Selbstbild mit russischem Klavier - Wolf Wondratschek - E-Book

Selbstbild mit russischem Klavier E-Book

Wolf Wondratschek

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Beschreibung

"Wolf Wondratscheks Erzählen ist Seelenarchäologie." Michael Kohtes, DIE ZEIT   "Früher begann der Tag mit einer Schusswunde" – mit dieser Sammlung kurzer Prosatexte schrieb Wolf Wondratschek sich in den Status eines Kultautors. Als radikaler, liebender, experimenteller Bohemien verfasste er Verse von lakonischer Eleganz. Sein neuer Roman "Selbstbild mit russischem Klavier" ist eine glühende Hommage an die Musik und die Freiheit der Kunst. In einem Wiener Kaffeehaus lernt ein Schriftsteller den alten Russen Suvorin kennen. Suvorin war ein erfolgreicher Pianist, doch das ist lange her. Nun steht er am Ende seines Lebens, will seine Geschichte erzählen. Gebannt hört ihm der Schriftsteller zu, denn in Suvorins Schicksal spiegeln sich ein Wille, eine Energie, die ihm vertraut sind. Und immer geht es ums Ganze: um Freiheit und Rebellion, Schönheit und Verfall, um das von der Kunst geschaffene Unvergängliche. Schon bald bekommt die Begegnung der beiden Männer, die zunächst rein zufällig anmutet, etwas Schicksalhaftes. Ein Roman voll schweifender Sehnsucht, Romantik und echtem Leben aus der Feder eines der großen deutschsprachigen Gegenwartsautoren.

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Der Autor

Wolf Wondratschek, geboren am 14.08.1943 in Rudolstadt/Thüringen, lebt heute in Wien. Seit fünfzig Jahren veröffentlicht er Geschichten, Romane, Reportagen und Lyrik. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören Früher begann der Tag mit einer Schußwunde und die Gedichtbände Chuck’s Zimmer, Männer und Frauen sowie Carmen oder Bin ich das Arschloch der achtziger Jahre.

Das Buch

In einem Wiener Kaffeehaus lernt ein Schriftsteller den alten Russen Suvorin kennen. Suvorin war ein erfolgreicher Pianist, doch das ist lange her. Nun steht er am Ende seines Lebens, will seine Geschichte erzählen. Gebannt hört ihm der Schriftsteller zu, denn in Suvorins Schicksal spiegeln sich ein Wille, eine Energie, die ihm vertraut sind. Und immer geht es ums Ganze: um Freiheit und Rebellion, Schönheit und Verfall, um das von der Kunst geschaffene Unvergängliche.

Wolf Wondratschek

Selbstbild mit russischem Klavier

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© Wolf Wondratschek (2018)Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Brian BarthAutorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-1858-5

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

I

Handschlag mit einem Toten?

II

Dürfen wir nicht leben?

III

Du erinnerst dich?

IV

War das der Hände Arbeit?

V

Wie lange dauert eine Pause?

VI

Was hatte ich getan?

VII

Eine Stadt auf dem Wasser?

VIII

Begleiten Sie mich?

IX

Wer weiß schon, wer einem gegenübersitzt?

X

Wo gehörte er noch hin?

XI

Hören Sie mich?

XII

Wer soll das glauben?

XIII

XIV

Eine andere Art Vergangenheit?

XV

Eine einzige schöne Gestalt?

XVI

Schon mal karamellisierte Zwiebeln probiert?

XVII

Genug Salz?

XVIII

Kann man Gott zum Lachen bringen?

XIX

Wie weiter?

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

I

Widmung

Weiß der Zufall, was er will?

I

Handschlag mit einem Toten?

