MondKindSaga: Sorre - Calin Noell - E-Book

MondKindSaga: Sorre E-Book

Calin Noell

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Beschreibung

Als Sorre ausgerechnet zu der Familie ziehen soll, deren Sohn Miguel sie bedrängte, ist Ärger vorprogrammiert. Seine Mutter verschließt weiterhin die Augen vor den Dingen, die er getan hat und gibt allein Sorre die Schuld daran, dass er das Rudel für einen vollen Mondzyklus verlassen muss.   Viel zu schnell vergeht Sorres Atempause, die ihr die Abwesenheit der zwei Wächter Rare und Jazion verschafft, ohne dass sie sich ihrem Gefühlschaos widmen kann. Kaum sind die beiden zurück, wird ausgerechnet Rare ihr bei der Jagd als Ausbilder zugeteilt und Sorre stürzt ab ...

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Calin Noell

MondKindSaga

Sorre

MKS 3

Impressum:

1. Auflage 2019

Calin Noell

c/o Papyrus Autoren-Club

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

www.calin-noell.com

Texte © 2019 Copyright by Calin Noell

Bilder © 2019 Copyright by Calin Noell

Coverdesign: Saskia Lackner

www.saskia-illustration.de/

Lektorat: Roland Blümel

www.rolandbluemel.de/lektorat/

Alle Rechte vorbehalten

Über die Autorin

»Um Wunder zu erleben, musst Du an sie glauben.«

Schon immer spielten sich etliche Geschichten in meinem Kopf ab. »Zu viel Fantasie«, dachte ich damals noch und tat es einfach als Spinnerei ab. Erst viele Jahre später kam mir überhaupt in den Sinn, dass man dieses Wirrwarr in meinem Kopf auch aufs Papier bringen könnte und wagte den Versuch. Was als diffuse Möglichkeit begann, endete etwa 450.000 Wörter später mit der Janaii-Trilogie als mein Erstlingswerk. Heute kann ich mir eine Welt ohne meine Geschichten gar nicht mehr vorstellen.

Viele liebe Grüße

Eure Calin

Schaut auch gerne auf meine anderen Seiten, dort gibt es weitere Infos, zu meinen Büchern, aber auch zu meiner Person:

www.calin-noell.com

www.facebook.com/calin.noell.Autorin

www.instagram.com/calinnoell_autorin/

Buchbeschreibung

Als Sorre ausgerechnet zu der Familie ziehen soll, deren Sohn Miguel sie bedrängte, ist Ärger vorprogrammiert. Seine Mutter verschließt weiterhin die Augen vor den Dingen, die er getan hat und gibt allein Sorre die Schuld daran, dass er das Rudel für einen vollen Mondzyklus verlassen muss.

Viel zu schnell vergeht Sorres Atempause, die ihr die Abwesenheit der zwei Wächter Rare und Jazion verschafft, ohne dass sie sich ihrem Gefühlschaos widmen kann. Kaum sind die beiden zurück, wird ausgerechnet Rare ihr bei der Jagd als Ausbilder zugeteilt und Sorre stürzt ab ...

Danksagung

Valentina, weil Du immer da bist UND die MondKindSaga ebenso liebst wie ich!

Saskia, für dieses absolut geniale Cover!

Roland, das Lektorat hat mich wieder sehr oft zum Lachen gebracht, egal wie düster ein Tag auch begann!

Jochen, weil Du mich gerettet und mir eine Zentnerlast von den Schultern genommen hast.

Mario, ein großer Dank für alles. Ich hoffe sehr, dass Du mir erhalten bleibst!

MondKindSaga

Sorre

von

Inhaltsverzeichnis

 

Glossar Zeitenrechnung

1

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Glossar Zeitenrechnung

Tag (hell):

Mondgang

Nacht (dunkel):

Mond

Monat:

neue Bezeichnung: 1 Mondzyklus (seit der Mond wieder leuchtet)

40 Mondgänge

alte Bezeichnung: 1 Mondwanderung

Jahr:

neue Bezeichnung: 7 Mondzyklen (seit der Mond wieder leuchtet)

voller Mondzyklus

280 Mondgänge

alte Bezeichnung: 1 volle Mondwanderung

Geburtstag / Alter:

Wintereinbruch

Mondzyklen

alte Bezeichnung: volle Mondwanderung

1

Sorre

Sowohl Rare als auch Jazion hatten tatsächlich auf Befehl von Chandra und Ragnar das Rudel verlassen, um diesen Halbstarken ins Tal zu bringen. Ihr Weggang bescherte mir eine kleine Auszeit, dennoch war ich nicht naiv genug zu glauben, dass dasselbe für Chandra und Ragnar galt. Ich hatte den Mond bei ihnen in der Gasthöhle verbracht, nahm nun aber zwei andere Gestaltwandler wahr. Dies wäre vielleicht meine Chance, mich erneut für eine Weile fortzustehlen, bevor sie mich zwingen würden, ihre Fragen zu beantworten. Hastig schob ich mich aus dem Nest und zog mich an. Barfuß trat ich zur Tür und leise in die Wohnhöhle, nicht wegen der zwei Besucher, sondern um die Kleinen nicht zu wecken.

»Hallo«, grüßte Sale, Keld grinste. Ich reagierte lediglich mit einem Nicken, ging selbstsicher durch die Höhle den Flur entlang und öffnete die Eingangstür. Niemand hielt mich auf.

Perfekt.

Um mein Glück nicht überzustrapazieren, lief ich direkt zum Höhlenausgang, streifte mir hastig die Kleidung ab und wandelte mich. Erleichterung flutete meinen Geist wie jedes Mal, wenn ich meiner Tigerin nachgeben konnte. Nicht nur unsere Verbundenheit durchströmte mich dann, sondern die Gewissheit, dass keinerlei Träume oder Visionen mich heimsuchten. Ich hatte diese Eigenart eher zufällig bemerkt, nun jedoch sehnte ich diese Spannen herbei. Deswegen wollte ich unbedingt zu den Wanderinnen zählen. Niemals wäre ich sonst frei. Natürlich mochte ich das Leben in einem Rudel, würde es sogar genießen, säße mir nicht ständig die Angst im Nacken, ich könnte irgendetwas Schlimmes in Gedanken ausführen, jemanden verletzen.

