Mit dem Staatszirkus der DDR durch Europa - Shawn Ayahuasca Vega - E-Book

Mit dem Staatszirkus der DDR durch Europa E-Book

Shawn Ayahuasca Vega

4,9

Beschreibung

Die Geschichten erzählen vom quirligen Alltag im Staatszirkus der DDR und dem lockeren Reisen kreuz und quer unter dem Eisernen Vorhang hindurch. Sie erinnern an eine vergangene Zeitebene und an einen Farbtupfer im übermächtigen Grau. Hauptakteure jedoch sind die Elefanten Punsha, Pia, Oly, Thara, Daisy, Jana und Shura, mit welchen der Autor jahrelang eng lebte und arbeitete. Viele Episoden drehen sich um ihre Leben, ihre Eigenwilligkeiten, Freundschaften, Abenteuer und persönlichen Katastrophen. Sie verdeutlichen das ungewöhnliche Wesen dieser faszinierenden Tiere, ihre Geschicklichkeit, die Stärke ihrer Emotionen und die Kraft ihrer Körper, ohne sie aber zu verniedlichen und als harmlose, stets freundliche Comicfiguren darzustellen. Eingeflochten sind Fakten zu dem Unternehmen von Weltruf, dessen Mitarbeiter ihre Berufung lebten und die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen liebten. Lange vermochte der den Zirkus umrahmende stabile Zaun das Böse abzuwehren, doch dem würdefressenden Regime des Kapitals war er nicht gewachsen. So bleiben mit der Geschichte des Staatszirkus auch zwei Staaten verbunden, die nicht mit dessen Art und Kunst umgehen konnten. Dem einen, der alten DDR, war das eigensinnige Völkchen mit seiner Weltsicht und Exotik nicht ganz geheuer. Dem neuen, dem Selbstherrlichen, war der Staatszirkus unnützer Ballast und er ließ ihn gründlich von seinen Vollstreckern schleifen. Weitere Kapitel u. a.: Von den Ursprüngen und der Gründung des VEB Zentral-Zirkus Berlin/Staatszirkus der DDR bis zu seiner totalen Auflösung durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben - Die Tourneen der drei Unternehmen - Die Lebensdaten aller im Staatszirkus der DDR gehaltenen Elefanten - Vom Elefant-Sein - Zirkus-Elefanten heute - Die technische Basis des Zirkus AEROS - Die Programmbesetzungen bei den Tourneen der einzelnen Kapitel - Umfangreiche Foto-Galerie vom Zirkus AEROS, von Ensemblegastspielen und den Elefanten.

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Für Tiffany

Die Zeitebenen, sie sind oft derart verflochten und gedreht,

dann existiert kein Gestern, kein Heute, kein Morgen,

alles scheint ein Ganzes. Zeit? Zeit ist nur eine Illusion.

Inhalt

Vorwort

Der andere Planet -

Winterquartier Hoppegarten 1978

Ein Hauch Freiheit -

Zirkus AEROS auf ĆSSR-Tournee 1978

Elefanten-Gang -

Zirkus AEROS auf DDR-Nordkurve, Jaroslavl und Kasan 1979

Grenzenlos -

Niederlande-Deutschland-Tournee 1980

Chaos -

Zirkus AEROS auf DDR-Tournee, Ufa und Kriwoi Rog 1981

Dimensionen -

Zirkus AEROS auf Kaukasus-Tournee 1982

Auswärtsspiel und Abschied -

Österreich-Tournee 1983

Zirkus AEROS, Mitarbeiter und technische Basis

Die Elefanten der Geschichten

Part 1,

Porträts und Lebensdaten

Part 2,

In der Show -

Fotos

Part 3,

Die Elefanten-Gang im Frühsommer 1981 -

Fotos

Ein Nachtrag

Part 1,

Zirkus-Elefanten heute

Part 2,

Elefant-Sein

Part 3,

Elefantenhaltung im Staatszirkus der DDR

Lebensdaten aller Elefanten des Staatszirkus der DDR

Entstehen und Geschichte des Staatszirkus der DDR

Part 1,

Zur Geschichte der Ursprungszirkusse vor 1960

Part 2,

Die drei Großzirkusse ab 1960

Part 3,

Tourneen der Staatszirkus-Unternehmen

Part 4,

Ensemblegastspiele und Einzelengagements 1960-1989

Part 5,

Betriebsteile

Foto-Galerie

1978-1984: Zirkus AEROS, Elefanten, Auslandsgastspiele

Quellen, Literatur und Danksagung

Vorwort

Die Geschichten im Buch trugen sich im vergangenen Jahrtausend zu und so mögen sie im Vergleich mit der heutigen Sichtweise auf den Umgang mit Tieren, den neuesten Erkenntnissen über Biologie der Elefanten und dem Haltungs-Management einiger weniger, fortschrittlicher Zoos auch erscheinen.

Im 20. Jahrhundert aber war es in zoologischen Einrichtungen Normalität, Elefanten auf winzigen Beton-Plattformen auszustellen und sie den größten Teil des Tages, spätestens dann, wenn Pfleger Dienstschluss hatten, an Ketten zu fixieren. Von klein an, bis zum Tod, ein Leben in Ketten. Die zu jener Zeit modernen Elefantenhäuser verfügten dafür extra über tief verankerte Eisenringe. Das von den Menschen so bestaunte Riesen-Wesen - zeitlebens ein Gefangener. Bei den üblichen kleinen, selten gestalteten oder mit Beschäftigungsmöglichkeiten ausgestatteten Anlagen galt es als erforderlich, den Tieren durch engen Umgang etwas Abwechslung zu verschaffen und auch für die Körperpflege zu sorgen. Überall wurden deshalb Elefanten in alter Mahout-Tradition im Direkten Kontakt gepflegt, was nichts anderes bedeutet, als durch Dominanz der Pfleger. Jene oberste Position in der Rangordnung, jene möglichst totale Kontrolle, jener Versuch des Beherrschen der grauen Riesen lässt sich, entgegen verträumter Vorstellungen weltfremder Tierfreunde, nicht mit liebevollen Worten und Zucker durchsetzen. Das Sinnbild der Elefantendressur war und ist der Parier-Haken. Trotzdem bleibt es Irrglaube, ein so intelligentes Wesen vollständig kontrollieren zu können. Was setzt wohl ein Zweibeiner fünf Tonnen oder bei einem Elefantenkind auch nur einer halben Tonne entgegen? Unfälle mit Todesfolge durch Angriffe von Elefanten in Zoo und Zirkus im Direkten Umgang sind auch heute noch aktuell. Der Elefant ist ein außergewöhnliches Wesen, kein Zweifel, aber er ist nicht so wie die Benjamin-Blümchen-Verniedlichung für kleine und große Kinder. Er liebt nicht bedingungslos alle Menschen und offenbar ist die Gewalt, welche von ihm ausgehen kann, den Wenigsten bewusst. Man sieht es am völlig naiven Herantreten an einen Zirkus-Elefanten, am arglosen Aufsitzen von Kindern im Schnelldurchlauf für ein Foto im Nacken, am lustigen Ritt als Tourist durch exotische Natur oder alleine bei der Vorführung in der Manege. Glaubt wirklich jemand, die niedrige Piste ist ein Hindernis für die Tiere und man sitzt in einem Hochsicherheitsbereich mit Garantie auf Unversehrtheit?

