MondKindSaga: Ragnar - Calin Noell - E-Book

MondKindSaga: Ragnar E-Book

Calin Noell

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Beschreibung

Ragnar verlässt das Rudel in dem Glauben, sie alle nur so schützen zu können, aber auch um Chandra zu entfliehen. In tiefer Trauer gefangen, hält sie nur an ihrem Leben fest, weil sie für ihre fünf Kleinen sorgen muss, Finns Vermächtnis an sie und das Einzige, was ihr von ihm geblieben ist.    Doch Chandras trauernde Spanne als Alphaweibchen verrinnt. Nur zwei volle Mondzyklen bleiben ihr, dann ist sie gezwungen, eine Wahl zu treffen. Das wäre um einiges leichter, gäbe es da nicht Ole, Finns Bruder. Voller Gier nach Macht wartet er nur auf seine Gelegenheit und ihm ist jedes Mittel recht.   Ragnar hingegen wehrt sich weiterhin gegen seine Gefühle, nichtsahnend, was im Rudel vor sich geht ...   Band 2 der MondKindSaga

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Calin Noell

MondKindSaga

Ragnar

MKS 2

Impressum:

Erstauflage 2018

Calin Noell

c/o Papyrus Autoren-Club

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

www.calin-noell.com

Texte © 2018 Copyright by Calin Noell

Bilder © 2018 Copyright by Calin Noell

Coverdesign: Saskia Lackner

www.saskia-illustration.de/

Lektorat: Roland Blümel

www.rolandbluemel.de/lektorat/

Alle Rechte vorbehalten

Über die Autorin

»Um Wunder zu erleben, musst Du an sie glauben.«

Schon immer spielten sich etliche Geschichten in meinem Kopf ab. »Zu viel Fantasie«, dachte ich damals noch und tat es einfach als Spinnerei ab. Erst viele Jahre später kam mir überhaupt in den Sinn, dass man dieses Wirrwarr in meinem Kopf auch aufs Papier bringen könnte und wagte den Versuch. Was als diffuse Möglichkeit begann, endete etwa 450.000 Wörter später mit der Janaii-Trilogie als mein Erstlingswerk. Heute kann ich mir eine Welt ohne meine Geschichten gar nicht mehr vorstellen.

Viele liebe Grüße

Eure Calin

Schaut auch gerne auf meine anderen Seiten, dort gibt es weitere Infos, zu meinen Büchern, aber auch zu meiner Person:

www.calin-noell.com

www.facebook.com/calin.noell.Autorin

www.instagram.com/calinnoell_autorin/

Danksagung

»Ich bewundere Dich für Deinen Mut!«

»Ich finde es toll, was Du machst!«

»Mach unbedingt weiter!«

Dies sind Sätze, die ich immer wieder höre – und die mich darin bestärken, nicht aufzugeben.

Der Weg als Selfpublisherin

ist schwierig und steinig, anstrengend, weil so viel Zeit für andere Dinge ins Land zieht (wie z. B. Formatierung des eBooks oder des Taschenbuches), die ich viel lieber fürs Schreiben nutzen würde. Dennoch genieße ich dadurch auch viele Freiheiten, die ich sehr zu schätzen weiß. Wenn dann aber in schwierigen Phasen Menschen kommen und mich nur milde belächeln, würde ich manchmal gerne laut schreien, weil sie keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Arbeit hier eigentlich hinter steckt!

Daher danke ich all jenen, die einen der oben genannten Sätze (oder ähnliche) gesagt, geschrieben oder gedacht haben.

Danke!

Denn ohne euch wäre ich längst nicht dort, wo ich heute bin – und ich will nirgendwo anders sein!

Buchbeschreibung

Ragnar verlässt das Rudel in dem Glauben, sie alle nur so schützen zu können, aber auch um Chandra zu entfliehen. In tiefer Trauer gefangen, hält sie nur an ihrem Leben fest, weil sie für ihre fünf Kleinen sorgen muss, Finns Vermächtnis an sie und das Einzige, was ihr von ihm geblieben ist. 

Doch Chandras trauernde Spanne als Alphaweibchen verrinnt. Nur zwei volle Mondzyklen bleiben ihr, dann ist sie gezwungen, eine Wahl zu treffen. Das wäre um einiges leichter, gäbe es da nicht Ole, Finns Bruder. Voller Gier nach Macht wartet er nur auf seine Gelegenheit und ihm ist jedes Mittel recht.

Ragnar hingegen wehrt sich weiterhin gegen seine Gefühle, nichtsahnend, was im Rudel vor sich geht ...

Band 2 der MondKindSaga

MondKindSaga

Ragnar

von

Inhaltsverzeichnis

Glossar Zeitenrechnung

1

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Glossar Zeitenrechnung

Tag (hell):

Mondgang

Nacht (dunkel):

Mond

Monat:

neue Bezeichnung: 1 Mondzyklus (seit dem der Mond wieder leuchtet)

40 Mondgänge

alte Bezeichnung: 1 Mondwanderung

Jahr:

neue Bezeichnung: 7 Mondzyklen (seit dem der Mond wieder leuchtet)

280 Mondgänge

alte Bezeichnung: 1 volle Mondwanderung

Geburtstag / Alter:

Wintereinbruch

Mondzyklen

alte Bezeichnung: volle Mondwanderung

1

Ragnar

Noch niemals zuvor war mir ein Abschied dermaßen schwergefallen und dennoch wusste ich, dass ich die Entscheidung treffen musste, genau jetzt aufzubrechen. Nicht nur für mich, sondern auch für Chandra, ihre Kleinen und unser gesamtes Rudel. Ich wollte mich nicht ins Unglück stürzen, und sie schon gar nicht. Doch das wäre unweigerlich geschehen, weil ich Chandras Nähe einfach nicht länger ertrug, ohne Gefahr zu laufen, eine Grenze zu überschreiten und dafür auf ewig von ihr verachtet zu werden. Ich wusste, dass ich floh, vor meinen Gefühlen und den damit einhergehenden Ängsten. Obwohl ich keinerlei Schuld an den Geschehnissen trug, fühlte es sich noch immer so an.

Finn ...

Der Alpha unseres Rudels und Chandras innig geliebter Gefährte ruhte nun auf ewig im Reich der Götter. Wir kannten einander bereits achtzehn vollendete Mondzyklen, trotzdem hatte es gedauert, bis ich Vertrauen zu ihm fasste, noch länger, bis wir wahre Freundschaft schlossen. Doch in all diesen Spannen enttäuschte er mich nie, war immer für mich da, gerecht und aufrichtig. Besonders deswegen verfluchte ich meinen Tiger und die Gefühle, die ich verspürte. Die plötzliche Gewissheit, Finns Gefährtin zu begehren, empfand ich als vollkommen falsch, schlimmer noch, für mich galt es als die niederträchtigste Art von Verrat, die man begehen konnte. Daran änderte selbst seine Akzeptanz nichts.

