Nie wieder arm sein - Marie Louise Fischer - E-Book

Nie wieder arm sein E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Marion ist ein blutjunges Mädchen aus der Provinz: Sie ist jung und schön, was braucht es da mehr zum Leben. Sie arbeitet als Verkäuferin in einer Münchner Boutique und bedient dort die Reichen und Glücklichen dieser Welt. Doch sie muss bald erfahren, dass das Glück zerbrechlich ist. Als sie eines Tages einen kleiner Fehlgriff macht, sind all ihre Hoffnungen gefährdet. Doch in einem Augenblick tiefster Verzweiflung lernt sie den attraktiven Fabrikbesitzer Alexander Kühnert kennen, der Marion seine Liebe und sein Vermögen zu Füßen legt. Zunächst ist ihr in ihrer Ehe kein Glück beschieden. Erst eine schwere Krankheit führt sie an die Seite ihres Mannes zurück. Jetzt zeigt sich, dass die Liebe stärker ist als der Tod.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Nie wieder arm sein

Roman

Saga Egmont

Nie wieder arm sein

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1979 by Goldmann Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719138

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Marion Lenz starrte auf die Vitrine, die, mit rotem Samt ausgelegt und mit französischen Seidentüchern und Modeschmuck bestückt, den dekorativen Mittelpunkt des Modesalons Stoll bildete.

Aber sie sah nur ihr eigenes Gesicht, das ihr die schimmernde Scheibe leicht verzerrt zurückwarf: ein helles Oval mit einem vollen, schmollenden Mund, darin die Augen wie zwei dunkle saugende Löcher, ihre Farbe – blau – nicht auszumachen, das lange Haar glatt und blond.

Niedergeschlagen nahm sie wahr, daß die Urlaubsbräune schon wieder verschwunden war. Kein Wunder, die drei Wochen, die sie mit einer Jugendgruppe in Italien verbracht hatte, lagen schon wieder eine Ewigkeit zurück. Jetzt war Oktober, ein warmer, föhniger Oktober, aber der Winter stand vor der Tür. Dann würde alles noch ekelhafter werden: das Aufstehen morgens früh um sechs, der halbstündige Trab zum Bahnhof Rosenheim, das Warten auf dem zugigen Bahnsteig, sieben Uhr dreißig Fahrt nach München, fünfundvierzig Minuten später runter zur U-Bahn und, eingezwängt zwischen anderen Morgenmuffeln, die zwei Stationen bis zum Marienplatz. Wenn sie daran dachte, daß sie vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen war, als sie vor zwei Jahren die Lehrstelle in der bayrischen Landeshauptstadt bekommen hatte… Wie sich der Mensch doch täuschen kann.

Marion gähnte verstohlen, mit geblähten Nasenflügeln und geschlossenen Lippen und machte sich mit gelangweilten, aber anmutigen Bewegungen erneut an ihre Arbeit, die darin bestand, Blusen, die eine Kundin anprobiert hatte, sorgfältig wieder zusammenzulegen. Sogar zum Träumen war sie zu müde.

Begleitet von einem melodischen Läuten öffnete sich die Ladentür, und eine Dame trat ein. Marion taxierte sie mit einem einzigen Blick: elegant, reich, modebewußt, nicht mehr jung.

Die Dame grüßte.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Marion mit geübtem Lächeln.

Gleichzeitig gab sie der Besitzerin, die sich augenblicklich im Büro aufhielt, ein Klingelzeichen. Einmal klingeln bedeutete: Alle Angestellten sind beschäftigt. Zweimal klingeln: dringend zur Kasse. Marion hatte festgestellt, daß keine der beiden Verkäuferinnen frei war und sie jetzt an der Reihe war zu bedienen. Das tat sie gerne, sehr viel lieber als aufräumen und zusammenlegen.

Die Kundin suchte ein dezentes Winterkleid, und Marion beriet sie fachmännisch. Drei Kleider über dem Arm – genau abgezählt, damit nichts verschwinden konnte –, begleitete sie die Dame in die Kabine.

»Wenn ich nichts Passendes finde, könnte ich mir dann auch etwas anfertigen lassen?«

»Selbstverständlich, gnädige Frau, aber das wird nicht nötig sein… bei Ihrer Figur haben Sie doch genug Auswahl!«

Die Dame probierte eine gute halbe Stunde, und eine gute halbe Stunde lang eilte Marion zwischen der Kabine und den Kleiderständern hin und her und kämpfte gegen das lähmende Gefühl aufsteigender Hoffnungslosigkeit. Wenn eine Kundin so wählerisch war, bestand wenig Aussicht, daß sie überhaupt etwas kaufte.

Aber dann entschied sich die Dame doch. Sie wählte ein reinseidenes braunes Schlabberkleid, sehr unaufdringlich, sehr elegant und besonders teuer.