Natürlich ist ein Elefant, wie alle Tiere, ausgenommen Tier Mensch, nicht von Natur aus bösartig oder aggressiv. Er ist Elefant. Mich verwundert immer wieder, wieviel Geduld und Nachsicht diese herrlichen Wesen ihren Zweibeinern überhaupt entgegen bringen. Doch die Behauptungen der Dresseure, ihre Tiere seien völlig harmlos, sind entweder grenzenlose Einfältigkeit oder, vorrangig, reines Geschäftsgebaren. Ein aufmerksamer, pflichtbewusster Tierhalter, eng mit seinen Pfleglingen und Partnern lebend, wird deren Charakter, Verhalten und Eigenwilligkeiten sehr gut kennen und vorausschauend reagieren können - und doch bleibt ein Quantum Ungewissheit über das, was im anderen Kopf vorgeht. Zum Glück, sonst würde die Tierwelt aus genormten Wesen mit on/off- Schalter bestehen.

Alle Tiere im Zirkus, bis auf eine Handvoll Ausnahmen weltweit, und auch immer noch der Hauptbestand der Zoos sind Tiere, welche in ihrer Heimat wild gefangen und als viel zu junge Tierkinder importiert wurden, selten schon von der Mutter entwöhnt. Dies Trauma - der Geborgenheit von Mutter und Familienverband entrissen, mit unverwandten, unbekannten Leidensgefährten willkürlich zu Gruppen zusammen gestellt zu sein, abgeriegelt vom natürlichen Lernverhalten, beraubt jeglicher Möglichkeit, Elefant zu sein, frei zu entscheiden, einen Mutterverband zu gründen, ein arttypisches Herdenverhalten zu entwickeln - bringt Konflikte, welche sich oft erst spät entladen. Noch vor wenigen Jahren (!) war es üblich, dass Zoos ihre bösartigen Bullen und Kühe töteten, weil eine weitere Haltung in den dürftigen Häusern lebensgefährlich wurde. Den Stempel bösartig und aggressiv erhielt ein Tier schnell, eben dann, wenn es sich dem Druck widersetzte, weil es erwachsen wurde oder weil psychische Probleme, durch die und in der Tristesse der Haltung, in seinem Kopf Gewitter auslösten und sich in Gewalt entluden, gegen Pfleger, Artgenossen, Mauern.

Von 1982 bis Mai 2011 wurden in Zoos weltweit 54 Menschen durch Elefanten im Direkten Kontakt getötet, mindestens 108 schwer verletzt. 80% der Verursacher waren Kühe (Datenbank der European Elephant Group).

Unfälle werfen Schatten auf das Geschäft, zeugen unangenehme Fragen und Diskussionen und werden deshalb gerne verschwiegen und so ruht die genaue Anzahl in tiefer Finsternis zirzensischer und zoologischer Unternehmen.

Auch im Staatszirkus der DDR war es normal, seine Elefanten in Ketten zu halten. Die wissenschaftlich geführten Zoos, bis heute als die Instanzen für Tierwohl von der Mehrheit bedenkenlos akzeptiert, sie taten es, warum hätte da ausgerechnet der Zirkus anders handeln sollen?

Ich kannte ausschließlich einen Direkten Umgang mit den grauen Riesen, ich liebte ihn und gab mir bei der 24h-Rundum-Betreuung größte Mühe. Wir boten bestmögliches Futter, eine Heizung auch in kühlen Sommernächten, eine Warmwasserversorgung und Duschen mit Schlauch und Wurzelbürste in Handarbeit, Späne satt zum Scheuern, viel Astwerk zur Beschäftigung und dicke Strohlagen als Nachtlager. Im Staatszirkus wurden die Grundbedürfnisse fortschrittlicher erfüllt als heute im Zirkus, Jahrzehnte später! Trotzdem erlaubten wir den Tieren kaum eigene Entscheidungen und wir wurden ihrer Natur, dem Elefant-Sein, nicht gerecht. Nein, zufrieden und glücklich haben wir sie kaum gemacht. Wir ließen sie veterinärmedizinisch bestens betreuen, fuhren aber mit ihnen wochenlang in unbeheizbaren Waggons durch halb Europa und im Winter ins tiefste Russland. Wir haben sie geliebt, aber zur Befriedigung menschlicher Schaulust benutzt.

Ich würde mir wünschen, dass in wenigen Jahren Menschen auf das Heute der Elefanten-Haltung sehen und so den Kopf schütteln, wie ich es mit der Sicht auf das Gestern tue.

So sind die Episoden erzählenswert, ein kleines Stück Zeitgeschichte, weil sie an ein Kapitel in der Tierhaltung erinnern und vom leichtfertigen Umgang berichten, aber auch viel vom Wesen dieser tollen Tiere zeigen.

Jene Leser, welche schöne, rührende Erlebnisse mit Elefanten erwarten, werden nicht enttäuscht, sie mögen aber den Umgang mit den Riesen und ihr Bild über diese Tiere ehrlich hinterfragen. Zirkusinteressierte finden Alltagsgeschichten und einige Daten aus der Zeit des Staatszirkus der DDR. Mancher Tierfreund mag etwas ernüchtert erkennen, dass Elefanten wundervolle Wesen dieser Erde sind, aber ebenso wenig wie die in Menschenhand missbrauchten Delfine und Wale den Menschen aus einem naturgegebenen Grundbedürfnis heraus bedingungslos lieben. Sie sind Wildtiere, keine zahmen Kuscheltiere.

Zirkusfreunde mit dem Engagement für Exoten und allgemein Tiere im Zirkus werden arg enttäuscht. Zirkus und verhaltensgerechte Tierhaltung schließen, bis auf eine geringe Anzahl von kleinen Haustieren, einander komplett aus, somit auch ehrliche Tierliebe.

Das vorliegende Buch ist kein Plädoyer für Elefanten (und alle Exoten) im Zirkus und in zoologischen Einrichtungen.

Der Autor

Der andere Planet

Erste Schritte, Berlin-Hoppegarten 1978

An einem frostigen Wintertag im Februar 1978 hatte uns die S-Bahn in Berlin-Hoppegarten angelandet.

Da standen wir junges Paar nun neben dem umfangreichen Gepäck, atmeten tief durch und waren voller Aufregung in der Erwartung auf den neuen Lebensabschnitt. Ich konnte damals nicht wissen, dass mich diese Zeit für immer prägen würde.

Mit einem Zischen schlossen die Türen. Das in Berlin allgegenwärtige und typische Fahrgeräusch ertönte und die S-Bahn entschwand ihrem nächsten Halt entgegen. Wir nahmen die Sachen, gingen den Bahnsteig entlang zum Treppenhaus und bewältigten die vielen steilen Stufen hinunter auf Straßenniveau. Dort angekommen, unter der Gleisbrücke und neben der Kopfsteinstraße weitertrabend, stoppten wir an der winzigen Schleife einer Menschenverteilerstelle und hielten vergeblich Ausschau nach einer Transportmöglichkeit. Ein Fahrplan, knapp und mit wenig Zahlen, zog klare Grenzen. Ein Linienbus fährt ab und an in die gewünschte Richtung. Jetzt aber nicht - so am Vormittag. Später Nachmittag wäre möglich. Nein, danke, kaum entzifferbare Tabelle, zu viel des Wartens.

Ein Schild gegenüber markierte einen Haltepunkt für Taxis, immerhin. Doch auch nicht mehr, Taxis waren hier nicht unbedingt häufig, soweit außerhalb und am Rande von Berlin. Die Handvoll Mitangelandete hatten sich bereits unauffällig in der waldigen Landschaft verteilt, in Richtung ihrer Häuser, irgendwo in der Ferne, unsichtbar für Fremdlinge. Die Auflösung war perfekt und wir fanden uns verloren im Nirgendwo. Ein wenig warteten wir, in der Hoffnung auf ein Taxi, schließlich war uns der Weg bekannt und wir fürchteten ihn angesichts unserer Traglasten. Dann aber wurde das Warten zur Last, schwerere als das Gepäck, und wir marschierten los.

