Nightfall - Jerome Oster - E-Book

Nightfall E-Book

Jerome Oster

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Beschreibung

Chip Doyles Landung ist hart, und auch die 10.000 Dollar in seiner Hosentasche dämpfen den Aufprall nicht. Als Todesursache wird der freie Fall aus einem Hochhaus-Apartment diagnostiziert. Dennoch interessiert sich nicht die New Yorker Polizei für diesen Unfall, sondern zunächst nur der Starkolumnist Tom Gillette. Ein längst verdrängter Vergewaltigungs-Prozess und die infame Haltung der Medien lassen ihn zum Privatdetektiv wider Willen werden, denn der tote Softwareunternehmer Doyle hatte eine alles andere als weiße Weste und frönte schon zu College-Zeiten sexuellen Obsessionen. So muss Gillette im Laufe seiner Ermittlungen erkennen, dass der Grat zwischen Schuld und Sühne weitaus schmaler ist als geahnt.

Zweifelsohne finden sowohl die Anhänger reiner Krimi-Action als auch die auf intellektuelle Tiefe bedachten Leser in Jerry Osters Romanen eine faszinierende Lektüre. Komplexität und stilistische Raffinesse machen den Reiz von »Sturz ins Dunkel« aus, und Jerry Oster setzt wieder einmal die zersplitterten Elemente des Großstadtlebens zu einem raffiniert komponierten Sittengemälde zusammen.

»In Jerry Osters grotesken Kriminalromanen ist New York ein Alptraum mit Klimaanlage.«
Männer Vogue

»Rasant, absolut überzeugend und nichts für Sensibelchen.«
Gisbert Haefs

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Seitenzahl: 297

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Nightfall

NYC Novels #7

Jerome Oster

Übersetzt vonRobert Brack und Jürgen Bürger

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Erste eBook-Ausgabe 2021

Titel der amerikanischen Originalausgabe NIGHTFALL, 1997

Copyright © 1997, 2021 by Jerome Oster

Copyright der deutschen Übersetzung © 1998, 2021 by Robert Brack u. Jürgen Bürger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 978-3-945684-24-5

eBook v1.0, September 2021

Copyright © dieser Ausgabe 2021 bei spraybooks Verlag, Köln

Redaktion: Doris Engelke

Korrektorat: Ute Lüers

spraybooks Verlag Bielfeldt und Bürger GbR, Remigiusstr. 20, 50999 Köln

www.spraybooks.com

Kapitel 1

Newton hatte unrecht.

Oder wer auch immer gesagt hat, dass …

Was hat er gesagt?

Wer auch immer gesagt hat, dass zwei Dinge, die man von einem Gebäude hinunterwirft – eine Feder oder einen Fernsehapparat –, dass die beide gleichzeitig unten ankommen.

Nein. Warte mal. Galileo hatte unrecht.

Nicht Newton. Galileo.

Newton war der Typ, dem der Apfel auf den Kopf fiel und der dann »Heureka!« geschrien hat. Galileo war der Typ, der zwei Dinge gleichzeitig von einem Gebäude geworfen hat – eine Feder oder einen Ball oder ein Buch oder so, damals gab’s ja noch keine Fernsehapparate – und sie sind beide gleichzeitig unten angekommen.

Oder sie wären gleichzeitig angekommen, wenn es keine Reibung gäbe.

Nein. Warte mal. Nicht Newton hat »Heureka!« geschrien, sondern Archimedes. Archimedes hat »Heureka!« geschrien, als er in die Badewanne gestiegen ist und das Wasser überschwappte. Er schrie: »Ich hab’s!«, und seine Frau hat wahrscheinlich gesagt: »Genau das, Archie«, und ihm einen Putzlappen in die Hand gedrückt.

Gar nicht so einfach, diese Typen auseinanderzuhalten.

Als Newton vom Apfel getroffen wurde, hat er wahrscheinlich auch irgendwas geschrien. Wahrscheinlich »Autsch!« oder »Scheiße!« oder »Was zum Teufel …?« oder wie auch immer man damals im guten alten England geredet hat.

England?

Na klar, England …

Zweiunddreißig Fuß pro Sekunde pro Sekunde, richtig? So schnell fällt ein Gegenstand, wenn man ihn von einem Gebäude runterwirft – eine Feder, ein Fernsehapparat, ein Apfel, was auch immer, stimmt’s? In einem Vakuum. Ohne Reibung. Theoretisch. Also hatte Newton oder Archimedes oder Galileo oder wer auch immer gar nicht unrecht, denn er hat ja nur eine Hypothese aufgestellt.