Marion schrieb den Kassenzettel aus und bedankte sich mit einem erschöpften Lächeln. Danach begann sie sofort, zwei Kleider, die die Kundin unachtsam über den Haken geworfen hatte, sorgfältig auf die Bügel zu hängen. Sie stellte die Probierpumps nebeneinander und – entdeckte einen blauen Schein auf dem roten Teppichboden. Eine warme Blutwelle schoß ihr in das Gesicht. Sie bückte sich und hob den Schein auf. Tatsächlich: hundert Mark!

Jetzt rasten Marions Gedanken. Sie erinnerte sich, daß die Kundin mit Sonnenbrille gekommen war; später dann, in der Kabine, hatte sie eine nur leicht getönte Brille aufgehabt. Die Krokotasche hatte offen auf dem kleinen Hocker gestanden. Wahrscheinlich war ihr der Hundertmarkschein beim Brillenwechseln herausgefallen. Oder sie hatte ihn mit dem Taschentuch herausgezogen. Wie konnte man aber auch nur so leichtsinnig sein, einen Geldschein lose in der Tasche zu haben! Aber so waren nun mal die Leute, die ihr Geld nicht selbst zu verdienen brauchten.

Unbeweglich stand Marion da und lauschte zur Kasse hin, gewärtig, daß die Kundin im nächsten Augenblick das Verschwinden des Geldes bemerken würde, und auf dem Sprung, mit dem Schein hervorzuschießen.

Aber nichts dergleichen geschah. Die Kundin zahlte, bekam die Plastiktüte mit dem sorgfältig in Seidenpapier verpackten Modell, und das Läuten der Türglocke verkündete, daß sie den Laden verlassen hatte.

Marion steckte den Schein in ihren Büstenhalter; sie war um hundert Mark reicher geworden, und hundert Mark bedeuteten für sie sehr viel.

Zwanzig Minuten vergingen. Der blaue Schein brannte auf Marions Haut. Sie war gerade dabei, einen Rock zu verpacken, als die Kundin mit der Sonnenbrille wieder hereinkam, gelassen und damenhaft beherrscht wie vorhin. Dennoch wußte Marion sofort, um was es ging, und sie konnte nicht verhindern, daß eine warme Welle ihr bis in die hellen Haarwurzeln stieg.

Die Kundin ging geradewegs auf Frau Stoll zu, die hinter der Kasse stand, und grüßte höflich. »Wahrscheinlich ist das Geld schon gefunden worden, nicht wahr?« fragte sie mit einem kleinen Lächeln. Dies hätte für Marion ein Stichwort sein können, aber sie war zu verstört, es aufzugreifen.

»Geld? Nein, ich weiß nichts davon«, sagte Frau Stoll erstaunt.

»Ein Hundertmarkschein. Er ist mir hier abhanden gekommen. Wahrscheinlich in der Kabine.«

Frau Stoll blickte sich um; sie war eine kleine Frau mit rundem Gesicht und einem Ansatz von Doppelkinn, in ständigem Kampf mit ihrem Gewicht und dennoch zu korpulent, um ihre eigenen Modelle mit Erfolg tragen zu können.

Ihr Blick fiel auf das junge Mädchen, das die Augen niedergeschlagen hatte und mit fahrigen Händen den Rock zusammenlegte. »Marion, bitte, sehen Sie doch mal nach!«

»Ja, das war das Fräulein, das mich bedient hat«, stellte die Kundin fest.

»Haben Sie denn die Kabine nicht aufgeräumt, Marion?« fragte Frau Stoll.

»Doch.«

»Und nichts gefunden?«

»Nein.«

»Ich kann das Geld nur hier verloren haben«, beharrte die Kundin.

»Entschuldigen Sie, bitte, einen Augenblick«, sagte Frau Stoll, und ihr Lächeln war so falsch wie ihre Zähne, »kommen Sie mit, Marion… lassen Sie den Rock, den kann auch Fräulein Anneli einpacken.« Sie verschwand durch die Hintertür in den Lagerraum. Marion blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Hier, zwischen Kartons und Plastiksäcken, waren die beiden Frauen allein.

»Also… was ist?« fragte Frau Stoll scharf.

»Was soll schon sein?« gab Marion trotzig zurück. »Ich habe das Geld nicht… wer weiß, ob sie es überhaupt hier verloren hat!« Sie trug einen geblümten wadenlangen Rock, dazu eine rund ausgeschnittene weiße Leinenbluse – beides aus dem Geschäft, von Frau Stoll persönlich ausgesucht und ihr zum Einkaufspreis überlassen.

Mit einer überraschenden Handbewegung griff Frau Stoll in ihren Ausschnitt – Marion blieb nicht einmal die Zeit zurückzuzucken – und zog den Geldschein heraus. »Und was ist das?« fragte sie. »Nun erzählen Sie mir bloß nicht, daß das Geld Ihnen gehört!«

Sie segelte in die Verkaufsräume zurück und ließ Marion stehen. Das Mädchen war völlig fassungslos, nicht fähig, das Ausmaß dessen, was geschehen war, zu begreifen.