Sorg dafür, dass sie glücklich ist.

Sofort überschwemmte mich meine Wut von Neuem. Auch ich vermisste meinen besten Freund, meinen engsten Vertrauten, trauerte ebenso um ihn, wie Chandra es tat. Noch immer verstand ich nicht, was mich ihm gegenüber verraten hatte, woher er von meinen Gefühlen für sie wusste. Die Frage, weshalb er überhaupt nicht wütend erschien, als er ausgerechnet mir auftrug, für ihr Glück zu sorgen, nagte an mir. Er hätte mich doch anschreien müssen!

Chandra hingegen, derart tief in ihrer Trauer vergraben, hatte nicht einmal bemerkt, dass sie seinen Nachwuchs in sich trug. Kurz bevor Finn seinen letzten Atemhauch tat, zwang er mich zu dem Versprechen, auf sie aufzupassen, bis die Kleinen einen halben Mondzyklus alt wären, und das hatte ich erfüllt, obwohl es mir unglaublich schwergefallen war. Die Nähe zu ihr, unsere Verbundenheit, die immer stärker an meiner Seele zerrte, all das drängte mich, nicht länger als nötig zu verweilen. Ich hatte mein Herz an sie verloren, wusste jedoch, dass ich diese Gefühle nicht zeigen durfte.

Nun ging ich, verließ sie und hinderte meinen Tiger mit aller Macht daran, umzukehren. Ich blickte nicht zurück, wartete nicht, nahm keine Rücksicht auf meine Rudelgefährten Jaz und Jorge, die ein wenig hinter mir liefen. Gemeinsam wollten wir diesen Pass bezwingen, hofften, dass das Gefühl uns nicht trog und er einigermaßen sicher zu überwinden wäre. Ebenso, dass er uns in unser altes Revier brachte. Jorge, dessen Drillinge langsam eine Lebensbahn erreichten, die ihm erlaubte, seine Leidenschaft fürs Wandern wieder aufzunehmen, sollte gemeinsam mit Jaz das von uns aufgegebene Revier überprüfen. Wir mussten uns vollkommen neu ausstatten, benötigten Werkzeuge, Samen und diverse Dinge, um unser Leben unabhängig fortführen zu können. Vorher wollten wir nachsehen, was noch nützlich und was unwiderruflich verloren war. Danach würde ich mich darum kümmern, neue funktionierende Handelswege zu erschaffen. Sobald wir wussten, was wir am dringendsten brauchten, sollte ich alles Nötige in die Wege leiten, um die weitere Versorgung zu sichern. Bei dieser Gelegenheit hoffte ich, auf Brym zu treffen.

Brym ...

Er fand Chandra als Jungtier, dem Tode näher als dem Leben. Er pflegte sie gesund und übergab sie schließlich seinem Alpha Kyle, wie es seine Pflicht war. Dennoch beschützte er sie weiterhin, selbst als sie im Alter von zwanzig Wintereinbrüchen vor Kyle floh. Kyle, ein selten hinterhältiges, grausames Alpha-Männchen aber suchte sie, ohne zu wissen, welche Macht Chandra all die unzähligen Mondzyklen vor ihm verborgen gehalten hatte. Doch was er als seinen Besitz ansah, gab er niemals wieder her. Also gab er nicht auf. Als er in unser Revier eindrang, war Chandra nicht nur von unserem Rudel aufgenommen, sondern als unser Alpha-Weibchen an Finns Seite gleichermaßen akzeptiert. Als Kyle schließlich angriff, tötete Brym ihn, für Finn aber kam jede Hilfe zu spät.

Nachdem wir die neue Höhle entdeckt und somit einen sicheren Unterschlupf bezogen hatten, war Brym wieder in die Täler zurückgekehrt, um die letzten, erbarmungslos geschundenen und unter Zwang gehaltenen Weibchen von Kyles übriggebliebenem Rudel zu befreien. Da ich dringend nach einer Möglichkeit suchte, länger als üblich fortzubleiben, kam mir mein Versprechen, Brym zu helfen, gerade recht. Für den Fall, dass es ihm nicht allein gelungen war, die von Kyle zurückgelassenen Wächter zu bezwingen, wäre es mir sogar eine regelrechte Freude, sie auszuschalten. Ich wusste aus der Vergangenheit, dass Kyle niemanden, nicht einmal die Weibchen, mit seinen furchtbaren Ausbrüchen und Ansichten verschonte. Außerdem erschien mir im Moment alles besser, als zu früh zurückzukehren. Das könnte ich nicht, vielleicht auch niemals mehr.

Als ich den Gipfel erreichte, brüllte mein Tiger laut auf, vor Kummer, vor Schmerz, vor Zorn, dennoch zwang ich ihn unerbittlich voran, fort von unserem neuen Heim und den Gefühlen, die ich dort zurückgelassen hatte. Zwar wehrte mein Tiger sich dagegen, doch ich war schon immer stärker als er, die Frage war nur, wie lange ich derart gegen ihn bestehen konnte, denn solch einen Kampf gegeneinander hatten wir noch nie geführt. Eigentlich lebten wir in Eintracht miteinander. In ihrer Nähe aber verlor ich sehr rasch die Beherrschung, die Kontrolle über ihn, dazu erfüllte mich allein ihr Geruch bereits viel zu allumfassend. Aus diesem Grund musste ich aufbrechen, so weit weg wie möglich, für eine unendlich scheinende Spanne, um diesen Kampf nicht doch noch zu verlieren. Das könnte ich mir niemals verzeihen, sowohl Finn gegenüber als auch mir selbst.

Wir hatten Glück. Es schneite nicht mehr, nur der Wind pfiff in starken Böen über den Berg. Kaum mit Hölzern bewachsen, dienten nur die verschieden großen Felsen als Schutz gegen die Kräfte, die so hoch oben tobten. Als Wechselpfad sicherlich beschwerlich, doch für erfahrene Wanderer durchaus bezwingbar.

