einer politischen Partei an. Daran wird Niemöller sich auch später halten. „Ich bin kein Politiker“, antwortet er, wenn Freunde oder Gegner ihn nach parteipolitischen Gesichtspunkten beurteilen.75

Obwohl Niemöller in Münster eine erfolgreiche Arbeit leistete, die ihm vielseitig und interessant erschien, befriedigten ihn seine Aufgaben auf die Dauer nicht. Seine Frau Else und er hofften noch immer, „nach den Jahren der fortgesetzten Unruhe und Sorge … würde einmal eine Zeit kommen, in der wir uns einer stillen und ganz auf das Wesentliche gerichteten Gemeindearbeit würden widmen können. Jetzt kam das gerade Gegenteil: Besprechungen und Sitzungen, Reisen und Vorträge, Umgang mit Pfarrern und Behörden, Organisation und Finanzfragen.“76 Niemöller fand sich in diese Aufgaben hinein. Er lernte die Kunst der Gremienarbeit, hielt aber auch Kontakt zu westfälischen Gemeinden, für deren Kollekten er im Auftrag der Kirchenregierung zuständig war. Aus den Erfahrungen mit ihnen nimmt er die Erkenntnis mit, „daß eine Gemeinde mehr ist als das Objekt kirchenregimentlicher Aktivität oder gar Willkür. Umgekehrt: daß die Gesamtkirche nur dann von wirklichem Leben erfüllt ist, wenn sie das Entstehen starker und selbständiger Gemeinden duldet und fördert.“77

Im siebenten Jahr seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Inneren Mission sehnte Niemöller sich nach neuen Aufgaben. Seine Ziele, der einheitliche Aufbau von Jugend- und Wohlfahrtsämtern in der Kirchenprovinz und die Sicherstellung missionarischer und karitativer Arbeit, waren erreicht.78 Als ihm die vorgesetzte Behörde die Anstellung eines neuen Mitarbeiters verweigert, kündigt er zum nächstmöglichen Termin. Proteste seines Vaters schlägt er in den Wind. Niemöller beginnt, sich nach einer Pfarrstelle umzusehen. Schließlich erhält er im Frühling 1931 ein überraschendes Angebot aus Berlin, wo der Vater im Hintergrund Fäden geknüpft hatte: Er soll dritter Pfarrer im Gemeindebezirk Dahlem werden. In der preußischen Landeskirche galt diese Stelle in der Reichshauptstadt als eine der begehrtesten Pfarreien. Niemöller reist nach Berlin. Die Kollegen gefallen ihm. Er vereinbart mit ihnen, seine neue Stelle am 1. Juli 1931 anzutreten. In der letzten Juniwoche ziehen Martin und Else Niemöller mit ihren sechs Kindern in eine 7-Zimmer-Pfarrwohnung in der Podbielskiallee 20 ein.

6. Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem (1931–1937)

Die Siedlung Dahlem hatte sich seit 1910 zu einem vornehmen Villenvorort von Berlin entwickelt. Schon 1913 wird der Ort an das Berliner Verkehrsnetz angebunden. Die Gemeinde zählte etwa 20.000 Einwohner, davon waren 12.000 Protestanten. Zur evangelischen Gemeinde gehörten Familien des Bildungsbürgertums und der Ministerialbürokratie, Universitätsprofessoren, hohe Regierungsbeamte und Militärs, Unternehmer und Künstler. Die Kirchenmitglieder hatten Kirchensteuer zu bezahlen, die direkt von der Gemeinde erhoben wurde. Aus ihrem Kirchensteueraufkommen führte die Gemeinde eine Umlage zur Finanzierung gesamtkirchlicher Aufgaben ab. Das Aufkommen der Dahlemer Gemeinde betrug im Jahr 1931 ca. 800.000 Reichsmark. Damit gehörte sie zu den reichsten Gemeinden der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union.

Die Gemeinde kann so viel Geld aufbringen, dass sie ein neues Gemeindehaus und eine neue Kirche erbaut und aus eigenen Mitteln eine dritte Pfarrstelle einrichtet. Auf diese Stelle wird Pfarrer Martin Niemöller berufen. Aus der Zeit der Domäne Dahlem stammt die alte Dorfkirche (St.-Annen-Kirche) mit der dazugehörigen Pfarrei. Ihre Geschichte reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Damit gehört sie zu den ältesten Dorfkirchen in der Mark Brandenburg. Im Jahr 1920 baute die Gemeinde auf einem unmittelbar am Kirchhof gelegenen Grundstück an der Cecilienallee (heute Pacelliallee) ein Pfarrhaus, das ab 1932 von der Familie Niemöller bewohnt wurde. 1927 bis 1930 entstand gegenüber der St.-Annen-Kirche an der Ecke Königin-Luise-Straße/Thielallee ein Gemeindehaus mit Saal, Nebenräumen, Gemeindebüro, Schwesternstation und Hausmeisterwohnung. Im selben Jahr wird neben der ersten Pfarrstelle an der St.-Annen-Kirche eine zweite, 1931 eine dritte Pfarrstelle errichtet. Am 18. Oktober 1930 ist an der Hittorfstraße/Thielplatz der Grundstein für die Jesus-Christus-Kirche gelegt worden; am 20. Dezember 193179 findet die feierliche Einweihung statt. Die neue Kirche bietet Raum für 1.200 Menschen. Sie war als zweites Zentrum der Gemeinde gedacht, das auch ein weiteres Pfarrhaus und ein kleineres Gemeindehaus umfasst. Bevor die Jesus-Christus-Kirche eingeweiht wurde, hatte der Saal im „Paulinum“ seit 1925 als zweite Predigtstätte gedient. Das „Paulinum“ im Reichensteiner Weg, ursprünglich Seminar für evangelische Pfarrersöhne, wird heute vom Diakonischen Werk der EKD genutzt.80