Immerhin gelang es ihr, als die Geschäftsinhaberin erschien, zu stammeln: »Ich möchte Ihnen, bitte, erklären…«

»Da gibt’s nichts zu erklären. Packen Sie Ihre Siebensachen und verschwinden Sie. Auf der Stelle!«

»Aber mein Vater…«

»… hätte Sie besser erziehen sollen. Falls Sie daran denken, zum Arbeitsgericht zu gehen und sich eine Geschichte zurechtzulegen… damit kommen Sie nicht durch. Ich habe mir die Adresse der Kundin geben lassen. Gehen Sie. Ich will Sie nicht mehr sehen.«

Fünf Minuten später stand Marion Lenz auf dem Marienplatz. Es war heller Vormittag. Geschäftige, fröhliche Menschen eilten in der Fußgängerzone auf und ab oder schlenderten gemächlich dahin, um sich die Auslagen zu betrachten. Die Rathausuhr schlug elf, und die überlebensgroßen bunten Moriskentänzer begannen sich hoch über den Köpfen der Menschen im Kreis zu drehen; die fröhliche Melodie der Spieluhr erklang.

Der Himmel über München war von einem tiefen, südlichen Blau.

Marion sah und hörte nichts. Sie war völlig benommen. Ihr fiel nichts ein, was sie jetzt tun könnte.

Nur ein einziger Gedanke schwirrte in ihrem Kopf: Das überlebe ich nicht.

Es war ihr unvorstellbar, nach Hause zu fahren und ihren Eltern zu beichten, was sie getan hatte. Sie würden das nicht verstehen können. Ihr ganzes Leben waren sie ehrlich gewesen, und sie taten sich viel darauf zugute: auf ihre Ehrlichkeit und ihren zähen Fleiß, mit dem sie sich, seit sie nach dem Krieg aus dem Osten gekommen waren, in Bayern ein neues Leben aufgebaut und vier Kinder großgezogen hatten. Mit Strenge, Ehrlichkeit, Tüchtigkeit. Für sie würde eine Welt zusammenbrechen, wenn sie erfuhren, daß Marion mit Schimpf und Schande aus ihrer Lehrstelle gejagt worden war.

Nein, nach Hause konnte sie nie mehr. Aber wohin sonst? Sie wußte es nicht. Ohne daß ihr Kopf den Befehl dazu gab, schlug sie nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern ging die Dienerstraße in Richtung Odeonsplatz – nicht, daß sie nach Schwabing gewollt hätte, so weit dachte sie gar nicht. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß, nur weil sie ja etwas tun mußte, nicht einfach stehen bleiben konnte. Sie hatte ihre blaue, gestrickte Wolljacke übergezogen und ihren Regenmantel in die große zweihenklige Tasche gestopft, zu Kamm, Bürste, Seife, Bonbons, Papiertaschentüchern und was sie sonst noch so an persönlichem Krimskrams im Geschäft gehabt hatte.

Sie hatte keinen Blick für die Schaufenster auf der rechten Straßenseite und blickte auch nicht hoch, als sie ansetzte, um die schmale Pfisterstraße zu überqueren.

Alle ihre Kräfte waren darauf gerichtet, den Schlag, den ihr das Schicksal versetzt hatte, zu verarbeiten.

Das Kreischen der Bremsen hörte sie im gleichen Augenblick, als ein harter Stoß sie zu Boden warf.

Alexander Kühnert war das dünne Mädchen mit dem glatten blonden Haar schon Sekunden vorher aufgefallen; ihr junges Gesicht, das geisterhaft durchsichtig wirkte, und die schlafwandlerische Art, mit der sie sich auf den Bordstein zu bewegte.

Sofort hatte er den Fuß vom Gaspedal genommen, und als sie dann tatsächlich, ohne das Rotlicht der Ampel oder die heranbrausenden Autos zu beachten, auf die Fahrbahn trat, konnte er seinen Porsche mit der denkbar kürzesten Bremsspur zum Stehen bringen. Gleichzeitig wich er nach links aus, was aber nicht verhinderte, daß sie geradewegs gegen den Kotflügel lief.

Er sah sie stürzen, löste mit einem Druck den Sicherheitsgurt und sprang, ohne sich um den nachfolgenden Verkehr zu kümmern, aus dem Auto.

Das Mädchen erhob sich taumelnd.

Er las ihre Tasche mit dem Regenmantel auf. »Haben Sie sich verletzt?«

»Nein«, sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen, »nein, ich glaube nicht…«

»Was ist los mit Ihnen?« Er bekam keine Antwort und öffnete die andere Autotür. »Los, steigen Sie ein!« Er stellte die Tasche neben sie, lief um das Auto herum und setzte sich ans Steuer.

»Kann ich Sie irgendwohin bringen?« fragte er, als er anfuhr.

»Nein«, sagte sie.

Alexander Kühnert, fünfunddreißig Jahre, Besitzer eines Kunststoffwerkes, war ein kühl rechnender, sachlich denkender Mensch, der nichts von Sentimentalitäten hielt. Aber dieses verstörte, ja, geradezu verloren wirkende Mädchen rührte ihn. Er hatte es eilig gehabt, doch jetzt war es ihm ganz unmöglich, sie ihrem Schicksal zu überlassen, wie sein Verstand es ihm riet.

