Mittwoch - Wolf Wondratschek - E-Book

Mittwoch E-Book

Wolf Wondratschek

4,7

Beschreibung

Ein Hundert-Euro-Schein geht von Hand zu Hand und von Leben zu Leben. Wenn jemand wie Wolf Wondratschek erzählt, bekommt selbst ein zufälligerMittwoch die Lebensfülle von 1001 Nacht. Aus einem Brief des Autors an seinen Verleger: "Wenn es möglich ist, verzichten Sie bitte auf das, was man einen Klappentext nennt. Es ist, wie wir wissen, ein bloßer Notbehelf. Allerdings las ich gestern in den 1967/68 gehaltenen Harvard-Vorlesungen von Jorge Luis Borges einen Satz, der das, was ich versucht habe, genau beschreibt: "Er ließ seinen Geist schweifen, und er gab diesem Geist die Gestalt vieler Personen.""Aus einem Brief des Verlegers an seinen Autor: "Erlauben Sie mir bitte wenigstens zu sagen, wie hinreißend ich dieses "Schweifen" gefunden habe und wie gern ich durch Sie die Bekanntschaft mit diesen Personen gemacht habe, die ja alle kein ganz leichtes Leben haben, durch Ihre Begleitung aber auf ebenso hinreißende Weise damit zurechtzukommen wissen. Ich danke und gratuliere zu diesem Buch eines Menschenfreundes." Ein Hundert-Euro-Schein geht im Laufe eines Tages - und dieser Tag ist ein Mittwoch - von Hand zu Hand, und Wolf Wondratschek tut nichts anderes, als die Personen, zu denen diese Hände gehören, vor unseren Augen lebendig werden zu lassen. Sie alle haben eine Geschichte, die es an irgendeiner Stelle mit der eines anderen zu tun hatte, und der oder die kann ein Mechaniker, ein Friseur, eine Hure oder ein Boxer sein oder auch einer der vielen feinen Raucher, die sich in einem Tabakgeschäft versammeln. Auf diese Weise entsteht auf bewegende Weise und fern jeder Ideologie das Bild einer Menschheit, in der niemand für sich ist, sondern alle auf geheimnisvolle Weise mit allen verbunden sind. So liest sich dieser Roman wie eine Kettenerzählung, in der Tausend und eine Nacht auf einen Tag fallen.

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Mittwoch

© 2013 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte vorbehalten

ISBN E-Book 978-3-99027-105-6

ISBN print 978-3-99027-041-7

WOLF WONDRATSCHEK

Mittwoch

Roman

„… und wie das Leben ist,das Menschen sich gefunden …“

Friedrich Hölderlin

Es ist ein Mittwoch.

Ein Mann, ruhig, kultiviert, von bedächtiger Eleganz, hinterlegt als Sicherheit, dass ein für ihn reserviertes Zimmer bis zu seiner Entscheidung, es tatsächlich zu beziehen, frei bleibt, einen Einhundert-Euro-Schein am Empfang eines kleinen Familienhotels.

Es ist ein strahlend schöner Vormittag.

Die Seifenblasen, die den Tag noch strahlender, noch schöner machen, sind das Geschenk eines Kindes, das sich, von der Mutter gehalten, hoch oben aus einem Fenster beugt und, vorsichtiger als jeder Erwachsene es könnte, in eine am Griff befestigte Schlaufe atmet. Eine davon zerplatzt unbemerkt an der Schulter eines in offenkundig guter Laune über eine Straße eilenden Mannes.

Er ist, den grünen Geldschein fest in der Hand, auf dem Sprung vom Hotel zu einer Autowerkstatt gegenüber, um längst fällige Schulden bei seinem Mechaniker zu begleichen; der hatte ihm für seinen kleinen Garten zwei Fuhren Erde besorgt, einen Drahtzaun neu gespannt und gleich auch noch, mit wenigen Handgriffen, den Rasenmäher repariert. Der Mann hatte ihm ein Bier spendiert und selbst eins getrunken und war dann, nachdem sie sich verabschiedet hatten, in sein Häuschen gegangen und über dem ersten Satz eines Romans, den er aus dem Hotel mit nach Hause genommen hatte, eingeschlafen.

Er war kein starker Leser, und ein Satz wie „Winde vernichteten in jenem Jahr die Ernte“, mit dem das Buch anfing, war ganz einfach nicht das, was ihn hätte wach halten können. Außerdem waren ihm die Fuhren Erde nicht aus dem Kopf gegangen, mit denen er sich am Wochenende beschäftigen würde. Er konnte sie, wenn er nur an sie dachte, riechen, und nichts riecht er lieber; nur Zirkus riecht besser. Er fühlte, wie er sich auf die Arbeit in seinem Garten freute und wie ihn der Gedanke, alle vier Richtungen des Universums könnten ihren Schnittpunkt in dem Haufen Erde da draußen haben, glücklich machte. Erde war das Beste, was es auf der Welt gab, einfache Erde, fruchtbare Gartenerde – und kein Wind könnte dem, was da bald wachsen würde, etwas anhaben. Erde war der Anfang aller Dinge und, wenn man unter die Erde kam, das Ende; so war es – und er war mit seinem geradezu kindlichen Glauben daran zufrieden. Erde war alles, was heilig war, Erde und Wasser – das Herz aller Dinge. Der Geruch frischer feuchter Erde löste in seinem Gehirn Reflexe aus, die alles, was ihn vorwärtstrieb, verlangsamten; es glich dem Zusammenfließen großer Ströme.