Der Schiefe Turm von Pisa? Das Gebäude, von dem Galileo oder wer auch immer die Feder oder was auch immer runtergeworfen hat? Oder war es das Kolosseum? Das Kolosseum in Rom, nicht das drüben an der 59th Street. Gibt’s das eigentlich noch? Oder haben sie es abgerissen?

Oder war das Leonardo da Vinci? Und war es ein Turm in Vinci gewesen? Der schiefe Turm da Vinci. Der schiefe Nardo da Vinci.

Gar nicht so einfach, sie auseinanderzuhalten.

Gar nicht so einfach, den Turm gerade zu halten. Gar nicht so einfach, die Typen auseinanderzuhalten. Gar nicht so einfach, sich selbst gerade zu halten, aber das ist eine andere Geschichte. Eine lange Geschichte. Zweiunddreißig Fuß lang. Länger.

Zweiunddreißig Fuß pro Sekunde pro Sekunde.

Zweiunddreißig? Oder vierundzwanzig?

Vierundzwanzig Fuß pro Sekunde pro Sekunde? Klingt das richtig? Klingt eher falsch.

Zweiunddreißig Fuß pro Sekunde pro Sekunde. Vierundzwanzig Fuß pro Sekunde pro Sekunde.

Klingt beides richtig.

Tomate.

Tomahte.

Klingt beides richtig.

Zweiunddreißig Fuß pro Sekunde pro Sekunde.

Vierundzwanzig Fuß pro Sekunde pro Sekunde.

Klingt beides richtig.

Nein. Moment mal.

Vierundzwanzig Fuß pro Sekunde pro Sekunde, so schnell läuft eine Filmkamera, es gibt nämlich dieses Buch, das heißt 24 mal in der Sekunde oder 24 Bilder in der Sekunde oder so, und darin geht’s um Film.

Nicht vierundzwanzig Fuß pro Sekunde pro Sekunde, sondern vierundzwanzig Bilder pro Sekunde. So schnell läuft eine Filmkamera.

Zweiunddreißig Fuß pro Sekunde pro Sekunde fällt etwas, wenn man es von einem Gebäude herunterwirft.

Oder wenn es runterspringt.

Also hatte weder Newton noch Archimedes noch Galileo oder wer auch immer unrecht, denn wenn jemand von einem Gebäude springt und gleichzeitig einer eine Fahne runterwirft, dann fällt die Fahne mit ihm zusammen und der Typ wird gleichzeitig mit ihr unten ankommen, theoretisch betrachtet, im luftleeren Raum, denn in Realität, in der Wirklichkeit, wird der Typ zuerst unten aufknallen, weil er nämlich schwerer ist als die Fahne, und deshalb …

Warte mal eben.

Würde der Typ nicht auf mehr Luftwiderstand treffen und die Fahne auf weniger? Würde der Typ nicht viel mehr, du weißt schon, Luftwiderstand verursachen, würde er dann nicht langsamer fallen als die Fahne?

Würde er.

Oder doch nicht?

Warum ist der Typ dann zuerst unten angekommen, während die Fahne noch herumgeflattert ist?

Scheiße.

Ist gar nicht so einfach, diese Sachen auseinanderzuhalten.

Der Wind. Man muss den Wind mit einbeziehen.

Und die Luftströmungen.

Und warum sollte irgendjemand eine Fahne von einem Gebäude werfen?

Das muss man auch mit einbeziehen.

Der diensthabende Captain vom Neunten kam von der Revierwache herüber, um nachzusehen, ob der Tatort abgesperrt war. Bald würden die Jogger unterwegs sein und die Leute mit ihren Hunden. Dann die Pendler, die Schulkinder, die Au-pairs und die Kindermädchen. Wer will schon mit den Schuhen eines Toten, der einen Louganis gemacht hat, Fußball spielen oder mit seinem Hirn oder seiner Scheißs oder dass Kinder auf einem Tatort rumrennen.

Der diensthabende Captain hob eine Ecke der Plane hoch, mit der die Besatzung des Streifenwagens die Leiche abgedeckt hatte. »Kennen Sie seinen Namen?«

»Ja, Sir, einen Moment«, sagte der Uniformierte und blätterte in seinem Notizbuch. »Charles –«

»Heben Sie sich das für die Kollegen von der Bereitschaft auf«, unterbrach der Diensthabende. »Hat er hier gewohnt?«

»Er war zu Besuch«, antwortete der Uniformierte. »Ein Mieter namens –«

»Ist das Dach in Ordnung?«, fragte der Captain.