»Dann werden wir irgendwo zusammen einen Cognac trinken«, entschied er, »wollen wir ins ›Café Annast‹?«

Sie sagte nichts dazu.

Er stellte sich vor. »Ich werde Ihnen meine Visitenkarte geben und Ihnen die Nummer meiner Versicherung aufschreiben… für den Fall, daß unser Zusammenstoß doch noch Folgen haben sollte. Sagen Sie, hören Sie mir eigentlich zu?«

»Doch.«

»Na, das ist ja schon etwas. Wollen Sie mir nicht sagen, wie Sie heißen?«

»Wozu?«

»Weil ich es wissen möchte.«

»Marion«, sagte sie, »Marion Lenz.«

»Na, dann sind wir ja schon einen Schritt weiter… Marion.«

Am Odeonsplatz fand er ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz und führte sie die wenigen Schritte zum traditionsreichen ›Café Annast‹ zurück, indem er seine Hand unter ihren Ellbogen schob. Er hatte das Gefühl, sie festhalten zu müssen, und sie duldete es ohne Abwehr – wahrscheinlich, dachte er, merkte sie es gar nicht.

Da er keine Vorschläge von ihr erwartete, ging er mit ihr nach hinten hinaus in den Hofgarten. Er war lange nicht mehr hier gewesen und fand es schön, wenn auch die Blätter der alten Kastanien sich schon braun und rot verfärbt hatten und raschelnd zu Boden fielen.

»Sie mögen doch einen Cognac«, fragte er, als er ihr einen der Gartenstühle zurecht rückte und ihr mit leichtem Schulterdruck bedeutete, sich zu setzen, »oder wollen Sie lieber was anderes?«

»Eine Cola.«

»Gut, dann aber eine Cola mit Rum. Sie brauchen was Stärkeres. Sie haben anscheinend einen Schock erlitten.« Er bestellte, zog sein Zigarettenpäckchen heraus, steckte es dann aber gleich wieder ein; er war dabei sich das Rauchen abzugewöhnen.

Marion saß einfach da und starrte ins Leere.

Er hatte Muße sie zu betrachten und sah, daß ihr schmales Gesicht mit den hohen Jochbögen und den leicht schräg geschnittenen tiefblauen Augen fast schön war – schön, aber leblos wie das einer Puppe.

Als die Getränke kamen, schenkte er eigenhändig ein und drängte: »So, nun trinken Sie mal … machen Sie einen großen Schluck, das wird Ihnen guttun!«

Tatsächlich stieg gleich darauf Farbe in ihre Wangen, und sie setzte das Glas noch einmal an, ohne daß er sie auffordern mußte.

»Na, jetzt sehen Sie schon besser aus, Marion«, stellte er fest, »geht’s wieder?«

Zum erstenmal sah sie ihn an; er hatte dichtes, mit weißen Strähnen durchzogenes Haar und kluge graue Augen, deren Blick jetzt sehr mitfühlend auf ihr ruhte. Sie fand, daß er ein alter Mann war, und sie war froh darüber.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie.

»Wofür denn? Noch habe ich nichts für Sie getan. Wollen Sie mir nicht erzählen, was passiert ist… bevor Sie mir vor den Kühler gelaufen sind?«

»Das würde auch nichts nutzen.« Sie leerte ihr Glas.

»Kann sein. Aber schaden würde es doch auch nichts … oder?«

»Nein«, sagte sie, und plötzlich begann sie zu weinen, mit verzogenem Gesicht wie ein Kind.

Alexander Kühnert war erschrocken und fasziniert zugleich. Seit Jahren hatte er niemanden mehr so weinen sehen. Es wurde ihm bewußt, daß er sich seine Mitmenschen ziemlich weit vom Leibe gehalten hatte. Jetzt schuf dieser hemmungslose Ausbruch eine seltsame Intimität zwischen ihm und dem wildfremden Mädchen.

Unter Schluchzen gestand sie ihm was sie getan hatte, und ihm wurde sofort das ganze Ausmaß ihrer Tragödie klar: ein anständiges Mädchen, das wegen einer einzigen Dummheit ihr Leben verkorkst zu haben glaubte.

»Kommen Sie«, sagte er, »ich bringe das in Ordnung!«

»Aber das können Sie gar nicht… niemand kann das!«

»Ich schon!« Er war schon aufgesprungen und zahlte den herbeieilenden Kellner. »Sie werden sehen.« Hand in Hand liefen sie zum Auto zurück.

Frau Stoll stand an der Kasse und blickte auf, als die Ladentür geöffnet wurde. Alexander Kühnert hielt Marion fest bei der Hand und kam mit großen Schritten, die zögernde Marion hinter sich herziehend, auf sie zu.

Die Geschäftsinhaberin sah nur flüchtig auf das gerötete und verweinte Gesicht des jungen Mädchen; ihr Blick blieb an Alexander Kühnert hängen, und in Sekundenschnelle taxierte sie seinen Anzug als Maßarbeit und erkannte, daß sein grau und gelb dezent gestreiftes Hemd keine Konfektionsware war, sondern aus einer Hemdenschneiderei stammte. Noch bevor er den Mund aufmachte, hatte er Gnade vor ihren Augen gefunden.