Kurz nachdem die Gipfelspitze hinter mir lag, blickte ich zurück. Die Schneedecke lag dick und schwer über dem Gestein und dieser Kamm schien die Grenze zu bilden, denn nun zeigten sich auch wieder die Spuren, die wir hinterließen. Jaz und Jorge liefen an mir vorbei und obwohl ich unsere Höhle längst nicht mehr sehen konnte, gelang es mir kaum, den Blick abzuwenden. Auffordernd stieß Jaz mich mit seiner Schnauze an. Ich spürte sein Verständnis, was mich nur noch wütender machte. Ich verdiente es nicht, wollte es nicht. Sie sollten mich verachten! Knurrend bezwang ich endlich meinen Tiger, verdrängte ihn aus meinem Bewusstsein und wandte mich ab. Mit einem lauten Fauchen lief ich den Kamm entlang, bis ich eine Spalte entdeckte, die sowohl ein wenig Schutz gegen den eisig pfeifenden Wind bot, als auch hinab führte. Alles hier erschien unwirklich. Die dicke Schneedecke lag beinahe unangetastet vor uns. Bei jedem Schritt sanken meine Pfoten tief darin ein, erschwerte mir das Vorankommen. Diese Anstrengung lenkte mich von meinen Gefühlen ab, bis zu dem Moment, als mein Tiger die Oberhand gewann. Laut hallte sein Brüllen von den Felswänden wider und mein Herz zerriss. Das nächste Brüllen folgte, ich sprang mehr, als dass ich lief. Dennoch gab ich nicht nach, bis ich die erste Baumgrenze erreichte. Trotz meiner schmerzenden Glieder jagte ich voran. Ich musste nur weit genug laufen, irgendwann würde ich sie vergessen, ihren Duft, ihr Strahlen, ihr Lachen, und ihre Kleinen, die mir inzwischen ebenfalls so sehr ans Herz gewachsen waren.

»Der Schmerz wird vergehen«, vernahm ich Jaz’ Stimme in meinem Geist, ich aber entgegnete nichts. Ich wusste, dass er meine Gefühle spürte, mich gut genug kannte, um meine Zerrissenheit wahrzunehmen. Jedes Wort war überflüssig und könnte sowieso nicht das ausdrücken, was ich tief in meinem Innern empfand.

Nach einer kurzen Pause und einer kleinen Erfrischung an dem Bach erreichten wir die Grenzen zu unserem alten Revier. Ich witterte, doch das fremde Rudel, das Kyle bei seinem Angriff unterstützt hatte, nahm ich nicht wahr. Sie schienen bereits seit einer längeren Spanne nicht mehr hier gewesen zu sein.

»Wahrscheinlich sind sie direkt nach dem misslungenen Überfall geflohen«, mutmaßte Jorge.

»Ja, das vermute ich ebenfalls«, stimmte ich ihm zu. »Seid dennoch wachsam«, warnte ich und lief leise weiter, setzte meine Pranken achtsam auf. Als ich die alten Grenzen unseres Horts erreichte, lauschte ich ein letztes Mal, bevor ich mich wandelte. »Hier ist niemand und so wie es aussieht, war hier auch seit dem Einsturz der Höhle keiner mehr.« Ich trat auf das Lohholz zu, dessen Stamm eine Öffnung bot, in dem wir Kleidung deponiert hatten. Obwohl das Ausmaß des Hohlraumes für einen lebenden Baum ungewöhnlich groß erschien, stand er dort seit ewigen Spannen in voller Pracht. Das Geheimnis dieser Art fand sich in den Wurzeln, die nicht nur bis tief unter die Erde reichten, sondern auch das erste Drittel des Stammes bildeten.

»Lasst uns nachsehen, ob der Zugang zur Höhle irgendwo noch offen ist«, schlug Jaz vor, nahm sich Hemd und Hose und streifte sich beides über. Für Jorge legte ich die Kleidung neben den Stamm und zog mir ebenfalls etwas an. Er würde vorerst gewandelt bleiben und die Umgebung überwachen, was als Tiger mit all seinen Sinnen sehr viel einfacher zu bewerkstelligen war.

Wir gingen auf den Höhleneingang zu. »Sei vorsichtig, Ragnar. Nicht, dass die Decke bei der ersten Berührung nachgibt. Das sieht nicht besonders stabil aus.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, schob ich mich behutsam durch den von herabgefallenem Geröll gebildeten, schmalen Spalt. Als ich etwa dessen Mitte erreichte und einen kleinen Felsbrocken aus dem Weg drückte, der in Höhe meiner Schulter feststeckte, spürte ich die Folgen meines Fehlers sogleich.

Das Grollen begann zwar langsam, wurde aber stetig lauter. Die Wände zwischen mir erzitterten so plötzlich, gefolgt von einem mächtigen Grummeln, dass ich mitten in der Bewegung innehielt. Der Versuch, damit noch irgendetwas aufzuhalten, erschien jedoch vollkommen lächerlich, wie mir das sich weiterhin auswachsende Zittern der gesamten Umgebung bewies.

Hart packte Jaz meinen Arm und zog mich mit einem kräftigen Ruck aus der Spalte heraus, unerbittlich hinter sich her, bis wir uns ein ganzes Stück vom Eingang entfernt hatten. Das Grollen um uns herum schwoll ohrenbetäubend an, während sich immer neue Risse bildeten. Steinbrocken brachen aus der Decke und den Wänden, mündeten in einem gewaltigen Getöse. Einzelne Brocken rollten über den Boden bis zu unseren Füßen, eine riesige Staubwolke begleitete den endgültigen Einsturz. Wir wichen weiter zurück, doch das Beben endete langsam, wurde leiser, bis alles wieder vollkommen stumm vor uns lag.

»War das nötig?«, fauchte Jaz. Er wirkte aufrichtig wütend.

»Ich habe nicht vor, unseren Göttern bereits jetzt Gesellschaft zu leisten«, knurrte ich.

»Ach ja? Bist du dir da ganz sicher?« Missmutig betrachtete er mich.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Eingang derart instabil ist«, verteidigte ich mich und wartete darauf, dass die Staubwolke sich endlich legte.

»Alles in Ordnung?« Jorge sah zwischen uns hin und her, doch keiner von uns antwortete. »Hintenrum ist ein großes Loch in der Höhlenwand. Sieht aus, als könnten wir da wesentlich gefahrloser hineingelangen.« Er wandte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten, und ging voran.

Dort angekommen wandelte Jorge sich zurück, witterte, bevor er sich schließlich entspannt niederließ. Das war das Zeichen für uns. Jaz drängte sich an mir vorbei. »Ich gehe vor«, warnte er grimmig.

Ich ließ ihn gewähren, hatte keine Lust, mich weiter mit ihm zu streiten. Stattdessen überlegte ich, was den Einsturz überstanden haben könnte und hoffte, dass wir besonders an unsere Ausrüstungsgegenstände herankommen würden. Sie wären am schwersten neu zu beschaffen, geschweige denn, selbst herzustellen.

