Mitgefühl als Weg zum Frieden - Luise Rinser - E-Book

Mitgefühl als Weg zum Frieden E-Book

Luise Rinser

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Beschreibung

Luise Rinser war Gast des Dalai Lama in Dharamsala in Indien und hat mehrmals intensive Gespräche mit dem Staatsoberhaupt und Religionsführer des tibetischen Volkes geführt. Sie gibt ihre Gespräche mit dem Dalai Lama über den Wert und die Kraft einer echten Friedenssehnsucht wieder, die sich aus mystischen Quellen speist und im politischen Engagement äußert. Ihr Bericht erschien erstmals 1995. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Luise Rinser

Mitgefühl als Weg zum Frieden

Meine Gespräche mit dem Dalai Lama

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortDie Begegnung mit dem Dalai LamaWas ist Politik eigentlich?Wie geht eine Wahl in Tibet vor sich?Die Geschichte der Feindschaft ist langDie Reise nach DharamsalaAnfang der FriedensgesprächeMitgefühl in der Politik?Muß es überhaupt Waffen geben?Das Gewaltproblem in den ReligionenVorschlag der Schaffung einer FriedenszoneGewaltlosigkeit oder: Gibt es gerechte Kriege?Entmilitarisierung und VerzichtGewaltloses Teilen zwischen Arm und ReichGewalt und Krieg sind keine LösungWas ist eine gewaltfreie Wirtschaftsform?Die Frau im BuddhismusBejahung und Ordnung der SexualitätReinkarnationTibets Feinde oder: aus Feinden Freunde machenEin neues Zeitalter – reale UtopieMystik und FriedenErwachen zur FriedfertigkeitMystiker und Politiker zugleich?Mystik der Frauen und PolitikMitgefühlGewaltlosigkeitDer Dalai Lama und die Zukunft TibetsVereinigung der FriedensstifterFriedensgeist und FriedensorganisationenSymbolfigur für GewaltlosigkeitAlle Wesen rettenErklärung der Begriffe

Vorwort

Diese meine Arbeit erhebt keinen Anspruch darauf, eine auch nur halbwegs erschöpfende Darstellung des tibetischen Buddhismus zu sein. Zu diesem Thema gibt es eine Fülle guter Bücher. Auch das Thema der politischen Beziehung zwischen Tibet und China wird hier nur fragmentarisch behandelt und nur soweit es wichtig ist für das Verständnis der Person und der Friedens-Utopie des Dalai Lama.

Meine Arbeit ist nichts anderes als ein Bericht von meiner Begegnung mit dem Dalai Lama am Ort seines Exils Dharamsala im indischen Teil des Himalaja. Ein Buch, das keine strenge Struktur hat. Es ist die Wiedergabe meiner langen Gespräche mit dem Dalai Lama. Eine Ansammlung von Mosaiksteinen, die nach und nach sich zum Bild fügen. So ist es auch zu lesen: als eine Sammlung von meist improvisierten Fragen, spontanen Einfällen und ebenso spontanen Antworten, alles ungeordnet fließend wie es die Gespräche waren, die jedoch letztlich konzentriert blieben auf das Thema Frieden. Ein Versuch, im Wassertropfen das Ganze zu zeigen: die Utopie vom Weltfrieden und die Möglichkeiten, diese Utopie zu verwirklichen, wie der Dalai Lama sie sieht.

Unsere Gespräche wurden auf Band aufgezeichnet, im Originalton, das meiste in Englisch oder aus dem Tibetischen ins Englische übersetzt, wo es um komplizierte Aussagen ging, die der Dalai Lama leichter und genauer in Tibetisch ausdrücken konnte.

Alles in allem sind diese Aufzeichnungen, ins Deutsche übertragen, authentisch. Ich habe, wo nötig, einiges gekürzt, aber nichts Wesentliches verändert. Einiges habe ich aus der noch frischen Erinnerung ergänzt.