Wir waren damals lernfähig. Verstanden bereits im nächsten Winter, die letzte S-Bahn-Tür zu kapern, um beim Halt, jung wie wir waren, über Bahnsteig und Treppen den Mitbewerbern davon zu schweben und so ein eventuell parkendes Taxi, verloren in der Einsamkeit, zu erbeuten. Zimperlich durfte man nicht sein, sonst war das Ziel der Begierde mit anderer Menschenfracht enteilt.

Bis zum bogenförmigen vieltürigen Eingangsportal der Galopprennbahn, schon viele, viele Minuten Fußweg lagen hinter uns, konnten wir auf einem Sandweg dem gealterten Kopfsteinpflaster ausweichen. Hier endete diese Art Fußgängerweg, jetzt schlängelte sich die Straße kilometerweit am Objektzaun der Rennbahn entlang, dann entschwand diese hinter Waldstreifen und rechterhand tauchten alte Villen auf. Düster und heruntergekommen lagen sie aneinander gereiht zwischen alten Bäumen und doch ließ sich ihre ehemalige Schönheit unter all dem Grau, den verwaschenen Farben und trotz zerbrochener Verzierungen und bröselnder Backsteine, erahnen. Ausruhphasen rückten näher zusammen, die Gepäcklast hatte sich verdoppelt, die Arme waren gewachsen und die Taschen berührten immer öfter die buckligen Pflastersteine. Hinter der großen Biegung und das erste menschliche Anwesen fast greifbar, sahen wir die schnurgerade finale Etappe. Dort in der Ferne lag das Ziel, das Ende des Pilgerpfades, und es sollte uns neue, nicht geahnte Horizonte öffnen. Endgültig letzte Ausruhpause, entschieden wir und hielten es wenig später doch nicht ein. Aber erst einmal lockerten wir die Arme, streckten den Rücken und musterten gedankenversunken die Allee mit den kahlen Bäumen.

D. und ich hatten den sicheren, eingefahrenen Jobs als Tierpfleger in einem Zoo gekündigt und uns für Abenteuer entschieden. Besonders ich fühlte mich eingeengt, gegängelt und sah im Zoo keine Zukunft. Ich liebte in jener Zeit Zoos und die Arbeit dort, doch der Gedanke, das ganze bevorstehende Leben im ewig gleichen Rhythmus an gleichem Ort verbringen zu sollen war nicht vorstellbar. Einfach unerträglich die beständige Bevormundung und der Druck der linientreuen Direktion und deren Lakaien an gesellschaftlichen Tätigkeiten teilzunehmen. Ich gehörte weder dem kommunistischen Jugendverband an, noch war ich bereit zum für das berufliche Weiterkommen notwendigen Beitritt in Die Partei, die bekanntlich, im Größenwahn verloren, immer recht zu haben glaubte. Zuwider waren mir die wöchentlich stattfindenden Belegschaftsversammlungen, für welche die Teilnahme quittiert und für deren Nichtteilnahme man sich erklären musste. Diese Pflichtveranstaltungen drehten sich um gesellschaftspolitische Fragen, höchstens am Rande ging es um Ziele oder Aufgaben im Zooalltag. Jämmerliche Versuche einer Gehirnwäsche, ermüdend und peinlich lächerlich. Sie fanden in regulärer Arbeitszeit statt, das bedeutete für mich bereits wieder ab Mittag die Elefanten bei schönstem Wetter in ihr Haus zu holen und bis zum nächsten Morgen an den Ketten zu parken. Politische Phrasen, wichtiger als Tierrechte - in einem Zoo. Dann musste ich für ein zweites Gespräch zur Direktion. Bei der ersten Verwarnung blieb ich im Interesse der Elefanten so einer Versammlung fern, diesmal hatte ich nicht an der Maiparade teilgenommen, jenem verordneten Bewinken und Bejubeln seniler Münchhausens auf der Tribüne vorm Rathaus. Ich erfuhr von meinen Defiziten bei der gesellschaftspolitischen Einstellung und danach vorrangig beurteilte man einen Zootierpfleger 1976 in der DDR. Ich hatte verloren und wir starteten den immer wieder verzögerten Anlauf zu einer Bewerbung beim VEB Zentral-Zirkus Berlin.

Zirkus Berolina gastierte im Berliner Plänterwald und da saßen meine Freundin und ich beim Einstellungsgespräch als Tierpfleger im Direktionswagen mit dem stellvertretenden Direktor D. Graetz. Wir hatten alles abgesprochen, waren einverstanden mit dem Vertraglichen und erfüllten wohl auch weit mehr an Voraussetzungen, als Berolina je erwartet hatte. So folgten die erforderlichen schriftlichen Bewerbungen, welche einen Briefverkehr der beiden zuständigen Betriebe bezüglich “Kaderakten“ nebst “Beurteilungen“ auslösten. Hinter dem Rücken der Betroffenen, übliche Praxis. Dann kam zu unserem völligen Erstaunen die Absage vom Berolina…

Monate später spielte jener in Neubrandenburg und ein Zufall fügte es, dass wir uns für einige Tage in der Nähe aufhielten. Nun wollten wir es doch genauer wissen, nach dem einst so positiven Gespräch. Herr Graetz war sichtlich erstaunt über unsere Hartnäckigkeit und ehrlich genug, die Zusammenhänge zu erklären. Was, um ihm gerecht zu werden, schon ungewöhnlich war. Da hatte der Zoo tatsächlich unsere "Unabkömmlichkeit" betont und war nicht bereit, uns einfach wechseln zu lassen. Er gab die Akten nicht heraus und den geballten schlagkräftigen Argumenten der Partei konnte der Sonderling Zirkus wohl nichts entgegen setzen und Berolina fügte sich. Wir waren nicht wenig beeindruckt ob unserer ungeahnten Wichtigkeit für den Zoo. Wer hätte das gedacht? Herr Graetz betonte, wir können es im nächsten Jahr doch erneut mit einer Bewerbung versuchen. Ja, klar! So ausgebufft war der Herr Stellvertreter dann eben doch nicht.

Unsere Enttäuschung war riesig und ich sah mich als ewig kleiner Tierpfleger im Zoo bei Maidemonstrationen, Versammlungen und mit Parteibeitrittsoption für meinen sozialistischen beruflichen Weg. Nein, so nicht! Und dann stand Zirkus AEROS irgendwann Sommer `77 in Ilmenau, wo wir Urlaub machten. Ein Aufbautag. Laute, ausnahmslos westliche Musik begleitete den Chapiteau-Aufbau. Zirkuswagen rollten heran, wurden rangiert. Viele Zuschauer sahen dem steten Wachsen der Zeltstadt erstaunt zu. Der Zirkus hatte uns infiziert, wir nahmen allen Mut zusammen und gingen zum Direktionswagen. Herr Schoof, stellvertretender Direktor, empfing uns freundlich und hatte sofort ein offenes Ohr für die vorgetragene Bewerbung. Was nicht verwundert, war der Zirkus doch stets klamm bei seinem Personal. Er holte Direktor O. Bark hinzu und dieser, in jenem Jahr neuer Chef vom AEROS, war clever genug von seiner vorausgegangenen Tätigkeit beim Fernsehen, zeigte sich sogleich angetan und hatte für das offen erklärte Problem zwischen Zoo und Berolina eine Lösung. Keine großen Bewerbungen, im Zoo kündigen, mit der notwendigen Fristwahrung und dann sofort vom AEROS eingestellt werden. Fertig! Wo liegt das Problem? Wir sehen uns bald und bereisen im nächsten Jahr die ĆSSR.