Im Kaffeehaus. Alle Tische besetzt. Alle Witze erzählt. Alle Zeitungen gelesen. Fremde und einheimische. Die Kellner tanzen. Die Luft eine brennende Zigarre. An meinem Tisch ein Russe, ein Klavierspieler in jungen Jahren, eine vergessene Berühmtheit. Er hat sich abgefunden. Moskau, London, Wien. Alle Entfernungen zusammengefasst in der Zeile eines Gedichts, alle Räume eingeschmolzen in Rätsel. Ich habe es versucht, Verklärung bei klarem Verstand, bin aber gescheitert. Am Ende sind es Hotelzimmer, an die man sich erinnert, mehr als an Konzerte. Ein zu fester Händedruck. Schöne Frauen, die anklopfen und sich, weil sie sich getäuscht haben, entschuldigen. Ein Koffer mit kaputtem Schloss. Der Eiffelturm im Nebel, da war zwei Tage lang nichts zu sehen. Und natürlich hat man es gewusst: Die Kunst kann nichts dafür, dass sie nichts kann.

Unbegreiflich, wie nutzlos ein Mensch werden kann, ein Mensch wie ich, der am Ende in eine Gedächtnislücke passt, ohne Schuhe, ohne Traum. Seine rechte Hand, seine Pranke einst, spielt mit einer Zigarette, die zu rauchen ihm von den Ärzten untersagt ist. Das Herz. Er hat es schriftlich. Sie werden sterben. Das ist es, antwortet er, was ich mir wünsche. Und keine Musik, keine Note. Kirchenglocken, ja, wie sie geklungen haben in den Dörfern meiner Heimat, der meiner Großeltern, meiner Tanten und Onkel. Sommerferien, ich erinnere mich, lange kurze Wochen. Höhlen, in die ich mich keinen Schritt hineintraute. Hühner, die in den Händen ausbluteten. Das Warten auf Gewitter. Zweige sammeln für ein Feuer, was natürlich verboten war, den Mann, der vorbeigeritten kam, aber nicht störte; er war ganz in das Lied, das er sang, vertieft. Man musste nicht brav sein, durfte lange aufbleiben und den Geschichten zuhören, die sich Erwachsene erzählten. Irgendwer trug einen, wenn man, den Geschmack süßer Waldbeeren noch auf der Zunge, eingeschlafen war, ins Bett. Leben im Glück! Barfuß im Schlamm stehen. Von Bäumen ins Weiche fallen. Und wieder hochklettern. Noch einmal und noch einmal, nicht aufhören! Da waren Frauen, junge, kräftige Frauen bei der Arbeit auf den Feldern, die anzuschauen ich mich schämte. Wie alt war ich, dass ich Gedanken bekam, die nicht die eines Kindes waren? Ach ja, schon riefen mich andere, freche, rotbackige Mädchen, die sich versteckt hatten! Ich sammelte, was ich fand, warf es wieder weg, trottete weiter. Herden von Schafen. Wagenspuren im Sand. Vagabundierende Wahrsagerinnen, junge und alte, die, weil die Zukunft ein schlechtes Geschäft war, auch mit Perlen und wundersamen Wurzeln Handel trieben. Die ersten weißen und schwarzen Tasten, die eines Akkordeons. Die blauen Tücher, die Farbe der Liebe. Komm wieder, ich denke an dich. Dann kamen die Deutschen. Das Geld ließen sie liegen, aber sie nahmen die Seife mit und die Streichhölzer. Es kam das Sterben, und keiner mehr da, der das erklären konnte. Die Alten, die noch am Leben waren, redeten nicht mehr. Wer zu Bett ging, stand nicht mehr auf. Gesungen wurde, wenn überhaupt, nur noch in Gedanken, heimlich. Vor den Bildern mit den Heiligen brannten schon lange keine Kerzen mehr. Liebe war, einander die Hände zu wärmen. Aus Leningrad kam keiner mehr raus, und keiner kam rein. Eine Stadt, gefangen im Hunger. Der jetzt sicherste Ort, auch das noch, war Sibirien.

Ich höre einen Mann reden, den ich gerade erst kennengelernt habe, dessen Artikulation in der ihm fremden Sprache fremd klingt, ähnlich einem tönenden, fragilen Kartenhaus, das er mit Sorgfalt zu schützen versucht, auch vor dem eigenen Atem. So hören sich Sätze an, die bergauf gehen. Und noch etwas macht die Sache, ihn zu verstehen, nicht einfacher: Alles in seinem Kopf zerstreut und verliert sich. Er hört das brechende Eis in den Kanälen, auf Bären abgefeuerte Schüsse, die falschen Töne, die er sich, unerklärlich indisponiert, in Paris geleistet hat. Man muss, denke ich, geübt sein, ihm Zeit zu lassen.