Ich hätte gern etwas literarisch Anspruchsvolles geschrieben: eine Darstellung der faszinierenden Persönlichkeit des Dalai Lama. Ich hätte das eigentlich leisten können, denn ich war während einer Woche täglich 2 1/2 Stunden bei ihm, neben ihm sitzend, Aug’ in Auge, oft Hand in Hand. Aber ich verbot mir die scharfe Beobachtung. Wenn ich jetzt sein Bild in der Gesamtheit heraufbeschwöre, so wird mir bewußt, wie vielfältig und vielfarbig er ist. Ich habe ihn in seinen Auslands-Vorträgen erlebt als schlagfertigen, diplomatisch gewandten Redner, der mit leiser liebenswürdiger Ironie die oft törichten Reporterfragen kontert. In Dharamsala sah ich ihn in seiner natürlichen Ganzheit: als besorgten Gastgeber, als würdevollen Zelebranten, als witzigen dialektisch gewandten Gesprächspartner, als den Jungen, der sich amüsiert und schließlich in lautes, mitreißendes heiteres Gelächter ausbrach; als den temperamentvollen, vitalen, fast bäuerlichen Tibeter, der er von Natur aus ist, als den skeptischen Denker, der Vorurteile bei sich selber feststellt und ironisiert; als den unbefangenen, distanziert-zärtlichen Freund auch mir, der Frau, gegenüber; als den immer wachen, neugierigen Hörer dessen, was wir Westlichen berichteten; als den einfachen Mönch, der sich dagegen wehrt, verehrt zu werden; als den aufmerksamen Gesprächspartner, der ungeniert auch indiskrete Fragen beantwortete; als den ganz in sich gesammelten Geist, der die Sicherheit eines Buddha ausstrahlt und mit Worten und Blicken uns in seine Welt Einblick nehmen ließ und menschliche Nähe zugleich verbot und herausforderte. Ich müßte in einem »Porträt« viele Details berichten, bin mir aber bewußt, daß ich diese vielfältige Persönlichkeit nur hinter einem Schleier sah. Eine flüchtige Ahnung der ganzen Person erlebte ich, als wir, er und ich allein mitsammen meditierten, als er mich das »große Gelübde« ablegen ließ, von dem später die Rede sein wird.

Viel von ihm sagt ein Foto aus, das am Anfang und Ende einer europäischen Fernsehsendung zu sehen war: man sah das bekannte Bild des starken, liebenswürdig lächelnden »Mannes in den besten Jahren«, und gleich darauf das Gesicht eines uralten Weisen in tiefer Meditation, weit entrückt unserem Verstehen und unserer menschlichen Nähe. Das Bild eines Boddhisatva in einer seiner höchsten Reinkarnationen.

Dies alles ist der Dalai Lama, dem ich begegnen durfte. Dies und mehr. Als ich beschloß, zu ihm zu reisen, wußte ich nicht genau, was mich so unwiderstehlich dazu trieb. Ich suchte kein Touristik-Abenteuer, auch keine Informationen »an Ort und Stelle« zur aktuellen Politik Exil-Tibets; es war auch keine Suche nach authentischer östlicher Weisheit; es war keine Wallfahrt zu dem berühmten Dalai Lama, keine Neugierde esoterischer Art, was mich drängte. Ich folgte einfach einem Ruf, den ich gehört hatte, als ich den Dalai Lama erstmals sah.

Ich kann natürlich auch sagen, daß der politische Mensch, der ich bin, höchst interessiert war, den Mann, der als Friedensstifter durch die Welt reist, in seiner eigenen Welt kennenzulernen und zu sehen, wie in einer Person scheinbar Unvereinbares eins wird: der Politiker und der Mystiker.

