MondKindSaga: Chandra - Calin Noell - E-Book

MondKindSaga: Chandra E-Book

Calin Noell

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Beschreibung

Geboren, um das Unrecht ihrer Eltern zu sühnen, glaubt Chandra fest daran, dass sie die Tempel der sieben Monde finden wird, und hält eisern an ihrem Weg fest. Dann aber begegnet ihr Finn, der Alpha mit den strahlend blauen Augen, dessen Grollen ihr ungewöhnlich tief unter die Haut geht. Dumm nur, dass ausgerechnet er ihre Vergangenheit bloß für einen absurden Mythos hält ...   Schließlich muss sie eine Entscheidung treffen: Liebe oder Schicksal – doch steht ihr diese Wahl überhaupt zu?

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Calin Noell

MondKindSaga

Chandra

MKS 1

Impressum:

Erstauflage 2017

Calin Noell

c/o Papyrus Autoren-Club

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

www.calin-noell.com

Texte © 2017 Copyright by Calin Noell

Bilder © 2017 Copyright by Calin Noell

Coverdesign: Saskia Lackner

www.saskia-illustration.de/

Lektorat: Roland Blümel

www.rolandbluemel.de/lektorat/

Alle Rechte vorbehalten

Über die Autorin

»Um Wunder zu erleben, musst Du an sie glauben.«

Schon immer spielten sich etliche Geschichten in meinem Kopf ab. »Zu viel Fantasie«, dachte ich damals noch und tat es einfach als Spinnerei ab. Erst viele Jahre später kam mir überhaupt in den Sinn, dass man dieses Wirrwarr in meinem Kopf auch aufs Papier bringen könnte und wagte den Versuch. Was als diffuse Möglichkeit begann, endete etwa 450.000 Wörter später mit der Janaii-Trilogie als mein Erstlingswerk. Heute kann ich mir eine Welt ohne meine Geschichten gar nicht mehr vorstellen.

Viele liebe Grüße

Eure Calin

Schaut auch gerne auf meine anderen Seiten, dort gibt es weitere Infos, zu meinen Büchern, aber auch zu meiner Person:

www.calin-noell.com

www.facebook.com/calin.noell.Autorin

www.instagram.com/calinnoell_autorin/

Danksagung

Für all diejenigen, die mich unermüdlich unterstützen:

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Lesegruppen

und begeisterten Leser:

Danke, dass es euch gibt.

Buchbeschreibung

Geboren, um das Unrecht ihrer Eltern zu sühnen, glaubt Chandra fest daran, dass sie die Tempel der sieben Monde finden wird, und hält eisern an ihrem Weg fest. Dann aber begegnet ihr Finn, der Alpha mit den strahlend blauen Augen, dessen Grollen ihr ungewöhnlich tief unter die Haut geht. Dumm nur, dass ausgerechnet er ihre Vergangenheit bloß für einen absurden Mythos hält ...

Schließlich muss sie eine Entscheidung treffen:

Liebe oder Schicksal – doch steht ihr diese Wahl überhaupt zu?

MondKindSaga

Chandra

von

Inhaltsverzeichnis

Glossar Zeitenrechnung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

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18

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38

39

40

41

42

Epilog

 

Glossar Zeitenrechnung

Tag (hell):

Mondgang

Nacht (dunkel):

Mond

Monat:

Alte Bezeichnung: 1 Mondzyklus (als der Mond noch leuchtete)

40 Mondgänge

Neue Bezeichnung: 1 Mondwanderung

Jahr:

Alte Bezeichnung: 7 Mondzyklen (als der Mond noch leuchtete)

280 Mondgänge

Neue Bezeichnung: 1 volle Mondwanderung

Geburtstag / Alter:

Wintereinbruch

Mondzyklen

Volle Mondwanderung

Prolog

Meine Träume begannen von einem auf den anderen Mondgang, bedrängten mich, bis ich kaum noch Schlaf fand. Bereits vor unzähligen Mondwanderungen hatte ich gespürt, dass ich von hier fliehen musste. Anscheinend hing es unmittelbar mit meinem bevorstehenden, zwanzigsten Wintereinbruch zusammen, das aber erkannte ich erst jetzt. Mein Leben in diesem Rudel schien offenbar vorüber.

Nachdem ich endlich den Entschluss fasste, meinen längst wohldurchdachten Plan in die Tat umzusetzen, und mit den Vorbereitungen begann, hörten die Träume ebenso plötzlich wieder auf, wie sie ihren Anfang genommen hatten.

1

Chandra

Mein Herz hämmerte so hart in meiner Brust, dass ich befürchtete, sie würden es jeden Moment hören. Angstschweiß lief mir den Rücken hinab, während ich durch die Tunnel schlich, an den schlafenden Wächtern vorbei. Ich zwang mich, ruhig zu atmen, keinen Laut von mir zu geben. So passierte ich auch den sechsten Wächter mühelos. Er schnarchte leise.

Ich hatte dem Essen heimlich Maladanwurzeln beigemischt, so viel wie möglich, ohne dass man es sofort schmeckte. Dazu goss ich einen Sud aus getrockneten Lasiliblumen in den Dara, einem Pflanzensaft, der eine äußerst berauschende Wirkung besaß. Kyle und seine Wächter tranken ihn gerade deswegen besonders gern. Meine unbemerkten Zugaben sollten dafür sorgen, dass sie alle fest schliefen. Vielleicht erging es ihnen beim Erwachen richtig schlecht. Ich wusste es nicht und ehrlich gesagt erschien es mir auch vollkommen bedeutungslos. Sicher war ich nur, dass mein Glück nicht ausreichen würde, um sie auf ewig entschlummern zu lassen. Nein, so viel Glück besaß ich ganz gewiss nicht.

Als ich endlich den Tunnelabschnitt erreichte, hinter dem der Wald begann, suchte ich ihn mit meinen Sinnen ab. Hier irgendwo musste er sein, der letzte Wächter, der zwischen mir und meiner Freiheit lag.

Ein unerwartetes Räuspern ließ mich erschrocken zusammenfahren. Ich erstarrte auf der Stelle, dann sah ich ihn. Mein Herz drohte zu zerspringen, doch außer leisen, unruhig wirkenden Geräuschen vernahm ich nichts mehr. Er schlief, schien aber zu träumen, wälzte sich ruhelos hin und her.

Lautlos und so vorsichtig wie möglich schob ich mich an ihm vorbei, ohne einen weiteren Atemzug.

Er war ein ausgezeichneter Jäger, wahrscheinlich der Beste aus Kyles Clan.

Leb wohl, Brym.

Als einziger Bewohner, der mich hier stets freundlich behandelt hatte, würde ich ihn vermissen, ungeachtet all dessen, was ich hier erlebt hatte.

Obwohl der Tunnel nun hinter mir lag, bewegte ich mich noch immer leise und bedacht. Erst als ich sicher war, dass sie mich nicht mehr hören konnten, lief ich so schnell meine Beine mich trugen. Ich sprang über Äste, sobald ich sie sah, setzte meine Füße trotz der Schnelligkeit gezielt auf, um nur so wenig Fußspuren wie möglich zu hinterlassen. Die Dunkelheit erleichterte mir das Verwischen meiner Spuren zwar nicht gerade, trotzdem hieß ich sie willkommen, weil sie mich zusätzlich verbarg. Da meine Tigerin eine viel bessere Sicht besaß, ließ ich sie weit in mein Bewusstsein dringen. Sie schien meine Furcht zu spüren, denn sie hielt sich dennoch zurück.