Als ich das letzte Mal zu Hause mit auf die Jagd musste, trieb mich Orm unerbittlich dazu an, allen Anstand außer Acht zu lassen und das Wild zu erlegen. Er setzte mir nach, blieb stets an meiner Seite und redete ununterbrochen auf mich ein, ich müsse diejenige sein, die das Wild reißt. Er gab nicht nach, bis ich tatsächlich Elin, ein junges Weibchen, brutal ansprang, um sie von der Jagd abzubringen. Sie stürzte, doch ich lief einfach weiter, angetrieben von Orms Worten. Erst ihr Schrei brachte mich wieder zur Besinnung. Schlitternd kam ich zum Stehen, Orm hingegen wurde unsagbar wütend. Mit gebleckten Zähnen fauchte er mich an. Aufgrund der gesamten Situation, und weil mir all das derart verhasst war, wünschte ich mir, dass er sich den Hals brechen würde, ein flüchtiger Gedanke, ein Wunsch, ohne dass ich darüber nachdachte. Nur einen Wimpernschlag später aber erstarrte ich, weil ich wusste, was ich damit angestoßen hatte. Über ihm knarzte der Ast eines Breitholzes gefährlich, ehe er abbrach. Noch während das Knacken an meine Ohren drang, bestätigte sich meine Befürchtung: Ich hatte das getan!

Hastig lenkte ich mein gesamtes Sein auf die Bilder, wie der Ast ihn nur streifte, lediglich seine Pfote verletzte. Nicht schwer, allerdings ausreichend, sodass er an den nächsten Lehreinheiten nicht würde teilnehmen können. All das geschah innerhalb weniger Atemzüge, dennoch gelang es mir. Der äußerst dicke Ast fiel und erwischte Orm, während er mit einem Sprung versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Doch umgelenkt durch andere Äste stürzte er trotzdem auf ihn zu. Eine Pfote blieb hängen und wurde gequetscht, die Folgen waren genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Ungeachtet seines Geschreis trat ich auf Elin zu. »Verzeih mir, Elin.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Das sind die Regeln. Nur wer zuschlägt und das Wild reißt, ist ein wahres Rudelmitglied. Ich vergesse es nur immer wieder.«

»Trotzdem tut es mir leid«, beharrte ich, obwohl sie nicht mal wütend wirkte. Sie nahm diese brutalen Methoden ebenso wie ich längst als gegeben hin.

»Orm hätte der ganze verdammte Ast auf den Kopf fallen sollen«, schimpfte sie leise. »Ich verstehe nicht, weshalb wir nicht einfach zu Panis gehen und ihm sagen, was Orm für ein Widerling ist.« Wir schwiegen beide, wussten, dass die Angst vor den Konsequenzen viel zu schwer wog.

»Vielleicht haben wir ja Glück und brauchen diesen Mondgang nicht zu hungern. Wenn wir alle umkehren müssen, wird er uns kaum die Essensration versagen können«, wich ich aus.

»Ihm wird schon was einfallen.«

»Dazu hat er kein Recht! Sein Unfall ist dafür verantwortlich, dass wir die Jagd abbrechen«, stellte ich klar. Sollte er das durchziehen wollen, würde ich ein weiteres Mal mit meinem Vater sprechen, ungeachtet Orms Drohungen und der Furcht der anderen Halbstarken.

Es kam, wie es kommen musste: Orm versagte uns allen das Essen, dennoch hatte ich geschwiegen.

Warum nur?

Kopfschüttelnd kehrte ich mit meinen Gedanken hierher zurück und konzentrierte mich stattdessen auf meine Umgebung. An derselben Stelle wie am Mondgang zuvor änderte ich meine Laufrichtung und hetzte voran, bis ich wieder vor der Höhle stand, in der mich dieser Miguel bedrängt hatte. Diesmal ließ ich mich am Höhleneingang nieder und verschnaufte.

Mein allererstes Gespräch mit meinem Vater, bei dem ich mich über Orms Vorgehensweise beschwerte, ihm versuchte klarzumachen, dass er grausame Methoden anwandte, brachte natürlich gar nichts. Panis bestand darauf, dass wir besonders von Orm sehr viel lernen könnten und ich aufhören sollte, solche Märchen zu verbreiten. Das Problem war, dass sich niemand sonst traute, meine Erzählungen zu bestätigen. Mir allein aber glaubte Panis nicht, weil er grundsätzlich davon ausging, dass ich ihm irgendwelchen Unsinn auftischte und Orm ebenso wie dessen bester Freund Halvar meine Anschuldigungen wie erwartet abstritten. Danach begann unser aller Martyrium. Meinten wir vorher bereits, sie wären brutal und grausam, so zeigten sie nun ihr wahres Gesicht. Seitdem wagte es niemand mehr, ihnen auch nur zu widersprechen.

Verflucht!

Dabei hatte ich nur versucht, das Rudel zu schützen und Panis selbst. Meine Vermutung, dass sich jemand wie Orm nicht auf Dauer damit zufriedengeben würde, irgendein zweitrangiger Wächter zu sein, bestätigte sich im Laufe der vergangenen Spannen immer mehr. Ein weiterer Grund fortzugehen. Sein einziger Weg wäre es, als mein Partner an meine Seite zu treten, in der Hoffnung, somit auch die Führung des Rudels zu erlangen. Er war nicht so dumm, meinen Vater direkt herauszufordern, denn dadurch würde er all seine Bemühungen auf einen Schlag zunichtemachen.

Er umgarnte mich, und in Momenten wie denen auf der Jagd meinte er ernsthaft, mir einen Gefallen zu tun, indem er mir half, mich unermüdlich antrieb. Er vertrat die Meinung, ich müsste mich nur überwinden, meine Bequemlichkeit und Faulheit ablegen, dann würde ich siegen und alle auf ihre Plätze verweisen. Es gefiel ihm, seine Macht auszuspielen, und er forderte es gleichermaßen von mir, wenn er mich unterrichtete. Ich hasste ihn dafür. Niemals würde ich so werden wie er!

Ich glaubte an ein Miteinander, in dem jeder seine Meinung offen aussprechen durfte. Für ihn galt das als schwächlich. Führen könnte man nur mit konsequenter Härte.

