Mäxchen und Pauline - Siegfried Maaß - E-Book

Mäxchen und Pauline E-Book

Siegfried Maaß

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Beschreibung

Ganz zufällig begegnen sie sich – Mäxchen und Pauline. Er kommt von Herrn Berger, der ihm hilft, seine Angst vor dem Mathemonster zu überwinden. Sie hat bis soeben mit dem Fußball das Toreschießen trainiert, denn sie möchte einmal in einer richtigen Mannschaft spielen. Bei diesem überraschenden Zusammentreffen kommt Pauline die Idee, den fremden Jungen zu ihrer Geburtstagsparty einzuladen, denn sie wird bald zehn und Mädchen wollen mit der ‚Verrückten’, die Fußball spielt, nichts zu tun haben. Erfreut stimmt Mäxchen zu, denn das Mädchen gefällt ihm. Aber seine Mutter möchte erst einmal Paulines Eltern kennenlernen – doch da ist nur ihr Papa, denn ihre Eltern sind getrennt. Genau wie Mäxchens Eltern. Auf diese Weise nimmt unsere Geschichte einen unerwarteten Verlauf, denn auch die beiden Erwachsenen gewinnen Gefallen aneinander, sodass der Geburtstagsparty nichts im Weg steht. Wenn da nicht Kakasie gewesen wäre, Herrn Bergers Kakadu. Den bringt Mäxchen zur Party mit, weil Herr Berger krank geworden ist. Aber mitten in der schönen Party bricht Kakasie aus seinem Käfig aus und sorgt für große Verwirrung. Diese setzt sich in der folgenden Zeit auf andere Weise fort, bis schließlich alles zu einem guten Ende führt und Mäxchen und Pauline ein merkwürdiges Weihnachtsfest feiern, an das sie sich immer erinnern werden. INHALT: I. Geburtstagsparty mit Hindernissen Die Einladung Die Party Bekanntschaft Vierauge Pauline Mäxchen II. Die neue Familie Sieben Frösche Tänzerin vor dem Spiegel Der Pokal Die neue Familie Die Weihnachtsüberraschung

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Impressum

Siegfried Maaß

Mäxchen und Pauline

ISBN 978-3-95655-303-5 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-302-8 (Buch)

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Beate Danneil

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

I. Geburtstagsparty mit Hindernissen

Die Einladung

Das Haus hockt auf einem Hügel am Ende der holprigen Straße. Wie ein alter König auf seinem Thron, wenn er sich nicht mehr aufrecht halten kann. So jedenfalls erscheint es dem Jungen, bevor er das Haus betritt. Durch ein hohes Tor mit einer schweren knarrenden Tür. Der Griff aus geschmiedetem Eisen ist kalt. Ihm kommt es vor, als müssten seine Finger steif werden, sobald er den Griff berührt. Auch das Haus ist alt und sieht aus, als würde es sich kaum noch aufrecht halten können.

Jedes Mal, wenn er sich dem Haus nähert, fällt dem Jungen dieser merkwürdige Vergleich mit dem altersschwachen König ein. Denn ganz früher hat ihm Irene Märchen vorgelesen. Darin wimmelte es nur so von Königen und Prinzessinnen.

In Märchen sind die Könige oft die Bösen, die anderen nichts Gutes gönnen. Außer der eigenen schönen Tochter, für die ein hübscher reicher Prinz gerade gut genug ist.

Oder sie sind die Dummen, die nicht wissen, was sie tun.

Das wird er aber von dem Mann, zu dem er geht, niemals behaupten. Er ist weder böse noch dumm auch und kein König, sondern ein Lehrer, der seinen Ruhestand erlebt. Es ist Herr Berger. Er hat einen kahlen, fast runden Schädel und der Junge muss jedes Mal an eine Kegelkugel denken, wenn er vor Herrn Berger steht. Einen haarlosen Schädel also, dafür aber einen spitzen Bart. Wie bei dem Ziegenbock, den der Junge aus dem Tierpark kennt. Wenn er Herrn Berger dann gehen sieht, wird aus der Ziege mit einem Mal ein Tier, das er nicht kennt. Für das er jedenfalls keinen Namen weiß. Ein Tier aber, das so schleichen und schlurfen würde wie Herr Berger. Eine Schleichkatze vielleicht. Wenn es sie überhaupt gibt.

Im Halbdunkel des Hausflurs im ersten Stock steht der Junge dann vor einer grün gestrichenen Tür. Die Farbe ist schon alt. Wie alles in dem Haus. Aber das wissen wir schon. Die Risse in der alten Farbe zeichnen eine Landschaft mit vielen Flüssen auf die Tür. Flüsse, die in ein Meer münden. Es hat die Form wie ein Ei. Wenn er längere Zeit warten muss, denkt sich der Junge auf ein Schiff, das auf einem der großen Flüsse fährt, diesem Eimeer entgegen und von dort dann in die weite Welt. Wie er es sich für später wünscht. Wenn er erwachsen und tatsächlich in der weiten Welt unterwegs ist. Alles, was es noch zu entdecken und erforschen gibt, will er finden und herausbekommen. Dann wird er berühmt sein und sich freuen, wenn man ihn auf der Straße erkennt und freundlich grüßt.

Das hat er sich vorgenommen. Davon will Irene aber nichts wissen. Sie lacht immer, wenn er solche Gedanken auch nur mit zwei, drei Worten andeutet. Dann streicht sie über seinen Lockenkopf und meint, dafür müsse er sich aber gewaltig anstrengen. Um Weltenfahrer zu werden, müsse er sich in Länderkunde gut auskennen, ebenso in Meereskunde. „Und auch in der Wissenschaft der Mathematik!“ Dieses Wort kann sie besonders gut betonen. Fast, als würde es eine Melodie besitzen.

Ihr Blick trifft ihn dann jedes Mal wie ein eiskalter Lappen, der in seinem Gesicht landet. Das Gefühl der Kälte bleibt ihm noch eine Weile erhalten.

Dass er jetzt hier steht, hat genau damit zu tun. Denn hinter dieser grünen Tür mit den vielen Farbrissen beginnt das Land, in dem er lernt, was ein Entdecker und Forscher unbedingt wissen muss.