Aber so viel Zufriedenheit rächt sich, denn in der Nacht hatte ihm ein Albtraum zu schaffen gemacht, in der Hauptrolle er selbst, als Mann ohne Glück, als Mann ohne Hände. Eine Scheune hatte gebrannt, und ihm war kein Trick eingefallen, wie man sich, wenn man keine Hände hat, mit einem Eimer Wasser oder einem Gartenschlauch hätte nützlich machen können. Ein Mädchen hatte ihm einen Ball zugeworfen, den er – wie sollte das auch ohne Hände gehen – nicht fangen konnte. Ebenso wenig war er in der Lage gewesen, seinen Koffer (welchen Koffer?) zu öffnen, wozu ihn ein Zollbeamter aufforderte, der ihn im Abteil eines Zuges, den bestiegen zu haben er sich nicht erinnern konnte, zuerst mit einem Stoß gegen die Schulter und, als das wenig half, mit einem regelrechten Würgegriff aus dem Schlaf geholt hatte. Warum war er eigentlich nicht spätestens jetzt aufgewacht? Aber nein, der Traum hielt ihn im Schlaf fest wie einen Gefangenen, er hatte sogar noch eine weitere wirre Überraschung parat: er holte, gleichsam in einer Atempause, drei ihm bekannte Menschen auf seine Bühne, Freunde von ihm, von denen er wusste, dass sie gestorben waren. Er sprach mit den Freunden, von denen zwei durch Selbstmord umgekommen, der dritte von Unbekannten erschlagen worden war, über seine Verwunderung, sie so wohlauf und lebendig, ja richtiggehend munter anzutreffen. Aber das interessierte sie nicht. Sie benahmen sich, als sei alles in Ordnung. Keiner der drei machte den Eindruck, ihn plage der Kummer, nicht mehr am Leben zu sein, aber sie zeigten auffallend wenig Freude an der Tatsache, ihn zu sehen. Was nur, dachte er, habe ich mir zu schulden kommen lassen? Auch konnte er keine Antwort geben auf ihre Anschuldigung, an ihren Tod geglaubt zu haben.

Ein mächtiger, in Blüte stehender Baum, der für einen Moment ganz das Bild seines Traums ausfüllte, schien ihren Anspruch auf ein ewiges Leben zu bestätigen. Aber er saß immer noch im Zug.

Der Zöllner, einem Raufbold ähnlicher als einem Beamten, hatte die Hilflosigkeit, mit der er versuchte, seine Papiere aus der Innentasche seines Jacketts zu befördern, für so verdächtig gehalten, dass er ihn am nächsten Bahnhof der Polizei übergab, die ihn in eine Zelle sperrte, ein geheimnisvoller Ort aus gläsernen Steinen, die in der Hitze des Feuers schmolzen. Als wollte es den Tanz der Flammen nachahmen, bewegte sich ein überdimensional ausgewachsenes Eichhörnchen auf ihn zu und von ihm fort, eine buschige, aber gut geölte Sprungfeder, beschäftigt mit dem Vergnügen, lebendig und aller Sorgen um das leidige Geschäft der Futtersuche ledig zu sein. Es schien diesen Zeitvertreib mit Humor und Anmut zu genießen. Manchmal saß es ganz aufrecht und still da, die Pfoten unterm Kinn, was aussah, als sei es mit einer Näharbeit beschäftigt, und schien zufrieden damit, dem Spiel seines Schattens zuzuschauen. Erst das Geräusch des jetzt hart gegen eine Wand geworfenen Balles machte seinem Auftritt ein Ende und dem noch immer Schlafenden klar, dass da jemand war, der auf ihn wartete, und es war keine Überraschung, wen er sah: das Mädchen, das ihm den Ball zugeworfen und ihn ausgelacht hatte; es war von der Gefängnismauer gesprungen und schaute ihn jetzt mit großen Zähnen, größer als ihr Gesicht, an. Und stieß dann einen Schrei aus und deutete auf ihn. Wie man mit einem einzigen Schrei einen so unglaublichen Lärm machen kann – und welche Stimmgewalt einem so kleinen zierlichen Körper entströmen konnte. Er ist es, schrie sie, er ist es, ja! Und jemand antwortete: Also gut! Kein Problem.

Er war völlig benommen. Wie schnell sich ein so junges Gesicht im Zorn in eine giftige Grimasse verwandeln kann! Wie ihre Augen hell wurden vor Hass. Wie der Finger, der auf ihn deutete, einer Klinge glich, scharf genug, ihn aufzuschlitzen. Stand er etwa im Verdacht, die Scheune abgefackelt zu haben? Der, der, der, schrie sie, hüpfte herum und gab ein kurzes gekünsteltes Lachen von sich.