Er wischt sich, nachdem er das Glas mit dem Wasser, in das, von ihm unbemerkt, Asche seiner Zigarette gefallen ist, ausgetrunken hat, den Mund trocken, schaut mich an, als hätte ich ihm auf eine Frage, die er nicht gestellt hat, eine kluge Antwort gegeben.

Es wird mich freuen, sagt er. Und es soll regnen, das habe ich immer geliebt. Es soll lange regnen. Es soll in die Dunkelheit hineinregnen, in die Sterne. An Gott glaube ich nicht. Ich bin gläubig nach anderer, alter Art.

II

Dürfen wir nicht leben?

Ich habe mich mit dem alten Russen verabredet. Er schlug ein italienisches Restaurant vor, nicht zu weit von seiner Wohnung entfernt.

Durch die Scheibe sah er wie ein Bettler aus. Er rauchte. Er war müde. Obwohl ihm Kaffee zu sich zu nehmen verboten war, bestellte er einen, was ihn munter machte. Die Übertretung eines Verbots war schon immer eine seine Lebensgeister stimulierende Aktion. Mein Herz liebt meine Dummheiten. Nicht alle, aber diese eine und ein paar andere, und verzeiht sie mir, wie ich hoffe. Noch immer schlägt es, ohne auszusetzen, seinen Takt. Manchmal, das ist wahr, droht es stillzustehen. Am schlimmsten, erzählte er, sei es damals in Paris gewesen, als er zwischen den Proben für ein Konzert auf dem Friedhof Montparnasse das Grab der rumänischen Pianistin Clara Haskil aufgesucht hatte. Da lag sie im Grab, und er stand da und fühlte sich überflüssig. Sie hat mehr gewusst als ich. Ich wusste nicht, was es war, was sie wusste. Ich wusste nur, dass es wichtig war, es zu wissen, und dass ich es nicht wusste. Ein Geheimnis, noch eines, wenn wir von Musik reden. Und das ist interessant, wenn man etwas hört, ohne es erklären zu können, und wie viel Musik haben wir alle schon in unserem Leben gehört, gute, herrliche, großartig gespielte Musik. Und doch! Das Herz tat ihm weh. Ihr galt wie kaum jemand, der je an einem Konzertflügel gesessen hat, seine Verehrung, was er aber für sich behielt. Er hatte sie zu seinem Bedauern nie auf dem Konzertpodium spielen gehört und natürlich auch persönlich nie kennengelernt, das Letztere nicht einmal zu seinem Bedauern, denn er hätte keine Worte für seine Bewunderung gefunden, und ihr die Hand zu reichen wäre ihm wie eine Frechheit erschienen. Aber sie waren durch Jahre und Entfernungen an Kilometern unerreichbar füreinander. Er war fünfzehn und gerade erst in Moskau zum Studium angekommen, als die Haskil starb, in Belgien, wurde aber in Paris beerdigt. Sie war auf einer Treppe ausgerutscht, glaube ich, ein Sturz, von dem sie sich nicht mehr erholt hat. Eine Unachtsamkeit, die sie sich am Flügel nie geleistet hätte. Was soll man davon halten? Dürfen wir nicht leben?

Ihm und keinem der anderen Studenten hat das damals viel bedeutet. Das änderte sich, als er ihre Einspielungen auf Schallplatte für sich entdeckte und alles über ihr Leben, ihre Ausbildung, ihre Karriere, ihre Programme wissen wollte. Ab da aber war es dann fast, als liebte er sie, als liebte er die Bescheidenheit, mit der sie vor ihrem Publikum erschienen war, die Größe dieser Bescheidenheit. Es konnte einem wehtun, wie wenig sie sein wollte, wie es ihr gelang, ohne Verrat an der Musik in die Einfachheit zu entkommen. Musik ist kein Zimmer, das man neu streichen kann. Sprach sie Russisch? Sprach sie überhaupt? Hatte sie nicht vor jedem Auftritt kalte Hände gehabt, zu kalt für Mozart, der sie ihr dann wärmte? Damals gab es Ärzte in ihrem, noch keine in seinem Leben.