Jeden Nachmittag prüft er, ob die Flüsse breiter geworden sind und das eiförmige Meer größer. Er stellt sich vor, dass auch sein Wissen größer wird, sobald die Flüsse anschwellen. Der Junge holt tief Luft und atmet heftig aus, es hört sich an, als fauche ein wildes Tier. Er weiß, dass er sich etwas vorstellt, was mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Schade, denkt er und lacht.

Diese Flüsse an der Tür und das Meerei darf er vor Irene niemals erwähnen. Sofort würde sie sagen: „Du bist ein Träumer! Was du dir nur immer ausdenkst!“

Damit hätte sie Recht.

Heute kann er an der Tür keine Veränderungen feststellen. Darüber wird sich Herr Berger freuen, wenn er es hört. Denn Herr Berger nimmt sich schon sehr lange vor, einen Maler kommen zu lassen, der seine Tür streicht. Aber er ist ein sehr sparsamer Mann und hat seine Absicht darum immer wieder verschoben. So wird es auch dieses Mal wieder sein.

Der Junge vor der Tür heißt Max. Sein Wuschelkopf lässt vermuten, dass er sich am ganzen Tag noch nicht gekämmt hätte. Aber er hat. Darauf achtet Irene. Sie hat es ihm so eindringlich ans Herz gelegt, dass er sofort ein schlechtes Gewissen bekäme, wenn er ungekämmt losginge, wenn sie nicht zu Hause ist. Was leider oft vorkommt. Irene ist seine Mutter. Inzwischen weiß Max, dass sie eigentlich Irina heißt und irgendwo im fernen Russland zur Welt gekommen ist. Auch zur Schule ist sie dort gegangen, jedenfalls zuerst. Ihre Eltern sind dann nach Deutschland ausgesiedelt. Weil sie hier für ihr Mädchen einen deutschen Namen haben wollten, haben sie es Irene genannt.

Irene Stange. So heißt sie, nachdem sie Manfred Stange geheiratet hatte. Seinen Vater. Der irgendwann verschwand, ehe es Max möglich war, sich sein Aussehen einzuprägen. Deshalb kann er sich auch nicht an ihn erinnern. Aber er braucht ihn nicht. Nur Irene. Irina.

Irina Karlowa. Merkwürdiger Name. Ganz genau Irina Karlowa Krüger. So hieß sie früher.

Ganz zufällig lag ihr alter Pass eines Tages im Flur auf der Kommode. Neugierig hat er darin geblättert und sich gefreut, dass sie auf dem Foto noch fast ein junges Mädchen ist. Für ihn ist sie einfach Irene.

Sie arbeitet als Schwester im Krankenhaus, und das in Schichten. Genau dort, wo operiert wird. Bevor eine Operation beginnen kann, muss Irene alles sorgfältig vorbereiten. Alle Instrumente und Geräte griffbereit sortieren, damit sie jedes sofort zureichen kann, wenn der Arzt es während der Operation verlangt. Dann ist sie vermummt wie ein Typ von einer anderen Galaxie. Mit grüner Haube und einem Tuch vor dem Mund. Sie trägt Gummihandschuhe, unter denen sie feuchte Hände bekommt.

So hat sie es ihm beschrieben. Er würde immer Angst haben, gleich zu ersticken. Mit einem Tuch vor dem Mund.

Diese Vorbereitung ist ganz wichtig. Das weiß der Junge, den wir wie alle anderen ebenfalls Mäxchen nennen wollen. Er kann die Wichtigkeit sogar riechen. Denn wenn Irene nach Dienstschluss die Wohnung betritt, trägt sie den Geruch der Desinfektionsmittel herein. Jedes Mal ist sie dann sehr müde und würde wahrscheinlich über Mäxchens Hausaufgaben einschlafen, statt sie zu kontrollieren.

Darum geht er zu Herrn Berger.

Herr Berger ist einmal Irenes Patient gewesen. Sein Blinddarm musste herausoperiert werden.

Das kann Mäxchen nicht vergessen, und immer, wenn er Herrn Berger auf sich zukommen sieht, versucht er sich vorzustellen, wie dessen Bauch unter dem karierten Hemd aussehen wird. Mit der Narbe darauf. Ob sie sich ebenso schlängelt wie die Farbrisse auf seiner Tür? Oder vielmehr einem Strich gleichen, glatt wie am Lineal gezogen? Das würde viel besser zu Herrn Berger passen.

Dann muss er sich immer zwingen, nicht an die Narbe auf Herrn Bergers Bauch zu denken, sondern an die Zahlen vor sich auf dem weißen Papier. Darum ist er ja in der fremden Wohnung, sitzt an diesem Tisch. Irgendwie muss er den Kampf gegen dieses Mathemonster gewinnen. Das erwartet Irene und das will Herr Berger erreichen, dafür ist er Lehrer.

Früher ist Herr Berger sogar Irenes Lehrer gewesen. Nachdem sie aus dem fernen Russland gekommen war. So lange kennen sie sich schon. Er soll damals eine richtige glatte Haarpracht gehabt haben. Wie eine seidene Kappe. Immer gut gekämmt. Nie hing ihm eine Strähne in die Stirn. Aus dem dunklen Haar blitzte der Scheitel hell hervor. Als hätte Herr Berger ihn mit einem Stück Kreide gezogen. So hat es Irene ihm aus ihrer Erinnerung geschildert.

Irene hatte ihn aber sofort wieder erkannt, als er ihr Patient wurde. Auch ohne die seidene Kappe. Jetzt breitet sich der Scheitel über seinen ganzen großen Schädel aus. Kreideweiß leuchtet er noch immer. Weil Herr Berger nur selten an die Sonne kommt. Höchstens mal auf seinen Balkon. Den großen Einkauf besorgt eine Frau aus seinem Haus.

Nach ihrem Schichtschluss hat Irene ihn an seinem Bett besucht. Nicht als Operationsschwester. In ihren Sachen, die sie zur Freizeit anhat. Jeans und T-Shirt oder Bluse. In einem Kleid läuft sie niemals umher.