Nachträglich reflektierend kann ich auch sagen, daß ich dem Ruf folgte, der mich, als Zwanzigjährige, getrieben hatte, eine Erzählung zu schreiben, in der ich den Aufbruch einer Gruppe europa-müder junger Menschen zum »Dach der Welt« schilderte, in den Himalaja also, nach Tibet. Was mich trieb, diese Geschichte zu schreiben, war Sehnsucht nach Brüderlichkeit, Liebe, Frieden. Ich weiß nicht, woher mir gerade diese Idee, damals ganz unzeitgemäß, kam. Ich nahm sozusagen prophetisch einiges voraus. Ein Kinder-Kreuzzug für den Friedensgeist. Ein Kreuzzug der Hoffnung. Jahrzehnte später erwartete ich von einem Treffen mit dem Dalai Lama eine Stärkung meiner Hoffnung für den Weltfrieden, einer Hoffnung, die in den letzten Jahren immer brüchiger geworden ist. Ich lese meine Rede, die ich 1946 in der »Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit« in Stuttgart hielt, eine Rede, in der ich den Pazifisten Carl von Ossietzky zitierte, der 1931 sagte: »Die Sprache des Friedens geht von Laotse über die Bibel und Kant durch die ganze Literatur.« Es ist, so schrieb ich damals, die Sprache der Liebe, und Liebe ist das einzige heilige Gefühl in der Welt. Nichts was zu Gewalt und Mord treibe, ist heilig. Nur was dem Leben dient und dem Frieden, ist heilig, das Gefühl der Menschenliebe, und seine Gebote: Gerechtigkeit und Duldsamkeit.

So schrieb ich 17 Monate nach Ende des 2. Weltkriegs. Ich könnte die ganze Rede zitieren; sie gilt für damals und für heute. Das Wissen von der Zerbrechlichkeit des Friedens ist allgegenwärtig. Es wird täglich vermehrt durch die schrecklichen Nachrichten in den Massenmedien, Nachrichten von Kriegsschauplätzen und von Gewalttaten im Alltag, die uns »alltäglich« werden. Was für eine Welt. Wem geht es nicht so, daß er dieser Welt müde wird und »fortgehen« möchte in den »Himalaja«, sei es in den freigewollten Tod sei es in die Resignation oder in einen verzweifelten Rausch.

Vielleicht war der wahre Grund meiner Reise die Erwartung, mir Kraft zu holen bei einem Starken, einem, der in seiner Person unser aller Hoffnung auf Frieden verkörpert und sich dem mächtigsten Dämon unserer Zeit entgegenstellt: dem Dämon der Verzweiflung und Zerstörung. In der Tat, das wagt der Dalai Lama: einer ganzen Welt von Dämonen sein Veto entgegenzurufen. Es ist nicht wahr, sagt er, daß die Menschheit verloren ist und daß die condition humaine der brutale Kampf ums nackte Dasein ist; es ist nicht wahr, daß Friede ein leeres Wort ist, die Utopie einer verschwindenden machtlosen Minderheit; es ist nicht wahr, daß es keine Rettung mehr gibt. Es gibt sie, ruft der Dalai Lama, es gibt den Weg zum Frieden, es gibt den Weg des Gewaltverzichts, aber nur ihn, nur diesen einen Weg, der noch gangbar ist.

Wir freilich bestehen hartnäckig darauf, daß wir in einer Welt leben, in der jedermann jedermanns Feind ist und nur mit Kriegs- und Polizeigewalt davon abgehalten wird, die anderen umzubringen und sich ihren Besitz (an was auch immer) anzueignen. Es gibt keine Feinde, sagt der Dalai Lama, es gibt nur Brüder. Wir hören es skeptisch. Wie kann er das sagen, da er und sein Volk doch selbst das Opfer konkreter realer Feinde ist: der Chinesen!

Haben sie ihn und sein Volk nicht verjagt, haben sie nicht Frauen, auch Nonnen, vergewaltigt und Kinder ermordet, haben sie nicht die uralten buddhistischen Kultstätten zerstört, sind sie nicht die ständig drohende Gefahr? Sind sie nicht hassenswert? Nein, sagt der Dalai Lama; sie tragen die Buddha-Natur in sich wie wir.

Aber warum hassen ihrerseits die Chinesen die Tibeter? Sie hassen uns nicht, sie unterliegen nur der verhetzenden Propaganda ihrer Führer.

So sind also diese Führer hassenwert?

Auch sie nicht, denn auch sie haben die Buddha-Natur. Aber sie nicht zu hassen ist doch eine Überforderung! Wer kann sie leisten?

Jeder! Jeder, der das Geheimnis der Identifikation kennt. Wie das?