So erhielten wir die Zusage vom Zirkus AEROS und hätten bereits vor einigen Monaten diese Kopfsteinstraße entlanglaufen können, wenn nicht im Herbst meine Einberufung zum Reservistendienst erfolgt wäre. Die Grundwehrpflicht lag kaum zwei Jahre zurück und mit solcher Überraschung der denkbar negativsten Art hatten wir beide überhaupt nicht gerechnet. Doch die greisen paranoiden Militärs, im Kalten Krieg immer bereit zum Klassenkampf, brauchten Menschenmaterial für ihre Heimatverteidigungspläne und gaben sich weder mit den mir bereits gestohlenen anderthalb Lebensjahren, noch mit meinen Vorsprachen um Aufhebung der neuerlichen Einberufung wegen bevorstehender Heirat und Arbeitsplatzwechsels zufrieden und erreichten erst Befriedigung durch meine sechswöchige staatsbürgerliche Ehrenpflicht als Reservist. Auch meine Beteuerung, ich würde gerne auf jene Ehre zu Gunsten anderer verzichten, blieb den eifrigen Lakaien mit Hang zur Wichtigtuerei im Wehrkreisamt unverständlich, ihr Dasein kreiste in anderen Sphären. So missbrauchte man mich erneut, mit einer Ausbildung als Rettungssanitäter auf dem Schlachtfeld eines Atomkrieges. Abgesehen von den mir absolut fremden Gedankenwelten in verknoteten Hirnwindungen dafür zuständiger Militärstrategen, blieb die Ausbildung eine Posse. Nur einberufene unwillige Reservisten aller Altersstufen, inklusive der zum Ausbilden genötigten Ärzte, was wird das wohl? Notdürftig eingekleidet mit Resten aus dem Magazin, kaum jemandem passte irgendetwas, fanden wir Benutzten uns in langen grauen Wintermänteln, schwerer und steifer als jede Pferdedecke, vor der Kaserne wieder und damit auch unseren Zynismus. Ein wüster Haufen, wie das lächerliche Aufgebot der letzten Stunde. Im Halbdunkel und wankend in der Kluft sahen wir für einen Beobachter mit offenen Augen sicher wie eine Bedrohung aus der Geisterwelt aus. Zombies aus dem Schattenreich. Es blieb ein geballtes Trinkerfest mit Geländespielcharakter einer Unterstufe. Gut, für einige zwischendurch, auch mich, mit ein paar Tagen Arrest wegen “Ungehorsam“, aber darauf waren wir stolz. Und wir entströmten die Kaserne so klug wie wir sie vorher zu betreten gezwungen wurden, aber sechs Wochen hatte man uns zusätzlich vom Leben geraubt und die Haare aus Rache wegen permanenter Unwilligkeit kurz vor Entlassung noch einmal extra gründlich geschoren. Skinheads, in der DDR. Mir brachte das dann wenige Wochen später Ärger an der Grenze ein. Das eingereichte Passfoto zeigte mich mit schulterlangen Haaren und Vollbart, scheußlich, aber damals zeigte man damit eine Haltung. Nun verließ ich den Ehrendienst mit millimeterkurzer Stoppelfrisur und… einem 4-Wochen-Bart. Denn, nach zwei Wochen in Uniform, wollte mir einer der Ärzte helfen, dem alten Aussehen wieder näher zu rücken und diagnostizierte eine Bartflechte. Nein so etwas aber auch. Ich durfte mich nicht rasieren, musste allerdings, damit es auch echt wirkt, eine weiße Salbe dick im Gesicht verteilen. Da sah ich wie ein Weissclown meines zukünftigen Arbeitgebers aus und kam mir genauso vor. Trotzdem vergaß ich das Schminken gern, trug aber zur Sicherheit die wertvolle Tube mit der Lizenz zur Maskerade nebst einer Ausrede stets bei mir. Man wusste mit uns bockigen Reservisten wenig anzufangen, deshalb wurden wir regelmäßig zur Bewachung der Kaserne abgestellt. Meist durfte ich da um die Munitionsbunker herum lungern, abseits und getarnt im dichten Tann. So war ich aus dem Blickwinkel der Stabsoffiziere, welche wenig erfreut über meine Krankheit waren. Ich konnte ja nicht einmal eine Gasmaske aufsetzen und musste dann wie ein unartiges Kind in der Ecke stehen und konnte grinsend den anderen beim Spielen zusehen. Dann entglitt einem Offizier der Überblick und ich stand am Kasernentor Wache. Morgens, als der Kommandeur, begleitet von Achtung!, Strammstehen und Grüßen, zum Dienst die Tür durchschritt. Die flitterdekorierte Hoheit verlor beim Erblicken meines Gesichts über das seine jegliche Kontrolle, ich musste mir auf die Zunge beißen, um über diese Situation nicht in Lachkrämpfen zu zerfließen. Bei solchen Gelegenheiten erkennt man, wie brüchig der Steg zwischen Affe und Mensch ist. Es folgte ein Riesengeschrei mit dem Diensthabenden Offizier und dann durfte ich nicht mehr stolz mit Kalaschnikow über der Schulter am Tor stehen. Ich schälte mit anderen untragbaren Reservisten nun wochenlang Kartoffeln in der Küche und fraß mich durch die Vorräte der Offiziersmesse…

Kaserne und Heirat lagen eine Woche hinter uns und das Neue schlich bei diesen Gedanken langsam näher. Endlich das bekannte große Schild an der Weggabelung, am Ende des Holperweges und nun die verwohnten Villenschönheiten im Rücken: das Symbol des kugellaufenden Löwen vor dem Chapiteau und der Schriftzug VEB Zentral-Zirkus Berlin. Darunter „VEB Zentral-Zirkus, Winterquartier“ und die Hinweise auf Objekt I und II, getrennt durch eben jene Hoppelstraße mit unmittelbarer Auffahrt auf die B1, damit Anschluss an den nahen Berliner Ring und direkt ins Berliner Stadtzentrum. Im Objekt II hatte Zirkus Berolina seinen Wintersitz, mit festen Stallungen und einer Probemanege, dort befanden sich riesige Wagenunterstellhallen, Lagerhallen für Heu und Stroh, sowie eine Ausrüstungshalle der Zentral-Zirkus-eigenen Volksfest-Unternehmen (Kirmes). Wir bogen nach links ab, Richtung Objekt I. Rechts hinter dem Objektzaun lag das Elefantengehege, der beeindruckende Stallkomplex für Elefanten, Pferde und Exoten der Zirkusse AEROS und Busch, mit Stroh- und Heulager, Aufenthaltsräumen und Duschen im Dachgeschoss, und die angeschlossene Raubtierhalle mit den Außenkäfigen und das Hauptheizhaus. Alles dicht umstellt von Zirkuswagen in dunkelroter Umrandung mit dem markanten engen Schriftzug AEROS und in blauer Umrandung mit den einzelnen Buchstaben BUSCH. Dann das Pförtnerhaus und eine ziemliche Strecke Schaulaufen. Trotz aller Geschäftigkeit, die Unternehmen bereiteten sich auf ihre Ausreisen vor, hatte man stets ein Auge für Neuankömmlinge. Und D. war zudem einen gründlichen Blick wert. Das Büro vom AEROS lag in einer unscheinbaren, sichtlich überalterten Baracke, über Werkstätten, unter dem Dach. Eine enge, gebrechlich knarrende Treppe, winzige Büros mit schrägen Wänden, spartanisch, ohne jeglichen Luxus eingerichtet, wo möglich, hingen AEROS-Plakate. So also waren wir angekommen, wurden begrüßt von O. Bark und bekamen wenig später unseren Wohnwagen zugewiesen.