Das Rätsel, wie mühelos es einem der Uniformierten dann allerdings gelang, ihm, noch immer ein Mann ohne Hände, Handschellen anzulegen, überlassen wir am besten der Phantasie für Träume zuständiger Wissenschaftler.

Der Mechaniker, der nicht hätte sagen können, ob er überhaupt jemals einen Traum gehabt hat, gönnt sich – wie immer in seiner zweiten Frühstückspause – in seiner Stammkneipe ein Bier, genehmigt sich dazu, was er sich nicht immer leistet, noch einen Obstler und setzt, während er von einem belegten Brötchen, bevor er hinein beißt, die Tomatenscheiben entfernt und auf dem Fernsehschirm über dem Tresen die Übertragung eines Pferderennens verfolgt, den Hundert-Euro-Schein auf Sieg für Pennyweight, eine irische Stute – eine Wette gegen den nichtsnutzigen, aber schlauen Sohn des Gastwirts, einen Burschen, der jedem, auch wenn er ihm völlig unbekannt ist, gerne auf die Schulter klopft, immer ein bisschen zu heftig. Sein Vater hat es aufgegeben, ihm das abzugewöhnen. Er hat ihn, wie es scheint, überhaupt aufgegeben. Die Haare sind ihm dünn und grau geworden. Er kann kein Foto von früher mehr anschauen, als der Junge ein Baby und sein ganzer Stolz gewesen war. Kaum zu glauben, dass dieses niedliche kleine Kerlchen sich eines Tages umdreht und einem, mir nichts dir nichts, die Schnäpse wegputzt. Als ich ihn einmal beim Klauen erwischte, er hatte die Hand schon in der Kasse, war sein einziger Kommentar: Sag mal, übertreibst du nicht ein bisschen? Was eigentlich genau die Frage war, die ich hätte stellen sollen.

Der Gastwirt hatte die Kartons mit den Alben in den Keller geschafft. Sollen sie dort bis in alle Ewigkeit verschimmeln wie seine Boxhandschuhe und der Sandsack, wie so vieles, was vorbei und Vergangenheit war. Ich frag mal, wenn es soweit ist, im Himmel nach, wie so etwas möglich ist. Ich, ein unbescholtener ehrlicher Mann, ein Mann mit einem guten ehrlichen Namen, der vom Allmächtigen nur wissen möchte, womit er seinen Zorn verdient hat. Und die Schande, einen Sohn wie den hier haben zu müssen, einen, der nichts tut und nichts taugt.

Das Gefälle in der Beziehung zwischen Vater und Sohn lässt sich am einfachsten an einem einzigen Wort verdeutlichen, dem Namen des Burschen, seinem Vornamen. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Florian getauft, was dann zum Kosewort Floh verniedlicht wurde, „unser lieber kleiner lustiger Floh“, wie sie hinten auf Fotos schrieben, die sie gerne an Verwandte verschickten. Da war die Welt noch in Ordnung. Als der Junge dann älter wurde und die ersten rotzigen Antworten gab, hatte das Kosewort schnell ausgedient. Aus Floh wurde wieder Florian. Dann begann die Zeit, wo ihm seine Eltern so lästig waren wie der Name, mit dem sie ihn riefen – und auf den er dann folgerichtig auch nicht mehr reagierte. Einer, der sich, ohne sich zu waschen, mit seiner Straßenkleidung ins Bett haut, hat andere Ansprüche. Auch seine Freunde hatten für Umständlichkeiten keinen Sinn und aus Florian erst einmal Flozzy gemacht, die Sache dann aber – und es musste so kommen – abgeschliffen zu Fozzy. Alle, mit denen er zu tun hat, nennen ihn seither so. Er wird sich diesen Namen auf die Haut brennen lassen; er weiß auch schon die Stelle: hinten am Hals über dem letzten Wirbel.

Einfach oder nicht, der Unterschied zwischen Florian oder Floh und Fozzy macht die ganze Distanz deutlich, die einen Vater und einen Sohn trennen kann. Zu einem ihm unbekannten jungen Mann, der sein Sohn ist (sein Sohn war, wie er sich korrigiert), gesellt sich ein Name, der ihm nie über die Lippen käme; es fällt ihm schon schwer genug, ihn, wenn es sich nicht vermeiden lässt, Florian zu nennen.

Als er wegen einer Verhaftung seines Sohnes einmal vorgeladen worden war, der Grund war eine Schlägerei mit beträchtlichem Sachschaden am Mobiliar einer einschlägig bekannten Gaststätte gewesen, hatte ihn der ihn vernehmende Polizeibeamte gefragt, ob der gestern Nacht arretierte Herr Florian Ahrens sein Sohn sei, und er hatte geantwortet: Nein! Nach einigem Hin und Her war er bereit, die Aussage abzuschwächen: Ja, mein Sohn, dem Namen nach. Es sei bei ihm eine Waffe gefunden und sichergestellt worden, wurde ihm mitgeteilt, ob er dazu eine Aussage machen könne oder wolle.

Was für eine Waffe?

Ein Messer!

Was für ein Messer?