Kopfschüttelnd grübelte ich darüber nach, warum mein Vater derart blind zu sein schien, sobald es um Orm und Halvar ging. Zwar war es sein unausgesprochener Wunsch, dass ich die Führung irgendwann einmal übernahm, doch ich fragte mich immer häufiger, ob er an dieser Vorstellung festhalten würde, wenn er die Wahrheit über mich wüsste.

Auch deswegen war es mir nicht gelungen, meine Gefühle bei Vandas Hinrichtung zurückzuhalten. Ich konnte nicht verstehen, wie eine Mutter, die ihr Junges hingebungsvoll lieben und großziehen sollte, fähig war, derart gleichgültig und kaltherzig mit diesem größten und wundervollsten Geschenk umzugehen.

Ich witterte Cas erst kurz bevor sie mich erreichte. Sie hatte ihre Route perfekt gewählt, denn zum Ausweichen war es längst zu spät.

»Hier bist du«, erklang ihre sanfte Stimme in meinem Kopf. Zu meiner Überraschung hörte ich weder Wut noch Vorwurf heraus. »Geht es dir gut?«

Diese Frage verstärkte meine Verwunderung. »Ja«, entgegnete ich knapp. Was hätte ich auch sonst antworten sollen? Die Wahrheit?

»Chandra und Ragnar suchen bereits nach dir. Darf ich ihnen Bescheid geben, dass ich dich gefunden habe und alles in Ordnung ist?«

»Weshalb bist du so rücksichtsvoll?« Mir gelang es nicht, meinen Vorwurf zu unterdrücken. Ihre Anwesenheit verbunden mit ihrem verständnisvollen Getue ärgerten mich.

Ihr Gelächter hallte seltsam in mir nach. Vielleicht, weil es derart herzlich klang. »Es sind mehrere Dinge. Einerseits schulden Jaz und ich dir eine Menge, andererseits tragen wir die Verantwortung für dich und niemand möchte Panis gestehen müssen, dass wir dich verloren haben. Dazu kommt, dass ich nicht genau weiß, wie ich die Sache hier angehen soll, damit du einsiehst, dass wir eine ehrliche Chance verdienen.«

Ich musterte sie aufmerksam. Cas war sowohl als Tigerin als auch in menschlicher Gestalt durchaus schön. Ihr braunes Haar zeigte sich in ihrer Zeichnung, die zwar dunkel und beinahe schwarz wirkte, es aber eben nicht war. Schien wie jetzt die Sonne auf ihr Fell, erkannte man die braunen Farbanteile deutlich.

Ihre Augen hingegen blickten in einem ungewöhnlichen Grauton auf mich herunter, ehe sie sich neben mir niederließ. »Also?«

»Meinetwegen«, entgegnete ich genervt. Ich hatte nicht beabsichtigt, das Rudel gegen mich aufzubringen, weil ich ständig verschwand, ohne vorher jemandem Bescheid zu geben. »Könntest du vielleicht verschweigen, dass ich erneut das Revier verlassen habe?«, schob ich zögernd hinterher und ärgerte mich im selben Atemzug darüber, dass ich mir überhaupt Gedanken deswegen machte.

»Chandra? Ich bin ihr bei meinem Rundgang begegnet. Gib uns bitte noch einen Moment. Wir kehren gemeinsam zum Frühmahl zurück.« Verblüfft, dass sie mich in diese Unterhaltung mit einbezog, warf ich ihr heimlich einen Blick zu. Sie wirkte ungezwungen und kein bisschen so wie Jazion, dessen Leid mich regelrecht überwältigt hatte, während er mit dem Schwert auf seine Mutter zugegangen war.

»Danke, Cas. Das beruhigt mich. Bring sie anschließend zu mir.« Obwohl Chandra keineswegs unfreundlich klang, war der Befehl dahinter deutlich herauszuhören.

»Natürlich«, entgegnete Cas unbekümmert. Danach schwieg sie. Ich wartete, wusste, sie würde sich schon bald überwinden und die Fragen stellen, die ihr auf der Seele brannten.

»Brauchst du noch einen Moment, oder wollen wir zurück? Wir könnten auch unseren Tigerinnen ein wenig mehr Raum lassen und zurückjagen. Hast du Lust?«

Sprachlos starrte ich sie an. War das jetzt ihr Ernst? »Was ist mit deinen Fragen?«, rutschte es mir ungewollt heraus. Warum stellte sie sie nicht?

Erneut erklang ihr Lachen in meinem Kopf. »Ich spüre deutlich, dass du nicht darüber sprechen magst. Und das akzeptiere ich, Sorre. Dennoch hoffe ich, dass du irgendwann dazu bereit bist, weil ich es wirklich gerne verstehen möchte.«

»Das war’s?«, hakte ich argwöhnisch nach.

»Deine gesamte Haltung und deine Worte an Vanda erklären eine ganze Menge und vorerst reicht mir das.«

»Und Jazion?«

»Ich kann nicht für ihn sprechen. Außerdem ist er ein Männchen.«

»Was soll mir das sagen?«

Sie lachte erneut. »Die sind grundsätzlich nicht so empathisch veranlagt und benötigen mehr Worte, bevor ihr Verstand die Dinge akzeptiert.«

»Könnten wir laufen? Ich befürchte, dass ich vorerst keine weitere Möglichkeit erhalte, mein Quartier zu verlassen, um meinem Bedürfnis nachzugeben.«

»Ich glaube, du irrst dich, aber ja, sehr gerne.« Sie erhob sich und trat aus der Höhle. »Dann komm!« Schon trabte sie los. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und folgte ihr. Kaum erreichte ich ihre Höhe, beschleunigte sie. Ehe ich mich versah, befanden wir uns in einem Wettstreit. Zwar schaffte ich es, nah an ihrer Seite zu bleiben, sie zu überholen gelang mir hingegen nicht. An der Grenze zum Hort lachte sie erneut und verlangsamte. Am Höhleneingang wandelte sie sich. Zögernd tat ich es ihr nach.

»Danke, Sorre, das hat Spaß gemacht. Wir sehen uns.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und betrat den vordersten Gang der Höhle. Verwundert starrte ich ihr hinterher. Weshalb behielt sie mich nicht im Blick? Ich verstand ihr Verhalten nicht. Immerhin hatte sie Chandra zugesagt, dass sie mit mir zum Frühmahl gehen würde.