Man versetze sich in die Rolle des Feindes, in unserem Fall in die der Chinesen. Wollten sie eigentlich uns Tibetern schaden? Primär wollten sie ihrem eigenen Volk Gutes tun, indem sie es bereicherten, und sie wollten positiv politisch Wirksames tun, indem sie die östliche Welt zum Kommunismus bekehrten durch den Kampf gegen den tibetischen Feudalismus der Klöster. Wer ihre Motive versteht, kann sie nicht hassen und kann ihre Gewalttaten nicht mit Gewalttaten erwidern. Wer mit Gewalt auf Gewalt antwortet, setzt die Kette der Gewalt in der Welt fort, und so wird nie Friede. Wer aber auf jede Rache, auf jede Gewalt verzichtet, der schafft die neue Welt, die Welt des Friedens. Nur durch die Identifikation gelangen wir zum Mit-Gefühl und nur durch das Mitgefühl zum Frieden. Dieser Weg bedarf der langen Übung und vieler Geduld. Wir haben den Strom der Zeit auf unserer Seite: alles wandelt sich. Auch die Chinesen wandeln sich und ihre Politik. Schon zeigen sich in China die ersten Früchte des Gewaltverzichtes: die Jugend beginnt an den Dialog mit den Tibetern zu denken und auf Frieden zu hoffen. Unser radikaler Gewaltverzicht, sagt der Dalai Lama, führt sie zum Vertrauen in den tibetischen Nachbarn. So wiederum lernen sie, ihrerseits die Kette der Gewalttaten abzureißen. Und so wirkt die Haltung der Gewaltlosigkeit von Volk zu Volk bis zum Weltfrieden.

Eine Utopie? Eine schöpferische Utopie, welche die Kraft in sich trägt, Wirklichkeit zu werden. Das also ist es, was beim Dalai Lama zu lernen ist: der unerschütterliche Glaube an das Gute im Menschen, in der Menschheit. Wer diesen Glauben teilt, baut mit am Haus des Weltfriedens.

Die Begegnung mit dem Dalai Lama

Was ich hier berichte, ist zum Teil Frucht der Lektüre von Büchern und Aufsätzen, die im Lauf der Jahre über den Dalai Lama und von ihm geschrieben wurden. Im wesentlichen aber ist es der Bericht von meiner persönlichen Begegnung mit dem Dalai Lama selbst und unseren langen Gesprächen in Dharamsala im Himalaya.

Diese Begegnung kam nicht zufällig zustande. Nichts in der Welt geschieht zufällig und schon gar nicht eine Begegnung solcher Art. Und doch kann es wie Zufall erscheinen, daß ich am gleichen Tag in einer Akademiesitzung in Berlin war, als der Dalai Lama bei der »Friedensuniversität« sprechen würde. Da ich seit einigen Jahren (seit Beginn dieser Initiative zur Gründung einer Friedensuniversität) im Kuratorium bin, sah ich mich verpflichtet, zu diesem Treffen mit dem Dalai Lama zu kommen, welcher der Schirmherr dieser Initiative ist. Zwei Verpflichtungen überschnitten sich. Ich lief von der Akademie weg ins Schauspielhaus zum Dalai Lama. Nichts in der Welt hätte mich davon abhalten können, zu ihm zu gehen. Ich sollte, auf dem Podium neben dem Friedenspreisträger Schorlemer und dem Friedensforscher Galtung sitzend, Begrüßungsworte sprechen und ihm Fragen stellen. Ich bereitete mich eiligst vor, aber als dann der feierlich zu Begrüßende mit einiger Verspätung ankam, vergaß ich alles, was ich hatte sagen wollen. Ich sollte ihm nicht nur Grußworte sagen, sondern sofort einige Fragen stellen. Aber alles, was mir einfiel war der simple Satz: »Bei Ihrem Anblick, Holiness (›Heiligkeit‹, so wird er auf Englisch angesprochen), schweigen alle meine Fragen.«

Ein spontaner Gruß. Einen besseren hätte ich vielleicht nicht finden können. Der Dalai Lama wandte sich mir zu, lächelte, und zwei seiner Mönche in der ersten Reihe klatschten.