Ach ja, noch etwas, was ich nie vergessen werde, sagte Suvorin plötzlich und war in Gedanken noch einmal in Paris, in den jungen Jahren seines Lebens. Da lag, als ich ihr Grab besuchte, eine Katze, die sich, ohne sich um mich zu kümmern, sie hat mich nicht einmal angeschaut, auf der Grabplatte ausgestreckt hatte, und zwar so, dass sie mit ihrem Köpfchen das Todesdatum verdeckte, als wollte sie die Welt täuschen, nein, besser, die Welt ins Unrecht setzen, ihren Tod ungeschehen machen. Alles andere, ihr Name, das Datum und der Ort ihrer Geburt waren zu lesen. Seltsam, nicht wahr?

Suvorin gab und besuchte keine Konzerte mehr. In einer Ecke seiner Gedanken steht noch ein Flügel – als Ablage für Fotos. Wie jung sie alle einmal waren. Immer mit einem Fuß im Gefängnis, was auch lange nach Stalins Tod Verbannung bedeuten konnte, Arbeitslager, das Ende ganz allgemein. Man war schnell ein toter, zumindest ein sterbender Mann. Und man starb langsam. Besser, wir trinken darauf, als uns entmutigen zu lassen.

Ein vorbeieilender Kellner blieb stehen, um die Bestellung aufzunehmen.

Ich trinke nicht mehr.

Der Kellner enteilte.

Leider, sagte er, kratzte sich einen Krümel Tabak aus dem Mundwinkel. Ich darf nicht mehr. So ist es. Ich habe, seit ich Alkohol trinken durfte, getrunken. Das überlegt man nicht, man tut es. Ich bin nicht gerade das, was man einen Patrioten nennt, keiner im politischen Sinn, aber warum nicht zugeben, dass wir mit unseren Lastern nachsichtiger sind als andere, und gab in jedem Interview auf die Frage nach dem Umgang mit dem Alkohol in Russland immer die gleiche Antwort. Old russian tradition! Was sie mit ›Wir sind Russen, wir trinken‹ übersetzt haben. Sie kriegten von dem Thema nicht genug. Sind Russen Trinker, weil sie unglücklich sind? Unglückliche Kommunisten? War Alkohol gut gegen Hunger? War das vielleicht ein Grund, in den Westen zu gehen, um nicht zum Säufer zu werden? Sie zogen alle Register.

Also wirklich! Ich bin kein Auskunftsbüro. Aber die eine oder andere Bemerkung dazu hatte ich mir mit einer in Jahren erworbenen Gewandtheit natürlich zurechtgelegt. Trau keinem, der nicht trinkt! war so eine. Wer heimlich trank, tat uns leid. Die lebten auch meistens nicht lange. Wir trinken nicht, wie Aristokraten trinken. Uns reichten Wassergläser. Der Flamme so nahe sein, dass dich ein Freudenfeuer umgibt, verstehen Sie? Es schützt die Menschen vor ihrem großen Land.

Mir fehlte nichts, solange ich Klavier spielte, aber was mit den Händen tun in der Freizeit? Wo war das Gläschen? Es fühlt sich noch heute nackt an.

Er schaute über meinen Kopf hinweg auf etwas an der Wand. Die Gnade eines langen Lebens? Ich weiß nicht. Nur noch mehr unerfüllbare Träume?

Aber ich wollte Ihnen eine Geschichte erzählen. Moskau, Tschaikowski-Saal. Eine Süßspeise der Architektur. Eine aufgeschnittene Torte. Aber keine schlechte Akustik. Man kann ein Held werden. Es gibt Geister. Ich hatte nie kältere Hände. Aber an jenem Abend der Uraufführung der Zweiten Symphonie meines Freundes Alfred Schnittke war mir heiß. Ich glühte bis in die Fingerspitzen. Zwei meiner Studentinnen hatten für dieses nicht öffentliche Konzert keine Karten, es wurden überhaupt keine Karten verkauft. Zur Sicherheit. Sie dachten sich also was aus. Sie waren besessen davon, in den Saal zu kommen. Sehen Sie, so war das. Nicht nur Komponisten leben von Einfällen. Sie tauchten am frühen Nachmittag auf, gaben sich als Putzfrauen aus, man ließ sie durch. Im Treppenhaus krochen sie in eine Kiste, die für Renovierungsarbeiten zusammengezimmert worden war. Dadrin verbrachten sie die nächsten vier Stunden, bis kurz vor Konzertbeginn.