Etwas verlegen ist sie gewesen, weil sie ganz unerwartet und plötzlich bei ihrem früheren Lehrer erschien. Er musste annehmen, dass sie ihn in guter Erinnerung behalten hatte und ihm dankbar war. Sie hoffte sogar, dass er so denken würde. Ihre tatsächliche Absicht wollte sie verbergen, bis sich eine günstige Gelegenheit bieten würde, sie vorzutragen.

Dafür vergingen die Minuten, in denen sie Erinnerungen tauschten und Irene sich wunderte, wie gut der alte Mann noch über damals Bescheid wusste. Auch über ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Wegen ihrer Herkunft aus dem fernen Russland.

Er hatte sie für Nachmittag in die Schule bestellt, um mit ihr zu üben. Zweimal in der Woche. Obwohl er dafür gar nicht zuständig war. Er hatte es mehr mit Zahlen zu tun, mit Lehrsätzen sowie mit Plus und Minus und Zähler und Nenner.

Endlich entdeckte Irene nun eine Möglichkeit, ihr Anliegen vorzutragen.

Diese hat sie dann genutzt und ihren Kummer gestanden. Hat sich nicht geschämt zuzugeben, dass ihr Mäxchen in der Schule keine Leuchte ist. Das konnte den alten Mann nicht verwundern. Auch Irene hatte im Unterricht nicht vor Fleiß und Können geglänzt, erinnert er sich. Umso mehr freut es Herrn Berger jetzt, dass sie es mit Fleiß und gutem Willen bis zur Operationsschwester gebracht hat. Ohne fremde Hilfe sogar. Und das will etwas bedeuten!

Er will gern helfen, hat er zu Irene gesagt und gelächelt. Richtig zu lachen wagte er nicht wegen seiner Narbe. Beim Lachen spannt die Haut. Auch auf dem Bauch. Es gefällt ihm aber, wieder eine Aufgabe zu haben. Damit war es beschlossen. Sie gaben sich die Hand wie zwei in einem Geheimbund.

Zuerst hielt es Irene auch geheim. Mäxchen spürte aber, dass sie ihm etwas mitteilen wollte, das sie wie eine Last mit sich herum schleppte. Von einem Raum in den anderen. Er kennt Irene gut und nimmt immer sofort wahr, wenn sich irgendetwas gegenüber sonst verändert hat. Beim Abendessen endlich rückt sie mit ihrer Neuigkeit heraus.

Sie hat sich also mit ihrem ehemaligen Lehrer verbündet, um ihn, Mäxchen, im Kampf gegen das Mathemonster zu stärken. Sie nimmt sogar seine eigene Ausdrucksweise auf, um es ihm leichter zu machen.

Ihm schmeckt es nicht mehr, nicht einmal die echte Thüringer, für die er sich auf dem Rummel sogar vor der Bude anstellt. Mit viel Ketchup und Senf. Da kann die Menschenschlange noch so lang sein.

Irene will ihn aufmuntern. „Das ist ein netter alter Mann“, sagt sie. „Du kannst zu ihm kommen, so oft du willst. Und er will dafür keinen Cent haben …“

Ob sie vielleicht glaubt, dass Mäxchen dabei ans Geld gedacht hatte?

Ohne Abschied verschwindet er in sein Zimmer. Er fühlt sich von Irene verraten. Einem Wildfremden verpetzt sie seine Ohnmacht beim Anblick der Zahlen- und Formel-Ungeheuer.

Als Irene wenig später hereinkommt, täuscht er festen Schlaf vor. Ob sie ihm glaubt, weiß er nicht.

Am nächsten Morgen findet er einen Zettel neben dem Frühstück. Mit drei Zeilen in Irenes sauberer und schnörkelloser Handschrift: Er brauche nicht zu ihrem Lehrer zu gehen, sie würde dem alten Mann Bescheid geben.

Mäxchen konnte richtig herauslesen, dass sie traurig war und sagte im Stillen zu sich: Nun gerade! Sie soll nicht traurig sein und nicht enttäuscht. -

Seitdem betritt Mäxchen jeden Nachmittag das alte Haus auf dem Hügel und geht zu Herrn Bergers Fleiß- und Schweißstunde. So sagt Herr Berger selbst dazu. Ohne Schweiß kein Preis, meint er lachend und freut sich, dass er den bekannten Spruch auf diese Weise umgedeutet hat.

Selbstverständlich ist Mäxchen gut gekämmt, und auch die Hände hat er gewaschen.

Mit seinem rechten Ellbogen drückt er ein Bündel Bücher und Hefte an seinen Körper. Weil der Schulrucksack ihn ja verraten würde. Aber fremde Leute müssen nicht unbedingt wissen, dass er zu Herrn Berger geht, um sich von ihm helfen zu lassen. Gleich würden manche Leute behaupten, Max Stange wäre ein Dummer, dem man das Einmaleins mit dem Teelöffel einflößen muss.

Darum hat er es auch eingeführt, dass er gleich darauf noch einmal losgeht, um für Herrn Berger etwas einzukaufen. Damit die Leute sehen, weshalb er Herrn Berger besucht. Zuerst trabt er zu Bäcker Brösel. Mit einem Brot kehrt er dann zurück. Oder mit einem Paket Kuchen. Herr Berger hat es gern, wenn er am nächsten Morgen zum Frühstück Kuchen essen kann. Aber altbacken muss er sein. Dieses Wort hat sich Mäxchen gemerkt und weiß, dass damit Kuchen von gestern gemeint ist.

Das Brot oder das Kuchenpaket hält er auffällig vor seinen flachen Bauch, wo es von allen gut erkannt werden kann. Danach kauft er am Kiosk die Zeitung für Herrn Berger. Es ist eine, die niemand erkennen soll, weil es dem früheren Lehrer peinlich wäre. Deswegen rollt oder faltet Mäxchen sie. Je nachdem, ob er ein T-Shirt oder seine Jacke trägt. Darunter verbirgt er die peinliche Zeitung und schmuggelt sie unbemerkt in Herrn Bergers Wohnung. Heute verschwindet sie schnell unter seinem T-Shirt, denn es ist ein freundlicher Frühlingstag, an dem er ohne Jacke auskommt.

Die Sonne hat sich einen Ausguck zwischen den Wolken gesucht. Ihr Licht breitet sich in der schmalen Straße aus wie eine Goldauflage auf einem Schmuckstück.