Das hier! Ein Springmesser, eines mit sehr scharfer Klinge, sagte der Beamte und legte es vor ihn auf den Tisch. Wollen Sie etwas zu Gunsten Ihres Sohnes, zu seiner Entlastung vorbringen?

Nein, sagte er, nichts, und bat um ein Glas Wasser. Behalten Sie ihn, es wäre besser.

Jedem schlägt mal seine Stunde, und hoffentlich, denkt der Gastwirt, bin ich nicht dabei, wenn es so weit ist. Will nach Australien. Soll er doch. Hat eine Bekanntschaft dort. Angeblich eine, die die Wüsten liebt. Wahrscheinlich spindeldürr wie er. Was will einer, der es immer eilig hat, in Wüsten? Ernährt sich von dem, was er von den Tischen, die er abräumt, nimmt, Essens-reste, abgestandenes Bier, auch wenn jemand reingespuckt hat. Bedient sich, um keine Umstände zu machen, mit den Fingern. Sollte ihn, Allmächtiger, besser totschlagen. Aber sachte, denkt er. Einem Kind, deinem einzigen, den Tod wünschen?

Fang besser friedlich an. Nimm ihm die Spielkarten weg! Sag ihm, dass mal wieder ein frisches Hemd fällig wäre, bei den Flecken vorne. Und dass eine Kneipe kein Rummelplatz ist. Wasch dir wenigstens zwischendurch mal den Dreck von den Händen. Wasch dich überhaupt mal. Und die Schultern, halte die Schultern gerade! Sag ihm das. Sag, was du willst. Sag am besten nichts mehr.

Es geht im Leben des Gastwirts zu wie in der Zeitung. Ein kleines Leben, in das nie auch nur ein Sonnenstrahl fällt. Am besten man ist, wenn man heim kommt, zu müde, um die Augen offen zu halten. Und dann jede Nacht ein Lärm draußen, dass die Fensterscheiben beben. Alles, was an Autos aus der Stadt muss. Die fahren einem fast über die Vorhänge. Was eine Kneipe abwirft, reicht nicht, um einen Streit mit dem Hausbesitzer zu riskieren, mit irgendwem, der was ändern könnte.

Seine Frau, die reinste Gutherzigkeit, bis sie sich gehen ließ und mit dem Trinken anfing, gleicht mehr und mehr einem Gespenst. Sie war, als er spät genug dahinter kam, bereits kaputt von dem Fusel, redete, wenn sie überhaupt noch den Mund aufmachte, wirres Zeug, jedenfalls nichts, was als Erklärung dafür hätte dienen können, was mit ihr los war, was ihr zugesetzt und sie nach und nach zu einem so hoffnungslosen Fall hatte werden lassen. Dass sich ihr Vater zu Tode gesoffen hatte, war es das? Dass der Sohn seit einem Unfall, einem Motorradunfall, auf einem zu kurzen Bein herumhumpelt? Dass sie sich an allem und jedem mitschul-dig fühlte? Der Streit mit der Mutter, die gegen eine Ehe mit einem Kneipenwirt und danach nie mehr wie eine Mutter zu ihr gewesen war? Läufst ausgerechnet einem Kneipenwirt und damit deinem Untergang in die Arme? Diese Frau hat es ihm, als er ihre Tochter heiraten wollte, ins Gesicht gesagt. Das geht nicht, mein Herr, hat sie gesagt. Sie ist nichts wert, hat sie gesagt. Sie hat ein Schicksal! Nehmen Sie eine andere. Vielleicht war es das, was sie umgebracht hat, der Fluch fehlenden Vertrauens. Vielleicht waren es aber auch nur die Ärzte im Krankenhaus gewesen, die bei einer Untersuchung etwas in ihr entdeckt hatten, was da nicht hingehörte? Er jedenfalls hat seither nie mehr auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich genommen.

Alles, was an ihr liebenswert gewesen war, war dahin, die Haut, die Zähne, die ganze Figur. Schlurft nur noch herum, wenn überhaupt. Sitzt da, als sei das Zimmer ein Grab. Es riecht nach Urin, nach Sterben, nach Tod. Er reißt, wenn er spätnachts nachhause kommt, die Fenster auf. Sollen die Laster Lärm machen, wie sie wollen. Sollen sie über uns hinweg fahren. Aber sie muss Luft kriegen, denkt er, und kann eine Stinkwut kriegen, wenn sie nicht atmet.

Die Nahrung, die er ihr in den Mund schiebt, bleibt auf ihrer Zunge liegen. Dann hat er eine Eingebung! In Schokoladensoße getunkte Birnen! Was das immer für Erinnerungen bei ihr ausgelöst hat. Sie waren jung und verliebt gewesen damals und glaubten daran, dass sich daran nie etwas ändern würde. Sie glaubten daran, wie man an ein Glück glaubt, das man sich erarbeiten, sich mit Fleiß und Ehrlichkeit verdienen kann. Wie zur Aufmunterung lagen da diese in Schokoladensoße getunkten Birnenschnitze auf ihrem Tellern; eine Köstlichkeit, die sie sich damals kaum leisten konnten, weshalb sie sich dieser kleinen Extravaganz auch immer ein wenig schämten; und tatsächlich hatte sie sich schon am ersten Bissen fast verschluckt. Die Wirkung war Liebe, und das Gefühl, sich bisher nur von Abfällen ernährt zu haben.