Kopfschüttelnd griff ich nach meiner Kleidung und streifte sie mir über, ehe ich in den Höhlentrakt der ledigen Weibchen lief. Meine Sachen lagen noch immer in Nilas Quartier, und ich überlegte, wo ich zukünftig wohnen wollte. Konnte ich mir vorstellen, dauerhaft eine Höhle mit ihr zu teilen?

Kaum erreichte ich die Tür, öffnete sie sich. »Oh«, ertönte es überrascht. »Mit dir habe ich gar nicht gerechnet«, fing sich Nila rasch.

»Meine ganzen Sachen sind hier«, fuhr ich sie an, atmete bewusst durch, um meine plötzliche, unerklärliche Wut zu beherrschen. »Ich möchte ungern in diesen Klamotten zum Frühmahl.«

»Natürlich.« Sie stieß die Tür weiter auf. »Soll ich auf dich warten?«

»Nein, ich kenne den Weg«, entgegnete ich nicht freundlicher.

»Gut, dann gehe ich«, kam es ebenso schnippisch zurück. »Vergiss nicht, den Riegel vorzulegen, wenn du gehst«, rief sie mir über die Schulter zu. Wortlos schloss ich die Tür, entschied mich jedoch spontan um. Ich griff mir zwei Tücher und Seife, bevor ich die Höhle wieder verließ. Gewissenhaft legte ich den Riegel um und streckte währenddessen die Zunge heraus, in Erinnerung an Nilas Mahnung.

Als ich die Badehöhle erreichte, stellte ich erleichtert fest, dass kein Stofffetzen den Eingang markierte. Sie war also frei.

Nachdem ich mich gründlich gewaschen hatte, lief ich in ein Tuch gewickelt über die verschiedenen Gänge und in Nilas Quartier zurück. Das kalte Wasser hatte geholfen, meine Gedanken zu sortieren, meine Ängste etwas zu beruhigen. Solange Rare und Jazion sich nicht in dieser Höhle aufhielten, sollte ich mich relativ gut einfügen können. Was ich jetzt am wenigsten gebrauchen konnte, waren unkontrollierte Wutausbrüche irgendwelcher wildgewordener Männchen, weil ihnen meine Art nicht gefiel.

Angezogen begab ich mich in die Speisehöhle. Zwar verminderte sich für einen winzigen Moment das ausgelassene Geplapper, als ich jedoch auf die Speisen zutrat, nahm es wieder zu. Mit der gefüllten Schale in der Hand sah ich mich um. An dem Alphatisch saß niemand. Sollte ich mich einfach dort niederlassen? Vielleicht wäre es ihnen gar nicht recht?! Ich ließ meinen Blick schweifen. Einige Tische boten noch freie Plätze, doch ich wollte mich nicht einfach ungefragt irgendwo hinsetzen. Nila saß mit Tamara, Sale und Keld an einem Tisch. Ich bemerkte Cas, die allein an ihrem Familientisch saß und steuerte sie an. Wahrscheinlich ein Fehler, dennoch fühlte ich mich bei ihr irgendwie am sichersten.

»Hallo Cas. Darf ich mich zu dir setzen?«

Überrascht sah sie auf, fing sich jedoch rasch. »Natürlich, gerne.«

»Weshalb sitzt du nicht mit Arik zusammen?«, erkundigte ich mich. »Verzeih. Das geht mich gar nichts an, also vergiss es.«

Sie lachte. »Er hat mich an seinen Tisch eingeladen. Da aber einiges passiert ist und er mit seinen ehemaligen Rudelmitgliedern vom Ole-Rudel viel zu besprechen hat, lehnte ich lieber ab. Ich brauchte einen Moment für mich.«

»Das kenne ich nur zu gut«, gestand ich und räusperte mich unangenehm betroffen. Weshalb hatte ich das laut ausgesprochen? »Ist es dir denn trotzdem recht, dass ich hier sitze?«

»Du kannst ebenso gut schweigen wie ich«, entgegnete sie nur. Seltsam berührt schwieg ich während des Essens also und sagte kein einziges Wort mehr.

Kaum stand meine Schale geleert vor mir, hob Cas auffordernd ihren Blick. »Du weißt, wohin du musst?«

»Ja«, antwortete ich knapp und erhob mich.

So gefasst wie ich tat, fühlte ich mich längst nicht. Mit klopfendem Herzen räumte ich mein benutztes Geschirr weg und verließ die Speisehöhle. Je näher ich der Tür kam, desto langsamer wurde ich. Trotzdem zwang ich mich anzuklopfen, angespannt bei dem Gedanken, was mich erwarten würde.

2

»Ah, unser frühes Vögelchen ist zurückgekehrt«, stellte Ragnar belustigt fest, während er öffnete.

»Hallo«, grüßte ich verhalten.

»Komm rein«, forderte Chandra sanft. Sie saß an dem massiven Schreibtisch und sah nur einen knappen Moment von ihren Papieren auf, die sie hin und her schob. »Setz dich doch«, bat sie kurz darauf. Ragnar stellte sich an ihre Seite, legte eine Hand auf ihre Schulter. Dies schien ein Zeichen zu sein. Sie hob den Blick und musterte mich unverhohlen. »Wir haben ein paar Dinge mit dir zu besprechen, aber keine Sorge, wir befragen dich nicht zu den Geschehnissen bei der Hinrichtung. Wir sind uns einig, dass dies vorerst eine Angelegenheit zwischen Jaz, seiner Schwester und dir ist.« Überrascht hob ich meinen Blick, der mit Beginn ihrer Worte unbewusst auf meine Hände gesunken war.

»Dennoch möchten wir uns bei dir bedanken, Sorre«, schob Ragnar ein. »Ungeachtet deiner eigenen Gründe hast du sie davor geschützt, eine unermessliche Schuld auf sich zu laden, und ihnen somit großes Leid erspart. Beide hätten es sicherlich ausgeführt, doch Jaz’ innerliche Qualen, die wir anscheinend sehr viel später als du wahrgenommen haben, bestätigen mich in meiner Dankbarkeit.«

»Das sehe ich ebenso und damit sollten wir das Thema abschließen«, erklärte Chandra.

»Vorerst«, schränkte Ragnar ein.

»Was bedeutet vorerst?«, hakte ich misstrauisch nach.