Von der Höhle lief ich ein Stück in den Wald hinein zu dem umgestürzten Baum, der direkt an dem kleinen See lag. Viele Mondwanderungen lang hatte ich mich auf diesen Moment vorbereitet, Tanmarin, Maladanwurzeln und Lasiliblumen gesammelt, um sie heimlich einzukochen, bis ich genügend Sud zusammen hatte.

Hastig zog ich den Lederschlauch mit dem Tanmarinsud aus dem hohlen Stamm, entkleidete mich vollständig und rieb meinen Körper großzügig damit ein. Um ganz sicherzugehen, tränkte ich sogar meine Kleidung mit dem Aufguss und wickelte mir abschließend ein feuchtes Tuch um den Kopf, um meine Haare zu bedecken. Sie durften meine Witterung nicht einen einzigen Moment aufnehmen, nur so bekäme ich überhaupt die Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht einmal eine Ahnung der eingeschlagenen Richtung besaßen, denn sollten sie mich verfolgen, wäre ich niemals schnell genug, um ihnen dauerhaft davonzulaufen.

Tanmarin, Maladanwurzeln und Lasiliblumen galten eigentlich als Heilmittel, doch ich kannte ihre Geheimnisse: Tanmarin überdeckte den eigenen Körpergeruch vollkommen. Maladan und Lasili wirkten hingegen beruhigend, in großen Mengen eingekocht aber schläferte es selbst den stärksten Wandler ein.

Es war nicht schwer, all diese Wunder der Pflanzenwelt hier zu finden. Da Kyle mit solchen Dingen keinerlei Handel betrieb, im Gegensatz zu anderen Rudeln, sondern nur raubte, vermutete er wohl nicht einmal, welch ungeahnte Fähigkeiten sich in diesem Tal verbargen. Ich hingegen las jedes Buch über Pflanzen, das ich in die Finger bekam und versteckte es anschließend gewissenhaft.

Ich verstaute alles in meiner Tasche und wandte mich Richtung Fluss, die einzige Möglichkeit, mein Leben jetzt noch zu retten. Erst dort hätte ich mein erstes Ziel erreicht. Sobald ich mich im Wasser befand, würde ich keinerlei Spuren mehr hinterlassen. Nicht auszudenken was geschähe, sollte Kyle mich finden. Mit meiner Flucht unterschrieb ich mein Todesurteil. Als sein Eigentum stand ich bisher unter seinem Schutz. So nannte er es, dass nur er mit mir verfahren durfte, wie er es für angebracht hielt. Widersetzte man sich ihm jedoch, galt man als Freiwild, allerdings erst nachdem er seine Bestrafung ausgeführt hatte. Wenn man dann noch lebte, wünschte man sich sicherlich, man wäre bereits tot.

Ich atmete tief durch, begann zu laufen und beschleunigte schließlich. Zwar musste ich dafür sorgen, dass ich das Tempo eine Weile durchhielt, dennoch zählte momentan nur, den Fluss zu erreichen, bevor jemand bemerkte, dass ich fort war. Keine Kraftreserve würde mir noch etwas nützen, sollten sie mich finden.

Jetzt machte es sich bezahlt, dass ich all die vielen Wintereinbrüche geduldig ausgeharrt hatte. Aufgrund meines mir hart erarbeiteten Vertrauens kannte ich den Weg, der vor mir lag genau, zumindest bis zum Fluss. Bereits vor Beginn der Dämmerung müsste ich ihn erreichen, wenn ich schnell genug lief.

Kyle.

Das Oberhaupt vom Kyle-Rudel oder aber Clan der Tyrer, wie er sich selbst und sein Gefolge gerne nannte. Von allen ebenso geachtet wie gefürchtet. Obwohl es ihm in all den vielen Mondwanderungen nicht gelungen war, mich zu unterwerfen, fürchtete ich ihn nicht weniger. Wir hatten eine seltsame Art der Einigung gefunden. Im Beisein seiner Clanmitglieder verhielt ich mich unauffällig, unterwürfig, solange er es nicht übertrieb. Dafür ließ er mich in Ruhe, rührte mich niemals derart an. Er drohte zwar, dass ich mit Erreichen meiner Volljährigkeit ihm gehören würde, doch dass ich mich bereits als Jungtier und Halbstarke immerzu gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte, imponierte ihm. Auf eine seltsam verdrehte Art respektierte er mich. Was auch immer es war, was mich bisher beschützt hatte, es würde nicht ewig anhalten. Seine Gespielinnen kehrten viel zu oft vollkommen verstört zurück. Die Blicke, die er mir neuerdings danach zuwarf, bescherten mir ein unangenehmes Kribbeln, sein Grinsen jedoch ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Nicht nur, dass es nötig wurde, meine Freiheit zurückzuerlangen. Ich musste mich auch schnellstens aus seinem Zugriff befreien, ehe er diese unsichtbare Grenze zu durchbrechen versuchte. Also lief ich, konzentrierte mich auf meinen Weg, wohlwissend, dass mich selbst jeder noch so bedachtsame Schritt nicht lange verbergen könnte. Seine Jäger würden diese Spur irgendwann entdecken und ihr ohne Schwierigkeiten folgen. All meine Bemühungen bis zum Fluss dienten lediglich der Verzögerung, der Erschwernis, sollte ich denn Glück haben. Erst wenn ich mich ausschließlich im Wasser fortbewegte, könnte mir dies die Möglichkeit verschaffen, sie abzuschütteln. Mein Plan sah vor, dass ich mich flussaufwärts voran kämpfte, was zusätzlich für einen weiteren Vorsprung sorgen sollte. Normalerweise würde niemand diesen ermüdenden Kraftakt auf sich nehmen. Immer mit der Strömung, flussabwärts, das nähmen sie hoffentlich ebenfalls an.

Vor mir lag ein langer Weg hinauf in die unendlichen Weiten der schneebedeckten Kristallberge, sie waren mein Ziel. Kyle hasste die Kälte, ich hingegen liebte sie. Natürlich wussten sie, dass ich eine Schneetigerin bin, dennoch kannte niemand von ihnen den Ort, von dem ich eigentlich stammte. Dazu gab es viel zu viele Gebiete, in denen die Schneetiger lebten. Doch irgendwo dort oben in den Kristallbergen wurde ich geboren, lag einst meine Heimat.

Mein Atem folgte inzwischen stoßweise, ich hatte es beinahe geschafft, hörte das Rauschen bereits und beschleunigte ein letztes Mal, dann endlich sah ich den Fluss. Ohne innezuhalten, kontrollierte ich erneut, ob alle Taschen verschlossen waren, und stieg ins Wasser. Mit geübten Griffen löste ich das Kopftuch, flocht mir einen Zopf und band ihn gewissenhaft fest. Das Tuch steckte ich in meine Tasche, während ich mich gegen die leichte Strömung vorankämpfte. So erschöpft ich auch war, durfte ich jetzt nicht nachlassen, noch nicht.

Das kalte Wasser belebte meinen müden Geist und brachte mich zum Grinsen. Das Schwierigste war geschafft, solange er nicht zu tief wurde.

Unermüdlich ging ich voran, doch je mehr die Strömung zunahm, desto stärker verlangte mein Körper nach einer Pause. Als das Ufer immer weiter anstieg, suchte ich mir eine Böschung, die sich weit genug ins Wasser neigte, um mich ausreichend zu verbergen, ohne dass ich den Fluss verlassen musste. Er floss an dieser Stelle beinahe lautlos und ließ mich meine Umgebung mühelos wahrnehmen. Nachdem ich mich auf einen Stein gesetzt hatte, der aus der Wasseroberfläche ragte, schloss ich meine Augen und versuchte, ein wenig auszuruhen.

Ich bin nicht sicher, was genau mich warnte, doch wie von allein stellte ich schließlich das Atmen ein und verharrte vollkommen reglos.