»Du kannst kommen«, rief Jaz von innen. »Es ist unglaublich, wie viel noch intakt ist.« Über seine Begeisterung grinsend folgte ich ihm. Tatsächlich. Kaum sah ich um die Ecke, lagen die Gänge vor mir, vollkommen unversehrt. »In die Badehöhle kommen wir nicht mehr hinein«, hörte ich Jaz erneut. »Aber die Höhle, in der wir unsere Werkzeuge aufbewahrt haben, sieht unbeschädigt aus.«

»Ich schau mal in die Speisehöhle«, entgegnete ich.

»In Ordnung, aber bitte, sei vorsichtig.«

»Ja«, grollte ich zurück.

»Wie glaubst du, würde es Chandra ergehen, wenn wir ihr von deinem Tod berichten müssten?« Obwohl ich Jaz nicht sah, spürte ich, wie er auf meine Antwort wartete. Ich reagierte jedoch nicht darauf. Natürlich hatte er recht. Es würde sie schwer treffen und vielleicht sogar ihren endgültigen Zusammenbruch bedeuten. Ich seufzte.

»Ich bin vorsichtig, ich verspreche es.« Niemals wollte ich schuld daran sein, dass sie litt. Deswegen stand ich jetzt schließlich hier, in dieser Höhle, statt beim Rudel zu bleiben. Viele Wintereinbrüche verbrachte ich immer nur einige Spannen innerhalb unseres Reviers, befand mich ansonsten auf der Wanderung. Erst durch Chandra erwachte wieder der Wunsch, bleiben zu können. Doch ebenso wusste ich, dass ich es genau ihretwegen nicht tun durfte.

Die Wände der Speisehöhle durchzogen mehrere große Risse und ich achtete darauf, meine Füße ganz behutsam auf den Boden zu setzen und nichts zu berühren. Es würde schwierig werden, aus der hinten angrenzenden Küche die benötigten Dinge zu bergen, ohne dass hier alles in sich zusammenfiel. Ich griff mir einige Töpfe und Schalen und schlich vorsichtig wieder hinaus.

»Jorge, wie ist die Lage?«

»Vollkommen ruhig«, entgegnete er und trat auf mich zu. Er hatte sich inzwischen ebenfalls gewandelt und angekleidet. »Brauchst du Hilfe?«

»Ja, bitte. Allerdings sind die Höhlen nicht besonders sicher. Sei vorsichtig. Ich befürchte, wenn wir jetzt nicht so viel wie möglich sichern, fällt alles in sich zusammen, noch bevor ihr das nächste Mal hier seid.«

»Dann komm«, forderte Jorge. »Schaffen wir die Sachen raus.«

Obwohl wir Hand in Hand arbeiteten, benötigten wir zu dritt dennoch bis zum Einsetzen der Dämmerung, um den größten Teil in eine versteckte Höhle zu bringen. »Hier sollte es sicher lagern, bis ihr den Transport organisiert habt.« Ich sah von Jorge zu Jaz. »Braucht ihr mich noch?«

»Warum bleibst du diesen Mond nicht mit uns hier, bevor du aufbrichst?«

Traurig lächelnd schüttelte ich den Kopf. Ich musste dringend hier weg, fort von den vertrauten Gerüchen, die mir beinahe noch schlimmer erschienen als all die Erinnerungen, die mich beim Anblick dieser Höhlen überkamen. »Ich danke euch, aber ich warte lieber nicht länger. Richte allen einen Gruß aus. Ich melde mich bei Jo, sobald ich die ersten Dinge in die Wege geleitet habe und ihm Namen von Kontaktpersonen nennen kann.«

»Gib auf dich acht, mein Freund.« Jorge trat auf mich zu und zog mich in die Arme, klopfte mir auf den Rücken. »Kehr zurück, Ragnar.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging davon.

»Ich verstehe, dass der Abstand für dich nötig ist. Nutze diese Spanne, dennoch musst du heimkehren, Ragnar. Wir alle brauchen dich.«

Freundschaftlich schlugen wir einander auf den Rücken. »Du selbst bist ein Wanderer, Jaz.«

»Ja, das ist richtig. Doch meine Gründe sind andere. Ich fühle mich auf Dauer nicht wohl, immer an einem Ort zu sein. Du aber fliehst vor deinen Gefühlen.«

Ich wandte mich ab und schritt davon. Natürlich wusste ich, dass er recht hatte. Doch was sollte ich tun? Bleiben und uns alle in Unglück stürzen?

2

Da ich mich nun wieder auf bekanntem Gebiet befand, machte ich mich auf den Weg zu zwei in dieser Gegend lebenden Rudeln. Wir hatten bereits früher mit ihnen einen durchgehenden Handel getrieben. Das Pan-Rudel fertigte sehr geschickt Kleidung, die wir dringend benötigten. Das Tariel-Rudel besaß eine große Anzahl verschiedener Setzlinge. Von unserem Bestand hatten wir kaum etwas retten können. Da bestimmte Pflanzen in dem neuen Gebiet nicht wuchsen, wir sie aber zum Beispiel zum Heilen brauchten, musste ich diese irgendwie beschaffen. Ich wusste, dass beide Rudel uns aufgrund der langanhaltenden Freundschaft helfen würden, auch wenn wir ihnen vorerst im Gegenzug nicht besonders viel anzubieten hatten. Im Tal hingegen wäre es schon um einiges schwieriger, weil die Wege weit und unsere Kontakte rar gesät waren. Selbst wenn es Brym inzwischen gelungen sein sollte, das kleine Rudel zu übernehmen, wusste ich von Chandra und Noah, der ebenfalls eine Weile im Tal gelebt hatte, dass sie vorher keinerlei Handel betrieben und ausschließlich von Raubzügen gelebt hatten. Dennoch hoffte ich, dass Brym mir wenigstens ein oder zwei Namen und Orte nennen konnte, wo ich friedliebende Rudel antreffen würde, die bereit wären, auf einen Handel einzugehen.

Ich trat in eine Schutzhöhle, um meine Kleidung abzulegen, als ich plötzlich Chandras Witterung wahrnahm, ganz schwach nur, doch genug, um Erlebnisse heraufzubeschwören, die ich verzweifelt vergessen wollte. Sie quälten mich, ohne dass es in meiner Macht stand, irgendetwas daran zu ändern. Als stünde ich dort, wo sie ihre Jungen zur Welt gebracht hatte, fluteten mich die Bilder meiner Erinnerungen. Ich war ihr damals gefolgt, eine Tatsache, die sie vor Wut drohend fauchen ließ, sodass ich mich nicht in die Höhle hineingewagt hatte. Doch als das erste Jungtier den Weg aus ihrem Leib in unsere Welt hinein gemeistert hatte, gestattete sie es mir endlich. Dieses unglaubliche Gefühl, die Geburt mitzuerleben, sie trocknen zu dürfen, bei ihnen zu sein, zeigte mir in einer brutalen Deutlichkeit, dass ich niemals wieder woanders sein wollte.