»Ja, Sir. Aber es sieht nicht so aus, als sei er vom Dach gesprungen, Sir. Beziehungsweise gefallen. Es sieht eher so aus, als ob –«

»Lassen Sie lieber die Kollegen von der Bereitschaft entscheiden, von wo er seinen Louganis gemacht hat«, sagte der Diensthabende. »Was ist denn das?« Der Captain deutete mit den blankgeputzten Spitzen seiner Dienstschuhe auf etwas.

»Eine Gardine, Sir. Oder ein Vorhang. Ich weiß nicht genau, wie man es nennt. Sieht so aus, als hätte er es mit sich gezogen, als er gesprungen ist – oder gefallen. So wie’s aussieht, hat er danach gegriffen und es abgerissen.«

»Ja, gut, wir überlassen es besser den Kollegen von der Bereitschaft zu entscheiden, was damit passiert ist. Irgendwelche Zeugen?«

»Nur einer, Sir. Bis jetzt. Ein Obdachloser. Er haust dort im Portal der Kirche – Sie wissen ja, wie das ist. Dort unter diesem Rundbogen oder wie das heißt.«

»Und er hat gesehen, wie der Typ seinen Louganis gemacht hat?«

»Er hat ihn fallen sehen, Sir. Er ist sehr betrunken.«

»Na ja, dann machen Sie ihn halt nüchtern.«

»Ja, Sir … Und dann überlasse ich ihn den Kollegen der Bereitschaft?«

»Was meinen Sie?«

»Nachdem ich ihn ausgenüchtert habe, soll ich ihn dann den Kollegen von der Bereitschaft übergeben, Sir?«

»… Ja. Ja, tun Sie das bitte.«

»Ja, Sir.«

Kapitel 2

Ein Tag im Juni: blauer Himmel, Quellwolken, ein laues Lüftchen – all das.

Gillette trat aus seiner Haustür und, was Wunder, dort kam ein Taxi, ein richtiges Checker-Taxi mit jeder Menge Raum für die Beine, eins von denen, die es kaum noch gibt, und es hielt vor dem Reihenhaus auf der anderen Straßenseite, um Fahrgäste aussteigen zu lassen. Als wollte ihm seine gute alte Fee mal was Gutes tun. Der Fahrer sah sogar aus, als könnte Englisch seine Muttersprache sein, vielleicht sogar die einzige Sprache, die er beherrschte.

Gillette rannte über die Straße und öffnete die Wagentür für eine große dünne Frau mit einem Bürstenhaarschnitt, die ein weißes kurzes Lederkleid mit Strass besetzten Trägern trug. Ihre Beine waren so lang, dass es fünfzehn oder zwanzig Minuten dauerte, bis sie sie vom Rücksitz weg und auf den Bürgersteig rauf bekommen hatte, aber Gillette hatte es ja nicht eilig, er hatte nicht vor, demnächst tot umzufallen, also erfreute er sich an seiner neuen Rolle als Assistent der Königin der Nacht. Tausend Jahre im Zeitungsgeschäft waren längst genug.

»Morgen«, sagte Gillette.

»Guten Morgen«, antwortete die Frau mit einem Hauch von Akzent, nur ein bisschen, un poquito vielleicht, er konnte es nicht genau sagen.

»Hübsches Kleid«, fügte Gillette hinzu.

Die Frau schenkte ihm ein Lächeln, das zu gleichen Teilen aus Kokain und Ratlosigkeit bestand, und küsste ihn auf die Wange. Sie musste sich dafür leicht herabbeugen, obwohl Gillette nicht gerade ein Winzling ist. Ihre Lippen fühlten sich an wie kühle glatte Steine. Nur allzu gern hätte er gefragt, ob er ihr mal über den Kopf streichen dürfte.

So ein Tag war das: Wenn es so anfing, wenn man so richtig in diesem Tag aufgehen konnte – dann waren einfach alle froh, am Leben zu sein.

Die Ampeln waren noch auf Nachtrhythmus geschaltet, und das Taxi brauste seinem Ziel entgegen. Hinten, von dem großen breiten Rücksitz aus zu den großen breiten Fenstern herauszublicken, war ungefähr so, als würde man den normalen Verkehrsfluss Richtung Norden in Zeitraffer erleben. Der Fahrer war tatsächlich ein Einheimischer; Brille mit Goldrand, intelligentes Gesicht, sah aus wie ein typischer noch nicht publizierter Romanautor, der fleißig auf seinem Computer hackte, bis er eines Tages den großen Durchbruch erlebt. Das Beste an ihm – wirklich das Beste – war, dass er nicht versuchte, ihm seine tragische Lebensgeschichte zu erzählen.