Er konnte vor einem Jahr, einem halben Jahr noch, hoffen, sie mit ihrer Lieblingsspeise zu verführen, wieder gut zu sich selbst zu sein und einsichtig gegenüber den Sorgen, die er sich um sie machte, vernünftig und endlich bereit, wieder gesund werden zu wollen. Aber sie bleibt für ihn unerreichbar, sie reagiert nicht. Sie erinnert sich nicht. Sie weiß nichts mehr von ihrem Leben.

Sie konnte die Hand, wenn sie sie sich vor ihr Gesicht hielt, nicht erkennen. Sie wusste nicht einmal mehr, dass es eine Hand, noch weniger, dass es ihre eigene war.

Sie war zu krank, um an einer Blume zu riechen.

Manchmal, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, weint er.

Er schläft, eine Art improvisiertes Nachtlager, auf dem Küchenboden halb unter dem Tisch auf einer Matratze und denkt, wenn er nicht schlafen kann, an Scheidung. Aber los wird man so eine auch nach einem Richterspruch nicht. Mein Sohn, ihr Sohn. Beide aus dem Leim.

Er hat sie bis zuletzt versorgt, bis sie es hinter sich hatte.

Friede ihrer Asche. Sie hätte aber, so wenig wie sie noch war, auch gleich so in eine Urne gepasst.

Das geht nicht in seinen Kopf, wie man so ein Pech haben kann.

Obwohl er mitkriegt, dass Pennyweight das Feld mit einigem Vorsprung anführt, hat der Sohn des Gastwirts seine Hand trotzdem schon mal vorsorglich auf den Schein gelegt, der da liegt. Mit der anderen schiebt er sich die Tomatenscheiben in den Mund, die der Mechaniker verschmäht und auf dem Teller liegen gelassen hat. Fruchtfleisch tropft ihm vom Kinn, das Hemd kann einem wirklich leid tun. Der ganze Junge kann einem leid tun. Wenn er sich überhaupt auf etwas konzentrieren kann, dann auf Pferde. Er ist einer jener typischen Kleinwetter, die jede freie Minute bei Buchmachern oder in Wettbüros herumlungern und die Informationen, die sie aufschnappen, als Eingebungen verkaufen.

Ich will ja keinen Streit mit Ihnen, Mann, sagt er, aber Penny geht da oben, wenn ich das richtig sehe, gerade die Luft aus.

So?

Pennyweight geht gut. Er liegt noch immer in Führung, wenn auch nicht mehr so überlegen.

Das Feld kommt näher. Er kann nicht verlieren, denkt der Mechaniker, er schafft es. Lass ihn, ruft er. Weg mit der Peitsche. Lass ihn laufen. Lass ihn einfach nur laufen, verdammt.

Der Junge ist auffallend ruhig. Oh je, Mann, ehrlich. Der geht baden, Mann, der bringt’s nicht. Ich hab’s doch gewusst, Mann.

Unmöglich, denkt der Mechaniker, aber der Junge könnte recht haben. Die Sache sieht nicht mehr so gut aus. Die Meute ist drauf und dran, zu Pennyweight aufzuschließen und wieder um den Sieg mitzumischen. Enges Rennen jetzt, jeder gegen jeden, bis auf einige Nachzügler! Und dementsprechend laut schreit der Kommentator in sein Mikrophon, seine Stimme überschlägt sich. Das ist auch eine Kunst, denkt der Mechaniker, die Luft anhalten und gleichzeitig wie ein Irrer drauflos brüllen zu können – und was für ein Gedächtnis die Kerle haben für die Namen der Pferde; das sind wahre Zungenbrecher, in allen möglichen Sprachen auch noch.

Selbst der Gastwirt riskiert jetzt, wenn auch nur kopfschüttelnd, einen Blick und schaut dann den Mechaniker an. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, Christian, dass Sie auch nur einen Cent auf Pferde wetten, wo Sie doch nur was vom Boxen verstehen.

Er versteht es selbst nicht. Es war eine Dummheit. Und mehr als sein Recht auf eine Dummheit kann er zu seiner Entschuldigung nicht vorbringen.

Und es stimmt. Sie reden gern über Kämpfe, auch wenn sie wissen, dass es genug böse Buben auch in diesem Sport gab und gibt. Aber sie lieben das Boxen. Sie können die Boxweltmeister im Schwergewicht hersagen, und das vom Jahr 1930 an. Und Runde für Runde und Schlag für Schlag können sich die beiden die Nacht des 1. Oktober 1975 ins Gedächtnis rufen, als der kleinwüchsige, aber große Joe Frazier nach der vierzehnten Runde nicht mehr weitermachen konnte. Der Mechaniker war noch ein kleiner Junge gewesen, als er nachts, an seinen Vater gekuschelt, vor dem Fernseher saß und Mühe hatte, die Augen offen zu halten, aber er kann sich erinnern.