Seufzend legte ich die Kleidung ab und wandelte mich, was nur dafür sorgte, dass der Schmerz um ein Vielfaches zunahm. Ich roch sie, ihre Witterung und die der Kleinen, noch immer. Sie füllte die Höhle und ließ mein Herz erzittern. Plötzlich drängte mein Tiger weit in mein Bewusstsein, brüllte laut und voller Verzweiflung. Hastig wandte ich mich um und jagte davon, weg von dieser Höhle, diesem Ort, der so viele Erinnerungen in sich barg, die mein Herz zu zerschmettern drohten.

Ich lief fünfzehn Mondgänge, ehe ich in den Kristallbergen den einen der drei Gipfel erreichte, Solstein genannt. Ich musste ihn halb umrunden und dann etwa die Hälfte des Waldes durchqueren. Da würde ich eine Felsspalte finden, die in ein atemberaubendes Gewölbe führte. Dort lebte das Pan-Rudel. Vielleicht wussten sie noch gar nicht, was vorgefallen war.

Ich ging nur einmal auf die Jagd, als müsste ich mich selbst bestrafen, für meine Gefühle, meine Wut und meine Trauer. Endlich hatte ich den Wald erreicht und kam wieder besser voran. Die Schneedecke zeigte immer mehr Spuren, lag hier längst nicht so hoch wie auf freiem Gelände, als ich eine mir bekannte Witterung aufnahm.

»Ragnar«, knurrte Derks tiefe Stimme sogleich.

Grinsend wandelte ich mich. »Na, mein Freund, was macht Lina, treibt sie dich noch immer in den Wahnsinn?« Wir kannten einander sehr lange, mochten uns. Erst bei meinem letzten Besuch vor etwa vier Mondzyklen befanden sich die beiden im Paarungstanz. Ich war nicht überrascht, davon zu hören. Lina war ein wundervolles Weibchen, besaß jedoch die Eigenschaft, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was Derks erwartet hatte. Außerdem war sie eine der wenigen Weibchen, die zu den Wanderinnen zählte und gemeinsam mit ihrem Bruder kaum länger als einen Mond beim Rudel verbrachte. Ein Umstand, der es Derks sehr schwergemacht hatte. Er liebte das Beisammensein mit dem Rudel und konnte es sich nicht vorstellen, ständig für eine längere Spanne von ihm getrennt zu sein.

»Sie knurrt ununterbrochen und verflucht mich ständig aufs Neue bei unseren Göttern, weil sie unseren Nachwuchs in sich trägt. Sie meint, ich hätte mir extra besonders viel Mühe gegeben, um sie endlich an unsere Höhle zu binden.«

»Oh, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Meinen Glückwunsch, Derks. Das sind großartige Neuigkeiten.«

Lächelnd sah er Richtung Felsspalte. »Ich hoffe sehr, sie schafft das.«

»Sie liebt dich aufrichtig, und das ist die beste Voraussetzung. Denk daran, was ich dir von Jorge und Siri erzählt habe. Erst jetzt beginnen sie wieder langsam, darüber nachzudenken. Also, Jorge tut es, Siri hingegen scheint der Gedanke, ihre Drillinge zurückzulassen, noch immer nicht zu behagen. Dabei liegen inzwischen zwanzig Wintereinbrüche hinter ihnen.«

»Glaubst du wirklich, sie kann ihr Leben einfach so aufgeben?«

Ich ergriff seinen Arm und drückte ihn. »Das hat sie bereits, für dich und für eure gemeinsame Zukunft. Sonst hätte ihre Tigerin dich niemals so besitzergreifend gezeichnet.« Grinsend zog ich den Kragen seines Hemdes ein wenig beiseite.

Das Mal, das Linas Zähne hinterlassen hatten, zeigte sich deutlich und ließ auf eine unbeherrschte Gier schließen, von der ich selbst immer geträumt hatte.

Derks lachte. »Vorher hätte ich das nie für möglich gehalten, dass mich ein derartiges Verhalten auf diese außergewöhnliche Art und Weise erregen und mit Stolz erfüllen könnte.«

»Ihr schafft das, daran glaube ich fest.«

Ich verbrachte etwas mehr als einen Mondzyklus im Pan-Rudel, ehe wir uns einigten. Wie immer hatten sie mich freundlich aufgenommen, auch die Verhandlungen verliefen wie erhofft sehr wohlwollend. Wir sollten ihnen Felle von Huawarabullen liefern und außerdem für einige Mondgänge zwei von unseren Zimmerern zur Verfügung stellen. Niemand in ihrem Rudel beherrschte diese Kunst wie wir. Die Frage, ob wir Isis, ein einundzwanzigjähriges Männchen von ihnen bei uns ausbilden könnten, übermittelte ich Jo. Dies zu entscheiden, da es eine zeitweilige Aufnahme in unser Rudel erforderlich machte, lag nicht in meiner Macht. Dennoch wäre dies ein gutes Geschäft, da wir im Austausch dafür die benötigte Kleidung erhielten, die sie nach unseren Wünschen anfertigen würden.

Ich warnte sie vor dem fremden Rudel, das Kyle bei dem Angriff gegen uns unterstützt hatte und verdeutlichte ihre Hinterhältigkeit. Niemand von uns wusste mit Sicherheit, ob sie vorher feige geflohen oder alle bei dem Versuch, unsere Höhle einzunehmen, ebenso wie Kyles Clan, ums Leben gekommen waren.

Von dort aus hatte ich mich direkt auf den Weg zum Tariel-Rudel gemacht. Als ich endlich nach etwa einem weiteren halben Mondzyklus den Berg Sternendeuter erreichte, begann ich den mühsamen Aufstieg. Das Tariel-Rudel lebte am längsten in diesem Gebiet. Trotzdem verhielten sie sich zu Beginn eines Aufeinandertreffens stets äußerst misstrauisch. Vielleicht lag es daran, dass ihre Höhle so hoch oben lag und fremde Wanderer nur selten zu ihnen stießen. Wenn man nicht wusste, dass dort jemand lebte, hätte man es wohl auch niemals vermutet. Ihr markiertes Revier war klein, ebenfalls sehr ungewöhnlich. Dennoch schien es ihnen zu gefallen und auszureichen.