Wer ihn bei seinen Einkäufen beobachtet, weiß dann, dass er kein dummer, sondern er ein guter Junge ist, der in seiner Freizeit dem alten Lehrer hilft.

Das ist Mäxchens Trick. Den hat noch nicht einmal der schlaue Herr Berger durchschaut.

Vorsichtig berührt Mäxchen mit einer Fingerspitze der anderen Hand den Klingelknopf links neben der Tür. Es ist seine ‚gute’ Hand, nämlich die linke. Damit schreibt und isst er, und auch zum Werfen benutzt er sie. Das sieht komisch aus und ungeschickt, täuscht jedoch.

Ungeschickt ist er nur mit der rechten Hand. So merkwürdig geht es bei ihm zu. Wer ihm schon einmal zugesehen hat, wenn er auf sein Fahrrad steigt, weiß, dass er sich dazu auf die rechte Seite stellt und das linke Bein über Querstange und Sattel schwenkt. Dass hat mal einer nachmachen wollen, ist dabei aber gestürzt. Bei Mäxchen ist alles irgendwie verkehrt herum von der Natur eingerichtet.

Einmal hat er gehört, was er nicht hören sollte: Als Irene zu einer Bekannten gesagt hat, Max wäre schon verkehrt herum auf die Welt gekommen. Mit den Füßen zuerst.

Die Hebamme und der Arzt hätten sich alle Mühe gegeben, um ihn vor der Geburt umzudrehen. Aber umsonst. Lange musste Mäxchen überlegen, wie er das verstehen sollte. Umdrehen. In Irenes Bauch vielleicht? Ging das überhaupt?

Aber er hat sich nicht drehen lassen und hat die Welt mit den Füßen zuerst berührt. Geradeso als wäre es ein vorsichtiger Test. Wahrscheinlich hat sie ihm gefallen, die Welt. Sonst würde er jetzt nicht vor dieser Tür stehen und darauf warten, dass Herr Berger sie öffnet.

Bis heute will er sich am liebsten niemals drehen. Nirgendwo. Nicht links, nicht rechts herum. Als Irene mit ihm zum ersten Mal zum Rummel ging und ihn auf das kleine Karussell setzte, ist er auf der anderen Seite gleich wieder ausgestiegen. Dabei wäre er tatsächlich gern einmal mit der Feuerwehr gefahren. Mit der großen aber, die sich nicht im Kreis dreht.

Daran muss er seitdem oft denken. Mit den Füßen zuerst heißt: Verkehrt herum. Darum ist auch die linke Hand seine gute.

Er drückt den Klingelknopf wie jeden Nachmittag um diese Zeit. Dann hat Herr Berger seinen Mittagsschlaf beendet und wartet auf seinen Gast. Außer an den Tagen, wenn Irene zu Hause ist. Dann kommt Mäxchen nicht. Weil Irene diese freie Zeit mit ihm verbringen möchte.

Manchmal besuchen sie den Tierpark. Mit einer Tüte voll hartem Brot und vielleicht auch dem Kartoffelrest vom Mittagessen. Irene findet es seltsam, dass ausgerechnet an diesen Tagen immer Kartoffeln von Mäxchens Essen übrig sind. Jedenfalls sagt sie das: „Ausgerechnet heute habe ich wieder zu viel Kartoffeln geschält.“ Aber er weiß genau, dass sie ihm die Freude macht, etwas für die Tiere mitnehmen zu können. Und wenn er nun an diesen Tagen immer weniger Hunger hat als sonst, scheinen sich die Wege ihrer Gedanken zu treffen.

So stellt es sich Mäxchen vor. Seit er einmal von Erwachsenen gehört hat, dass die Gedanken manchmal seltsame Wege gehen, versucht er herauszufinden, ob er seine Gedanken vielleicht lenken kann. Zu den Zahlen im Matheheft zum Beispiel. Aber es gelingt ihm nicht. Sie lassen sich einfach nicht steuern. Jedenfalls nicht dorthin. Wenn er in einem Buch liest, ist es anders. Da sieht er alles genau vor sich: Den Fluss, wo Huck Finn mit dem Floß unterwegs ist und die Höhle, wo Indianer Joe Unterschlupf findet. Auch erkennt er Flüsse und ein Meer, wo er doch nur eine Tür mit Farbrissen vor sich hat.

Einmal hat er sich eingebildet, in Herrn Bergers Wohnstube einen riesigen Condor zu sehen. Denn in seinen Gedankenreisen war er über das weite Meer gekommen und hatte das große Gebirge Anden erreicht. Wo diese mächtigen Vögel zu Hause sind. Er musste sich schütteln, um zu wissen, wo er wirklich war und erkannte den Kakadu.

So nehmen seine Gedanken ganz merkwürdige Wege.

Wenn Mäxchen sich jetzt umwenden und aus dem Flurfenster auf den weiten Hinterhof blicken würde, könnte er das Mädchen sehen, das dort mit dem Ball auf eine Mauer schießt. Dafür hat es sich ein Viereck ausgesucht, das von zwei Vorsprüngen gekennzeichnet wird. Sie ersetzen die Torpfosten. Bevor es den Lederball in dieses ‚Tor’ schießt, dribbelt es an den Gegenspielern vorüber, die Mäxchen aber nicht erkennen könnte, weil es sie nur in der Einbildung der Spielerin gibt. Sie schlägt Haken und übt sich in Drehungen, die schon beim Zusehen leichten Schwindel erregen. Der bleibt Mäxchen zum Glück erspart, weil er nicht auf die gewandte Fußballerin achtet.

Es ist Pauline, die sich den großen Hinterhof für ihre Ballübungen ausgesucht hat.

Vielleicht würde Mäxchen sogar glauben, es wäre ein Paul. Denn sie steckt in einer blauen Trainingshose, die gut und gerne sogar seine eigene sein könnte. Mit einem roten Streifen an beiden Außenseiten. Irene hatte gelacht und gesagt, nun sehe er wie ein General aus. Deren Uniformhosen würden solche Biesen zieren.

Nun spielt also ein kleiner General auf dem Hof Fußball. Seine Uniform wird von einem T-Shirt vervollständigt. Eigentlich sollte es wohl weiß sein und ohne alles. Aber die runden Tupfen des Fußballs haben für ein dunkles Muster gesorgt.