Der Gastwirt hatte, nur zum Spaß und lange her, selbst ein wenig geboxt – und für das Vergnügen mit ein paar Narben und einer gebrochenen Nase bezahlt, die er sich nie hatte richten lassen; sein Körper weist noch weitere kleinere und größere Narben auf, die auf Messerstechereien zurückgehen, Andenken an eine Zeit, in der er keinen Spaß verschmähte und keine Einladung zu einem Streit ausschlug. Er hat sie unter „meine lebensgefährlichen Jahre“ im Gedächtnis gespeichert.

Der Mechaniker, dreißig Jahre jünger, war nie selbst aktiv geworden, aber wie sein Vater von Kindesbeinen an von den Athleten im Boxring begeistert. Manchmal, um nicht aus der Haut zu fahren, schlägt er, wie Boxer es im Training tun, mit einem Baseballschläger auf einen Stapel alter Reifen ein, die er in einem Nebenraum der Werkstatt für diesen Zweck aufbewahrt hat. Es gibt kein probateres Mittel gegen schlechte Laune. Hin und wieder verschenkt er alte, liegengebliebene Reifen an Kinderspielplätze, Haftanstalten oder kleine private Boxclubs; einmal hatte einer welche mitgenommen, ein nicht gerade sehr gesprächiger, aber sympathischer alter Trainer, dessen Auto auf der Rückreise von einer Boxveranstaltung liegengeblieben, vom ADAC zu seiner Werkstatt abgeschleppt und von ihm, noch bevor er seinen ersten Kaffee getrunken hatte, mit wenig Aufwand wieder fahrtüchtig gemacht worden war.

Kann ich noch etwas für Sie tun?

Ein Boxer ist nicht wichtiger als ein Glas Wasser, hatte der Trainer geantwortet, und im Moment wäre mir Wasser lieber.

Der Mechaniker hatte ihm auf der Toilette eine Plastikflasche abgefüllt und sie ihm gereicht.

Einen Kaffee vielleicht noch?

Der Trainer hatte die Hand auf die linke Seite seiner Brust gelegt und den Kopf geschüttelt. Das Herz.

Man hatte ihm angesehen und erst recht seinen zwei Schützlingen, dass es für sie nicht gut gelaufen war. Da standen zwei übel zugerichtete junge Burschen, schläfrig, schlecht gelaunt und nach einer Nacht in einem kalten Auto durchgefroren, im Hof und waren an allem, was um sie herum vorging, uninteressiert. Aber er kriegte sie munter. Sie haben gleich den ganzen Kofferraum mit alten Reifen vollgeladen.

Ich hatte auf Frazier gewettet, sagt der Gastwirt. Ich war sicher. Alle waren wir sicher.

Der Mechaniker nickt: Es war haarscharf.

Der Gastwirt geht zur Spüle und beginnt, Gläser abzuwaschen. Dann dreht er sich noch einmal um. Frazier saß in seiner Ecke und hat geweint, und aus seinen Augen kam Blut.

Und dann, plötzlich, fliegt ein Glas.

Der Mechaniker fährt herum und sieht noch die Scherben fallen.

Der Junge bleibt ruhig.

Es fliegt noch ein Glas.

Keine Wetten mehr an meinem Tresen, überhaupt keine mehr. Der Gastwirt reißt sich seine zerknautschte Mütze vom Kopf. Schluss damit. Ich will das nicht.

Das Rennen ist gelaufen. Sie haben ihn doch tatsächlich noch abgefangen. Und sie haben ihn nicht nur abgefangen, sie haben ihn am Ende richtiggehend stehen lassen. Aber kann wer, verdammt nochmal, ahnen, dass ein in allen Rennen zuvor überlegener und auch hier als Favorit gehandelter Gaul kurz vor dem Ziel gegen einen Außenseiter wie Throwaway und noch ein Pferd, dessen Namen er sich nicht merken und noch weniger aussprechen kann, irgendwas Französisches, um mehr als eine Länge einbricht?

Tut mir leid, Mann, ehrlich.

Schon gut, sagt der Mechaniker, egal.

Aber ganz so egal ist es ihm auch wieder nicht, vor allem nicht das Grinsen, mit dem ihn der Junge anschaut.

Wie wär’s mit noch einem Obstler? Der Junge hält ihm eine Schachtel hin. Oder ’ne Menthol?

Hör zu, sagt der Mechaniker, entscheidet sich aber, den Gedanken, der ihm durch den Kopf geht, für sich zu behalten. Es wäre albern, einem wie ihm erklären zu wollen, dass es Leute gibt, die sich nicht so einfach wie er damit abfinden, wenn eine Sache stinkt.

Lag nicht am Pferd, sagt der Junge, das läuft, wenn man es lässt, von alleine.

Du sagst es!

Na ja, was soll man machen, Mann.

Sah ganz danach aus, dass auf meinem Favoriten der Falsche saß.

Oder der Richtige! Wie man’s nimmt.

Der Junge redet zu viel, denkt er. Verdammt zu viel für einen, der schon mal gesessen hat. Was, wenn nicht die Klappe halten, lernt man denn im Knast?

War nur ein Scherz, Mann! Machen Sie sich keine Gedanken.