Er schien zum ersten Mal wahrzunehmen, dass ich ihm zuhörte. Und Sie, wofür springen Sie in eine Kiste? Und er erzählte, ohne eine Antwort, die ich ihm ohnehin hätte schuldig bleiben müssen, abzuwarten, weiter.

Als meine Frau vor einem Jahr starb, nichts weiter als ein völlig sinnloser, allerdings tödlicher Zusammenprall mit einem städtischen Bus, rief ich eine der beiden an. Heute als Musikwissenschaftlerin tätig. Ich war schließlich verpflichtet, ein Testament zu erfüllen, den Wunsch meiner Frau, in russischer Erde begraben zu werden. Nun, sie meinte nicht, ich solle ihre Leiche nach Moskau schaffen. Sie meinte etwas Poetisches. Sie hatte Heimweh. Sie war so. Heimweh nach Erde aus der Heimat. Ich beauftragte also meine ehemalige Schülerin damit, mir russische Erde zu schicken. Porto zahlt Empfänger, versteht sich. Das wiegt ja schließlich.

III

Du erinnerst dich?

Wien ist voller Russen, junge und alte, lebendige und tote, arme und reiche. Kaum geht das Telefon, schon ist wieder einer oder eine angekommen oder gegangen, für immer. Immer schön der Reihe nach, wie es eben geht. Und für jeden und jede habe ich einen letzten Gruß, eine Schaufel russischer Erde, ein Schäufelchen, ein Löffelchen. Ich habe genug Vorrat, einen Koffer voll.

Suvorin kichert vor sich hin. Ein letztes leichtes Löffelchen auch für mich.

Er schaut mit Vergnügen einer jungen Frau nach, die gerade vorbeigeht. Sehen Sie, sagt er, so haben sie ausgesehen, unsere Mädchen, nur schöner, viel schöner, sehr viel schöner. Jeder von uns hatte eine oder zwei, und jede war die Schönste. Wir waren nicht die, auf die Staatsbegräbnisse warten, aber wir hatten ein Leben. Sie liebten uns. Das schönste Mädchen von allen liebte einen, der schielte.

Sein Kichern klirrt vor Vergnügen.