»Wenn du zu gegebener Spanne in der Lage bist, mit Jaz zu sprechen«, begann Chandra, wurde aber von Ragnar unterbrochen.

»Oder mit Cas.«

»Genau, dann musst du uns gegenüber nichts erklären.«

Ich musterte die beiden aufmerksam. Chandra mit ihren auffallenden, goldenen Haarsträhnen blickte mir freundlich lächelnd entgegen. Ragnars gesamte Präsenz strahlte pure Herausforderung aus, ohne dabei auch nur im Ansatz aggressiv zu wirken. »Danke. Ich werde mit Jazion sprechen, sobald er zurückkehrt. Trotzdem bin ich erleichtert, dass ich einen kleinen Aufschub erhalten habe.«

»Das dachten wir uns.« Chandras Lächeln verstärkte sich, ihre Augen offenbarten jedoch eine seltsam warmherzige Traurigkeit, als hätte sie bis eben gehofft, dass ich mich ihnen dennoch anvertrauen würde. »Also gut, das nächste Thema ist die Wohnsituation. Wir haben uns entschieden, dich nicht allein wohnen zu lassen.« Hastig hob sie die Hand, um meinen Protest zu unterbinden. »Du hast das Erwachsenenalter erreicht, ja. Doch du hast weder die Lehreinheiten abgeschlossen noch eine Ausbildung begonnen.« Ihr Lächeln war verschwunden.

»Ihr wollt mich aber nicht in den Unterricht stecken, oder?«, stieß ich entsetzt über diesen Gedanken hervor.

»Du wirst die Prüfung ablegen und kannst dann wählen, was du beginnen möchtest.« Scheinbar nicht weniger überrascht von Chandras Worten als ich ruckte Ragnars Kopf zu ihr herum. »Ich gehe davon aus, dass dich die Lehreinheiten gelangweilt haben, weil du sehr viel schlauer bist, als irgendwer vermutet. Wahrscheinlich hat nicht einmal dein Vater eine Ahnung, wie intelligent du in Wahrheit bist. Sollte es nach wie vor dein Wunsch sein, auf Wanderschaft zu gehen, wirst du die Ausbildung zur Wächterin beginnen.«

»Du erlaubst es mir?«, fragte ich fassungslos.

»Natürlich«, entgegnete sie lachend. »Es erinnert mich an mich selbst. Du scheinst mir in einigen Bereichen ähnlich zu sein.«

»Das glaube ich kaum«, entfuhr es mir leise. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie irgendjemandem absichtlich ein Leid zufügen würde.

»Sorre«, warf Ragnar behutsam ein. »Wir nehmen deinen Schutz hier ernst, immerhin hat Panis dich uns anvertraut. Dennoch ist es uns sehr wichtig, dass sich jeder frei entfalten kann. Wenn es etwas gibt, was dich ängstigt oder wovor du dich fürchtest, dann rede mit uns. Wir werden dir helfen, immer! Niemand ist hier auf sich allein gestellt. Dazu benötigen wir aber deine Mithilfe. Ich selbst befand mich lange auf Wanderschaft. Sollte es also wahrhaftig dein Wunsch sein, wirst du diese Ausbildung brauchen, um dich darauf vorzubereiten. Auch als überwiegende Wanderin fallen dir Aufgaben zu. Du willst dein Rudel doch nicht endgültig verlassen, oder?«

Ich muss!

»Nein, natürlich nicht«, zwang ich hervor. »Wieso geht ihr davon aus, dass ich die Abschlussprüfung bestehe?«

Chandra zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du aus reiner Bockigkeit nicht mehr hingegangen bist. Ich glaube, all das langweilte dich, und du hast dich lediglich spannenderen Dingen zugewandt.«

»Wieso?«

»Weil es bei mir genauso war. Meine Abschlussprüfung schrieb ich erst hier.«

Neugierig musterte ich Chandra ein weiteres Mal. »Welche Ausbildung hast du begonnen?«

»Die der Wächterin, nur beendet habe ich sie bisher nicht.«

»Bisher?«, wiederholten Ragnar und ich beinahe im gleichen Moment.

»Ja, ich möchte mir selbst beweisen, dass ich es kann. Ich trainiere regelmäßig und irgendwann nehme ich mir die nötigen Spannen.«

»Ich vermute, du schaffst alles, was du dir vornimmst«, rutschte es mir heraus. Sogleich ärgerte ich mich über meinen bedauernden Tonfall.

»Du könntest das ebenfalls. Du musst dich nur auf uns einlassen.« Ihre sanfte Stimme steigerte meine Verärgerung.

»Also gut, ich schreibe die Abschlussprüfung und beginne danach die Ausbildung zur Wächterin. Wo werde ich wohnen?«, überging ich ihre Bemerkung schroff.

»Entweder bei uns oder bei Tilla und Pal«, erklärte Ragnar.

»Was?«, rief ich erbost. »Warum nicht bei Nila?«

»Wir halten es nicht für das Richtige.«

»Ach ja?« Herausfordernd zog ich eine Braue nach oben und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja. Nila ist alleinstehend. Ich möchte, dass du in einer Familie lebst, Verantwortung übernimmst.«

»Und das kann ich bei ihr nicht?«, hakte ich aufgebracht nach.

»Nicht so, wie wir uns das vorstellen, nein«, erklärte Ragnar.

Es klopfte, und er öffnete die Tür. Ich musste mich nicht umsehen, nicht nachfragen, ich wusste einfach, dass es sich bei den Neuankömmlingen um Tilla und Pal handelte. Sie traten ein und grüßten mit einem zurückhaltenden »Hallo« in die Runde.

»Hallo«, murrte ich nur leise zurück. Zwar mochte ich Chandra und Ragnar, ebenso wie ihre vier Kleinen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich bei ihnen leben wollte. Die Frage lautete nur, ob die Alternative, die sie mir boten, eine bessere Wahl wäre.

»Das sind Tilla und ihr Sohn Pal«, stellte Chandra mir die beiden vor und hielt meinen Blick auffordernd fest.