Ganz ungleichmäßig verteilt, sodass darin kein Sinn zu erkennen ist.

Mäxchen könnte dann einen blonden Haarschopf wahrnehmen, der an eine Bürste denken lässt. So kurz und stachelig ist ihr Haar.

Pauline schmückt sich auch nicht wie andere zehnjährige Mädchen, weder mit einer Halskette noch mit einem Fingerring. Ihre Fingernägel sind nicht rot oder blau oder grün gefärbt. ihre Knie zeigen dafür Schorf und offene Risse, die jetzt unter der Generalshose versteckt sind. Das kommt vom dauernden Klettern (und Fallen), weil kaum ein Baum vor ihr sicher ist. Egal welcher oder wo sie ihn findet. In einem Garten oder an der Landstraße.

Das ist außer dem Fußballspielen ihr liebster Spaß. Deshalb will auch keine Klassenkameradin ihre beste Freundin werden. Sie weiß, dass sie sich dafür etwas ausdenken muss. Zu ihrem 10. Geburtstag will sie jedenfalls eine Party geben. Davon weiß nur ihr Papa noch nichts. Und wenn sie eben mal nicht an ihren Ball tritt, überlegt sie, wie sie es ihm schonend beibringen kann.

Pauline kennt Mäxchen bereits, weil sie ihn oft gesehen hat, wenn er in das Haus auf dem Hügel gegangen ist. Aber sie weiß nicht, wen er dort besucht. Vielleicht seinen Opa? Denn er kommt dann jedes Mal bald wieder heraus und geht zu Bäcker Brösel und anschließend zum Kiosk.

Ihm zu folgen und ihre Neugier auf diese Weise zu befriedigen, hat sie bisher nicht fertig gebracht. Ihr Papa mag es nicht, fremde Leute zu beobachten und hält Neugier für keine gute Eigenschaft. Danach richtet Pauline sich. Dass ihr Papa es aber ebenfalls nicht mag, wenn sie ihre Schuhe beim Fußballspielen ‚zerschleddert’, vergisst sie gern. Er bemerkt es erst immer, wenn er ihre Schuhe abends neben der Tür stehen sieht. Dann stöhnt er nur und schüttelt den Kopf, als sei er sehr enttäuscht. Doch schon im nächsten Augenblick muss er an andere wichtige Dinge denken, sodass er vergisst, mit seiner Tochter zu schimpfen. Er muss einkaufen und Geschirr spülen, die Waschmaschine füttern und für Pauline kochen. Manchmal fragt er sie auch nach ihren Hausaufgaben. Aber er muss sich darüber keine Gedanken wie Irene um Mäxchens Hausaufgaben machen.

Paulines Papa hat Arbeit in der Stadtgärtnerei gefunden. Darum ist er mit seiner Tochter in die große Stadt an der Wuhne gezogen. Pauline weiß aber, dass sie die kleine Stadt auch verlassen haben, um nicht mehr ihrer Mutter zu begegnen. Nun fährt Pauline zweimal im Monat zu ihr. Dann wird das Wochenende jedes Mal sehr lang. Zuletzt hatte sie darum ihren Ball mitgenommen und war damit gleich nach dem Mittagessen auf die Straße gegangen.

Sie suchte sich ein Garagentor und übte sich im Elfmeterschießen.

Bald haben sich einige der Alten aus ihren Fenstern gelehnt und gerufen, dass sie aufhören solle, ihren Ball zu knolzen. Ruhe störenden Lärm, nannten sie, was Pauline mit ihrem Ball veranstaltete. Dann rief noch einer mit heiserer Stimme: „Ich beschwere mich bei deiner Mutter! Dann warst du die längste Zeit hier! Oder ich rufe die Polizei!“

Pauline hätte nichts dagegen gehabt, wenn er sich tatsächlich beschweren würde. Oder auch die Polizei rufen. Vielleicht brauchte sie dann nicht mehr diese langweiligen Pflichtbesuche zu machen?

Jedes Mal kommt sie sich nämlich wie eine Besucherin vor, die nur darauf wartet, bald wieder abreisen zu können. Sie langweilt sich, wenn sie nur herumsitzt. Immer soll sie dann bei der Mutter in der Küche sein und zusehen, wie deren flinke Hände Kartoffeln schälen oder das Fleisch klopfen. Weil es natürlich etwas Besonderes geben soll, wenn sie zu Besuch ist. Als wenn sie zu Hause bei ihrem Papa nur Brot und Wasser bekommen würde! So denkt Pauline. Oder sie lümmelt im Wohnzimmer vor der Mattscheibe.

Ihre Mutter kann es nicht unterlassen, von Paulines Papa schlecht zu reden, weil er lange Zeit ohne Arbeit gewesen ist. Sie meint, er sei zu faul gewesen, um sich ernsthaft zu bemühen. Dann läuft Pauline immer schnell aus der Küche, denn das will sie nicht hören. Einmal ist sie sogar vom Tisch aufgestanden, hat den Stuhl umgeworfen und die Wohnung verlassen. Am liebsten hätte sie im Wartehäuschen auf den Abendbus gewartet. Auch ohne ihren Rucksack. Auf das bisschen Wäsche und die Zahnbürste konnte sie gut verzichten.

Doch dann kam ihre Mutter angerannt, fast atemlos und noch mit vorgebundener Cocktailschürze. So vornehm ist sie nämlich.

Sie konnte gar nicht begreifen, weshalb ihre Tochter geflüchtet war.

Pauline sagte es ihr. Ihr Papa ist nicht faul. Das weiß sie ganz genau.

Jeden Morgen steht er zeitig auf und bereitet ihr das Frühstück, ehe er das Haus verlässt, um in der städtischen Gärtnerei zu pflanzen. Oder zu graben. Oder zu mähen. Das macht er alles. Und im Frühjahr die zarten Pflänzchen pikieren. Auch muss er Bäume beschneiden. Wenn er davon spricht, bekommt Pauline jedes Mal gleich eine Gänsehaut. Weil sie glaubt, dass es den Bäumen Schmerzen bereiten muss, wenn die Säge ihnen Äste abschneidet. Sie denkt dann an ihren Arm und stellt sich vor, wie stark die Schmerzen sein müssen, wenn man ihn abtrennt.