Dieser stand inmitten unzähliger anderer, alle ordentlich geparkt neben- und hintereinander in vielen Reihen auf einer Betonfläche seitlich der Kantine. Erwartungsvoll betraten wir das neue Zuhause und wurden nicht enttäuscht. Klein, aber gemütlich, mit Schränken, einem Sideboard unter dem einen Fenster und gegenüber am anderen ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, am Ende ein Doppelbett. In der Ecke neben dem Eingang die Gasheizung, Herd und Waschbecken. Hell war es, mit den drei Fenstern und dem Oberlicht, trotz der dunklen Holzfurniere, und unvergleichlich freundlicher als unser Kellerzimmer in der Heimatstadt Warnemünde, mit Blick auf die Füße der Passanten und Bad mit WC eine Treppe höher, für drei Parteien. Wir strahlten vor Glück und Stolz, küssten uns und waren auf einem anderen Planeten gelandet.

In der Schneiderei, die zwei Frauen saßen am Ende der beidseitigen langen Wandschränke mit dem Kostümfundus im hellen Vorderabteil an der Aufarbeitung farbenprächtiger Kostüme, erhielten wir komplett neue Betten, Kissen, Decken und Bezüge. Eine der Annehmlichkeiten im reisenden Staatszirkus: neben dem großen Waschabteil für die private Wäsche mit Waschmaschinen und Schleuder wurde die Bettwäsche zweiwöchentlich von der Schneiderei angenommen und gewaschen, täglich wurden die Manegen-Uniformen, Kostüme und selbst die Nylonkittel dort abgegeben, gesäubert und am nächsten Tag frisch herausgegeben. Ebenso kostenlos wie die Bereitstellung des Wohnwagens, der Strom- und Gasverbrauch, der Wasseranschluss. Absolut durchorganisiert und eine Erleichterung in den zumeist vielen Arbeitsstunden eines Tournee-Alltages. Wir haben es zu schätzen gewusst.

Wir nahmen ein erstes Mittagessen in der Kantine ein. Hier sorgten die Köche und Helferinnen der drei Betriebsteile in den Wintermonaten gemeinsam für die Essen aller Zirkusleute. Frühstück und Mittag, Abendessen auch mit warmen Gerichten nach Wahl. Schließlich wohnten bis auf wenige Artisten, Dresseure und Direktion, alle anderen Zirkusleute entweder in ihren Wohnwagen, in den zwei Wohnheimen oder der Wohnbaracke. Deshalb gab es auch in der Kantine einen Kiosk mit Lebensmitteln, denn die nächste Einkaufsmöglichkeit lag viele Kilometer entfernt, die Kopfsteinstraße zurück und dann mit der S-Bahn bis zur nächsten Haltestelle, dort lag am Bahnhof eine neue, große, moderne Kaufhalle. Ziemlicher Aufwand für eine Tüte Zucker oder Kaffee oder Getränke. Dafür gab es also den Kiosk, der ein weit größeres Sortiment handelte, als der Name vermuten lässt und deren Betreiber auf Bestellung auch Gewünschtes besorgte. Die Kantine war der Treffpunkt bis in die Nacht, Austragungsort für Gesprächsrunden und Zechgelage. Sie war Kulisse für Streitigkeiten und gerne für handfeste Auseinandersetzungen zwischen Leuten von AEROS, Busch und Berolina. Stolze und selbstbewusste Betriebszusammengehörigkeit und Konkurrenzdenken wurden groß geschrieben, egal ob man das Winterquartier teilte. Hier war AEROS, hier Busch. Und Berolina hatte es noch schwerer, die galten immer als Eindringlinge im Objekt 1. So wie AEROS und Busch in ihrem Objekt 2.

Natürlich kannten wir Stammleute uns gut und besuchten einander auch. Aber es blieb dabei, misstrauisch beäugte man sich. Was eigentlich wollten die nun hier? Sind noch alle neuen Futtereimer da, die Laubharken? Fehlt irgendetwas? Was ist mit den Hammerstielen? Nur keine Schätze aus den Augen lassen, bis die Aliens wieder fort sind!

So war die Kantine benutzungsbedingt ein heißer Ort, besonders abends mit gestiegenem Alkoholpegel. Einmal wöchentlich kam sogar das Kino, kostenlos, mit aktuellen Filmen, ohne den sonst üblichen Propagandavorfilm "Der Augenzeuge"- für dessen Flimmern hätte der Vorführer seine Gesundheit riskiert. Für uns ehemalige Normalbürger Kino mit völlig neuem Erlebnisfaktor. Mit diesen vielen Funktionen war die Kantine der gesellschaftliche Mittelpunkt. Aufmarschort für gesellschaftspolitische Veranstaltungen und Konferenzen war er nicht. Wahrscheinlich gab es das Vokabular nicht einmal im Wortschatz. Die zuständigen Kader des Zoo R. wären ob dieses Vergehens ins Koma gefallen...

Nach dem Essen gingen wir die breite Straße von der Kantine in Richtung Stallkomplex, vorbei an Ausrüstungs- und Werkstatthallen, vorbei an Materialwagen von Busch und AEROS. Durch die Tür des großen Eisentores betraten wir den ersten Stallbereich mit Pferdegruppen des Zirkus Busch. Weitergeleitet vom damaligen Stallmeister P. John öffneten wir dann die nächste Tür und fanden uns in der zentralen Probemanege wieder. Auf der anderen Seite lag der AEROS-Bereich. Und da, gleich rechts hinter der Tür, die Wärterstube. Dann die Begegnung mit einem ungewöhnlichen Mann, welcher, von Vielen gefürchtet wegen seiner Strenge und seines Wesens, für mich ein Glücksfall und eine Bereicherung in meinem Leben war. J. Schilinski, Stallmeister des AEROS. Untersetzt, kräftig, immer im Kittel und mit Hut, mit wachsamen Augen und durchdringenden Blicken, stets strenge Falten auf der Stirn. Wie knallhart er war, würden wir erleben, aber auch wie erfahren und fair. Wir beide lernten einander schätzen. Dazu brauchte es Zeit, aber dann verschwanden auch die zusammengezogenen Augenbrauen und wir konnten über alles reden und lachen. Ein besonderer Mensch und für die gemeinsamen Jahre bin ich noch heute dankbar. Er lehrte mich mehr über die Einstellung zu Tieren und den Umgang mit ihnen, als ich im Zoo erfahren konnte. Erst einmal aber musterte er uns misstrauisch, war kurz und knapp in seinen Fragen und Anweisungen und er verhehlte nicht seinen Unmut über die Einstellung einer Tierpflegerin. Ermutigend war der Einstieg nicht.

Ein bunter Haufen seltsamster Charaktere bevölkerte den Stallbereich. Gestrandete fast alle. Auf der Flucht vor Dämonen der eigenen Vergangenheit, der unwirklichen Realität der Außenwelt, dem genormten Alltag, dem Anpassungszwang im gewünschten Gleichschritt. Auf der Suche nach einem Stückchen Heimat mit Freiraum für sich, nach Akzeptanz der eigenen Lebenseinstellung und dem Rausch der Abenteuerlust. Auch finanzielle Gründe gab es. Doch jene mit diesen Erwägungen, sie scheiterten schnell und oft war die Tasche mit den Habseligkeiten nicht einmal ausgeräumt, wenn sie wieder jenseits der Zirkuszäune abtauchten in den Strudel der Alltäglichkeit. Sehr gutes Geld war zu verdienen, aber durch Tag für Tag viele Überstunden und sehr schwere Arbeit. Abenteuer gab es unendliche, man musste frei dafür sein und bereit für Entbehrungen. Das erforderte aber eben jene anderen Entscheidungen für den Schritt auf den Planeten Staatszirkus. Dann begann damit bereits das Abenteuer und es blieb allgegenwärtig, der Verdienst war schöner Nebeneffekt. Es ging um Lebenseinstellung. Immer war es nur ein kleines, enges Team von Stammleuten. Vom ersten Tag an erlebte ich unzählige Durchläufer im Stall- und Zeltbereich, ohne Erinnerung an einen Namen und der überwiegende Teil ist gesichtslos geblieben. Es war schwer für Stall- und Zeltmeister, die so notwendige feste, verlässliche Mannschaft aufzubauen.