Wir haben unsere Musen, um sie auf die Probe zu stellen, geheiratet, eine nach der anderen. Natürlich, man konnte Pech haben. Mehr abgelehnte Heiratsanträge als Symphonien. Mehr Tränen als Noten. Es brummt einem noch heute der Kopf. Da hatte einer auf einen Trauring gespart, nur um ihn, nach einem Machtwort des Brautvaters, versetzen zu müssen. Ich kannte einen, der mit einem Liebesbrief nicht zu Rande kam, was sich bis zu der Frau herumsprach, der er zugedacht war; die es lachend ihrem Mann erzählt haben soll. Einer verliebte sich in eine 15-jährige Dichterin, was ihn schlagartig altern ließ. Ich bin ihm Jahre später noch einmal in Paris begegnet, er kam in eines meiner Konzerte und danach ins Künstlerzimmer. Aber sonderbar, unsere erste Umarmung nach so langer Zeit war wie ein Abschied. Sein Gesicht wie Schnupftabak, die Stimme um eine Oktave zu tief, Blutstau unter den Augen, aber er war in Laune. Er war in Begleitung einer Frau erschienen, einer üppig ausgestatteten Deutschen, gute zwei Meter in Höhe und Breite. Sie ist reich, teilte er mir mit, wozu ich ihm gratulierte. Wir sprachen russisch, sie verstand uns nicht. Sehr reich! Er sei ihr, erfuhr ich, an der französischen Riviera begegnet, wo sie sich als baltische Baronesse ausgegeben habe. Er dagegen habe sich völlig wahrheitsgemäß als russischer Komponist zu erkennen gegeben, was Eindruck auf sie machte. Er erzählte ihr einige wahre und einige erfundene Begebenheiten aus seinem Leben und versprach, als sie ihm ihre Vorliebe für die Geige gestand, ein Violinkonzert zu schreiben, ihr als Widmungsträgerin zugedacht. Sie war den Tränen nahe vor Rührung. Er habe, aber da sei er schon nicht mehr ganz nüchtern gewesen, durchblicken lassen, Kontakte nach New York und zu einigen dort ansässigen Weltklasse-Geigern zu haben, Freunde, wie er sie nannte. War das Unsterblichkeit? Sie zerlegte einen Hummer. Sie wollte sofort nach Leningrad reisen. Sie wollte ihn mit Geschenken überschütten und tat es auch. Niemand wird zweifeln, dass eine erste gemeinsame Nacht in einem monegassischen Grandhotel nicht mehr zu vermeiden war. Das war meine Chance, flüsterte er mir ins Ohr. Er machte, wenn man ihm glauben darf, dem Aberglauben, Russen seien im Bett zu allem fähig, alle Ehre. Er verausgabte sich, riss im Glauben, es sei Sommer und er bewohne eine von einer ihm erge­benen Gönnerin für ihn angemietete Villa in Italien, die Fenster auf – und holte sich eine schwere Erkältung. Die Kesselpauke, um es musikalisch auszudrücken, pflegte ihn, soweit er sich das gefallen ließ, er bat um Notenpapier und Stifte. Aber ihm fiel nichts ein. Das versprochene Konzert für großes Orchester und Violine kam über einen gewaltigen Trommelwirbel, mit dem er das Stück beginnen lassen wollte, nicht hinaus. Er brachte schließlich, auf diversen Inseln, einen kurzen ersten Satz, ein Allegro, einer Sonate für Violine und Klavier zustande, nicht viel also und nicht gerade, wie er selbst zugab, ein bedeutendes Werk. Er war auch der Entscheidung nicht gewachsen, ob der zweite langsame Satz ein Adagio oder ein Andante sein sollte, und entschied, eine längere schöpferische Pause einzulegen, unterbrochen von einer Nierenkolik. Kaum genesen, überreichte er ihr erste Notizen, an die Ränder von Speisekarten gekritzelt, die sie rahmen ließ.

Die kolossale Germanin nahm das falsche Spiel meines Freundes mit der Ahnungslosigkeit einer Idiotin hin, damit beschäftigt, ihr Geld loszuwerden; unter anderem war es ihr Hobby, nachdem sie mit den Perlenketten und Hüten durch war, Ohrringe zu sammeln und sich von ihm, noch im Bett, das sie nie vor Mittag verließ, den Bauch massieren zu lassen, der sich, wie er sagte, ekelhaft anfühlte, wie ›verfaulter Honig‹.

Ob es für das, was der Mensch sich selbst antut, eine Erklärung gibt – und wenn es keine gibt, eine Technik, sich in Sicherheit zu bringen?

Ich sollte nicht so reden, entschuldigte er sich, denn ich bin es, der nichts wert ist. Was kann sie dafür, dass ich als Komponist nichts mehr tauge? Wenn sie wissen will, ob ich sie attraktiv finde, muss ich mich zusammennehmen, um nicht rot zu werden. Und sie hat, kaum zu glauben, Humor, besonders wenn sie getrunken hat. Wenn ich dir zu dick bin oder zu alt, nimm mich zum halben Preis! Wenigstens das klappt noch!

Dass sie in allem, was zu geschehen hatte, auch sonst das Kommando führte, war selbstverständlich. Sie brachte ihm Manieren bei, kleidete ihn ein, mehr nach ihrem als nach seinem Geschmack, brachte ihm bei, mit Trinkgeldern großzügig zu sein, sich zweimal täglich zu rasieren und bei Tisch nicht in sein Taschentuch zu spucken. Kein Zweifel, nach schwierigen Jahren war Zagurskij also erst einmal auf der sicheren Seite gelandet. Zagurskij – oder wie ihn eine Visitenkarte mit vollem Namen auswies: Leonid Andreewitsch Zagurskij – führte das Leben eines Lebemannes, wenn inzwischen auch lustlos und mit zunehmend instabiler, angegriffener Gesundheit. Der Schwung, der ihn zu Anfang glauben ließ, in einer Komödie die Regie zu haben, die Hauptrolle zu spielen und die Stichworte zu liefern und, je nach Laune, den Vorhang aufgehen oder sich senken zu lassen, war dahin. In den Kulissen wartete das Drama.