»Ragnar.« Faras unverkennbar rauchige Stimme ließ mich zusammenfahren. Zwar hatte ich ihre Fährte zuvor schon bemerkt, aber inständig gehofft, sie würde mir ausweichen. »Na, mein Schöner.« Mit ihrem Körper strich sie mehrfach an meinem entlang, den Schwanz auffordernd erhoben. Ich reagierte jedoch nicht darauf. Ihre aufdringliche Art hatte ich noch nie gemocht.

»Hallo, Fara.«

»Bist du meinetwegen gekommen?«, säuselte sie.

»Ich suche Tariel«, stellte ich klar.

»Weshalb bist du immer so abweisend? Du hast keine Gefährtin, ich rieche nicht einmal eine Geliebte.«

Der Stich, der mich durchfuhr, weil sie auch Chandra nicht mehr an mir wahrnahm, schmerzte. »Bloß, weil das so ist, bedeutet das noch lange nicht, dass ich mit jedem Weibchen Körperprivilegien tauschen muss«, schnauzte ich und knurrte, als sie erneut versuchte, sich an mich zu drängen.

»Oh, es ist ja nicht so, dass ich auf dich angewiesen wäre«, erklärte sie.

»Das kann ich deutlich riechen.« Das tat ich tatsächlich. Mindestens drei verschiedene Duftmarken nahm ich an ihr wahr, selbst ohne mich anstrengen zu müssen. »Du solltest dich so langsam mal für einen entscheiden.« Ich trabte an ihr vorbei, nicht gewillt, länger mit ihr zu sprechen.

»Vielleicht änderst du deine Meinung ja noch. Tariel ist nicht hier. Er befindet sich mit den Jungtieren auf der anderen Seite des Waldes und wird erst in einigen Mondgängen zurück sein. Da bleibt dir eine gewisse Spanne, dich umzuentscheiden. Ich kann dir alles geben, was du brauchst«, versuchte sie es weiter, während sie hinter mir herlief. »Immerhin verlangt es der Anstand, dass du einen Mondzyklus bleibst.«

Grollend wandte ich mich um. »Gib dir keine Mühe, Fara. Das mit uns wird nichts. Ist Nikos da?«

»Natürlich. Er erwartet dich bereits.« Noch immer klang sie herausfordernd, ohne Hohn oder Wut. »Ich soll dich zu ihm führen.«

Vor dem Höhleneingang wandelte ich mich. Verwundert, weil kein Männchen zur Begrüßung kam, sah ich mich um. In der Nähe hatte ich fünf Wächter wahrgenommen, doch niemand von ihnen machte Anstalten, sich uns zu nähern. »Was ist hier los?«, fragte ich misstrauisch, Fara aber lachte und wandelte sich ebenfalls.

Aufreizend streckte sie ihre Glieder und blieb vor mir stehen. Ebenso nackt wie ich, musterte sie mich ausgiebig. Ihr Körper wirkte trotz ihrer ausgeprägten Weiblichkeit sehnig. Mit hochgezogener Augenbraue hielt sie meinen Blick fest. »Ist mit dir alles in Ordnung?« Sie klang spöttisch.

»Nur weil mein Schwanz nicht auf deinen Anblick reagiert, bedeutet das noch lange nicht, dass es immer so ist. Ich teile nicht und die Gerüche, die an dir haften, verdeutlichen mir nur jeden Moment, dass du niemals meine Wahl sein wirst.«

»Autsch, das tat weh«, spottete sie.

»Eine Wahrheit, die du selbst herausforderst, wird dich wohl kaum treffen.« Genervt betrat ich den ersten Gang und beachtete sie nicht länger.

»Du solltest vorsichtig sein, Ragnar. Deine Überheblichkeit könnte deinem ganzen Rudel schaden. Wenn du so schlau bist, wird dir aufgefallen sein, dass eine der Witterungen, die an mir haften, Nikos gehört«, warnte sie.

»Das interessiert mich nicht. Spiel deine intriganten Spielchen woanders.« Inzwischen hatte ich die Alphahöhle erreicht und klopfte.

»Herein«, herrschte es von innen. Ich öffnete und wollte hinter mir die Tür wieder schließen, die Fara jedoch festhielt.

»O nein, ich komme mit rein.«

Genervt schüttelte ich den Kopf, während sie ebenfalls eintrat, ehe sie die Tür schloss und auf Nikos zuging. Eng schmiegte sie sich an seinen Körper, eine Tatsache, die ihn zu verwundern schien.

»Danke, Fara. Wir sehen uns später, lass uns bitte allein.« Erleichtert, weil Nikos sich von ihr ganz offensichtlich nicht so einspannen ließ, wie sie es erhofft hatte, trat ich auf ihn zu und reichte ihm meinen Unterarm. Er erwiderte die Geste, wandte seinen Blick dann aber Fara zu.

»In Ordnung. Ich gehe, wenn ihr zwei nachher mit mir esst«, forderte sie. Zu meiner Verwunderung stimmte Nikos lächelnd zu. Fara trat näher an mich heran, so nah, dass ihre Brustwarzen meine Haut berührten. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, doch den Göttern sei Dank reagierte meine Männlichkeit nicht auf sie. Im Gegenteil, alles in mir sträubte sich gegen diese ungefragte Berührung, und ich trat einen Schritt von ihr fort.

»Ich freue mich sehr auf später«, säuselte sie ungerührt und wandte sich endlich zum Gehen.

»Sie kann es einfach nicht lassen«, begann Nikos belustigt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Und es stört dich gar nicht? Immerhin teilt ihr Körperprivilegien.«

»Ja, das stimmt. Aber das ist ja gerade das Besondere an ihr. Wenn wir Lust aufeinander haben, verbringen wir einen oder zwei Mondgänge miteinander. Danach geht jeder wieder seiner Wege, vollkommen ohne Forderungen oder Ansprüche. Es ist unkompliziert, mehr möchte ich momentan nicht. Daher nimm sie dir ruhig.«

»Sie macht sich hier zum willigen Weibchen von euch allen und niemand sagt etwas dagegen?« Fassungslos starrte ich ihm entgegen.