»Ich sagte es dir, Brym, sie ist nicht hier entlang. Es gibt keine einzige Spur. Lass uns umkehren.«

Jam.

Sie hatten mich früher als vermutet erreicht. Die Dämmerung, die den neuen Mondgang ankündigte, setzte erst ganz allmählich ein. Sie waren also viel schneller erwacht, als ich geplant hatte.

Verdammt!

»Wir werden sie nicht mehr finden und ich hoffe sehr, dass sie weit genug davonläuft.«

»Was redest du denn da, Brym?«

»Kannst du dir vorstellen, was er mit ihr anstellt, sollte er sie aufspüren? Sie hat uns alle reingelegt und trotz all seiner Vorkehrungen gelang ihr die Flucht. Das nötigt mir ein gewisses Maß an Respekt ab. Das, was folgen würde, hat sie nicht verdient.«

»Pass auf, dass Kyle dich nicht so reden hört. Ich vermute, dass er das gar nicht gutheißt. Lass uns lieber flussabwärts suchen.«

Ich spürte Jams Wandlung und schloss die Augen, konzentrierte mich. Er jagte bereits zurück in den Wald. »Kehre niemals zurück. Dies gehört noch dir.« Etwas Schweres platschte ins Wasser und sank zu Boden. Unsicher hielt ich dennoch inne, bewegte mich nicht. »Ich wünsche dir Glück, kleines Mondkind«, flüsterte er, dann wandelte auch er sich und trabte davon.

Mondkind ...

So hatte er mich von Beginn an genannt. Traurig lächelte ich. Er hätte mich ausliefern können. Dass er es nicht tat, berührte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte.

Vorsichtig streckte ich die Hand aus und griff nach dem Stein, den er ins Wasser geworfen hatte. Überrascht stellte ich fest, dass es sich in Wirklichkeit um eine kleine, graue Schatulle handelte. Mit angehaltenem Atem öffnete ich sie und hielt schließlich erschrocken die Luft an. Mit zitternden Fingern ergriff ich die Kette und betrachtete den Anhänger. Ein goldener Halbmond, dessen fehlender Rest zum Vollmond schwarz ausgelassen wurde, darin unzählige funkelnde Sterne, das Symbol des Mythos und das Gegenstück zu meinen Augen.

Die Erinnerung kehrte sofort zurück. Meine Mutter schenkte sie mir, kurz bevor wir fliehen mussten. »Eigentlich wollte ich sie dir erst vermachen, wenn du erwachsen bist. Nun aber übergebe ich sie dir schon jetzt. Hüte sie gut, denn sie ist das Vermächtnis unserer Vergangenheit und der Schlüssel zu deiner Zukunft.«

Ich legte sie mir um und verstaute die Schatulle in meiner Tasche. Vorsichtig kam ich unter der Böschung hervor, lauschte. Nichts war zu hören, niemand in der Nähe. Also schulterte ich den Beutel und stakste gegen den Strom in die entgegengesetzte Richtung durch das Flussbett. Noch floss das Wasser flach, ohne Tiefen, doch das würde sich bald ändern, das wusste ich.

Ich versuchte, meine Kräfte einzuteilen. Solch ein Fehler wie damals durfte mir kein weiteres Mal unterlaufen. Ich suchte ein passendes Rudel, das friedfertige Sozialstrukturen aufwies und mich aufnehmen könnte. Ich musste in der Lage sein, sie unbemerkt zu beobachten, um sicherzugehen, dass ich nicht wieder jemandem wie Kyle in die Hände fiel. Ich war längst nicht mehr so dumm wie noch vor acht vollen Mondwanderungen. Zwar durfte ich nicht am Training der Wächter teilnehmen, doch sooft meine freien Momente es zuließen, beobachtete ich das Geschehen, horchte und lernte. Immerhin hier legte Kyle Wert darauf, dass allen Kleinen Wissen gelehrt wurde.

Nichts ist schlimmer als Dummheit!

Mit dieser Begründung sorgte er dafür, dass wir unterrichtet wurden. Die Lerninhalte stellten für mich jedoch schon bald keine Herausforderung mehr dar. Meine Mutter hatte sehr viel früher begonnen, mich zu lehren. Es fiel mir leicht und langweilte mich rasch. So war es auch hier in den letzten zwei vollen Mondwanderungen. Immer öfter stahl ich mich fort und sah den Wächtern bei ihrem Training zu. Mittrainieren ließen sie mich allerdings nie. Kyle gefielen meine Alleingänge gar nicht, doch als nichts half, mich davon abzubringen, ignorierte er es, solange ich meine übrigen Aufgaben nicht vernachlässigte. Noch immer fragte ich mich, weshalb er mich nie schlug. Oh, er stand oft kurz davor, hielt mich bereits gepackt, trotzdem tat er es nicht ein einziges Mal. Und das, obwohl er allen anderen gegenüber niemals zögerte, im Gegenteil. Nicht umsonst fürchteten sie ihn und seine Gnadenlosigkeit. Niemand wollte sich seinen Zorn zuziehen. Ich wusste, dass ich mit meiner Flucht sämtliche Freiheiten verloren hatte. Sollte er mich jetzt finden, wären selbst seine Gespielinnen bessergestellt. Mein Leben war verwirkt und ich wagte nicht, mir auszumalen, was mir bevorstehen würde.

Bis die Dämmerung einsetzte, die das Ende dieses Mondganges einläutete, lief ich weiter, ruhte immer nur kurze Momente aus. Jetzt suchte ich eine geeignete Stelle zum Schlafen und hatte Glück. Erneut entdeckte ich eine Böschung im Wasser, die mit großen Felsbrocken eine trockene Plattform bot, ohne dass ich den Fluss verlassen musste. Das überstehende Ufer verbarg mich vor neugierigen Blicken. Auch wenn ich glaubte, dass sie die Suche in dieser Richtung aufgegeben hatten, so wollte ich lieber so lange wie möglich sichergehen.

Nachdem ich mich entkleidet hatte, wickelte ich mich in eine Decke und aß etwas aus meiner Tasche. Müde und vollkommen erschöpft legte ich mich hin. Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich. Schon spürte ich Wärme in mir aufsteigen, ließ sie durch meinen Körper fließen. Es kostete mich Kraft, die Wandlung zu verhindern, doch schließlich gelang es mir, meine Tigerin aus meinem Bewusstsein zu drängen. Sofort wanderten meine Gedanken in die Vergangenheit. Damals beobachtete ich oft, wie mein Vater gewandelt durch den tiefen Schnee lief, vollkommen selbstverständlich, irgendwie würdevoll. Sobald er zurückkehrte, schien seine Freude darüber stets einen Moment nachzuhallen. Wie gerne wollte ich dieses Gefühl endlich einmal selbst erleben. Doch noch immer erinnerte ich mich an die Warnung meiner Mutter. »Offenbare niemals, wer du bist, ehe du nicht die Tempel der sieben Monde erreicht hast.« Dies waren die letzten Worte, die sie sprach, die ich vor ihrem markerschütternden Schrei hörte, der ihrem Tod voranging. Kopfschüttelnd verlagerte ich meine Konzentration auf die Umgebung, auf meine Wahrnehmung, bis ich einschlief.

So vergingen die nächsten Mondgänge. Ich jagte vorwiegend Fische, ebenso wie kleine Tiere, und auch wenn ich gezwungen war, diese roh zu essen, hielten sie mich am Leben. Ein Feuer entzündete ich nicht, zu groß empfand ich meine Furcht davor, dass ich bereits von weitem entdeckt werden könnte.