Bei unserem Eintreffen im AEROS-Stall, beim ersten menschlichen Kontakt in der unbekannt exotischen Welt, entdeckten wir ein wahrhaftig kurioses Sammelsurium von Zweibeinern. Alle zollten dem Stallmeister größten Respekt, gingen eifrig ihren Arbeiten nach, während wir miteinander sprachen. Unter den vielen unbedeutenden, weil bald aufgebenden, Typen waren nur drei nennenswerte und wirklich gute. Markus, der Sohn von G. Quaiser, später selbst Dresseur. Ein schmächtiger, aber zäher, gelernter Schäfer, S., welcher auch neu war und Willi, welcher auf der Saison zu uns stieß und der in jeder, wirklich jeder Stadt, ein Mädchen fand. Markus wechselte mit Saison-Schluss und somit verblieben aus der Truppe vom Januar nur die zwei Jungs, D. und ich. Wie schnell man zum Alten wurde! Aus Willi, S. und mir wird dann in der Saison 1979 und für die Jahre bis zu meinem Fortgehen so etwas wie ein Stammteam um J. Schilinski. Die Zwei als seine rechten Hände im Pferdestall, ich verantwortlich zuerst für die Exoten, dann für die Elefanten.

Zirkusleute waren misstrauisch und rau, die harte Arbeit benötigte ein gutes Team und länger Tätige beobachteten einen Neuling genau ob seiner Zuverlässigkeit. Den Namen wollte man erst nach Wochen wissen und wirklich dazu gehörte man nach einer durchgestandenen Tournee. Zu viele Durchläufer, zu viele Vertrauensbrüche und wieder zu viele an Wenigen hängengebliebene körperlich schwere Arbeiten. Diese Handvoll Verwegener fluchten zwar immer, packten dabei aber doppelt zu. Eine Verzögerung im Arbeitsrhythmus hätte das ganze fein abgestimmte Uhrwerk des Zirkus aus dem Takt geworfen. Kein Team wollte dafür verantwortlich sein, das wäre gegen die Ehre gewesen. Niemand rangelte um oder wegen Auszeichnungen, lächerlicher Titel oder dem großen Klassenkampf im täglichen Wettbewerb der Kollektive mit geschönten Wettbewerbstafeln und verlogenen Verpflichtungen um irgendwelche, eigentlich selbstverständlichen, Aufgaben. Die Arbeit lief ohne die jenseits von Eden übliche Propaganda und sogar besser, weil ganz freiwillig. Allen Leitungskadern unter Führung der Partei in der Außenwelt DDR muss bei derlei Selbst- und Eigenständigkeit des wilden Haufens Zentral-Zirkus nur kopfschüttelnd der Gedanke an Abtrünnigkeit zum einzig denkbaren System gekommen sein und das Grauen vor einer Zersetzung sozialistischer Moral. Gut, dass der stabile rote Zaun sicher den AEROS umschloss, so missgünstige Gemüter und das Böse lange fernhielt. Dem menschenfressenden Regime des Kapitals, anderthalb Jahrzehnte später, war er dann leider nicht gewachsen.

Für die Partei- und Staatsführung der DDR blieb der Staatszirkus stets ein Sonderfall, einer mit dem man nicht umzugehen wusste, der sich dazu fast jeglicher Kontrolle äußerst geschickt entzog. So tat man, als gebe es ihn zwar, aber irgendwie auch wieder nicht. Die Staatsführung mied den Kontakt, zuletzt besuchte einer ihrer Vertreter 1957 den Zirkus: W. Ulbricht, der niemals die Absicht hatte ein Mauer zu errichten, es aber dann doch mit urdeutscher Gründlichkeit und emsiger Unterstützung seines späteren Nachfolgers Honecker tat. Dieser Ulbricht also besuchte eine Vorstellung des Zirkus AEROS in Berlin. Missmutig, wie Bilder deutlich zeigen, und nur weil sein Staatsgast Ho Chi Minh aus Vietnam dringend diesen Wunsch geäußert hatte. Danach kamen nie wieder ein Staatsoberhaupt oder untergeordnete Chargen in den VEB Zentral-Zirkus, Einladungen wurden ignoriert. Wie so vieles, darin war man geübt. Aber dafür sind „Politiker“ schließlich überall bekannt, das war nicht allein Problem in der DDR. Und welch Wunder, trotz dieser Ignoranz zogen im Zirkus die technischen Mannschaften tatsächlich an einem Strang, kämpften und quälten sich für ein Ziel, über welches Außenstehende nur den Kopf schütteln konnten - bei der in der DDR üblichen Arbeitsmoral. Die Leitung des VEB Zentral-Zirkus/Staatszirkus honorierte Engagement durchaus, angefangen von Worten des Direktor, welchen man im täglichen Ablauf ständig traf, bis zu Lohnerhöhungen und der bronzenen Anstecknadel mit dem Emblem des Zirkus für dreijährige Tätigkeit. Wir haben sie getragen, freiwillig und stolz.

Doch erst einmal hatten D. und ich einen heftigen Weg vor uns. Der erste Arbeitstag war schwer. Minutengenaue Pünktlichkeit und gründlichste Sauberkeit der Tierbereiche war dem Stallmeister Gesetz. Ich hatte in der Lehre nur kurz mit Pferden zu tun und sie zählen nicht zu meinen Lieblingen. Anders bei meiner Frau, sie arbeitete eine Weile im Araberstall des Zoos und kannte etliche Tricks in allen Belangen. Ich mühte mich, cool zu bleiben, beim Treten zwischen die aufgeregten, von Neid und Kraft geplagten Hengste, um Haferrationen und anderen Zuteilungen in die Futtertröge zu geben und Wassereimer zu reichen. Ständig wurde die Strohmatte sauber gehalten, frische Pferdeäpfel umgehend entfernt. Drill-Sergeant-Brüllen vom Stallmeister, wenn etwas übersehen wurde. Das Stroh endete an einem exakten Abstand zur Wasserrinne und mehrmals täglich schüttelten wir es auf. Die gemauerten Futtertröge wurden gereinigt, keine Staubfäden geduldet. Soviel Gründlichkeit war mir fremd. Noch ungewöhnlicher aber war das tägliche Putzritual der Pferde. Die zugewiesenen Tiere striegelten wir nach bestimmten Regeln und die abgestreiften Unreinheiten schlugen wir auf dem Betonboden des Mittelganges aus. Zehn Häufchen für die linke, zehn für die rechte Seite, nebeneinander angeordnet und eine für den Kopf, mittig über den beiden Reihen. Mähne und Schweif wurden gebürstet, Hufe gesäubert und gefettet. Immer unter den aufmerksamen Augen des Stallmeisters und des schwafelnden merkwürdigen Vertreters. Letzterer gab dann nach nur wenigen Wochen Tournee auf und bessere Leute rücken nach.

Mir fiel die Eingewöhnung schwer und ich beneidete die Elefantenkutscher von AEROS und Busch, deren Tiere sich hinter der Schiebetür, am Ende des AEROS-Stallganges befanden. Den Pflegern war der Stallmeister egal, ihr Chef war einzig der Dresseur G. Quaiser. Und den Busch-Leuten hatte J. Schilinski nicht zu sagen, doch er überzog sie stets mit kritischen Bemerkungen bezüglich ihrer Arbeitsmoral, wenn sie durch den AEROS-Pferdebereich Spießruten liefen, um zum Busch-Stall zu gelangen. Und so war es stets. Egal wann wir AEROS-Leute durch den Busch-Bereich gingen, zur Arbeit oder zur Kantine, dort war immer gelassene Tätigkeit, zumeist saßen die Jungs in der Wärterstube oder waren noch gar nicht da, derweil wir minutengenauen Zeiten nach hasteten. Der Stallmeister erwartete uns und registrierte genau, wenn jemand später eintraf. Dafür gab`s Sanktionen in Form zusätzlicher Stallwachen oder ungeliebter Arbeiten. Ich freundete mich mit den Pferden an, aber lieber, weil nicht so überwacht, war mir die Versorgung der Außenboxen mit Ziegen, Kamelen, Ochsen und der gegenüber am Objektzaun zur B1 stehenden Tierschauwagen mit den Affen, Waschbären und den vom Stallmeister so geliebten Zwerghühnern.