»Guten Tag, gnädige Frau, ich bin gekommen, ein Mißverständnis aufzuklären. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten…«

»Selbstverständlich, Herr…«

Er reichte ihr seine Visitenkarte.

»Herr Kühnert, darf ich Sie in mein Büro bitten!«

Die Buchhalterin hob überrascht den Kopf, als Frau Stoll und ein fremder Herr, der Marion, den Lehrling, sozusagen im Schlepptau hinter sich herzog, eintraten.

»Lassen Sie uns allein«, bat Frau Stoll.

»Nicht nötig«, wehrte Alexander Kühnert ab, »was ich zu sagen habe, kann jeder hören. Marion Lenz ist meine Braut. Diese Tatsache war Ihnen unbekannt, gnädige Frau, ich weiß. Sonst wären Sie ja nie auf die Idee gekommen, Marion könnte fremdes Geld unterschlagen. Das hat sie weiß Gott nicht nötig.«

»Ja, aber…«

»Der Schein sprach gegen sie, ich weiß. Sie hat das Geld an sich genommen, um es abzugeben, hat es aber gleich darauf vollkommen vergessen. Sie litt unter dröhnenden Kopfschmerzen, wollte sich aber nicht beklagen.«

Frau Stoll blickte auf Alexander Kühnert und das Mädchen. »Warum haben Sie mir denn nichts davon gesagt, Marion? Daß Sie verlobt sind, meine ich?«

»Wir wollten es erst bekannt machen«, erklärte Alexander Kühnert an Marions Stelle, »wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig ist. Aus verständlichen Gründen.«

Frau Stoll knetete ihre rundlichen, flinken Finger. »Da kann ich nur sagen, daß ich… ziemlich überrascht bin!«

»Verständlich, gnädige Frau.« Alexander Kühnerts Lächeln fiel grimmiger aus, als er beabsichtigt hatte. »Damit, denke ich, ist die Sache erledigt. Es war, finde ich, etwas… unbedacht von Ihnen, ein unbescholtenes Mädchen wegen eines einzigen Fehlgriffs auf die Straße zu setzen – denn es war doch wohl das einzigemal, daß etwas vorgekommen ist, denke ich?« Er hatte diese Frage ohne Hintergedanken gestellt, aber auf einmal schien ihm diese Antwort unendlich wichtig.

»Doch«, gab Frau Stoll zu, »bisher gab es noch keine Klagen.«

»Na, sehen Sie. Sie brauchen sich also gar keine Sorgen zu machen. Erstens wird es in Zukunft nicht wieder vorkommen… du sagst es Frau Stoll, wenn dir nicht gut ist, Marion… und zweitens stehe ich voll und ganz hinter meiner Braut. Auch finanziell. Ich danke Ihnen, gnädige Frau.« Er verbeugte sich leicht. »Bis nachher Marion… wir treffen uns wie gehabt.«

Er dachte daran, daß es vielleicht angebracht wäre, sie zu küssen, unterließ es aber, weil er fürchtete, daß sie zurückzucken würde.

»Um halb acht«, stimmte Marion zu, lächelte immer noch nicht und wirkte sehr verwirrt.

Die Fabrik ›Kühnert & Co.‹ lag im Nordwesten Münchens zwischen der Dachauer Straße und dem Allacher Forst, zwei große Fabrikationshallen und ein Bürotrakt, der durch seine farbenfrohe Kunststoffverkleidung auffiel. Es handelte sich dabei um ein Material, von dem sich die Firma besonders viel versprach, weil es nicht nur säure- und wetterbeständig, sondern auch feuerfest war. Nur war es vorläufig in der Herstellung noch zu teuer, um in befriedigendem Maße Anwendung zu finden.

Alexander Kühnert stellte seinen Porsche auf dem Parkplatz ab, der ständig für ihn reserviert wurde, und fuhr mit dem Lift in das fünfte, das oberste Stockwerk des Bürohauses. Hier hatte er sein Büro, einen großen und großzügig eingerichteten Raum, von dessen Fenstern aus er das Werkgelände und die Auslieferung überblicken konnte.

Ursula Herrmann, seine Sekretärin, eine sehr gepflegte und sorgfältig zurechtgemachte junge Frau, erwartete ihn schon. Sie hatte eine gute Figur, auf die sie sehr achtete, braune Augen und kastanienbraun getöntes kurz geschnittenes Haar.

»Tag, Ursula«, grüßte Alexander Kühnert zerstreut, »tut mir leid, daß ich mich verspätet habe.«

»Das macht doch nichts, Herr Kühnert«, erklärte sie rasch, »ich habe Ihre Termine verschieben können.«

»Ja, wenn ich Sie nicht hätte! Sie sind die Tüchtigkeit in Person!«

Sie lächelte ihn dankbar an, und in ihren Augen lag mehr als die Ergebenheit einer verläßlichen Sekretärin.