Immer öfter fragte er sich: Warum tue ich das?

Er brachte es nicht über sich, ihr die Wahrheit zu gestehen, die ganze Wahrheit über das völlige Fehlen kompositorischer Einfälle – und seine Vorliebe für Krautsuppe und Kamillentee. Wenn er an die Ausweglosigkeit seiner Situation, die Schäbigkeit seiner Existenz, an all die intimen wie beruflichen Lügen dachte, die er aus Eitelkeit, aber mehr noch aus Verzweiflung von morgens bis abends von sich gab, stand ihm eisiger Schweiß auf der Stirn. Die Bulletins der Ärzte, die er konsultierte (und die von ihr bezahlt wurden), waren eindeutig. Ich habe es schriftlich. Mein Untergang, mein guter alter Freund, scheint unausweichlich.

Ich musste lachen. Was nicht auch ich alles schriftlich habe.

Ich machte den beiden Komplimente, ich wollte meinen Freund nicht kränken. Aber er tat mir leid. Ein ratloser Russe, noch einer, der es nicht lassen kann, die Welt noch immer mit seiner Kraft beeindrucken zu wollen. Aber mir, einem alten Freund, konnte er nichts vormachen. Die Sonne hatte ihn, statt ihn zu stärken, ausgetrocknet. Er trieb, und schien es geschehen zu lassen, seinem Ende entgegen. Vor Schwäche schwankend, hielt er sich an mir, der ich noch verschwitzt war und im Frack steckte, fest wie einer, der fällt.

Ich verstand das alles gut. Menschen mögen zu müssen, die man verabscheut, kostet Kraft. Einer Frau zu Diensten zu sein auch. Und jeden Abend opulente Champagnergelage durchstehen zu müssen. Und sich nach Mitternacht, wenn sie eine Erdbeere in ihren Champagner plumpsen ließ, Gedanken zu machen, wie man es schafft, noch auf zwei Beinen zu stehen.

Zagurskij riss an seinen starken, noch immer rundum rabenschwarzen Haaren. O Götter meiner Jugend! O Samara, Stadt meiner Kindheit! O Glück, das von mir ging! Keine Zeit mehr zum Arbeiten. Nicht einmal Zeit, auszuruhen, einfach nur dazusitzen und an nichts zu denken.

Es war einmal, mein Freund, sagte ich.

Alles war einmal, sagte er, Leben, Lachen, Spaß mit Frauen haben. Dahin, dahin. Er nannte Namen, Namen von Freunden. Was ist mit ihnen?

Sie sterben.

Auch für dich, Zagurskij, ein Schäufelchen, dachte ich. Wir werden uns nicht wiedersehen, nicht auf Erden.

Du erinnerst dich? Alle machten wir Musik, schrieben Noten, spielten sie, allein, zusammen, miteinander, durcheinander, gegeneinander, privat, öffentlich. Wir stritten. Es war Frühling. Es regnete oft, was es hier selten tut. Es regnet einfach zu wenig. Ich kann ohne Regen nicht leben. Ich ersticke ohne Regen. Er nahm einige der Noten, die auf dem Klavier lagen, fuhr mit der Hand darüber, und ich bemerkte, wie er sich abwendete, damit ich nicht sah, wie er mit den Tränen kämpfte. Man hatte sich, wenn man gearbeitet hatte, die Freuden ewiger Nächte verdient. Und heute?

Was mich betrifft, antwortete ich ihm, ich gehe nach den Abendnachrichten schlafen.

Suvorin winkt dem Kellner und bittet um ein Glas Wasser. Er entnimmt einer Tasche ein, zwei, drei, vier, fünf – fünf kleine verschiedenfarbige Pillen, die er, eine kleine Familie, in seinen Handteller bettet und lange anschaut. So bunt sie sind, sie werden mich nicht retten.

IV

War das der Hände Arbeit?

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