Neben Niemöller amtierten in Dahlem zwei weitere Gemeindepfarrer, Eberhard Röhricht (1888–1969, in Dahlem seit 1927) und Fritz Müller (1889–1942, in Dahlem seit 1933) mit jeweils eigenen Seelsorgebezirken. Im Predigtdienst beider Kirchen wechselten sie einander turnusmäßig ab. Vorsitzender des Gemeindekirchenrates war von 1933 bis 1937 der inzwischen auf die 1. Pfarrstelle gewählte Martin Niemöller, danach Eberhard Röhricht. Alle drei Pfarrer haben den Ersten Weltkrieg als junge Offiziere mitgemacht. Sie waren eingeschworen auf die Monarchie und empfanden das Ende des wilhelminischen Kaiserreiches als persönliche Sinnkrise. „In ihren nationalistischen Einstellungen gingen sie konform sowohl mit dem Gros ihrer Gemeindeglieder als auch mit der Mehrzahl ihrer Amtsbrüder und mit den Kirchenbehörden. Weder von ihrem theologischen und politischen Denken noch von ihrem bisherigen Werdegang her ragten die drei Dahlemer Pfarrer heraus aus dem, was im Jahr 1933 in der evangelischen Kirche normal war.“81

7. Der Dahlemer Prediger

In Berlin-Dahlem brauchte Niemöller nur eineinhalb Jahre, um sämtliche Mitglieder seiner Gemeinde zu besuchen. Rasch machte er sich als eindrücklicher Prediger bekannt. Durch seine Tätigkeit als Seelsorger und vor allem durch seine viele Hörer anziehenden „schlichten frommen Predigten“ erwarb er sich rasch hohes Ansehen in der Gemeinde. Er überzeugte durch die „nüchtern sachliche“ Diktion seiner Predigt, durch „inneres Feuer“ und durch seinen „starken Intellekt“.82 Alle Predigten werden, wie die Amtskalender belegen, gewöhnlich von Freitag bis Samstag, sorgfältig vorbereitet, schriftlich fixiert und zwei Stunden vor dem Gottesdienst memoriert.83

Im Gegensatz zu Westfalen war er in Berlin zunächst ein unbeschriebenes Blatt. Umso bemerkenswerter ist daher der Artikel, den das „Zehlendorfer Bezirksblatt“ seinem Dienstantritt widmet, wobei der Name des neuen Pfarrers konsequent falsch mit ‚Nietmöller‘ wiedergegeben wird:

„Pfarrer Nietmöller ist keiner von jenen Geistlichen, deren Predigt in einem geruhsamen salbungsvollen Ton dahinfließt und die in patriarchalischer Weise liebevoll mahnend zu ihren Schäflein sprechen. Nein, seine Worte muten zunächst nüchtern sachlich an. Aber bald merkt man, daß in ihm aus der klaren Erkenntnis der harten Tatsachen der Gegenwart geboren, ein lebendiger, energiegefüllter Kampfwille lebt, der, von innerem Feuer geschürt, zur Betätigung drängt. Es ist etwas asketisch Strenges in der äußeren Erscheinung des Pfarrers Nietmöller, und aus seinen großen, klaren Augen spricht ein starker Intellekt, der es ihm von vornherein verbietet, seiner Gemeinde Gemeinplätze vorzusetzen. Und so wurde seine erste Predigt in Dahlem zu einem ernsten programmatischen Bekenntnis.“84

Niemöller legt in seiner Antrittspredigt ein Bekenntnis ab, wie er sein Predigtamt auffasst.85 Dabei betont er den Gegenwartsbezug der Verkündigung: Seine Aufgabe sei, „Jesum Christum zu verkündigen als den Herrn, so wie er selbst sich bezeugt hat, so wie die Propheten und Apostel von ihm gezeugt haben in der heiligen Schrift“. Als der Auferstandene sei er „der Herr, der noch heute an Menschenherzen rührt und sich unter uns seine Gemeinde sammelt“. Diese Botschaft will Niemöller der Gemeinde nahebringen: „das alte Evangelium so zu verkünden, dass es als frohe Botschaft inmitten unserer Zeit von den Menschen unserer Tage verstanden wird“. Jesus Christus will heute und alle Tage Herr unseres Lebens sein. Darauf wird der entscheidende Akzent gelegt: ER „will als der Herr gegenwartsmächtig unser Leben regieren und gestalten (…). Diese Gegenwart des lebendigen Herrn zu verkündigen und sie so zu bezeugen, dass sie als die frohe Botschaft von unserer Erlösung verstanden und ergriffen wird, das ist der Dienst, den wir als Knechte der Gemeinde um Jesu willen auf uns nehmen und ausrichten sollen, und in diesem Sinne soll die Verkündigung des Evangeliums modern, d.h. unmittelbar auf die lebendige Gegenwart bezogen sein.“