Ich stand gerne am Ende des Pferdestalles an der Schiebetür zum Elefantenstall und sah den Tieren zu. D. und ich waren nicht die einzigen, welche frisch in Hoppegarten gestrandet waren. Wir kamen aus McPomm, drei kleine Elefantenkinder eine Woche vor uns aus Indien. Dem Trio sah man die Verwirrung durch den Stress und die tiefen Veränderungen deutlich an. Zwerge waren sie, knapp drei Jahre alt, die Elefantenkinder Daisy, Shura und Jana. Sie standen neben den vier großen Mädchen des Zirkus Busch und gegenüber der fünf ebenfalls erwachsenen AEROS-Damen. Nie zuvor hatte ich so viele und imposante Elefanten gesehen. Der Zoo R. hielt zu meiner Zeit eine Afrikaner-Kuh und drei kleine asiatische Mädchen. Doch die AEROS-Elefanten waren mächtige Tiere, ebenso drei Ladys in der Busch-Gruppe, und eine Halbstarke bildete die mittlere Altersstufe zu den drei Neuankömmlingen.

Es war schön, die Rüsseltiere zu beobachten und in mir kam durchaus Sehnsucht auf. Doch in den wenigen Tagen vor der Tournee war mein Bereich vorerst der Pferdestall mit den, mir sympathischeren Norwegischen Fjordpferden von Dresseur G. Dorning, dessen Stammbetrieb der Berolina war, welcher in dieser Saison aber beim AEROS reiste, und den großen, nervösen Mecklenburgischen Goldfüchsen von W. Hädrich. Wie die kleineren Fjordpferde, alles Hengste. Nur benahmen die sich auch noch so und unter ihnen gab es besonders unfreundliche Gesellen. Beißen, ausschlagen, das volle Spektrum. Oft musste der Stallmeister mit seiner Unerschrockenheit eingreifen. Während ich mit diesen Widrigkeiten kämpfte und mich bei der gesamten Situation wirklich fragte, wie lange ich es wohl durchhalte, wurden letzte Vorbereitungen für die Ausreise in die ĆSSR getroffen. Wir verluden Requisiten, räumten den Futterwagen ein, stapelten Heu- und Strohballen eng und hoch auf die jeweiligen Transporter und sicherten die Ladung durch Planen. Im schweren Sattelwagen verstauten wir Zaumzeug und Federschmuck-Kisten nach exaktem Plan. Erste körperliche Herausforderung für mich wurde das Beladen des Stallpackwagens. Ich hatte zwar im Zoo mit einigen wenigen, kraftaufwendigen Tätigkeiten gewisse Erfahrungen gemacht, doch das waren Sandkastenspiele im Vergleich zu hier. Unter den lauten Kommandos des Stallmeisters wuchteten wir schwerstes Material auf die hohe Ladefläche. Gabelstapler waren Mangelware in der DDR und standen dem Zirkus nicht zur Verfügung. Erst Mitte der 1980er Jahre gelang es, ausgemusterte, verschlissene Stapler über Beziehungen zu organisieren. Bis dahin wurde alles, wirklich alles per Hand bewegt, auch beim Chapiteau-Aufbau - und war es noch so schwer. Ich konnte kaum glauben, wie die Schwerkraft an den vielen massiven Rondell- und Mittelstangen für das Pferdezelt zog, an den alleine zu tragenden, einige quadratmetergroßen Trennwänden aus dickem Holz mit Eisenverstärkungen für auf Nebenmänner allergische Hengste, genau wie an den viele Meter langen, eisenbewehrten Futterkrippen und dann erst an den Dachteilen. Jene, in Plastiksäcke gerollt, wurden auf den Armen von vier Leuten zum Hänger gestolpert, dort mit Hilfe von zwei anderen hochgestellt, oben erneut aufgenommen und an ihren Platz getragen. Ich dachte, es würde mir die Hand abreißen. Doch das war zaghaftes Vorspiel für die Tournee. Dann, nass und doppelt schwer, mussten wir die Dachteile mit sechs Leuten tragen. Nach dieser kräftezehrenden Arbeit wurde das Verstauen der Rundleinwände und das der unzähligen anderthalb Meter langen Massiv-Anker - mit einem Durchmesser, den man knapp umfassen konnte - in den Kellerkästen eine Erholung. Endlich ruhte alles sicher verstaut bis zur ersten Gastspielstadt. Mir schmerzten sämtliche Muskeln, auch welche, von denen ich zuvor nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt und weit mehr die Schultern vom ungewohnten Tragen. Das konnte was werden! Stallmeister Schilinski registrierte es sehr wohl und spottete Na, andere Arbeit als im Zoo? Noch nie richtig arbeiten müssen, was?! Womit er nicht so falsch lag und ich nur nicken konnte. Aber ich fügte trotzig Ich wird′s packen an und war über die eigene Zuversicht erschrocken.

Wie alle anderen bunkerten auch wir Lebensmittelreserven, mühsam herbei geschleppt per Einkaufsnetzen, runzliger Kopfsteinstraße und einer S-Bahn-Haltestelle. Der Kiosk in der Kantine war uns noch nicht vertraut genug und wir nicht dem Betreiber. Schließlich trafen wir ultimative Vorkehrungen und Verschönerungen in unserem Wohnwagen, denn nun würden wir für neun Monate entfernt der Heimat reisen. Wir waren aufgeregt in Aussicht auf dieses große Abenteuer.

Und dann war es endlich soweit.

Ein Hauch Freiheit

Zirkus AEROS auf ĆSSR-Tournee 1978

D er Tag begann mit Hektik und er zeigte den Neulingen, was Zirkusleben bedeutet. Normale Arbeitszeiten? Ab sofort eine Erinnerung. Da war Eingewöhnungszeit nötig. Auch für die Erkenntnis, dass sich alles vorrangig um den funktionierenden Zirkusbetrieb dreht und persönliche Belange zweitrangig sind. Mich erfüllte es. Die wenigen Wochen des Nichtreisens in den Wintermonaten, stehend in Hoppegarten und mit kurzem Arbeitstag, sie wurden zum notwendigen Übel. Eine unbedeutende, unangenehme Phase zwischen zwei Tourneen.

Zirkus war Flucht vor dem stereotypen Alltag. Die vielen kleinen und großen Notwendigkeiten und Probleme erschienen aus neuer Perspektive peinlich lächerlich, unwichtig, stolperten in den Schlund der Bedeutungslosigkeiten. Hier lebte und kämpfte die kleine Mannschaft der Zelt- und Wohnwagenstadt für eine bestmögliche Show und ihr Verständnis von Freiheit. Der um diese Insel gezogene Zaun in warnendem Rot schien Abgrenzung mit Symbolwert. Wer das nicht verstand war fehl auf dem Platz. So bleibt das Stammpersonal von AEROS, Busch und Berolina ein eingeschworener Kreis in ganz eigener, sicherer Welt.