Nachdem ich nicht mehr gegen die stärker werdende Strömung ankam, verlagerte ich meinen Weg häufiger in den Wald, kehrte jedoch immer wieder zum Fluss zurück. Als der erste große Berg hinter mir lag, setzte ich meinen Weg im Flussbett fort. Vielleicht handelte ich mit meiner Vorsicht übertrieben, doch ich wollte Kyle nicht unterschätzen. Ich war mir sicher, dass er niemals aufgeben würde. Seiner Meinung nach gehörte ich ihm und seinen Besitz behielt man nur, wenn man ihn aufs Äußerste verteidigte. Das machte er immer wieder deutlich.

Wahrscheinlich suchten sie inzwischen nicht mehr ausschließlich nach mir, dennoch hatte er vermutlich jedem den Auftrag gegeben, die Augen und Ohren offenzuhalten.

Mein Ziel waren die Kristallberge, bevor der Winter einbrach. Das sollte mir zumindest eine kleine Verfolgungspause verschaffen. Niemand konnte diese Berge bezwingen, sobald der erste Schnee fiel und nicht einmal Kyle würde das wagen, selbst wenn er bis dahin wusste, dass ich mich dort irgendwo aufhielt, hoffte ich jedenfalls.

Seufzend erinnerte ich mich an früher zurück, als wir unser Leben noch in Mondzyklen rechneten. Es gab insgesamt sieben Zyklen, in die sich der strahlende Mond nach und nach aufteilte. Eine einzelne Mondwanderung dauerte vierzig Mondgänge, eine volle das Siebenfache. Nun jedoch waren wir gezwungen, seine ausnahmslos dunkle Wanderung zu verfolgen, kein leuchtender Zyklus diente mehr als Hinweiszeichen. Um die unzähligen Mondgänge dennoch einschätzen zu können, versuchten wir, auch diese volle Mondwanderung in sieben Abschnitte einzuteilen und nutzten dazu Anhaltspunkte in der Landschaft, wie zum Beispiel eine Bergspitze, ein Tal oder einen See. Vollendete er seine Runde und erreichte wieder den ersten von sieben Bezugspunkten, begann die Zählung von vorne. Somit lag ein weiterer Wintereinbruch hinter uns, oder eben eine volle Mondwanderung. Schwieriger gestaltete sich das allerdings, wenn man keinen solch festen Punkt besaß, weil man, wie ich im Moment, umherwanderte.

Inzwischen befand ich mich seit etwa einer Mondwanderung auf der Flucht und obwohl ich Gewicht verloren hatte, ging es mir besser als erwartet. Zwar schmerzte mein Körper von der dauernden Anstrengung, dennoch trieben mich die immer näherkommenden Berge unermüdlich voran. Der Schnee setzte früher ein als gedacht und erschwerte mir das Vorankommen zusätzlich. Natürlich konnte ich mich gegen die Kälte schützen, doch die Regulierung der Körperwärme kostete mich mehr Kraft, als ich durch die erlegten Kleintiere zu mir nahm. Auf Dauer würde ich das nicht durchhalten, das wusste ich.

Meine Hoffnung, schon bald auf ein Rudel zu treffen, schwanden zusehends. So weitläufig und einsam hatte ich mir diese Gegend nicht vorgestellt. Nachdem ich nun bereits drei Mondgänge umherirrte, musste ich mir eingestehen, dass ich mich auf die naiven Erinnerungen einer heranwachsenden Halbstarken verlassen hatte. Ich würde hier wohl kaum auf ein Hinweisschild treffen, auf dem die Entfernung und Richtung zum nächsten Rudel stand. Also blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin meine Wahrnehmung zu verstärken und darauf zu hoffen, dass das Schneegestöber bald nachließ.

Weitere zwölf Mondgänge später hatte ich zwei Bergspitzen überwunden und befand mich nun inmitten der Kristallberge. Endlich hatte ich ein Rudel entdeckt und beobachtete sie den dritten Mondgang aus sicherer Entfernung. Mein Tanmarinsud war längst aufgebraucht, und ich befürchtete, dass sie meine Fährte aufnehmen würden. Zwar glaubte ich, dass der Sud inzwischen tief in meine Haut eingezogen war, mich seine Eigenschaften somit noch immer schützten, doch ich wollte kein Risiko eingehen. Erst musste ich sicherstellen, dass sie sich an eine gewisse Ordnung hielten. Also nutzte ich die letzten Schneeflocken und schlich mich so nah wie möglich heran. Nun hockte ich auf einem Baum, vollkommen reglos, als sich der Schneesturm endlich legte. Dies sorgte nun jedoch dafür, dass es mir sehr viel schwerer fallen würde, meine Spuren zu verwischen.

2

Finn

»Sie ist wieder da.« Aufmerksam musterte mich Noah. Ich wusste, dass er meine Reaktion verfolgte, weil er mich nicht verstand. »Sie hockt diesmal auf einem Baum.«

»Gewandelt?« Überrascht sah ich auf.

»Nein.«

»Und dennoch bist du dir sicher, dass sie eine Wandlerin ist. Selbst Rare gelingt es nicht mit Bestimmtheit, das aus ihrer seltsam schwachen Fährte herauszulesen.«

»Ich weiß es.«

»Also gut, dann sehe ich sie mir ebenfalls an. Aber es gilt weiterhin, dass wir sie missachten, als wäre sie gar nicht da.«

»Weshalb?«

»Nenn es Gefühl. Du sagst, sie ist noch nicht erwachsen. Daher vermute ich, dass es sich nur um eine Ausreißerin handelt. Niemand hält sich freiwillig hier bei diesem Wetter auf, wenn er nicht einen triftigen Grund besitzt.«

»Vielleicht ist sie einfach dumm und wurde nur von dem Schneegestöber überrascht.«

»So dumm, dass sie in der Lage ist, ihren Geruch derart zu verschleiern, dass wir eher zufällig über sie gestolpert sind, ja?«

»Das eine schließt das andere nicht aus. Möglicherweise soll sie uns auch nur ausspionieren.«

»Diese Möglichkeit lasse ich gewiss nicht außer Acht.«

»Gut. Sie ist sehr nah an der Grenze.«

»Also ziemlich weit von unserer Höhle entfernt.«

»Noch. Vermutlich wartet sie nur die Dämmerung ab.«

»Oder sie ist einfach nicht dumm genug, genau das zu tun.«

Gemeinsam traten wir aus der Höhle. Ich wandelte mich und wurde sofort von einem unglaublichen Gefühl erfüllt, das ich niemals sonst empfand. Genüsslich streckte ich meine Glieder, witterte, dann folgte ich Noah. Ich nahm sie wahr, doch tatsächlich erschien ihr Geruch ungewöhnlich schwach.

Ohne mich umzusehen lief ich zusammen mit Noah meine übliche Runde an den Reviergrenzen entlang. Immer wieder witterte ich, prägte mir ihren Duft ein. Ich war gespannt, womit sie sich derart verbergen konnte, wollte jedoch noch nicht einschreiten.

Nachdem wir den Rundgang beendet und die Höhle erreicht hatten, wandelte ich mich zurück, ebenso wie Noah. »Was sagst du?«

In meiner Alphahöhle, in der ich während des Mondganges viele Spannen verbrachte und die jeder betreten durfte, streifte ich mir neue Kleidung über. »Bewacht die Grenzen, doch wandelt euch nicht. Ich will sehen, was sie tut. Achtet darauf, dass in beide Richtungen Fußspuren führen, aber greift nicht ein.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Du hast gehört, was ich sagte. Gib es entsprechend weiter, und zwar sofort!«, knurrte ich und schloss wütend die Tür hinter Noah. Ich grollte hörbar, konnte es nicht ausstehen, wenn er nicht tat, was ich verlangte. Wie sollte ich ihm erklären, dass ausgerechnet ich von ihr geträumt hatte? Er würde mich für verrückt halten, und das vollkommen zu Recht.