»Du bist die, die mein Bruder angegriffen haben soll«, begann der Kleine wütend und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich mag dich nicht!«

Überrascht wandte ich mich ihm zu, nicht sicher, was mich mehr ärgerte: Seine Worte oder der aberwitzige Vorschlag, ausgerechnet mit Miguels Familienbund zusammenzuleben. »Nur zu deiner Information: Er hat mich angegriffen und nur Rare ist es zu verdanken, dass nichts Schlimmeres passiert ist.«

Ich sah von Ragnar zu Chandra. »Das soll ein Witz sein, ja?! Ich finde das überhaupt nicht komisch!«

»Glaub mir, da bist du nicht die Einzige«, fuhr Tilla dazwischen.

»Wollt ihr mich mit dieser Vorgehensweise zwingen, mich für euch zu entscheiden?« Herausfordernd musterte ich Chandra. Sie zog nur eine Braue nach oben, schwieg jedoch ebenso beharrlich wie Ragnar. Sie erwarteten ganz offensichtlich wirklich eine Antwort. »Also gut, dann ziehe ich bei Tilla ein. Bravo!« Ruckartig erhob ich mich. »Glaub bloß nicht, dass ich einen Mutterersatz suche.«

»Na, da bin ich aber froh«, entgegnete Tilla kühl.

»Zeig ihr, wo eure Höhle ist, damit sie ihre Sachen von Nila holen kann. Außerdem ist wohl klar, dass sie zukünftig an eurem Tisch einen festen Platz hat. Und ich warne euch beide: Wir leben hier alle miteinander!«

Ragnar hätte das letzte Wort gar nicht zu betonen brauchen, denn die Warnung klang überdeutlich heraus. Seine gesamte Haltung hatte sich verändert. Hier verstand er ganz offensichtlich keinerlei Spaß mehr.

»Dann komm«, bat Tilla um einiges freundlicher, dennoch spürte ich ihre Abneigung noch immer deutlich. Ich folgte ihr und schloss die Tür ein klein wenig lauter, als es hätte sein müssen.

Chandra

Ragnar stand wieder hinter mir. Kaum, dass ich mich erhoben hatte, zog er mich an sich heran. »Glaubst du wirklich, dass unser Vorgehen klug ist?«

»Ja, ich bin überzeugt, dass sie alle drei davon profitieren werden. Selbst Pal.«

»Warum?«

»Weil Sorre dafür sorgen wird, dass sie sich mit Miguels Verhalten auseinandersetzen müssen. Tilla weigert sich beharrlich, seine Verfehlungen zu sehen. Es wird nicht lange dauern, und sie werden sich furchtbar streiten. Sorre wird ihr die Augen öffnen.«

»Und Pal?«

»Pals Anwesenheit ist nötig, damit sie nicht zu weit gehen und sich beherrschen. Besonders für ihn ist es wichtig, dass seine Mutter endlich die Wahrheit akzeptiert. Sonst wird es nicht lange dauern, und er wird seinem großen Bruder nacheifern. Sorre wird auch ihm den Kopf waschen.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, entgegnete Ragnar leise.

Ich schmiegte mich enger in seine Umarmung. »Und trotzdem hast du meinem Vorschlag zugestimmt und stehst hinter mir. Dafür liebe ich dich umso mehr.«

»Du hast ein äußerst feines Gespür, dennoch muss ich gestehen, dass ich zuvor Liane um ihre Meinung gebeten habe.«

»Weil sie ebenfalls eine besondere Begabung in sich trägt«, sprach ich seine Gedanken laut aus und schmunzelte. »Da ist nichts Verwerfliches dabei. Ich könnte mich auch irren.«

»Tust du nicht, Kleines.«

Sorre

Ich lief Tilla und Pal hinterher, bis sie vor einer Tür stehenblieben. Als müsse sie Kraft sammeln, hielt Tilla inne, den Türgriff bereits in der Hand. Sie wirkte angespannt und alles andere als zufrieden.

»Mama, mach jetzt endlich auf«, fuhr der Kleine sie ungehalten an.

»He, so redet man aber nicht mit seiner Mutter«, wies ich ihn zurecht, bevor ich mich selbst davon abhalten konnte.

Während Pal sich mir nur zögernd zuwandte, drehte Tilla sich ruckartig zu mir um. »Wage es ja nicht, dich da einzumischen. Was wir tun oder lassen, ist allein unsere Sache«, zischte sie mit hochrotem Kopf.

»Fein, wenn es dir gefällt, von einem kleinen Hosenscheißer derart respektlos behandelt zu werden, bitteschön, halte ich mich raus. Aber ich sage dir etwas, Pal, mir gegenüber solltest du das unterlassen«, warnte ich.

»Willst ausgerechnet du meinem Sohn drohen?«, fauchte Tilla.

»Ausgerechnet?«, wiederholte ich irritiert.

»Nur deinetwegen stecken wir in diesem Schlamassel«, beharrte sie.

»Ach ja, natürlich!« Ich tat so, als würde ich mir gegen die Stirn schlagen. »Ich hatte total vergessen, dass ich Miguel regelrecht anflehte, mich zu bedrängen und handgreiflich zu werden«, entgegnete ich wütend. Ich atmete tief durch, versuchte mich etwas zu beruhigen und senkte die Stimme. »Mag sein, dass du darauf stehst, derart behandelt zu werden, ich nicht! Daher sollte er sich mir gegenüber vorsehen!«

Mit wutverzerrtem Gesicht wandte sie sich ab und öffnete endlich diese blöde Tür. »Ich zeige dir dein Quartier. Es wäre besser, wenn du uns so wenig wie möglich mit deiner Anwesenheit belästigst.«

Schockiert von ihren Worten starrte ich auf ihren Rücken, ehe ich Pal einen flüchtigen Blick zuwarf. Er grinste hämisch. »Glaubt mir, mit Gestalten wie dir will ich nichts zu schaffen haben. Wie wird man so wie du? Ist das angeboren, oder hattest du es besonders schwer im Leben?« Meine Stimme triefte vor Hohn. »Zu deiner Information: Nicht nur du hast dein Päckchen zu tragen. Doch zum Glück wissen sich andere ungeachtet der Schicksalsschläge zu benehmen.« Sie blieb an einer Schlafhöhle stehen. Ungefragt drängte ich mich an ihr vorbei und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Vor Wut ballte ich meine Hände zu Fäusten und zwang meine Gedanken auf die Melodie eines Liedes, das mir Elins Mutter als Junges oft vorgesungen hatte. Leise, mit zusammengebissenen Zähnen, summte ich die Melodie in meinem Geist wie ein Mantra vor mich hin, um nicht in Versuchung zu geraten. Es wäre eine Kleinigkeit, sie einen Unfall erleiden zu lassen ...