Klar, ein Scherz.

Irgendwie hat er mit dem Jungen Mitleid. Die Mutter wenige Jahre nach seiner Geburt mehr und mehr nur noch das Fragment eines Menschen, der Vater überfordert, humorlos, unfähig, einem Kind das Gefühl zu geben, ein Leben vor sich zu haben, das zu beginnen und durchzustehen sich lohnt. Sie haben vergessen, ihn zu lieben. Er hat nie in Augen geschaut, die neugierig auf ihn waren, stolz auf ihn, voller Vertrauen. Ein Kind, aufgewachsen in der Angst zu versagen.

Da er keine Antworten bekam, stellte er das Fragen ein. Setz dich und iss. Sei still. Schlaf. Eines Tages hörte er auf, seinem Vater zu gehorchen. Er hörte auf, ihm auch nur zuzuhören. Er machte den Mund höchstens auf, wenn er telefonierte. Für ihn waren seine Eltern, wie er sagte, „ein Fall für den Friedhof“. Da er zuhause kein eigenes Zimmer hatte, nicht einmal ein kleines abgetrenntes Kabuff, in dem er für sich sein konnte, rauchen, die Musik bis zum Anschlag aufdrehen und ein Brathähnchen, eine seiner Lieblingsspeisen, herunterschlingen, trieb er sich Tag und Nacht auf der Straße herum. Er kam nur noch nachhause, um die Wäsche zu wechseln.

Jetzt, wo er sich allein behaupten musste, fiel er erst richtig auf die Schnauze. Er war ein Anfänger, zu dünn, zu ungeschickt, und – noch – nicht verschlagen genug. Er dachte sich böse Dinge aus. Was war das Böseste, was er sich zu tun traute? Was war es, was einen zum Mann machte? War es Grausamkeit, als er einen Vogel, den er verletzt auf der Straße entdeckt hatte, wie eine Flasche Bier, die er ausgetrunken hatte, gegen die Wand warf – oder wollte er das Tier, bevor es sich eine Katze schnappte, erlösen?

Er war zu jung, um keine Fehler zu machen, aber er machte sich. Er machte sich hart. Wer nichts bekommt, stiehlt. Wer kein Geld hat, besorgt es sich. Wer ein Auto braucht, knackt eines. Das andere ergab sich: Alkohol, Drogen, Mädchen. Aber auch da steckte er schnell in der Klemme. Einer, der geschlagen wurde, wird vor jeder Hand, die ihn berührt, zurückschrecken. Es brachte ihn fast um, sich so zu geben, wie er eigentlich war, schüchtern, liebenswert, einfach ein Junge wie jeder. Oder hatte er nur die falschen Schuhe an?

Klar, dass er die Schule schmiss.

Eine seiner Lehrerinnen soll er einmal gefragt haben: Weißt du, wer ich bin?

Wer er war? Ein Fall für die Polizei.

Er versucht, sich schlauer zu geben, als ihm gut tut, weil das dort, wo er sich herumtreibt, gefährlich werden kann. Da nützt ihm kein Grinsen.

Sagen Sie mir das nächste Mal einfach vorher Bescheid, Mann, wenn Sie was wissen wollen. Ich meine, was Pferde angeht.

Ich melde mich bei Bedarf, mein Junge.

Kein Grund zum Ausflippen, Mann. Das wird schon.

Für die Bemerkung „Man muss sich ständig wechselnden Situationen eben gewachsen zeigen!“ hätte er dem Burschen am liebsten das Licht ausgepustet – oder, noch lieber, das Vergnügen einem Pferd überlassen, das nach ihm ausschlägt.

Leider passiert ihm das manchmal eben doch noch, dass er einfach nicht glauben will, was er weiß. Ein Pferd hat gegen Geld keine Chance, und keine gegen den Jockey, der es reitet. Sie sterben nicht aus, die großen und kleinen Gauner, die Spezialisten für Bestechung, Betrug und Schiebereien, und sie werden, der Strolch neben ihm ist der Beweis, immer jünger, und sie schlafen nicht. Und ihre Methoden sind immer noch die alten. Das Gesetz des Durchschnitts: Sei nicht ehrlicher als unbedingt nötig! Sie haben ihre Hand an jedem Huf und ihre Finger an den Spritzen, mit denen sie Pferde kalt oder heiß stellen; sie haben ganze Wohnungen voll mit dem Zeug.

Der Mechaniker war immer ein Mann gewesen, der daran glaubte, dass ein Händedruck einen Menschen erziehen kann; so hatte er seinen Sohn großgezogen, mit einem Handschlag, nicht mit Worten. Es war eine Geste, mit der er ihm sein Vertrauen zeigte. Er gab ihm die Hand wie andere ihre Hand zum Schwur erheben. Es war seine Art, seinen Respekt auszudrücken, sein Einverständnis, seine Liebe.

Bei den Rennen gab er keinem die Hand. Es war längst lächerlich, sich die Wahrheit nicht eingestehen zu wollen. Er war einfach zu alt für den ganzen Budenzauber an den Wettschaltern oder draußen am Sattelplatz. Er kannte die Drahtzieher, nicht die ganz wichtigen, nicht die im Hintergrund, aber ihre Zuträger – und die Art, wie sie sich untereinander verständigten. Ein Blickkontakt als Frage, ein Kopfnicken als Antwort, ein Anruf als Drohung.