»Sei vorsichtig mit Wertungen, Ragnar. Bei euch mag das nicht gerngesehen sein, hier aber dürfen sich die Weibchen ebenfalls ausleben. Sie ist jung, und warum soll sie es nicht tun, bevor sie sich irgendwann an einen von uns bindet. Wir Männchen machen doch nichts anderes, oder?«

Ich sah das nicht so, schwieg dazu jedoch. Auch in unserem Rudel tobten wir uns aus, wie er es nannte. Dennoch machten weder wir noch die Weibchen es in einer Art, die derart ausschweifend wirkte. Wir gingen eine Bindung ein, selbst wenn es sich nur um den Tausch von Körperprivilegien handelte. Keines unserer Männchen oder Weibchen würde sich auf diese Weise benutzen lassen oder den anderen benutzen. Wir verhielten uns stets sehr respektvoll, auch in solch einer Partnerschaft.

»Wir mussten unser Revier verlassen«, begann ich mein eigentliches Anliegen, um diesem Thema endlich zu entkommen. »Es gab einen Angriff, bei dem unsere Höhle zerstört wurde. Wir konnten vieles retten, benötigen aber einige Setzlinge.«

»Geht es allen gut?« Überrascht von der plötzlich deutlichen Sorge nickte ich, stockte dann jedoch, tief getroffen.

»Finn, er überlebte nicht.«

Schockiert erstarrte Nikos. »Bei allen Göttern«, flüsterte er. »Niemals hätte ich damit gerechnet.«

»Ich war bereits beim Pan-Rudel und warnte auch sie. Kyles Clan bezwangen wir, doch ihnen half ein fremdes Rudel, das unser Revier übernehmen wollte. Niemand von uns weiß, ob sie tot sind oder überlebt haben. Nehmt euch in Acht. Sie sind hinterhältige Kojoten, daher rate ich euch, wachsam zu sein.«

»Und nun?«

»Chandra hat die Führung übernommen. Sie brachte inzwischen Finns Nachwuchs zur Welt. Mit Noah an ihrer Seite wird sie es schaffen.«

»Weshalb bist du aber jetzt hier, statt ebenfalls für sie da zu sein? Finn und du, ihr standet euch außerordentlich nah. Wäre es nicht deine Aufgabe?«

»Das gesamte Rudel steht hinter ihr und vor ihr liegen zwei volle Mondzyklen, ehe sie gezwungen ist, sich über die weitere Sicherung Gedanken zu machen«, rechtfertigte ich sie und mich.

»Standen sie sich nahe?«

»Sie zeichneten einander in einer Art und Weise, wie ich sie selten erlebte.«

»Das tut mir aufrichtig leid, Ragnar. Finn war ein ausgezeichneter Alpha und enger Freund. Die Nachricht von seinem Tod wird Tariel zutiefst treffen, uns alle. Es wäre leichter für sie, hätten sie nur eine Beziehung aus Pflichtgefühl dem Rudel gegenüber begonnen. Es muss furchtbar sein, als Weibchen. Immerhin ist sie gezwungen, nach Ablauf dieser Frist einen neuen Gefährten als Alpha zu benennen.«

»Das wird sie, wenn sie dazu bereit ist«, fauchte ich und atmete tief durch. Natürlich kannte auch ich die Gesetze, die ein Alphaweibchen verpflichteten, nach Verstreichen von zwei vollen Mondzyklen einen neuen Partner zu erwählen. Nur damit wäre der Fortbestand unseres Rudels gesichert. Käme es zu einem Herausforderungskampf eines anderen Alphas, könnte Chandra dem niemals standhalten, ein Männchen an ihrer Seite hingegen schon.

»Komm, mein Freund. Lass uns speisen, ehe wir darüber beraten, wie wir euch am besten helfen können.«

Tariel kehrte erst zehn Mondgänge später zurück, doch die wichtigsten Informationen hatte ich bereits von Nikos erhalten. Sie besaßen sämtliche Setzlinge, die wir dringend benötigten, sodass ich mit Tariel nur einen Mondgang darauf in die Verhandlungen gehen konnte. Er ließ sich Zeit, wusste wie ich, dass es der Anstand gebot, einen Mondzyklus zu bleiben und amüsierte sich ebenso königlich wie seine Rudelgefährten dabei, wie ich mich immer energischer gegen Faras Annäherungsversuche wehren musste, ein Umstand, den ich noch weniger verstand. Sie ließ keine Möglichkeit aus, mich zu reizen. Würde sich eines unserer Weibchen derart aufführen, wäre unsere Reaktion sicherlich eine ganz andere.

Als sich die angemessene Spanne dem Ende zu neigte, unterbreitete Tariel mir jedoch ein äußerst freundschaftliches Angebot. Wir einigten uns, sodass ich mit guten Nachrichten wieder aufbrach. Sie wollten uns aushelfen, mehr und selbstloser, als ich gehofft hatte.

Seit dem Gespräch mit Nikos über die weitreichenden Folgen von Finns Ableben, und der damit einhergehenden Frist, knurrte ich augenblicklich, sobald meine Gedanken um dieses Thema kreisten. So entschloss ich mich, den erst vor zwei Mondgängen von Jo ausgesprochenen Befehl, umgehend zurückzukehren, zu ignorieren. Stattdessen wollte ich erstmal in die Täler und Brym einen Besuch abstatten, das würde mir eine weitere große Spanne verschaffen, in der sich meine Gefühle hoffentlich endlich beruhigten. Allein die Vorstellung, ich müsste ihr jetzt begegnen, ließ meinen Tiger derart aggressiv fauchen, dass es kein weiser Entschluss wäre, Jos Befehl zu befolgen. Er würde damit leben müssen.

 

3

 

 

 

Zwar hatte Brym mir den Weg beschrieben, dennoch dauerte es, bis ich das richtige Tal und schließlich den Wald erreichte. Erst dadurch wurde mir bewusst, welche Anstrengungen Chandra tatsächlich auf sich genommen haben musste, um von dort zu entkommen. Nicht nur, dass sie auf der Flucht den beschwerlichen Weg zurück in die Kristallberge vollkommen auf sich allein gestellt bewältigt hatte, nein, sicherlich saß ihr außerdem ständig die Angst im Nacken, von Kyle oder seinen Mitgliedern aufgespürt zu werden. Es muss grauenvoll gewesen sein und dazu das Wissen, dass einzig der mühsame Weg ausschließlich flussaufwärts in die Freiheit führen würde, hätten viele in die Knie gezwungen. Ich wusste bereits, dass sie eine unglaubliche Stärke in sich trug. Diesen Weg jetzt jedoch selbst zu gehen, die Anstrengungen zu spüren, obwohl ich ja lediglich flussabwärts ging, bewies es mir noch einmal ganz deutlich. Zwar lief ich längst nicht so schnell, wie sie es getan haben musste, immerhin trieb mich nichts und niemand an, dennoch sank ich erschöpft am Fluss ins Gras, um einen Moment auszuruhen. Wahrscheinlich waren ihr sogar solch kleine Pausen kaum vergönnt gewesen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Kyle zu bringen. Dass Brym sie als einziger aufgespürt hatte, sie aber einfach laufen ließ, bestärkte mich in meinem Gefühl der Verbundenheit zu ihm. Ohne seine Hilfe wäre ihr die Flucht niemals gelungen.