Ganz stolz ist sie aber, wenn sie im Frühjahr die Narzissen und etwas später die bunte Tulpenpracht auf Rabatten und den städtischen Anlagen bemerkt. Ihr Papa hat sie gezüchtet und viele davon auch gepflanzt. Die ganze Stadt hat er geschmückt und schön bunt gemacht. Die Leute sollten sich freuen. Aber enttäuscht sieht sie dann, dass fast alle Leute vorüber hasten und kein Wort darüber verlieren.

Undankbares Volk, schimpft sie dann im Stillen. Sie wird sich in Acht nehmen, es laut zu sagen. Für ihren Papa würde es nur Ärger bedeuten.

Pauline weiß nicht, was sich Mäxchen manchmal anhören muss, wenn Irene von ihrem Arbeitstag berichtet. Was nicht oft geschieht. Aber wenn sie etwas erlebt, was sie nicht zur Ruhe kommen lässt, bleibt sie nicht still. Wenn ein Kind wie Mäxchen vor ihr auf dem Operationstisch gelegen hat. Dem ganz schnell geholfen werden musste. Weil es von einem Auto überfahren wurde. Oder von einem Hund gebissen. Oder von einem Baum gefallen ist. Es hätte dann sogar Pauline sein können.

Darüber muss Irene dann einfach sprechen. Ein anderer als ihr Sohn Max ist ja nicht da.

Trotzdem: Auf ihren Papa lässt Pauline nichts kommen. Auch wenn er den Bäumen Arme und Hände absägt.

Ihre Mutter vermisst sie nicht. Aber sie wünscht sich eine Mama, die sie in die Arme schließt und aufmuntert, wenn sie einen schlechten Tag erwischt hat. Das kommt bei Pauline meistens dann vor, wenn so schlechtes Wetter ist, dass sie nicht mit dem Fußball spielen kann. Sich ihrem Vater in die Arme zu werfen und sich von ihm Trost zu holen, kommt ihr nicht in den Sinn. Und freiwillig verteilt ihr Papa keine Zärtlichkeit.

„Ich werde immer für dich da sein und meine Pflicht erfüllen!“, sagt er und ist dann jedes Mal zufrieden mit sich. Etwas anderes kommt ihm gar nicht in den Sinn.

Hinter der grünen Tür erwachen nun Geräusche und Stimmen. Die Geräusche entstehen, weil Herr Berger in seinen Hausschuhen über den Boden schlurft. Als könnte er vor Alter und Schlappheit die Füße nicht mehr heben. Wie dieses Tier, das Mäxchen nicht kennt. Aber er weiß, dass Herr Berger noch sehr kräftig ist. Jeden Morgen steht er im Turnzeug mit vorgestreckten Armen auf dem Balkon, als wolle er wie ein Mondsüchtiger über ein Dach balancieren. Er beugt die Knie und wippt dabei auf und ab. Laut zählt er dann bis zwanzig. Bis zwölf oder dreizehn folgen die Zahlen flott hintereinander. Danach scheint es aber manchmal, als könne sich Herr Berger an die nächste Zahl nicht mehr erinnern. Doch endlich fällt sie ihm wie ein Rülpser über die Lippen. Die zwanzig klingt dann nur noch wie ein müder Hauch.

Mäxchen hat manchmal mitgezählt. Sonntags zum Beispiel. Wenn er sich über die Balkonbrüstung lehnt, kann er Herrn Berger gut beobachten. Das Haus, in dem er und Irene im ersten Stock wohnen, hat seinen Platz etwas abseits auf der anderen Straßenseite. Wo der Hügel mit leichtem Anstieg beginnt. Er hat Herrn Berger nicht verraten, dass er ihm manchmal heimlich bei den Lockerungsübungen zusieht. Wer weiß, ob es ihm angenehm ist zu wissen, dass ihm heimlich jemand zusieht und sogar seine Kniebeugen mitzählt? Die schnellen und gelungenen und die späteren, zu denen er sich nur mühsam und stöhnend zwingen muss? Dass er ‚zwanzig’ haucht, in Wirklichkeit aber erst bei achtzehn ist und sich damit selbst betrügt?

Die Stimmen hinter der grünen Tür mit der abblätternden Farbe gehören Herrn Berger und seinem Kakasie.

Das ist ein weißlichgelber Kakadu. Herr Berger behauptet, Konrad stamme von echtem Vogeladel ab, darum gehöre es sich nicht, ‚du’ zu ihm zu sagen. Deshalb diese vornehme Bezeichnung.

Die hat Mäxchen inzwischen übernommen.

Weil er nicht unhöflich sein möchte. Er weiß, wie er jemand anzusprechen hat, der dem Adel angehört. Das kennt er aus Büchern ebenso wie aus Filmen.

„Immer herein!“, ruft Kakasie und: „Gut so!“ Das sogar gleich zweimal.

Wenn Kakasie dies ruft, hat Herr Berger schlurfend die Tür erreicht. So wie Kakasie jeden Nachmittag seine Sprüche aufsagt, sagt auch Herr Berger jedes Mal: „Da bist du ja!“ Er hält die Tür auf wie ein Pförtner, der einen freundlichen Besucher empfängt und fügt dann hinzu: „Habe schon gedacht, dass du …“

Aber ebenso wie sonst erfährt Mäxchen auch heute nicht, was Herr Berger gedacht hatte. Danach gehen Herr Berger und sein Privatschüler um den runden Tisch herum, der wie eine Festung erscheint, die man erstürmen muss.

Der eine links herum, am Fenster vorüber (Herr Berger) und der andere (Mäxchen) an der Zimmerwand entlang. Auf der Tischseite, die zur Couch weist, treffen sie aufeinander und setzen sich.

Dann legt Mäxchen seine Hefte und Bücher ab und erwartet Herrn Bergers Frage. Jedenfalls war es so, als er mit seinen Besuchen bei Herrn Berger begann. Inzwischen weiß er, dass Kakasie das erste Wort hat.