Nach dem Aufstehen räumten wir den Wohnwagen zum Abtransport ein. Die Straßen jener Tage bildeten eine Herausforderung sowohl für jegliches Zirkusmaterial wie für persönliche Habe. Also unbedingt alle Schränke gründlich verschließen und Zerbrechliches weich in den Betten verstauen. Gerade die wenigen Kilometer zur Verladerampe am Bahnhof Hoppegarten lauerten erbarmungslos auf Räder, Achsen und Federn. Dort fuhren die Kraftfahrer mit geringem Tempo, dennoch, die Pflastersteine und Schlaglöcher garantierten, dass die Fahrzeuge eher über die Straße hüpften als rollten. Also überließen wir mit gewisser Sorge unseren Wohnwagen seinem Schicksal, klappten die angebaute Veranda hoch, hängten die Treppe ein und drehten die Gasflasche zu. Wir würden das Zuhause erst am Bahnhof wiedersehen, irgendwann im Laufe des Tages. Und weil wir, unerfahren, alleine den Türschlössern vertrauten, überraschte uns dort beim Öffnen des Wohnwagens ein Chaos. Nur die liebevoll im Bett kuschelnden Zerbrechlichkeiten schlummerten weiter in den Federn, die Inhalte der Schränke waren im Team auf den Boden gesprungen und zu Erkundungstouren bis in kleinste Winkel aufgebrochen. Erste Küchengeräte, eh überflüssig, sie fehlten uns nie, auch Teller und Tassen im bodennahen Fach des Sideboard konnten dem Tanz des Wagens nicht widerstehen und hatten ihre zugewiesenen Plätze verlassen. Wir lernten die Lektion und auch, dass man zum Leben wenig Geschirr benötigt. Alles andere ist völlig unsinniger Ballast.

Im Busch-Bereich lief der übliche Betrieb, dort blieb bis zur Ausreise noch eine Woche Zeit. So schwirrten nur die AEROS-Zugfahrzeuge rangierend im Winterquartier herum, begleitet von den Pfiffen der Einweiser und dem Poltern ankoppelnder Zuggabeln, bis sie mit zwei angehängten Wagen in Richtung Bahnhof davon rumpelten. Mit dem Stallmeister und dem größten Teil der Pfleger fuhr ich zur Verladerampe. Die anderen setzten die vom Nachtstallwächter begonnene Räumung fort und bereiteten die Transporthänger mit frischem Stroh für die Pferde und Exoten vor. Die Tiere erreichten zwar nach wenigen Minuten ihr Ziel und wurden dort umgehend in die Waggons geführt, aber das war kein Grund für den Stallmeister, die Einstreu nicht wie gewohnt hoch und dicht einbringen zu lassen, als ginge es auf lange Fahrt. Man kann nie wissen, ob es Verzögerungen gibt! Die Tiere sollten trocken stehen oder ruhen.

An der langen Verladerampe herrschte Hochbetrieb. Zwei Traktoren im Dauerstress zogen gekonnt und flink, vom Platzmeister lautstark und mit Pfiffen und Gesten dirigiert, Wohn- und Packwagen auf die Bahn-Plattformen mit den niedrigen Bordwänden. Nach dem Abkoppeln drückten Zeltarbeiter per Muskelkraft Zuggabeln und gegebenenfalls die Wagen in exakte Position, während dahinter sich bereits die zweite Mannschaft mit dem nächsten Traktor und dessen zwei Wagen beschäftigte. Weitere Trupps nagelten hölzerne Bremsklötze vor die Räder und sicherten die einzelnen Zirkuswagen mit Ketten und stabilem Draht. Eintreffende LKW stellten ihren Zug ab und verschwanden sofort wieder Richtung Winterquartier. Dann hüpfte bald ein Traktor davor und zuckelte mit den Hängern auf die Bahnloren. Überall auf, neben und unter Wagen wuselten Zeltarbeiter herum, konzentriert in der angewiesenen Arbeit. Ich war mir sicher: die Verantwortlichen für Arbeitsschutz anderer Betriebe wären bei diesem scheinbaren Durcheinander in Ohnmacht gefallen. Hier trug jeder die Verantwortung für sein Tun, für sein Leben und das der anderen. Niemand brauchte aus Büchern mit immer mehr Regeln und Gesetzen leiernd zitierende Belehrer, es lief ohne Gerede und ohne extra angeordnete Versammlungen. In den Jahren meiner Tätigkeit erlebte ich keinen schweren Unfall, obgleich bei manchen Aktionen schon mal die Nackenhaare stramm standen...

Unbeschreiblicher Trubel dirigierte die Szenerie an der Rampe. Kontrolliertes Chaos! Der Zirkus hatte genug wintergeschlafen und wollte endlich raus, raus in die Welt!

Ein komplett beladener Zug, huckepack mit unendlicher Reihe AEROS-Wagen, rollte, langsam von einer Rangierlok gedrückt, auf das Nebengleis. Die Zeltarbeiter hofften, dieser Zug sei erfolgreich abgefertigt, doch sie wurden enttäuscht. Der Sonderzug passierte in Anbetracht der vielen Tunnel unserer Reiseroute ein Lademaß und nicht wenige Wagen waren angeeckt, markiert worden und nun galt es, diese neu, zumeist um wenige Zentimeter, auszurichten. Also Verdrahtungen kappen, Ketten lösen, Bremsklötze entfernen, mit Muskeln und Wagenhebern die Wagen verschieben und erneut sichern. Bei Überschreiten der Gesamthöhe wurde die Luft der Reifen abgelassen, wo dies nicht reichte, mussten sie komplett demontiert und der Wagen auf den Achsen gelagert werden. Viele Stunden zusätzlicher Arbeitsaufwand, mit schwerster Tätigkeit bei wenig Bewegungsfreiheit auf den Bahnplattformen, welche zudem unmittelbar neben dem Gleis der in Richtung Strausberg polternden S-Bahnen standen. Die Zelt-Crew packte doppelt zu und kämpfte mit dem Zeitplan, denn die Abfahrtszeiten der Sonderzüge waren seit Wochen in einem Fahrzeiten-Mosaik fixiert.

Am hintersten Ende der Verladerampe standen die Waggons für die Tiere und für die Futtermittel während der Bahnfahrt bereit. Wir schüttelten hohe Strohschichten auf und beluden einen Waggon mit Stroh, Heu, mit Fässern und Batterien von mit Wasser gefüllten 20-Liter-Kannen, mit Stapeln von Obststiegen, Bergen von Mohrrüben-, Hafer- und getrockneten Rübenschnitzelsäcken. Ein Waggon erhielt nur in einer Hälfte eine ähnliche Beladung, dafür einen Stapel Brote, gegenüber wurde das Lager für die Elefantin Seetah bereitet. Sie kam, wie die Norwegischen Fjordpferde, das Hohe-Schule-Pferd und die sechs Kühe mit ihrem Dresseur G. Dorning für diese Saison vom Zirkus Berolina zum AEROS. Vor diesen Waggons wurden Bahn-Plattformen gekoppelt, mit zuerst dem Wassertankhänger - der Stallmeister ging immer auf Sicherheit - dann den vielen Tierschauwagen mit ihren Bewohnern, unseren Wohnwagen, dem Stallpackwagen und nun erst weiteren Zirkuswagen. Unser Wachwechsel bei den Tieren sollte gesichert sein und der Weg von Waggon zu Wohnwagen möglichst nahe, um bei einem kurzen Stopp nicht womöglich den Anschluss zu verlieren und einsam auf dem Schotterbett stehend den Schlussleuchten des Zirkuszuges nachzusehen. Das wurde manchmal heikel, aber wir erlangten die akrobatischen Künste, auch beim Anfahren lässig aufzusteigen, sogar mit voller Wasserkanne, Heugabel oder Futtereimer, und während der Fahrt über die Puffer die Plattformen zu wechseln und Kollegen in ihren Wohnwagen zu besuchen. Ein gutes Training bei diesen ersten Fahrten für die späteren Tourneen durch die Weiten der Sowjetunion...