Bereits als Junges hatte ich rasch lernen müssen, mich zu beherrschen. Begriff ich zu Beginn nicht, dass meine Spielgefährten im Hort meinetwegen ein kleines Missgeschick erlitten, kaum dass meine Gabe erwacht war, so brachten mich damals Elins naiv dahingeplapperten Worte ins Grübeln. Weil Petter mich beharrlich ärgerte, stellte ich mir vor, wie er stürzte, und es geschah augenblicklich. Elin, die versuchte, mich vor ihm zu beschützen, lachte. »Er hätte nicht so gemein zu dir sein sollen. Du bist wie ein Spiegel. Alles Schlechte, was man dir antut, fällt auf einen selbst zurück.« Ihre Augen funkelten vergnügt, weil Petter diese Abreibung wirklich verdient hatte. Dennoch war ich bei ihren Worten ängstlich erstarrt. Stimmte das, was sie glaubte?

Die nächsten Spannen probierte ich es aus, erst immer dann, wenn jemand gemein zu mir war, dann aber versuchte ich es einfach so. Nur kleine Dinge. Ein Stolpern ohne Folgen, hochspritzendes Wasser am Bach. All das gelang mir beinahe mühelos und steigerte damit meine Furcht. Während all die anderen um mich herum unbefangen herumtollten, ließ sie mich nicht mehr los, nagte unaufhörlich an mir, ich könnte in einem unbedachten Moment versehentlich etwas Grausames denken. Und als wäre all das noch nicht schlimm genug, begannen meine Träume, die mir wieder und wieder zeigten, dass meine Mutter sich lieber selbst umbrachte, als für mich da zu sein, einzig aus Furcht vor mir, ihrem einzigen Kind.

Niedergeschlagen von all den Geschehnissen horchte ich an der Tür. In meiner Vorstellung hatte ich mein Fortgehen irgendwie immer als großes Abenteuer gesehen und sogar der Gedanke, in dieses Rudel aufgenommen zu werden, obwohl Panis mir seinen Willen aufzwang, schmälerte meine Freude nicht. Nun jedoch fragte ich mich, ob ich mir all die Spannen etwas vorgemacht hatte. Niemals entkäme ich meinem Fluch. Zwar entging ich nun Orms Zugriff. Stattdessen aber gab es hier Miguel, jetzt seine Mutter. Es würde wohl immer irgendwen geben, wegen dem ich mich vorsehen musste.

Leise zog ich die Tür auf. Tilla stand bewegungslos im Flur, mir den Rücken zugewandt. Sie reagierte nicht. »Ich hole kurz meine Sachen«, erklärte ich zurückhaltend.

Vor Schreck fuhr sie zusammen, fing sich jedoch rasch. »Natürlich«, entgegnete sie nur.

Ohne sich mir zuzuwenden, betrat sie einen weiteren kleinen Gang und verschwand aus meinem Blickfeld. Kopfschüttelnd löste ich mich aus meiner Starre und verließ schließlich ihre Höhle.

»Ah, Sorre«, hielt Chandra mich auf. »Mach dir bitte Gedanken, ob du noch eine Spanne zur Vorbereitung für die Prüfung benötigst. Ab kommendem Mondgang ist alles möglich. Stan wurde von mir bereits informiert. Er stellt deine Aufgaben zusammen und wird bei dir bleiben. Aber keine Sorge, er ist sehr nett.«

»Würdest du das nicht über jeden sagen?«, rutschte es mir heraus.

Chandra lachte. »Nein.«

»Nein?«, wiederholte ich überrascht.

»Also, na ja. Dann hätte ich diesen Zusatz einfach weggelassen«, erklärte sie grinsend.

»Ah, verstehe. Man muss also auch zwischen den Zeilen lesen können«, stellte ich belustigt fest.

»Hin und wieder ja.«

Ich überlegte. »Was geschieht, wenn ich nicht bestehe«, erkundigte ich mich unsicher. Immerhin hatte ich lange keine Lehreinheiten mehr besucht. Außerdem war es ja durchaus möglich, dass sie hier ganz andere Schwerpunkte legten.

Nun schien Chandra zu überlegen. »Das hängt dann wohl von deinem Ergebnis ab«, begann sie nachdenklich. »Solltest du nur minimale Schwierigkeiten aufzeigen, wird eine Nachprüfung folgen.«

»Warum tust du das? Für mich?« Ich war mir plötzlich unerklärlicherweise sicher, dass dies nicht dem eigentlichen Vorgehen entsprach.

Sie musterte mich. »Magst du mit mir zu einer der Schutzhöhlen laufen?«, wollte sie wissen und überging vorerst meine Frage.

»Mhmm, ja«, antwortete ich zögernd.

»Dann komm«, bat sie. »Ich muss nur kurz Ragnar bitten, die Rasselbande einen Moment zu übernehmen. Ich wollte sie eigentlich grad vom Hort abholen.«

Ich folgte ihr, inzwischen gespannt, was sie mir zu sagen hatte und ganz offensichtlich nicht hier tun wollte.

Sie steuerte die Alphahöhle an und öffnete, ohne anzuklopfen. Ragnar, Noah und Jo hielten in ihrer Unterhaltung inne. »Könntest du die Kleinen vom Hort holen? Ich möchte mit Sorre zu einer unserer Schutzhöhlen. Wir bleiben nicht lange fort.«

»Natürlich.« Ragnar erhob sich. Ich blieb in der Tür stehen. Sein ernster Blick streifte mich nur kurz, ehe er sich auf Chandra heftete. Erstaunt verfolgte ich die Verwandlung seines Gesichtsausdrucks. Sämtliche Härte wich aus seinen Zügen, seine Augen erstrahlten regelrecht, während er sie an sich zog und wie selbstverständlich festhielt. Ihre Arme umschlangen einander und erst nach einem Kuss auf ihre Stirn entließ er sie. »Wir sprechen gleich in unserer Höhle weiter«, erklärte er an Noah und Jo gewandt. »Noah, nimm bitte die Unterlagen mit. Geht ruhig schon rein.«

Chandra stahl sich einen Kuss, während die Wächter aufstanden und sich abwandten. Fasziniert beobachtete ich die Szene zwischen den beiden und reagierte daher zu spät, um ihnen Platz zu machen, als sie sich an mir vorbei in den Gang schoben. »Entschuldigung«, murmelte ich Noah und Jo nach, ehe ich selbst hinaustrat.