Chandra

Kaum verschwanden die beiden Schneetiger aus meinem Blickfeld, schlichen die Wächter plötzlich in ihrer menschlichen Gestalt umher. So sehr ich auch darüber nachdachte, ich fand einfach keine nachvollziehbare Erklärung dafür. Hatten sie etwas bemerkt? Doch welchen Sinn machte es dann? Bisher hielten sie sich draußen nur ungewandelt auf solange die Sonne schien. Sobald aber ihre Strahlen hinter den Gipfeln verschwanden, verließen sie die Höhle niemals als Mensch, wachten stets als Schneetiger, weil unsere tierischen Sinne viel mehr wahrnahmen.

Diese veränderte Sachlage verschaffte mir jedoch ungeahnte Möglichkeiten. Hätte ich im Zweifel eine ganze Weile hier ausharren müssen, um keine Spuren zu hinterlassen, so konnte ich nun einfach ihre nutzen. Inzwischen kannte ich den Takt, dem sie folgten. Die Frage war nur, welchen Weg ich gehen sollte. Näher heran oder doch lieber abtauchen?

Erneut liefen zwei Wächter unter mir durch, und ich begann zu zählen. Bei dreißig kletterte ich vorsichtig den Stamm hinab und entschied mich spontan um. Das seltsame Verhalten stimmte mich misstrauisch und bestätigte mich dennoch in meinem Gefühl. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich wahrgenommen hatten, nur das ergab für mich einen Sinn. Dass sie mich nicht angriffen, mich sogar ignorierten, musste mir als zusätzlicher Beweis genügen. Ich hatte sie beobachtet, auch mit ihren zwei Kleinen und keinerlei Aggressionen bemerkt. Wenn ich also die Tempel der sieben Monde finden wollte, sollte ich mich wohl überwinden und Vertrauen fassen.

Ich atmete tief durch, sprang das letzte Stück hinab, durchschritt die Spuren der Wächter und begab mich mitten auf den kleinen Platz. Dort blieb ich stehen und wartete.

Finn

»Sie steht draußen und wartet.« Aufgeregt riss Noah meine Tür auf. »Ich wies unsere Wächter bereits an, sie hierher zu bringen.«

Ich grinste. Damit hatte selbst ich nicht gerechnet. »Also ist sie vielleicht doch nicht so dumm, oder?« Herausfordernd betrachtete ich ihn. Noah aber schnaubte nur verächtlich und setzte sich mir gegenüber. Nur einen Augenblick später öffnete sich die Tür erneut. Ich hob den Blick und musterte sie. Wie von Noah angekündigt, brachten Agos, Oli, Marcel und Jo sie herein. Selbstsicher stellte sie sich direkt vor meinen Schreibtisch. Noah ignorierte sie vollkommen. Ich betrachtete sie, ebenso wie sie mich. Sie sah abgekämpft und ein wenig abgemagert aus. Sie und ihre Bekleidung waren auffällig verdreckt, als hätte sie unzählige Mondgänge auf Wanderschaft verbracht. Ihre Haare trug sie zu einem Zopf geflochten, dennoch fiel mir der ungewöhnliche Goldton sofort auf. Insgesamt wirkte sie klein und zierlich, ihr Blick schien jedoch nicht zu ihrem Äußeren zu passen. Ihre Kleidung war einfach, in jeglicher Hinsicht. Die weiten Schnitte erschienen, als stammten sie noch aus einer längst vergangenen Spanne. Am außergewöhnlichsten aber empfand ich ihre Augen. Pechschwarze Pupillen, von einer schmalen tiefblauen Iris umringt, die einen goldenen Halbmond enthielt, daneben unzählige Sterne, und alles erstrahlte regelrecht.

Plötzlich blinzelte sie. Ich spürte eine leichte Schwingung in der Luft, dann war die Halbmondsichel verschwunden. Mit einem verwunderten Blick zu Noah, der davon nichts bemerkt zu haben schien, nickte ich den Wächtern zu. Sie schlossen die Tür und positionierten sich an der Wand.

»Setz dich«, forderte ich. Ihre Art imponierte mir. Statt sich zügig auf den freien Stuhl zu setzen, sah sie sich kurz in der Höhle um. Sie wirkte in keiner Weise aggressiv, doch ebenso wenig eingeschüchtert. Vielmehr schien sie ein gesundes Maß an Selbstvertrauen zu besitzen.

»Wie heißt du und was machst du hier?« Sie schwieg. Verwundert runzelte ich die Stirn. »Verstehst du mich?« Sie nickte. Erneut warf ich einen Blick in die Runde. »Kannst du nicht sprechen?« Sie schüttelte den Kopf.

Was sollte ich davon halten? Nahm sie mich auf den Arm? »Gar nicht?« Wiederholt folgte ihr Kopfschütteln.

»Seit wann? Seit den letzten fünf Atemzügen?«, fuhr Noah dazwischen. Scheinbar hilflos schüttelte sie noch einmal den Kopf.

»Na, dann kannst du uns deinen Namen ja aufschreiben.« Auffordernd schob ich ihr einen Bogen und eine Feder mit Schale hin. Sie zuckte mit den Schultern, ergriff jedoch beides. Scheinbar verwundert betrachtete sie einen Moment das Blatt, tunkte die Spitze in die schwarze Farbe und schrieb dann in einer seltsam verschnörkelten Schrift ein einziges Wort: Hana.

»Lautet so dein Name? Hana?« Sie nickte. »Weshalb bist du hier, Hana?« Plötzlich wirkte ihr Blick herausfordernd, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte. Eine eindeutige Geste, dann aber schien sie es sich anders überlegt zu haben, griff erneut nach der Feder und begann zu schreiben. Neugierig verfolgten wir ihre Bewegungen, bis sie mir das Blatt zuschob.

»Ich wurde zurückgelassen und bitte um Zuflucht«, las ich laut vor, damit jeder in dieser Höhle hörte, was sie geschrieben hatte.

»Du gehörst keinem Rudel an?«, hakte Noah nach. Seine Frage schien sie kurz zu überraschen, denn sie hielt einen Moment inne. Dann aber schüttelte sie den Kopf, griff abermals nach dem Bogen und schrieb.

»Seit meinem Verlust stimmte ich keiner Aufnahme zu«, las ich für alle hörbar und schmunzelte. Das konnte alles und nichts bedeuten.

»Und dein Verlust war wann genau?«, schaltete sich Noah wieder ein. Hana aber verschränkte erneut ihre Arme vor der Brust und diesmal behielt sie diese Haltung bei, eindeutig abwehrend.

»Du kannst wohl kaum erwarten, dass wir dir so vertrauen«, fuhr Noah auf. Sie aber hob lediglich eine Augenbraue, als würde sie damit seine eigenen Worte an ihn selbst zurückgeben. Zumindest, dass sie vorgab nicht sprechen zu können, schien keine kurzfristige List zu sein.

»Ich bin Finn, das ist Noah und das dort sind Agos, Oli, Marcel und Jo. Vorerst gewähre ich dir Zuflucht, allerdings nur, solange du dich an meine Regeln hältst.« Abwartend sah ich sie an, bis sie nickte. »Ich führe dich gleich herum und zeige dir alles. Du bleibst innerhalb unserer Grenzen, ohne Ausnahme. Du tust, was Noah oder ich dir sagen. Wir entscheiden in den nächsten Mondgängen, was wir mit dir anfangen werden. Wie alt bist du, Hana?«

Neugierig betrachtete ich sie, während sie mit ihren Händen achtzehn zeigte. Erneut musterte ich sie. Das Alter schien zu passen, da sie klein und zierlich wirkte. Sie würde also noch zwei volle Mondwanderungen wachsen. Da außerdem eine solch falsche Behauptung, sollte es eine sein, ihr keinerlei Vorteile verschaffen würde, glaubte ich ihr.