Gillette saß um sieben an seinem Schreibtisch, sogar noch früher als sonst, wenn er Redaktionsschluss für seine Kolumne hatte und nicht wusste, worüber er schreiben sollte. Gegen zehn hatte er sämtliche Zeitungen gelesen, sechs Tassen Kaffee getrunken und immer noch kein Thema gefunden. Kein Problem, keine Panik, nichts Neues. Früher, als er noch geraucht hatte, hätte er jetzt schon seine dritte Packung Luckies aufgebraucht. Fünf Jahre, drei Monate, zwei Wochen, aber wen interessierte das noch?

Gillette machte einen Abstecher in die Regionalredaktion, tauschte Klatsch mit den Reportern aus, die nach und nach eintrudelten. Die meisten waren noch recht jung, glücklich, dabei sein zu dürfen, bereit, alle anfallenden Arbeiten zu erledigen, Reporter, die einsprangen, Löcher stopften, im letzten Moment überall dahin rannten, wo sie gebraucht wurden. Ersatzspieler. Die Starreporter, die Leute, die an den heißen Themen dran waren und Gillette gern mal ein paar Tipps gaben oder ihm sogar was schuldeten, waren noch unterwegs, um ihre Quellen zu pflegen, Spuren zu finden, Räusche auszuschlafen. Sie würden am frühen Nachmittag antanzen.

Gillette ging zurück in die Feature-Abteilung und wagte einen kurzen Abstecher in die Bildredaktion; vorbei an der Fotografen-Clique, die ihm mit kurzsichtigen Augen zublinzelten, weil sie nur durch die Kameralinsen hindurch sicher waren, dass sie wirklich sahen, was sie sahen; vorbei an den Schreibtischen der Headline-Schreiber, alles Genies, die in wenigen Worten ganze Geschichten erzählen konnten, was die Fotos, trotz des Klischees, jedes von ihnen sei so gut wie tausend Worte, allein selten schafften; vorbei an den Dunkelkammern mit ihren rosafarbenen Warnlichtern, den Laborassistenten, die so blass waren wie Höhlenmenschen, Schürzen und Handschuhe aus Gummi trugen und nach Entwicklerflüssigkeiten und Fixierlösungen stanken. Gillette hielt seine Hände eng am Körper, damit ihn niemand dafür verantwortlich machen konnte, wenn ein Stückchen Film ruiniert wurde, auf dem womöglich das nächste pulitzerpreisgekrönte Foto gewesen war.

Gillette musste die Luft anhalten, um sich zu seinem Schreibtisch in dem Eckchen zwischen den Filmkritikern und den Nachrufschreibern hindurchzuzwängen. Die Redaktion der Sonntagsausgabe wurde gerade frisch gestrichen, deshalb drückten sich die dortigen Redakteure nun eine Woche lang in der Feature-Redaktion herum. Auf dem Arbeitstisch des Layouters der Sonntagsausgabe lag der Entwurf für die Modestrecke der nächsten Woche: eine Blondine mit Bubikopf lief in einem schwarzen Kleid barfuß am Strand entlang, den Arm um eine ebenfalls barfüßige Brünette mit wilden Locken gelegt, die das gleiche Kleid in Weiß trug. Nicht das genau gleiche Kleid: Die Träger waren dünner und der Ausschnitt hatte die Form eines Herzchens, nicht den eines Spatens.

»Macht dich das an?«, rief Janet Lane, die Feature-Redakteurin aus ihrem Büro. Sie arbeitete an einem Stehpult, das zur Tür gerichtet war, damit sie ihre Mitarbeiter im Blick hatte und solche Schnüffler wie Gillette. Als eine der letzten unbekehrten Raucherinnen hatte sie eine filterlose Camel im Mund und musste noch nicht mal wegen des Rauchs blinzeln, so sehr war sie daran gewöhnt. »Was die beiden Mädels da treiben?«

»Frauen haben diesbezüglich keine Ahnung von Männern, Lois.« Viele Schlaumeier versuchten, sie so zu nennen, aber Gillette war der erste gewesen, und nur er konnte es sich leisten. Er lehnte sich gegen ihren Türrahmen. »Oder vielleicht haben sie doch eine Ahnung, aber sie können’s nicht zugeben, denn es wäre ziemlich schwierig, damit klarzukommen, wenn’s so wäre.«

»Junge, Junge. Das wird ja mal wieder tiefschürfend.« Lane zündete sich eine neue Zigarette an der alten Kippe an, ohne einen Zug auszulassen.