»Übrigens… damit ich es Ihnen gleich sage…« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, »aus unserem Essen mit den amerikanischen Geschäftsfreunden heute abend kann leider nichts werden… das heißt doch! Sie müssen sich der Gentlemen allein annehmen… ich bin leider verhindert.«

Ursula Herrmann hatte auf ihrem harten Weg nach oben gelernt, sich zu beherrschen. Diesmal jedoch reagierte sie fassungslos; sie war es nicht gewohnt, daß der Chef seine Dispositionen so unvermittelt umwarf.

»Aber Herr Kühnert!« rief sie. »Dieses Zusammensein mit den amerikanischen Herren ist doch schon seit langem geplant! Sie können doch nicht einfach… ich kann mir nicht vorstellen, was es Wichtigeres geben –«

Ihr Chef unterbrach sie scharf. »Bedauerlich für Sie, daß Ihre Vorstellungskraft so begrenzt ist!«

Sie begriff sofort, daß sie einen falschen Ton angeschlagen hatte. »Entschuldigen Sie, bitte, Herr Kühnert, ich wollte natürlich nicht…«

»Schon gut, Frau Herrmann!« Wenn er sie so und nicht bei ihrem Vornamen nannte, bedeutete das, daß er auf Distanz zu gehen wünschte. »Ich verstehe durchaus, daß Ihnen mein Entschluß überraschend kommt, muß Sie aber bitten, ihn kommentarlos zur Kenntnis zu nehmen.«

»Selbstverständlich, Herr Kühnert!« Ursula Herrmanns sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht glich jetzt einer ausdruckslosen Maske.

»Ich nehme doch an, daß Sie eine attraktive Freundin haben…« Alexander Kühnert lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und musterte die Erscheinung seiner Sekretärin mit sachlicher Anerkennung. »Eine junge Dame, der es Spaß machen würde, zusammen mit Ihnen die Herren ein paar Stunden zu unterhalten. Gegen ein entsprechendes Honorar, versteht sich.«

»So auf Anhieb wüßte ich nicht…«

Für Sekunden kam Alexander Kühnert die Idee, Marion Lenz zu diesem Treffen mitzunehmen, das bei einem erlesenen Essen im Schwabinger ›Tantris‹ beginnen und in einem eleganten Nachtlokal enden sollte; er verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Sie war so jung, schien ihm so zart und zerbrechlich, daß er sie keinesfalls den Zweideutigkeiten einer von Männern bestimmten Unterhaltung aussetzen durfte.

»Denken Sie darüber nach«, sagte er freundlich, »es wird Ihnen bestimmt jemand einfallen.« Es tat ihm plötzlich leid, daß er sie hart angefaßt hatte, denn er war sich über ihre Qualitäten, ihre Tüchtigkeit und unbedingte Loyalität durchaus im klaren. »Im übrigen ist es gar nicht ausgeschlossen, daß ich später doch noch zu euch stoße… wir könnten den Kaffee dann bei mir zu Hause nehmen.«

Ursula Herrmann verzog keine Miene, aber in den Blick ihrer braunen Augen kam Wärme. »Das wäre schön, Herr Kühnert.«

»Na also«, stellte er befriedigt fest, »haben wir uns wieder geeinigt. Sie werden sehen, die Herren werden mich überhaupt nicht vermissen… wie könnten sie denn, wenn Ihre Freundin nur halb so charmant ist wie Sie!«

»Danke, Herr Kühnert.«

»Machen Sie sich und den Herren einen richtig tollen Abend, damit sie morgen, wenn es geschäftlich wird, in Stimmung sind.«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach Ursula Herrmann, »aber erwarten Sie bloß nicht, daß wir auf alle Wünsche der Herren eingehen.«

»Das, mein liebes Mädchen, hat auch niemand von Ihnen verlangt. Wie wär’s, wenn wir uns jetzt mal zur Abwechslung in die Arbeit stürzen würden?«

Für Marion Lenz wurde es ein seltsamer Tag. Es schien ihr sonderbar, daß sie wieder hinter dem Ladentisch stand, bediente, aufräumte, lächelte und sich bewegte, so als wäre nichts geschehen. Dabei war doch tatsächlich ihre Welt in Scherben zerbrochen, die, als sie sich schon verloren glaubte, von einer fremden, kraftvollen und geschickten Hand wieder zusammengefügt worden waren.

Die Situation wurde noch unwirklicher dadurch, daß Frau Stoll und auch die Verkäuferinnen nicht mehr wußten, was sie von ihr halten und wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollten. Aus einem gewöhnlichen Kleinstadtmädchen hatte sie sich innerhalb weniger Stunden erst als Diebin und dann als Verlobte eines reichen Mannes entpuppt. Es war schwierig geworden, in einem normalen Ton mit ihr zu sprechen, schwierig auch, sie nicht immer wieder von der Seite anzublicken, gereizt von dem Wunsch, ihr Geheimnis zu enträtseln.