»Erlaubst du, dass wir in deinen Beutel sehen?« Ich sah ihr in die Augen. Natürlich war mir bewusst, dass ihr das nicht gefiel, doch ich wollte ihr wenigstens das Gefühl geben, diese Entscheidung selbst treffen zu können. Ich sah ihr an, dass sie diese Frage durchschaute, auch ihr Nicken folgte nur widerwillig. Auffordernd hielt Noah ihr die Hand hin. Mit einem bitterbösen Blick reichte sie ihm ihre Tasche. Grinsend leerte Noah den Inhalt auf meinem Schreibtisch aus. Er legte vier Lederschläuche beiseite und die wenige Kleidung auf den Boden, ebenso eine Decke. Alles wirkte ausnahmslos feucht. Dann nahm er einen Stein in die Hand und drückte ihn auf. Überrascht starrte ich von ihm zu ihr.

»Was war hier drinnen?«, fragte er Hana, doch sie zuckte lediglich mit den Schultern. Auch nach einem längeren Blick von Noah reagierte sie nicht weiter. Seufzend legte er ihn beiseite und ergriff die Lederschläuche. Nacheinander öffnete er sie und roch daran. »Jo, hol Ane.«

Hana nahm einen der Schläuche, öffnete ihn und trank einen kräftigen Schluck. Es wirkte, als ob sie absichtlich ein wenig übrigließ. Sie grinste, ebenso wie Noah, der ihr sofort einen der anderen Lederschläuche hinhielt. Mit abwehrenden Händen schüttelte sie den Kopf, lächelte jedoch. Als Jo gemeinsam mit Ane eintrat, wirkte sie noch immer unbesorgt.

»Was gibt es?«, fragte Ane und betrachtete Hana unverhohlen.

»Könntest du uns verraten, was sich in den Lederschläuchen befindet?«

»Sagt sie es euch nicht?« Herausfordernd sah sie in die Runde.

»Wir möchten lieber sichergehen«, erklärte ich.

»Verstehe.« Sie nahm den Lederschlauch, aus dem Hana eben noch getrunken hatte und witterte. »Wasser.« Irritiert warf sie mir einen Blick zu. »Oh«, stieß sie hervor, nachdem sie an dem zweiten gerochen hatte, und schnupperte nun noch einmal an Hana. »Ah nun ergibt das auch endlich einen Sinn. Das ist ein Sud aus Tanmarin, der die Witterung verhindert.«

»Er tut was?«

»Er hebt sozusagen den eigenen Körpergeruch auf und verhindert, dass eine Witterung bleibt. Das kann sehr praktisch sein, sollte man sich auf der Flucht befinden.«

»Oder aber unbemerkt bleiben wollen«, grollte Noah.

»Die hier wiederum sind nicht so schön. Das eine ist ein Sud aus Lasiliblumen und das andere aus Maladanwurzeln. Beides hoch dosiert haut einen ausgewachsenen Wandler für eine ziemlich lange Dauer um, wenn es nicht sogar tödlich endet. Das kommt tatsächlich auf die Art der Gabe an.« Sichtbar beunruhigt musterte Ane sie erneut. Hana hingegen wirkte vollkommen unbeeindruckt.

»Danke, Ane.« Mit diesen Worten entließ ich sie und durchsuchte den Rest von Hanas Sachen. Außer einem Messer, einem Haarband und einigen Resten ihrer letzten Mahlzeit befand sich nichts weiter in ihrem Besitz. »Wie lange warst du unterwegs?« Obwohl ich ihr diese Frage stellte, wusste ich bereits, dass ich keine Antwort erhalten würde. Wie erwartet zuckte sie mit den Schultern. »Also gut. Es ist schon spät. Ich bringe dich zu deinem Quartier für diesen Mond. Sobald du wach bist, zeige ich dir dann unsere Höhle.« Sie nickte und erhob sich, während sie ihre Sachen wieder einpackte. Das Wasser steckte sie ebenfalls ein, die anderen drei Lederschläuche ließ sie jedoch einfach liegen.

3

Chandra

Inzwischen erinnerte ich mich daran, dass es zu Beginn in Kyles Clan ebenso anstrengend gewesen war, nicht zu sprechen. Bei Kyle hingegen interessierte es schon bald niemanden mehr, weil sie eine ganz andere Struktur besaßen. Bei Finn würde sich das jedoch wesentlich schwieriger gestalten. Sie alle wirkten, als ob sie aufeinander achteten und Rücksicht nahmen. Sie würden mich immer wieder dazu anhalten, mich ihnen mitzuteilen. Mein einziger Vorteil im Vergleich zu damals als Brym mich fand, bestand darin, dass ich inzwischen unzählige Mondwanderungen Übung im Nichtreden können besaß. Auch Finn würde sich an mir die Zähne ausbeißen.

Ich folgte ihm durch einen kurzen Gang in eine kleine Höhle. Außer einem aus der Aratanne grob gehauenem Schrank und einem mit Fell bespanntem Nest befand sich nichts weiter darin. Der Schrank jedoch war groß und würde mir somit genügen.

»Marcel bringt dir gleich noch etwas zu Essen. Bis dich jemand von uns abholt, bleibst du hier.«

Ich nickte, was hätte ich auch sonst tun sollen? Natürlich gefiel es mir nicht, mehr oder weniger eingesperrt zu sein, dennoch hätte mich alles andere enttäuscht. Er konnte noch gar kein Vertrauen besitzen, und daher wäre es mehr als nachlässig gewesen.

Sie ließen mich allein. Ich setzte mich auf das Nest, und während ich wartete, strich ich gedankenverloren über die Fellbahnen. Entweder betrieben sie viel Handel, wenn sie sogar die Gasthöhle derart ausstatten konnten, oder aber dieses Rudel war noch größer, als ich bisher geglaubt hatte. Nur dann wäre es denkbar, dass sie die Möglichkeiten besaßen, solche Dinge auch selbst herzustellen. Sowohl der Schrank als auch das Nest wirkten selbstgebaut, rustikal und natürlich, ganz so wie ich die Möbel schon immer am liebsten mochte.

Als sich die Tür öffnete, trat außer Marcel noch eine junge Halbstarke ein. »Finn bat mich, dir das zu bringen. Ich bin Sale.« Sie reichte mir ihren Unterarm, den ich nur zögernd ergriff. Als hätte sie meine Zurückhaltung nicht bemerkt, legte sie lächelnd einen Stapel Kleidung auf mein Nest, dessen offensichtliche Unterschiedlichkeiten mich erstaunten. Bisher trug ich ausschließlich die einfachsten, groben Hemden und Hosen.

»Wenn du magst, dann gehe ich nach dem Essen mit dir in die Badehöhle. Wir haben hier eine heiße Quelle, die ständig mit Frischwasser gespeist wird. Einige Stufen führen hinein und wirklich tief ist es nur in der Mitte. Möchtest du?«

Unsicher sah ich von ihr zu Marcel. Er musterte mich ganz offen, ohne Feindseligkeit. Langsam nickte ich. Den Gedanken, nicht nur ein Bad, sondern ein heißes Bad nehmen zu können, empfand ich zu verlockend. Dennoch deutete ich fragend mit dem Kopf auf den Wächter. Sale schien meine Frage zu verstehen, denn sie lachte. Es klang aufrichtig und freundlich. Fasziniert starrte ich sie an.