„Immer herein!“, beginnt er auch sofort und nickt dabei so heftig, dass der Käfig wackelt. Dann hüpft er von seiner Schaukel und krallt sich am Gitter fest. „Gut so! Gut so!“

„Kakasie! Still jetzt“, fordert ihn Herr Berger auf. Aber Kakasie beendet sein Geschwätz erst, nachdem Herr Berger ihn eindringlich gemahnt hat: „Hören Sie jetzt auf, Kakasie! Hören Sie endlich auf!“

Schmollend steckt der weiße Vogel dann den Schnabel unter seine Flügel. Die Federhaube steht dabei wie ein selbstständiges Teil in der Luft. Zuerst fragt Mäxchen, ob er wieder zum Bäcker gehen soll. Herr Berger nickt und deutet auf den Turm aus Münzen, den er bereits auf dem Tisch errichtet hat.

„Und am Kiosk mit den Zeitungen verlangst du dann noch eine Packung Priem.“ Herr Berger verzieht das Gesicht, als müsse er lachen, es aber gern unterdrücken möchte.

„Gut so!“, schreit Kakasie, als wisse er genau, was damit gemeint ist.

Dann wäre seine Adeligkeit schlauer als Mäxchen, denn der weiß nicht, was er bei der Zeitungsfrau kaufen soll.

„Das ist schwarz wie Lakritze. Etwas zum Kauen. Weil ich nicht mehr rauche.“ Er weist hinter sich, wo in einem Ständer aus fast schwarzem Holz Herrn Bergers Tabakpfeifen ordentlich aufgestellt sind. Nur noch zum Ansehen. „Dafür stopfe ich mir jetzt einen Priem in den Mund.“ Nun lacht er aber doch. „Der ist scharf, sehr scharf.“ Er hebt mahnend den Lehrerfinger. „Lass dich nicht verleiten, Junge! Das ist wirklich keine Lakritze.“

Nun weiß Mäxchen endlich, weshalb Herr Berger neuerdings manchmal schwarze Spucke in den Mundwinkeln hat. Einmal war er fast schon so weit, ihn zu fragen. Weil er dachte, es könnte vielleicht von einer Krankheit kommen. Aber dann fand er, dass seine Neugier Herrn Berger vielleicht beleidigen könnte. Er war schließlich dessen Schüler, der am besten über so etwas hinweg sah. Über den schwarzen Speichel, verbesserte er sich im Stillen, denn so bezeichnet Irene, wozu er Spucke sagt.

Er geht los. Zum Bäcker zuerst. Davon ist der Kiosk nicht weit entfernt. Dort weist er auf die übliche Zeitung und will seinen Auftrag zu Ende führen, aber ihm fällt das Wort dafür nicht ein. „Noch etwas?“, fragt ihn die Frau hinter dem Bord, auf dem sie die verschiedenen Zeitungen ausgebreitet hat.

„Ich weiß nicht“, sagt Mäxchen und sieht sich um. Vielleicht entdeckt er es irgendwo und braucht dann nur darauf zu zeigen?

Umsonst. Die Frau wiederholt ihre Frage, sodass er sagt: „Was so ganz schwarze Spucke macht.“ Er spürt, dass er rot wird und winkt hastig ab, als könnte er das Wort wegwischen wie von der Schultafel. „So schwarzen Speichel!“

„Ach, du meinst wohl Kautabak?“ „Das war ein anderes Wort.“ Die Frau lacht. „Priem vielleicht?“

Mäxchen nickt erleichtert und nimmt endlich die kleine Pappschachtel entgegen.

Kaum hat er dem Kiosk den Rücken gekehrt, als er auf Pauline trifft. Er trifft sie tatsächlich. Nämlich mit den Händen, die er vor seinen Bauch hält und seinen Einkauf sehen lässt. Gleichzeitig versucht er zu lesen, was auf der Priemschachtel mitgeteilt wird. Als er erschrickt und aufblickt, sieht er in Paulines Gesicht. Sie ist nicht böse, weil sie seine Hände vor ihrem Bauch spürt. Sie lacht sogar und spricht aus, was er längst weiß: „Träumst du mit offenen Augen? Bist wohl ein Träumer, ja?“ „Ach“, sagt Mäxchen. „Ich habe dich gar nicht gesehen.“

Ein Mädchen, stellt er still für sich fest. Obwohl sie aussieht wie der schnelle Hans aus seiner Klasse, der beste Sportler, den er bisher kennengelernt hat. Dessen Haare sind ebenso kurz wie die des Mädchens vor ihm. Der schnelle Hans behauptet, dass er auf diese Weise etwas schneller laufen kann. Mäxchen kann aber nicht glauben, dass man flinker ist, wenn einem die Haare nicht im Sturmwind nachflattern. Nur ist tatsächlich noch keiner aus der Klasse schneller gelaufen als der schnelle Hans. Niemand hat auch so lange Beine und der Junge könnte deshalb genauso gut ‚langer Hans’ genannt werden. Mit ihm versteht sich Mäxchen gut.

Aber weshalb rennt dieses Mädchen mit diesem Bürstenkopf umher?„Woher kommst du denn so plötzlich?“, fragt er. Sie ist ihm noch nie aufgefallen.

Dabei kennt er fast alle Leute in der Umgebung. Das T-Shirt mit dem lustigen Ballmuster, das wir kennen, hat sie nun unter ihrer Trainingsjacke verborgen.

Geschickt wendet sie sich auf dem Absatz um, wobei Mäxchen schon bei diesem Anblick schwindelig wird. Sie deutet auf die Toreinfahrt im Hintergrund. „Von dem Hof dort hinten. Da bolze ich immer. Ist keiner da, den das stört.“

In diesem Augenblick bemerkt Mäxchen den Ball. Pauline hat einen Fuß darauf gestellt und erinnert ihn in dieser Haltung an einen der Großen und Berühmten aus der 1. Liga. In dieser Zeitung, die er jetzt unter seinem T-Shirt verbirgt, hat er schon oft einen von ihnen abgebildet gesehen. Genau in dieser Haltung. Wie ein Denkmal.

Pauline scheint dies zum Kennenlernen zu genügen und ist nun zu längerer Unterhaltung bereit. „Und was treibst du so? Ich meine in deiner Freizeit.“

Mäxchen hebt die Schultern, wobei sie sich unter seine Lockenmähne schieben.