»Wollen wir?« Chandra lächelte.

»Gerne.« Überrascht stellte ich fest, dass ich unser Zusammensein tatsächlich als angenehm empfand.

 

3

 

 

 

Als wir die Schutzhöhle erreicht hatten, ließ Chandra sich am Höhleneingang nieder, ohne sich zu wandeln. Wir befanden uns noch immer innerhalb des Reviers, jedoch an der äußeren Grenze.

»Dein Fell leuchtet. Nicht nur das, es schimmert wunderschön golden!«

»Als ich hier ankam, war ich auf der Flucht, wie du weißt«, überging sie meine Worte. Ich zögerte damit, mich niederzulassen. Plötzlich war ich nervös und unsicher. Wollte ich wirklich hören, was sie mir zu sagen hatte?

»Ich bin hier in den Kristallbergen aufgewachsen, Sorre.« Langsam sank ich neben ihr in den Schnee. »Also, auf der Flucht vor Kyle landete ich ausgerechnet hier, in dem Rudel, bei dem ich vor ewigen Spannen meinen kleinen Bruder zurückgelassen hatte. Mein Bruder und ich, wir sind die Erben der Mondgöttin Soraya und von Egdal, der Verkörperung der Finsternis. Wir wissen daher wohl wie kaum jemand sonst hier, wie es ist, mit schwierigen Situationen, mit Ablehnung und der Furcht davor umgehen zu müssen.« Ich entgegnete nichts, als würden mich ihre Worte nicht betreffen. Sie schwieg ebenfalls eine ganze Weile. Als ich schon glaubte, dass sie nichts weiter zu sagen hatte, fuhr sie jedoch unvermittelt fort. »Auch bei Kyle mussten wir die Lehreinheiten besuchen, was ich inzwischen höchst erstaunlich finde. Zwar meinte er immer, es gäbe nichts Schlimmeres als Dummheit, dennoch passte es eigentlich gar nicht zu seinem sonstigen Verhalten. Egal. Schließlich begann mich der Unterricht zu langweilen. Schon immer lernte ich mühelos und irgendwann ging ich einfach nicht mehr hin. Vielleicht fiel es mir so leicht, weil ich als Sorayas Tochter eine Gabe in mir trage. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bestand Finn darauf, dass ich meinen Abschluss mache. Und das tat ich, schneller, als er es für möglich hielt. Trotz seiner Gegenwehr erlaubte er mir schließlich, die Ausbildung zur Wächterin zu beginnen, was ich tat.«

»Wie schnell?«, hakte ich neugierig nach.

»Finn dachte damals, ich hätte erst achtzehn Wintereinbrüche erlebt, dabei waren es fast zwanzig. Statt zwei volle Mondzyklen zu warten, sorgte ich dafür, dass ich direkt an der Abschlussprüfung teilnehmen konnte.«

Ich hörte ihr Schmunzeln, vermischt mit einem traurigen Gefühl, das ich zu spüren glaubte. »Wie gut hast du bestanden?«

Sie lachte. »Mit zehn Punkten Abzug. Da es jedoch eine Sonderaufgabe gab, schaffte ich die Prüfung mit zehn mehr, als eigentlich möglich war.« Sie verstummte einen Augenblick. »Was ich dir damit sagen möchte: Obwohl mir niemand zu Beginn glaubte, dass ich Träume und Visionen erlebte und erlebe, meine Gabe mich antreibt, bestimmte Dinge zu tun, hielt ich eisern an meinem Weg fest, weil ich wusste, dass es das einzig Richtige ist. Finn steckte mich ebenfalls in einen Familienbund, und ich empfand ungeheure Wut darüber. Inzwischen habe ich jedoch erkannt, dass es gut gewesen ist.«

»Zu wem hat er dich gesteckt?«

»Zu Marcel und Ane«, kam es stockend.

»Warum hört sich das so seltsam an?«

»Weil ich mit Ane erst nicht besonders gut klarkam. Sorre, ich nehme dich durchaus als ernsthafte, sehr einfühlsame und verantwortungsbewusste Persönlichkeit wahr und tue all das nicht, um dich zu ärgern oder gar in deiner Entwicklung hier zu behindern. Ich weiß nicht, was zwischen Panis und dir geschehen ist, dass du der Meinung bist, nur allein klarkommen zu können. Ich werde dich nicht bedrängen, doch sollte es irgendetwas geben, über das du sprechen möchtest, sollst du wissen, dass ich immer für dich da bin! Und niemand wird je von den Dingen erfahren, die wir vertraulich miteinander besprechen. Wenn du nicht mit mir reden magst, such dir jemand anderen, ich bitte dich! Es ist nicht gut, seine Probleme in sich zu vergraben. Wir alle sind füreinander da, auch für dich.«

Wusste sie etwa von meiner Gabe, oder ahnte sie etwas? »Das ist sehr nett von dir, aber mir geht es gut, wirklich!«, wich ich aus. Wie hätte ich ihr auch erzählen sollen, dass ich das gesamte Rudel mit einem einzigen Gedanken töten könnte?

Ich musste dafür sorgen, dass ich die Prüfung schrieb und mir das Nötigste von den Wächtern beibringen lassen. Danach würde ich zurück in die Täler gehen. Dort gab es noch immer große, einsame Areale, genau das Richtige für mich. »Ich würde die Prüfung gerne sofort ablegen«, antwortete ich auf ihre eigentliche, erste Frage.

»Gut, dann komm nach dem Frühmahl in den Lehrtrakt. Frag nach Stan, er wird dich erwarten.«

»Danke.«

»Nichts ist so schlimm, dass man es mit sich allein ausmachen muss.«

»Ne, genau. Ich hab ja jetzt Tilla und Pal.« Der Versuch, meine Antwort lustig klingen zu lassen, scheiterte ein wenig. Es gelang mir einfach nicht, meine Frustration komplett aus meinen Gedanken und somit aus meinen Gefühlen herauszuhalten.

»Auch darüber können wir reden, wenn es gar nicht geht.«