»Oh, sie werden zwar aufpassen, aber davor, nicht drinnen.«

Wortlos drückte Marcel mir eine Schale in die Hand. Es duftete herrlich. Ohne über irgendwelche Gefahren nachzudenken, begann ich zu essen. Viel zu lange hatte ich keine warme Mahlzeit mehr zu mir genommen.

»Das nenn ich mal schnell.« Belustigt blickte Marcel auf mich hinab. Unbehaglich zuckte ich mit den Schultern.

»Na, komm, du siehst aus, als würdest du gleich einschlafen.« Sale zog mich hoch und nahm einen Teil der Kleidung an sich. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich niemals mit ihr gemeinsam baden könnte, ohne meinen Schwindel in Bezug auf mein wahres Alter zu verraten. Seit vielen Mondwanderungen band ich meine Brust ab, damit sie kleiner wirkte. Nur so gelang es mir, auch Kyle glauben zu lassen, ich wäre zwei volle Mondwanderungen jünger als ich tatsächlich war. Damals ging es darum, meine wahre Identität zu verschleiern. Jetzt diente es lediglich dazu, diesen Schwindel aufrechtzuerhalten für den Fall, dass Kyle mich aufspüren sollte. Ich brauchte nicht noch mehr Probleme.

Zögernd folgte ich ihnen. Kaum hatten wir den Gang betreten, gesellte sich Agos zu uns. Überrascht, wie unglaublich groß diese Höhlenanlage war, blickte ich mich immer wieder neugierig um. Im Gegensatz zu Kyles Höhle wirkte es hier aufgeräumt, strukturiert und in keiner Weise bedrohlich.

Nach einigen Abzweigungen spürte ich plötzlich die feuchte Wärme und erschauerte. Während all der vielen Mondwanderungen bei Kyle konnte ich froh sein, wenn ich mal warmes Wasser zum Waschen bekam. Ich erinnerte mich an kaum mehr als drei Gelegenheiten, an denen er es mir gönnte. Ansonsten blieb nur der kalte, kleine See, doch selbst zu dem durfte ich nur äußerst selten. Ein heißes Bad aber erschien so weit fort, dass ich nicht einmal mehr sicher wusste, ob ich es bei meinen Eltern überhaupt jemals genossen hatte, als sie noch lebten.

An einem Tunneleingang schob Sale einen schweren Ledervorhang beiseite. Agos und Marcel blieben je zu einer Seite davor stehen. »Wenn irgendetwas ist, dann ruf.« Der Blick von Agos galt ganz offensichtlich als Warnung an mich, Sale aber schnaubte verächtlich.

Kaum hatte ich zwei Schritte in die Höhle gemacht, hielt ich überrascht inne. Zwar lag sie an sich im Dunkeln, das Wasser leuchtete jedoch so hell, dass es auf die Wände abstrahlte, die seltsam funkelten.

»Niemand konnte das Geheimnis dieser Quelle bisher lüften. Wunderschön, nicht wahr?«, durchbrach Sale meine Gedanken.

Ich nickte und trat an die Wand. Ehrfürchtig strich ich über die funkelnden Steine. In dem Moment, in dem ich sie berührte, durchströmte mich ein seltsam warmes Gefühl, und die gesamte Höhle erstrahlte wie ein Sternenhimmel im Mondschein. Erschrocken riss ich die Hand fort. Das Leuchten erlosch augenblicklich.

»Hana, oh«, rief Sale und musterte mich fasziniert. »Deine Augen«, wisperte sie plötzlich, während Marcel und Agos in die Höhle stürmten. Hastig wandte ich mich ab, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, sie wieder zu verbergen. Ich hatte schon viel von Höhlen gehört, aus deren Decken ein unerklärliches Leuchten schien, das außer Helligkeit auch ein gewisses Maß an Wärme spendete. Sie wurden genutzt, um Pflanzen und Gemüse heranzuziehen, die eigentlich in diesen Teilen des Landes nie gedeihen könnten, viel zu dunkel und zu kalt. Niemals jedoch hörte ich von solch einer Quelle, wo selbst die Wände unglaublich funkelten.

»Weshalb hast du gerufen?« Misstrauisch trat Agos näher. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken, hockte mich hin und zog meine Sohlen aus.

»Was? Ach so. Es war nichts.«

»Sale, was ist hier los?«, wiederholte Agos und trat noch einen weiteren Schritt an mich heran. Ich tat, als bemerkte ich es nicht und ließ mich in das Becken gleiten.

»Macht, dass ihr hier rauskommt«, rief sie energisch. Zu meiner Überraschung zogen sie sich wirklich zurück. »Du musst nicht in deiner Kleidung baden. Ich setze mich hier hin, siehst du? Ich sehe dir nicht zu und verspreche, mich nicht umzudrehen.« Ich hörte, wie sie sich niederließ, und warf einen Blick über meine Schulter. Sie hatte mir den Rücken zugewandt. »Und ich werde niemandem davon erzählen«, wisperte sie. Misstrauisch betrachtete ich sie. Weshalb sollte sie das tun? Für mich, eine vollkommen Unbekannte? »Dort ist alles, was du brauchst und auch ein Tuch. Deine Wäsche lege ich dort ebenfalls hin, warte.« Sie erhob sich, nahm die Kleidung und legte sie an die Seite. Ohne mir auch nur einen einzigen Blick zuzuwerfen, setzte sie sich wieder hin.

Das warme Wasser war herrlich. Doch so sehr ich es auch genoss, so sehr grollte in mir der Ärger über mich selbst. Ich hätte zumindest damit rechnen müssen, dass das passieren könnte. Ich handelte dumm und unvorsichtig. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass Sale auch Finn nichts davon verriet. Das sogar meine Augen den Mond gespiegelt hatten und das bereits zum zweiten Mal seit meiner Ankunft hier, beunruhigte mich. Eigentlich besaß ich eine bessere Beherrschung.

Hastig legte ich meine Kleidung ab und wusch mich. Nach einem erneuten Blick sowohl zu Sale als auch in Richtung Vorhang, stieg ich eilig aus dem Becken und trocknete mich ab. Die Bandage für den Oberkörper war meiner sehr ähnlich, daher band ich sie gewohnt stramm, versteckte damit meine bereits vollentfaltete Weiblichkeit und zog das gewebte Hemd über. Es saß erstaunlich bequem, nicht ganz so weit, wie ich es eigentlich bevorzugte. Doch durch die neuwertige Bandage, die meine Formen ausreichend verbarg, fiel es nicht so ins Gewicht. Die ballonartige Hose ließ mich schmunzeln, dennoch zog ich sie an. Überraschenderweise gefiel sie mir. Sie saß bequem und ausgesprochen gut. Mit einem Tuch in der Hand, mit dem ich meine Haare abtrocknete, trat ich auf Sale zu.

»So siehst du also aus. Wirklich hübsch.« Sie lächelte so warm, dass ich es beinahe gegen meinen Willen erwiderte.