Er weiß, wie er jetzt aussieht: Wie ein Gnom, mit zu kurz geratenem Hals und ohne Schultern. Immer wieder nimmt er sich vor, daran zu denken, sich vor anderen nicht selbst zum Gnom zu machen. Aber wie von einer inneren Maschine angetrieben kommt diese Bewegung zustande. Er kann es einfach nicht verhindern.

Schnell reckt er seinen Hals und schüttelt die Locken von den Schultern.

Was er so treibt? Er liest gern. Früher von Königen. Guten und auch bösen. Jetzt aber alles, was mit Abenteuern in fremden und fernen Ländern zu tun hat. Das ist wie die Welt entdecken. Aber er sagt: „Ich spiele Akkordeon.“ Er weiß, dass er übertreibt und auch ein bisschen angibt. Aber er hat kein schlechtes Gewissen. Irgendetwas Besonderes muss er schon von sich behaupten.

Unwillkürlich blickt Pauline auf seine Hände. Anerkennend nickt sie und schürzt die Lippen. Später wird Mäxchen diese Gewohnheit noch oft bemerken und sich jedes Mal an diese erste Begegnung erinnern. „Nur so? Ich meine für dich? Oder nimmst du Unterricht?“

Mäxchen verneint. Das fehlte ihm noch. Die Schule reicht ihm. Nein, nur so für sich selbst. Weil das Instrument in Irenes Kramkammer umherstand. Sie hat es irgendwann geschenkt bekommen, aber nie darauf gespielt.

Pauline gibt sich zufrieden und weist nun neugierig auf das Kautabakpäckchen in Mäxchens Hand. „Was hast du da? Lakritze? Da ist so eine schwarze Stange drauf. Gehört sie dir? Dann haben wir etwas gemeinsam. Ich mag die nämlich auch.“ Sie leckt die Lippen, als kann sie die Lakritze bereits schmecken.

Mäxchen schüttelt den Kopf. „Keine Lakritze“, antwortet er. Und meine schon gar nicht, fügt er in Gedanken hinzu. Er hat keine Lust, für das fremde Mädchen lange Erklärungen abzugeben. „Habe ich nur für wen gekauft. Kautabak.“

„Tabak zum Kauen?“ Pauline lacht. „Habe ich noch nie gehört. Und der soll schmecken?“

Mäxchen hebt die Schultern. Er hat ihn noch nicht probiert, darum kann er dazu nichts sagen. Pauline nimmt ihren Ball unter den Arm. Neugierig beugt sie sich über das Päckchen. „Lass uns doch mal kosten. Du darfst dann auch mit meinem Ball knolzen.“

Darauf legt Mäxchen keinen Wert. Er ist eben anders, verkehrt herum geboren, mit den Füßen zuerst. Aber die sind nicht fürs Ballspielen da. Sondern zum Befühlen der Welt. Weil er jedoch nicht unhöflich sein will, sagt er, dass er jetzt keine Zeit dazu hat. Vom Lernen oder gar Nachhilfe erwähnt er nichts. Er hat es eilig, das muss genügen.

Auf Paulines Vorschlag geht er nicht ein. Herr Berger hat nicht umsonst gewarnt: „Der ist scharf, sehr scharf!“

„Spielverderber!!“ Pauline knallt ihren Ball auf den Boden, sodass er einige Male aufspringt. Als wäre er wütend.

„Der gehört mir doch nicht!“ Dabei stellt sich Mäxchen das Vergnügen vor, zuzusehen, wenn Pauline in den Priem beißt. Jetzt weiß er das Wort wieder. Scharf, sehr scharf. Vielleicht hüpft sie dann ebenso wie ihr Ball. Voller Wut. Auf sich selbst, weil sie unbedingt probieren wollte. Und schwarze Spucke wird sie dann wie eine Fontäne versprühen.

Er unterdrückt jedoch den Gedanken an seine Schadenfreude. Bestimmt wäre es auch kein schöner Anblick. Den will er sich gern ersparen.

„Ich muss gehen. Er wartet.“ „Dein Opa?“ „Quatsch. Ich habe keinen mehr. Nur meine Mutter.“

Pauline lacht. „Dann können wir tauschen. Ich habe nur noch meinen Papa.“

Sie allein weiß, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagt. Doch von ihrer Mutter will sie nicht reden. Außerdem muss sie diesem Jungen mit der Löwenmähne nicht gleich alles verraten.

„Für wen ist der denn?“ Sie weist mit der Kinnspitze in die Richtung des Päckchens.

„Für einen alten Mann.“

„Musst du das tun? Hat der keinen sonst?“

„Bloß einen Vogel. Aber der kann nicht fliegen, weil er im Käfig sitzt.“

„Gut, dass du das sagst. Ich hatte schon gedacht, er wäre vielleicht etwas verrückt, dein alter Mann.“

„Der nicht!“, erwidert Mäxchen. Er will sich nicht länger von dem Kurzhaarterrier aufhalten lassen. „Dann tschüss!“, sagt er und wartet noch, bis Pauline antwortet: „Kommst du morgen wieder? Hierher, meine ich. Dann könnten wir ja ein bisschen knolzen.“ Sie weist in die Richtung, aus der sie gekommen ist.

Er hat sich bereits umgewendet, als er ein Hindernis spürt. Als wäre er an einem Zaun festgehakt. Aber es ist Pauline Hand.

„Ich gebe bald eine Party“, sagt sie und hat plötzlich große glänzende Pupillen. Bisher waren ihm ihre Augen noch gar nicht aufgefallen. Am liebsten hätte er sich umgesehen, ob vielleicht ein Lichtschein in ihre Augen leuchtet.

„Du kannst auch kommen. Ich lade dich ein.“ Pauline lacht. „Und bring’ noch einen Jungen mit. Sonst sind wir kleinen Mädchenbiester nämlich unter uns. Das wird stinklangweilig. Oder wir kriegen uns in die Haare!“

Pauline lügt, ohne rot zu werden. In Wirklichkeit weiß sie nicht ein Mädchen aus ihrer Klasse, das sie gern einladen möchte. Bestimmt will auch keins der Mädchenbiester zu ihr kommen. Aber soll sie wegen ihrer Notlüge gleich rot bis an die Ohren werden?