Dabei ließ sich jedoch nur feststellen, daß sie äußerlich ganz wie immer war, ein junges Mädchen an der Grenze der Kindheit mit glattem blonden Haar und vom Schicksal noch ungeprägtem Gesicht, auf dem, und auch das war nichts Neues, oft ein verträumter, ja, geistesabwesender Ausdruck lag.

Die Frauen fragten sich, was dieser nicht übel aussehende Fabrikant wohl an ihr finden mochte. Da sie sie zum erstenmal nicht nur als Auszubildende und Arbeitskraft betrachteten, wurde ihnen bewußt, daß etwas in ihr steckte, das sie bisher vollkommen übersehen hatten, ein besonderer Reiz, der vielleicht von der ganz unbewußten Anmut ausging, mit der sie sich bewegte, oder von den hohen Jochbögen, die ihrem Gesicht Konturen gaben, oder dem klaren Blau ihrer leicht schräg gestellten Augen.

Als die letzte Kundin kurz nach sechs den Modesalon endlich verlassen hatte und die Tür zur Straße geschlossen wurde, versuchte Fräulein Anneli den Bann zu brechen, indem sie einen burschikosen Ton anschlug.

»Nun mal raus mit der Sprache, Marion!« drängte sie. »Wie hast du den tollen Typ kennengelernt?«

Marion zuckte mit den Schultern. »Einfach so.«

»Und seit wann geht ihr miteinander?«

»Hab’ mir das Datum nicht gemerkt.«

»Ach, laß sie doch«, sagte Renate, die andere Verkäuferin, »wenn es ihr Spaß macht, die Geheimnisvolle zu spielen. Ich habe schon immer gewußt, daß sie es faustdick hinter den Ohren hat.«

Marion war es unangenehm, daß die anderen sie für etwas hielten, was sie gar nicht war. Wie eine Hochstaplerin kam sie sich vor. Aber es gab, jedenfalls vorläufig noch nicht, keine Möglichkeit, das von Alexander Kühnert bewußt herbeigeführte Mißverständnis aufzuklären.

Wortlos beeilte sie sich, mit dem Aufräumen fertig zu werden. Ihre Arbeitszeit hätte eigentlich mit dem Moment des Ladenschlusses um sein sollen. Den Berufsschultag mit einbezogen durfte sie nur achtundvierzig Stunden in der Woche beschäftigt werden, viermal in der, Woche von neun bis sechs und am Samstag bis ein Uhr. Sie war sich ihrer Rechte voll bewußt, hatte aber niemals gewagt, sie durchzusetzen. Frau Stoll hätte sich mit tausend kleinen Schikanen dafür rächen können, und auch die beiden Verkäuferinnen würden es ihr bestimmt übel genommen haben, wenn sie sie mit der üblichen Unordnung allein gelassen hätte.

So war sie nur bemüht, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen; nie arbeitete sie flinker als in dieser Stunde nach Ladenschluß – und heute, da sie eine Verabredung hatte, womöglich noch flinker als sonst.

Auf die Idee, ihren Retter vergeblich warten zu lassen, kam sie gar nicht. Zwar wußte sie, daß es Ärger zu Hause geben würde, wenn sie nicht pünktlich war. Aber das war ihr egal. Dabei hatte sie keinerlei Interesse an ihrem Retter, nur ein echtes Bedürfnis, sich bei ihm zu bedanken.

Auch Alexander Kühnert beeilte sich, aber er mußte die verlorenen Stunden des Vormittags nachholen, und so kam es, daß er mit einer kleinen Verspätung vor dem ›Café Annast‹ parkte. Angst überfiel ihn, daß Marion schon gegangen oder vielleicht gar nicht gekommen sein könnte, und er fand sich selber lächerlich, daß er sich wegen eines kleinen Ladenmädchens aufregte. Außerdem wußte er ja, wo er sie, spätestens am nächsten Tag, finden konnte.

Trotzdem ging er mit großen Schritten auf das Café zu und, nach kurzem Rundblick, hindurch, und sein Herz wurde warm, als er sie entdeckte; sie saß auf demselben Stuhl unter der gleichen Kastanie wie am Morgen, nur daß es inzwischen, da die Sonne im Untergang begriffen war, abgekühlt hatte und zu dunkeln begann.

Marion fror. Sie hatte die Schultern hochgezogen und die Arme übereinander geschlagen, und ihre zarte Haut war sehr weiß.

»Warum sind Sie denn nicht hineingegangen?« fragte er.

»Sie sagten doch… wie gehabt.«

Er lachte. »Ich hätte Sie bestimmt auch drinnen gefunden. Kommen Sie, Marion!« Er reichte ihr die Hand.