Langsam streckte ich die Hand aus und ergriff eine ihrer Haarsträhnen. Sie besaß das typische helle Haar, das den Rudeln in den Kristallbergen zu eigen war. Sie hatte die Spitzen jedoch mit einer seltsamen blauen Farbe betont und trug es ungewöhnlich kurz. Es reichte ihr bis knapp über die Ohren. Lächelnd ließ ich die überraschend weiche Strähne durch meine Finger gleiten. »Gefällt dir die Farbe? Ich mag sie. Vor einigen Mondgängen waren sie noch grün, das sah nicht so gut aus. Ich nutze dafür die Pflanzen, die wir auch für die Herstellung von verschiedenen Farben zum Schreiben und Malen verwenden. Ich muss nur aufpassen, dass sie nicht nass werden, dann läuft alles heraus.« Sie lachte fröhlich. Ich nickte und schritt zurück an den Rand, wo meine nasse Kleidung lag. »Die kannst du mir geben, ebenso wie deine anderen Sachen. Ich sorge dafür, dass du sie gesäubert zurückerhältst.«

Misstrauisch betrachtete ich sie, zuckte dann jedoch mit den Schultern. Ich schätzte sie auf etwa achtzehn volle Mondwanderungen. Sie war ziemlich groß, doch ihre Formen verrieten, dass sie noch wachsen würde. Sie besaß dieselbe Hautfarbe wie alle anderen, und ich fragte mich nicht das erste Mal, ob es wohl noch jemanden gab, dessen Haut ebenso hell war wie meine. Denn auch hier sah ich den Unterschied deutlich. Doch solange ich meinen Körper regulierte, fiel er nicht so sehr auf. In solchen Momenten jedoch, in denen ich nicht aufpasste, meine Augen den Mond spiegelten, ich Licht erstrahlen ließ, verlor meine Haut ihre Farbe und wirkte weiß wie der Mond.

So fand mich Brym damals und taufte mich Mondkind. Aufgrund des schlechten Wetters brachte er mich in eine kleine Schutzhöhle und päppelte mich dort ein wenig auf. Erst als ich das Schlimmste überstanden hatte, machte er sich mit mir auf den Weg und übergab mich an Kyle, seinem Clanoberhaupt. An diesem Mondgang war ich soweit wieder zu Kräften gekommen, dass ich Kyle täuschen konnte. Für ihn sah ich vollkommen normal aus, von meinen goldenen Haarsträhnen einmal abgesehen und Brym erwähnte es ihm gegenüber niemals auch nur mit einem Wort. Einzig der Spitzname war geblieben über all die vielen Mondwanderungen hinweg. Sofort schweiften meine Gedanken zu Jeremia, meinem kleinen Bruder, denn seine Haut glich der meinen wie scheinbar keine andere. Gewaltsam verdrängte ich die Erinnerungen an ihn und konzentrierte mich wieder auf die Umgebung.

»Alles in Ordnung?« Sale wirkte aufrichtig besorgt. Ich zwang mich zu einem Lächeln und nickte, dennoch hielt sie einen weiteren Moment inne, ehe sie den Vorhang beiseiteschob.

Erneut fielen mir in den Gängen die Unterschiede zu Kyles Clan auf. Nicht nur, dass es wesentlich sauberer aussah. Alles wirkte irgendwie seltsam behaglich, wohnlich, als wäre dies hier für alle ein wirkliches Heim. Da es inzwischen bereits spät war, begegneten wir nur wenigen. Obwohl sie mich musterten, lag doch bei niemandem von ihnen auch nur ein einziger Hauch von Hass oder Verachtung in ihrem Blick, in ihrer Haltung mir gegenüber. Sie wirkten einfach nur neugierig.

Bei meinem Quartier angekommen nahm sie meine Kleidung und wandte sich der Tür zu. »Hier bist du sicher, Hana, wir passen auf unsere Gefährten auf. Und dazu gehörst du doch jetzt, oder? Wenn du es willst, dann kannst du hierhergehören. Du musst dich nur dazu entscheiden. Schlaf gut.«

Ich bemerkte den überraschten Blickwechsel zwischen Agos und Marcel, doch sie entgegneten nichts und schlossen wortlos die Tür hinter sich. Ich wartete einen Moment, dann zog ich mir hastig ein etwas längeres Hemd für den Mond an, ergriff das Fell, das als Decke diente und sprang.

Beinahe lautlos landete ich auf dem Schrank. Hohe Deckenbalken wären mir lieber gewesen, jetzt aber musste diese Höhe genügen. Hier zu schlafen fühlte sich für mich trotz allem wesentlich sicherer an. Auch wenn ich durch Kyle als geschützt galt, so bedeutete das nicht, dass mir gar nichts passieren konnte. Sie durften sich nur nicht dabei ertappen lassen, wenn sie mir an den Kragen wollten. So achtete ich schon bald darauf, nicht auf dem Boden zu schlafen, je höher desto besser.

 

4

 

Finn

 

»Sie schläft – auf dem Schrank.«

»Was?« Irritiert betrachtete ich Marcel.

»Erst dachte ich, sie hätte sich davongeschlichen, dann aber entdeckte ich sie oben auf dem Schrank. Sie schläft. Da sie nicht wach wurde, denke ich, sie fühlt sich wohl.«

»Glaubt sie etwa, jemand von uns würde sie im Schlaf angreifen?«

»Wahrscheinlich ist es ein Rest ihrer Angst. Ich stimme mit dir überein, dass sie uns die letzten Mondgänge nur ausspionierte, allerdings nicht wie Noah befürchtet, um uns zu schaden, sondern weil sie sichergehen wollte, dass wir ... ich weiß nicht – gut sind?«

»Und Sale war mit ihr baden?«, warf Noah ein.

»Hattest du das nicht angeordnet?«, hakte Marcel irritiert nach. Mit hochgezogener Braue betrachtete ich ihn. Mehr Antwort benötigte es nicht. »Es hätte ja durchaus sein können, immerhin war sie vollkommen verdreckt«, rechtfertigte er sich.

»Ist irgendetwas vorgefallen?«

Marcel zögerte mit seiner Antwort. »Nein.«

»Ganz sicher?« Noah durchbohrte ihn förmlich mit seinem Blick.

»Sale rief plötzlich ihren Namen und oh. Aber als wir eintraten, war nichts. Es hörte sich seltsam erschrocken an, dann aber irgendwie auch fasziniert. Sie beteuerte jedoch, dass nichts war.«

»Und außerdem?«, hakte ich nach. Ich wusste, dass er mir noch irgendetwas verschwieg.

»Ich weiß nicht. Ich bildete mir ein, dass die Höhle heller strahlte als vorher.« Er zuckte mit den Schultern. »Doch als wir eintraten, war nichts mehr davon zu sehen.«

»Hat sie gesprochen?« Noah musterte mich aufmerksam.

»Nein.«

»Wo ist Sale jetzt?«

»Hat Hanas Kleidung weggebracht und ist dann in ihr Quartier gegangen.«

»Ich will sie in der Frühe sprechen.«

»Glaubst du, sie ist eine Gefahr?« Neugierig musterte Marcel mich.

»Sie selbst sicherlich nicht, aber ich glaube schon, dass es ihretwegen Ärger geben wird.«

»Und dennoch wirkst du nicht sonderlich beunruhigt.« Jetzt war es an Noah mich aufmerksam zu mustern.

»Nein. Warten wir es ab. Selbst wenn jemand nach ihr suchen sollte, werden sie jetzt kaum bis zu uns durchkommen. Der Winter bricht bereits an.«

»Glaubst du, sie hat gelogen, was ihr Rudel anbelangt?«

»Ich traue ihr jedenfalls nicht«, warf Noah ein.

»Nein. Sie hat zu lange überlegt. Ich denke, sie wollte nicht lügen, war sich aber nicht sicher, wie die richtige Antwort lautet. Ich vermute, sie ist wirklich ein Findling und das Rudel sieht sie als Mitglied an. Wenn sie einer Aufnahme aber niemals zustimmte, dann sagt sie die Wahrheit.«

»Sie könnte alles behaupten«, mahnte Noah.

»Und dennoch glaube ich ihr. Misstrauen ist nicht immer verkehrt, Noah, aber übertreib es nicht.«

»Vertrauen ist gut, solange man nicht zu weichherzig wird«, hielt er dagegen.