Und draußen rannten die Pferde, jedes einzelne ein Tier voller Kraft und Schönheit.

Wie hatte der Junge gesagt? Ein Pferd läuft, wenn man es lässt, von alleine. Er hatte recht. Es könnte so einfach sein. Man kann darauf wetten oder es sein lassen, von mir aus. Aber lasst sie laufen, lasst sie doch, eines schneller als andere, einfach laufen.

In meiner Werkstatt sind die Dinge, wenn man sich auskennt, unkompliziert. Auf dem Rennplatz – und nicht nur dort – werden die Dinge, je mehr man sich auskennt, immer komplizierter. Ich will damit sagen, dass ich, wenn ich nicht arbeite, Fehler mache. Die meisten Fehler, die ich mache, mache ich mit sauber gewaschenen Händen. Er schaute sie an, zwei frisch mit Kernseife gereinigte Hände, die Hände eines Arbeiters.

Aber als Wettkönig sollte ich in Rente gehen.

Er legt die Hand auf die Hand des Jungen, der seine Hand noch immer flach auf dem Geldschein liegen hat. Gib einem Ganoven die Gelegenheit, anständig zu werden, und er hält dich für bekloppt.

Der Junge schaut den Mann an, der mit ihm redet. Ihm gefällt nicht, was er sagt. Und auch der Blick, mit dem er ihn mustert, gefällt ihm nicht. Was glaubt er, wer er ist? Glaubt er, ich gehöre zur gleichen Bande wie die, auf die es ankommt? Und wenn schon, denkt er, hält er mich halt für einen Ganoven.

Das ist das, was mein Alter nicht kapiert, Mann. Ich glaub nicht, dass er heute schon so viel umgesetzt hat wie ich gerade.

Der Sohn des Gastwirts nimmt seine Mütze und den spielend eingestrichenen Gewinn und bezahlt damit, es ist inzwischen Mittag, ein Mädchen in seinem Lieblingsbordell, einem Haus mit dem schönen Namen „Zum Goldenen Dattelbaum“. Er glaubt, Ansprüche stellen zu können. Mehr als einmal hat das Mädchen Mühe, ihm klar zu machen, dass nicht alles, was er will, käuflich ist, für kein Geld der Welt; vor allem keine Intimitäten. Er greift trotzdem nach allem, was ihm gefällt. Er braucht das offenbar, um, wie er sagt, „in Form“ zu kommen. Nichts ist vor ihm sicher. Nicht dass sie an schwierige Freier nicht gewöhnt ist, sie kann, wenn es sein muss, die Krankenschwester spielen, die strenge Tante, das verdorbene kleine Luder, aber Hände weg von ihrer Frisur. Überhaupt Hände weg, auch von der neunschwänzigen Katze, die er auf der Fensterbank entdeckt hat – und die sie ihm gleich wieder aus der Hand nimmt. Nein, keine Peitsche! Her damit! Das nicht auch noch! Sie hat gleich Feierabend, Schichtwechsel. Sie hätte, selbst gegen einen Aufpreis, für die Prozedur einer Züchtigung auch gar keine Nerven mehr.

Das gerade eben noch eindrucksvoll zurechtgemachte Mädchen hat sich nach diesem etwas anstrengenden Kunden abgeschminkt, umgezogen, ihr an einem Goldkettchen baumelndes goldenes Kreuz, das Andenken einer geplatzten Verlobung, um den Hals gelegt, den letzten Rest eines Joints, den sie fast vergessen und liegen gelassen hätte, geraucht und, bevor sie das Haus verlässt, noch schnell im Gemeinschaftsraum unten einen Tee getrunken und ihre Sonnenbrille aufgesetzt. Niemand käme auf die Idee, sie für die Person zu halten, die sie gerade noch gewesen ist. Ein kurzer Anruf bei einer ihrer Freundinnen, einer Friseuse, der sie wegen einem Polojäckchen, einem Fummel in ihren Lieblingsfarben Grün und Gold, das sie ihr abgeschwatzt hat, noch das Geld schuldig ist. Sie weiß ja, was Friseusen so verdienen. Sie war bis vor kurzem selbst eine. Ich komm mal schnell auf einen Sprung vorbei, um dir das Geld zu geben, sagt sie. Außerdem hat sie Neuigkeiten, gute Neuigkeiten, sehr gute, vorausgesetzt natürlich, sie macht nicht wieder einen Rückzieher.

Das Zimmer neben ihrem wird frei. Eine Schwarze, bei der sie sich – und nicht nur sie – immer gefragt hat, warum eine wie sie überhaupt anschaffen geht, mit einem Afro-Look, der kein Look ist, sondern Natur, und einem Arsch wie ein Sonnensegel, echt eine Attraktion; sie wurde, weil ihre Papiere nicht in Ordnung waren und die Polizei zur Kontrolle da war, gleich in Gewahrsam und mitgenommen.