Sie schlug nicht ein, sondern hüllte sich nur noch enger in ihre blaue Strickjacke. »Wohin?«

»Ich habe Hunger. Sie etwa nicht?«

»Herr…« Der fremde Name kam ihr nicht leicht über die Lippen. »Herr Kühnert, ich wollte Ihnen nur danke sagen. Ich kann nicht bleiben, und ich kann auch nicht mit Ihnen essen gehen. Ich muß nach Hause.«

»Warum? Ist etwas Besonderes los?«

»Nein. Aber meine Eltern warten auf mich.«

»Dann ist das doch höchst einfach. Sie rufen an.«

»Was soll ich denn sagen?«

»Daß Sie später kommen.«

Marion schüttelte den Kopf. »Sie kennen meinen Vater nicht.«

»Ist er so streng?«

»Noch strenger.«

»Ein Grund mehr, mit mir zu kommen. Es wird höchste Zeit, daß Ihnen jemand hilft, mit dem strengen Herrn Papa fertig zu werden.«

Marion hatte Hunger, und sie war mit ihrem Leben unzufrieden. Alexander Kühnert hatte sie aus einer schwierigen Situation gerettet. Wenn einer ihr helfen konnte, glaubte sie, mußte er es sein.

Sie reichte ihm die Hand und ließ sich hochziehen.

Alexander Kühnert hatte einen Tisch für zwei Personen in der ›Tiroler Stube‹ des feudalen Hotels ›Continental‹ reservieren lassen. Ausnahmsweise hatte er selber angerufen, anstatt seine Sekretärin zu beauftragen. Er ärgerte sich über seine eigene Geheimnistuerei, vermied es aber, sich über deren Grund Rechenschaft abzulegen.

Als sie durch die gläserne Schwingtür schritten, klammerte Marion sich an seinen Arm, als fürchtete sie, daß der reich betreßte Portier sie hinausweisen könnte. Sie ließ ihren Begleiter auch nicht los, als sie die elegante, mit wunderschönen Antiquitäten ausgestattete Halle durchschritten. Obwohl sie nicht ahnte, daß die reich geschnitzte Holztäfelung viele hundert Jahre alt war und aus einem bayrischen Schloß stammte, war sie beeindruckt.

Die ›Tiroler Stube‹ dagegen war für sie eine Enttäuschung, er sah es ihrem Gesicht an.

»Gefällt es Ihnen nicht?« fragte er.

Sie hob die schmalen Schultern und ließ sie fallen. »Es ist alles… so klein.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Und dunkel.«

»Eine echte Tiroler Stube«, erklärte er, »alles ist original so aufgebaut wie es in einem alten Tiroler Haus war. Sehen Sie doch nur mal den Kachelofen, die ausgetretene Schwelle… und wie niedrig die Tür ist.«

Aber sie ließ sich nicht begeistern. »Ja, eben«, sagte sie nur.

Er lachte.

»Was ist daran komisch?« fragte sie. »Jeder Mensch wünscht sich doch nur große Sachen… große Autos, ein großes Haus mit großen Räumen, einen großen Swimming-pool…«

»Das sind also Ihre Wunschträume, Marion?«

»Alle wünschen sich das«, behauptete sie, »bloß können es sich die wenigsten leisten. Deshalb verstehe ich es nicht, wenn reiche Leute…« Sie ließ einen Blick über die anderen Gäste gleiten und fragte mit gedämpfter Stimme: »Das sind doch sicher hier alles reiche Leute?«

»Kann schon sein.«

»Also wenn die sich in so eine Hucke verkriechen.«

»Es ist gemütlich.«

»Gemütlich, pah! Gemütlich ist es auch in der Küche bei uns zu Hause!«

Er gab es auf, sie zu belehren. »Das nächstemal gehen wir woanders hin«, versprach er.

Sie sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht, daß ich noch mal mit Ihnen ausgehen kann.«

»Ja, ja, ich weiß, Ihr Vater. Darüber sprechen wir später. Jetzt suchen Sie sich erst mal was zu essen aus.«

Er machte ihr verschiedene Vorschläge, die sie aber alle nicht zu befriedigen schienen, und schließlich reichte er ihr die Speisekarte, die sie lange studierte.

»Das da!« sagte sie endlich und zeigte mit dem Finger auf das, was sie wollte.

»Das Dinner?«

»Ja.«

Das Dinner bestand aus vier Gängen. Er war überrascht, denn er hatte angenommen, sie hätte sich, zart wie sie war, eine Kleinigkeit ausgesucht.

»Oder ist das unverschämt?« fragte sie sofort.

»Nein, gar nicht. Zuerst den Crevettencocktail?«

»Ja. Dann die Kraftbrühe mit Eierstich.«

»Fisch oder Fleisch?«

Marion zögerte. »Kann ich nicht beides haben?«

Beinahe hätte er wieder gelacht, aber er blieb ernst, um sie nicht zu verletzen. »Aber ja. Also Salm und Kalbsnüßchen und zum Abschluß Maroneneis oder Zwetschgenknödel? Oder vielleicht auch beides?«

»Ich muß erst mal sehen, wie hungrig ich dann noch bin.«

»Gute Idee.« Er bestellte bei Frau Paula, der Geschäftsführerin, das Dinner für Marion und für sich ein Steak mit Salat. »Und zu trinken«, sagte er und fügte, als er sah, daß Marion den Mund öffnen wollte, rasch hinzu: »Nein, nein, keine Cola, das verdirbt den Geschmack… sagen wir einen Müller-Thurgau.«