Ich vermisste sie, mit jedem verdammten Atemzug und gleichgültig, was ich auch versuchte, selbst hier dachte ich ständig nur an sie.

»Ragnar?«

Ich hob den Kopf und blickte Brym entgegen. Ich hatte seine Witterung bereits aufgenommen, wunderte mich nun aber über sein zögerliches Näherkommen.

»Was ist los, Brym? Weshalb wirkst du so besorgt?« Ich musterte ihn. Obwohl seine Erscheinung noch immer einen ungemein stattlichen und bedrohlichen Eindruck erweckte, schien er etwas an Gewicht verloren zu haben, wirkte beinahe ein wenig eingefallen.

»Warum bist du hier?«, entgegnete er, statt auf meine Frage einzugehen.

»Ich wollte sehen, ob es dir gelungen ist, das Rudel zu übernehmen und dir im Zweifel helfen.«

Seufzend trat er näher und ließ sich schließlich neben mir zu Boden fallen. »Zwei Wächter sind noch immer am Leben und verteidigen den Höhleneingang. Sie wissen, dass Kyle tot ist, weigern sich jedoch, rauszukommen. Sie erheben nun selbst Anspruch auf die Weibchen. Drei meiner Gefährten, die sich uns sofort nach meiner Rückkehr angeschlossen haben, sind verletzt. Lange halten wir das nicht mehr durch«, gestand er leise. »Würden sie rauskommen und sich mir stellen, doch das tun sie nicht. Sie nutzen Speere, Schwerter, immer das, womit wir gerade gar nicht rechnen.«

»Ich helfe dir«, stellte ich klar.

»Du könntest sterben, Ragnar. Wofür?«

»Das geschieht schon nicht. Wo ist der Höhleneingang?«

»Was ist mit Chandra. Wenn du stirbst ...«

»Wird es sie nicht mehr kümmern, als bei jedem anderen Rudelmitglied. Also, wo ist der Eingang?«

»Komm mit. Erst speisen wir. Ich war endlich wieder einmal erfolgreich jagen und auch du siehst aus, als könntest du einen ordentlichen Bissen vertragen. Ich habe einen erwachsenen Sabwa erlegt.« Sein Stolz brachte mich zum Grinsen, obwohl ich es durchaus verstand. Besonders die ausgewachsenen Sabwas wurden aufgrund ihrer Aggressivität gefürchtet. Mit ihren großen und spitzen Hörnern, die sich erst herausbildeten, sobald sie ihre volle Körperstatur erlangt hatten, galten sie nicht gerade als leicht zu erlegen.

Er hatte nicht übertrieben. Ein gewaltiges Sabwa-Weibchen lag mit blutigem Körper und zerfetzter Kehle im Gras. »Das ist Ragnar aus den Kristallbergen. Chandra fand in seinem Rudel Zuflucht«, stellte er mich seinen sechs Gefährten vor. Zwei von ihnen wirkten mehr als nur leicht verletzt, der dritte humpelte. Bei den anderen drei handelte es sich um Weibchen.

»Und was willst du hier?«, entgegnete eines der Weibchen knurrend.

Überrascht musterte ich sie. Trotz ihrer abweisenden Art und den verhärmten Gesichtszügen konnte ich ihre einstige Schönheit erahnen. Viel zu dünn und mit unzähligen Narben schien ihr Groll nicht verwunderlich. »Ich versprach Brym, ihm auf meiner nächsten Wanderung einen Besuch abzustatten. So wie es aussieht, komme ich rechtzeitig. Ich werde euch helfen, diesen Spuk zu beenden.«

»Und was verlangst du dafür? Niemand von uns wird sich dir freiwillig hingeben«, schaltete sich die Kleinste von ihnen ein.

»Ich habe keinerlei Interesse an einer von euch«, stellte ich klar.

»Ach ja? Du hast keine Gefährtin.«

»Brym half Chandra und somit unserem ganzen Rudel. Ich tue es für sie. Und für Finn, unseren Alpha«, schob ich eilig hinterher, schließlich tat ich es nicht ihretwegen.

Die Weibchen tauschten einen Blick miteinander, schwiegen dann aber immerhin. »Nimm dir«, wechselte Brym das Thema und deutete auf den erlegten Körper. Ich spürte meinen Hunger inzwischen deutlich, daher ließ ich mich kein weiteres Mal bitten und langte kräftig zu. Das erlegte Tier war ausreichend groß, sodass ich nicht zu befürchten brauchte, ihnen zu wenig übrig zu lassen.

Nachdem wir alle gesättigt waren, versorgte Brym die Verletzungen seiner Gefährten gewissenhaft mit der Paste, die auch schon mir geholfen hatte. Schließlich deutete er mit dem Kopf in eine Richtung, weg vom Bach. Ich folgte ihm auf leisen Pranken und überwachte die Umgebung sorgfältig. Er führte mich in den Wald hinein, immer tiefer, bis ich ihre Witterung aufnahm. Wir hatten Glück, denn der Wind wehte uns leicht entgegen und würde unsere Ankunft zumindest vor ihren Nasen verbergen. Ich entdeckte den Höhleneingang und legte mich hin, beobachtete, sah jedoch niemanden.

»Hast du sie verletzt?«, erkundigte ich mich. Brym zuckte vor Schreck zusammen.

»Nein, ich glaube nicht, warum?«

»Ich rieche frisches Blut, zwar nur leicht, aber eindeutig.«

»Bist du dir sicher, dass es nicht dein blutverschmiertes Maul ist?«, fragte er belustigt.

Ich witterte erneut. »Ja, ganz sicher.« Ernst wandten wir uns wieder dem Höhleneingang zu. »Ich geh rein«, teilte ich ihm mit, erhob mich und schlich geduckt durch das Gestrüpp.

»Warte, Ragnar«, zischte Brym, doch ich beachtete ihn nicht mehr. In der letzten Linie von Sträuchern, bevor das freie Feld begann, sank ich flach auf den Boden, witterte, horchte, dann sprang ich vor und pirschte mich lautlos heran, bis zum Eingang. Niemand kam, nichts regte sich.

»Brym, komm!«, rief ich in Gedanken. »Beeil dich.« Vorsichtig schlich ich in den Gang hinein.