»Sie sind die Antwort, Holiness.«

Die Antwort worauf?

»Auf alle Fragen, die ich an Sie stellen wollte.«

Er schaute mich, rückwärtsgewandt, lange an.

Nach mir redeten andere Podiumsteilnehmer und der Dalai Lama selbst. Während seine englischsprachigen Reden jeweils übersetzt wurden, drehte er sich mehrmals nach mir um und einmal hob er sein Glas Wasser, (Alkohol trinkt er nie) und prostete mir lächelnd zu.

Einige Monate nach der ersten Begegnung trafen wir uns wieder. Es war der 17. Mai 1994, und dieses Mal war es ein vorbereitetes Treffen. Dieses Mal sahen wir uns in Rom, im Hotel Forum, und es war ein Treffen unter wenigen Personen: der Dalai Lama, sein Sekretär, Uwe Morawetz[*] und ich.

Wieder entfielen mir alle meine Fragen. Ich überließ es Uwe und dem Sekretär des Dalai Lama, über einen Termin zu verhandeln: es war der Termin meiner Reise nach Dharamsala in Indien, die plötzlich wie ein uraltes Abkommen ganz selbstverständlich war. Ich saß merkwürdig unbeteiligt dabei und schaute den Dalai Lama an, der plötzlich nach meiner Hand griff und sie festhielt, während einer halben Stunde. So saßen wir beide schweigend und sahen uns an. Ich wünschte, diese halbe Stunde wäre nie zu Ende gegangen. Aber das Wiedersehen war vereinbart: Anfang September in Dharamsala.

Am Nachmittag bei einem Journalistentreffen entdeckte der Dalai Lama mich in der Menge und winkte mir zu, wie immer mit seinem strahlenden Lächeln, mit dem er auch geduldig auf stupide Reporterfragen einging. Dieses Lächeln vergißt niemand, der es je sah, es wurde oft gefilmt und fotografiert. Sagte ich, es sei ein rätselhaftes »asiatisches« Lächeln, so sagte ich eine Banalität. Es ist nicht das Lächeln eines sanften Heiligen. Der Dalai Lama ist kein sanfter Mensch. Es ist eine geballte, gesammelte, höchst disziplinierte männliche Kraft. Er sagt von sich selbst, er sei ein zorniger Mann und durchaus nicht von Natur aus Pazifist. Er ist auch körperlich nicht asketisch-mager, er ist ein muskulöser gesunder Mann, dessen Sanftmut das Ergebnis einer langen spirituellen Erziehung und Selbstkontrolle ist. Als Kind war er ein Raufer aus überschüssiger Kraft. Daß er später jede Anwendung von Gewalt, ja jede Spur Intoleranz strikt ablehnte, ist die Frucht hoher buddhistischer Erkenntnis, ausgedrückt in dem Satz: Tat Tvam Asi – »Das bist du«.

Um diesen Satz in seiner ganzen Tiefe zu begreifen, erinnere ich an eine buddhistische Geschichte: Ein Mann wünschte dringend den Gautama Buddha zu sehen. Aber, sagte sein Freund, der ist doch schon lange im Nirvana, wie willst du ihn sehen? Ein Dritter sagte: »Geh hinunter auf den Markt; das erste alte Bettelweib, das du siehst, der erste räudige Hund, das ist ER.« Er hätte auch sagen können: Schau dich selbst an, du bist ER. Tat Tvam Asi: das bist du. Alles ist ER. Alles bin Ich, denn alles Seiende hat Buddhanatur. Alles ist DER EINE, DAS EINE. Das ist buddhistische Mystik.

Aber der Dalai Lama hat noch andere Motive für seinen Pazifismus. Eines davon ist seine Überzeugung vom kollektiven Karma: Vor Jahrhunderten war Tibet ungemein mächtig und unterdrückte China. Das Schicksal schlug zurück: jetzt ist es Tibet, das erduldet, was es vorher den Chinesen angetan hat. Ein Kollektiv-Schicksal muß abgetragen werden wie jede individuelle Schuld.