»Männer hassen Frauen«, meinte Gillette. »Und der Grund für diesen Hass sind solche Anzeigen und Filme und Fernsehen und MTV und Modebeilagen und Wäschekataloge …«

»Lass mich mal überlegen«, sagte Lane, zog an ihrer Zigarette und legte einen Finger neckisch auf ihre Wange, »hast du vielleicht irgendwas vergessen?« Ein noch nicht so altes Facelifting, das ihr ein Dick-Tracy-ähnliches Aussehen verliehen hatte, ging schon wieder aus dem Leim. Sie sah aus wie eine Puppe aus einem Wachsfigurenkabinett an einem heißen Tag bei defekter Klimaanlage.

»Sie alle zeigen Frauen«, fuhr Gillette fort, »die außergewöhnlich willig sind.«

»Willig?«

»Willig.«

»Was zu tun?«

»Einfach alles, überall, jederzeit, in verschiedensten Kleidern, oder ganz ohne.«

»Wogegen echte Frauen …«

»Etwas weniger willig sind. Bedeutend weniger. Sie sind in gewissen Grenzen willig, wägen ab, wollen, dass niemand verletzt wird oder erniedrigt.«

»Deiner Erfahrung nach«, stellte Lane fest.

»Meiner Erfahrung nach«, stimmte Gillette zu. »Dass es da so ein … Missverhältnis gibt … macht die Männer sehr, sehr wütend.«

Damit richtete er sich auf und trat zurück. »Weitermachen, Gefreiter. Wir sehen uns dann im Schützengraben.«

»Darf ich dich noch was fragen, Tom?«, rief Lane ihm nach. Sie hatte jetzt wieder ihre Zigarette im Mund, und die Asche schaukelte bedenklich.

Gillette drehte sich um, die Hände in den Hosentaschen, mit hochgezogenen Augenbrauen, abwartend, obwohl er die Frage schon kannte.

»Da ich nun mal hier arbeite, schnappe ich immer eine Menge Klatsch auf. Ich hab gehört, du würdest jeden Dienstag morgen im Layout der Sonntagsredaktion auftauchen, stets pünktlich, wie die Schwalben von Capistrano, als …«

»Wie die Stiere in Pamplona?«, half Gillette aus.

Lane warf ihm einen strafenden Blick zu. »… als wolltest du die neuesten Modetendenzen studieren.«

»Und jetzt willst du wissen, warum?«

»Ja. Warum?«

Gillette zuckte die Achseln. »Ich trag auch gern mal was anderes.«

Janet Lane legte den Kopf zurück und lachte. Die Asche ihrer Zigarette fiel herunter und landete auf ihrem Revers wie der Schnee von gestern.

Gillette telefonierte eine Weile herum, aber seine üblichen Informanten waren entweder nicht erreichbar oder hatten nichts anzubieten, also machte er sich noch mal auf den Weg und schaute in der Sportredaktion vorbei, wo er die AP-Nachrichten der Nacht von der Tour de France durchlas.

Die Namen, ausländische Namen – die Amerikaner schnitten in diesem Jahr ziemlich schlecht ab – bedeuteten ihm nichts. Aber diese Ansammlung von Durchhaltevermögen und Leistung fesselte ihn wie immer. Sie fuhren jetzt die Alpe d’Huez hinauf, auf jeden Fall ein tolles Wort, auch wenn Gillette nicht sicher war, wie man es aussprach.

Du sagst Dwi-eh.

Und ich sage Dwi-es

Du sagst Eu-eh

Und ich sage Eu-es.

Kommt nur darauf an …

»Interessieren Sie sich für Fahrradrennen?« Ryan O’Sullivan, ein Volontär aus der Nachrichtenredaktion, setzte eine neue Papierrolle in eine Telexmaschine ein und reckte den Kopf, um zu sehen, was Gillette da las. »Tun nicht viele Amerikaner. Ich trainiere immer Samstag morgens im Park.«

»Ich fahre Rad, um mich fit zu halten«, entgegnete Gillette und zog den Bauch ein, um ein bisschen durchtrainierter zu wirken. »Zwanzig Meilen, sechzehn bis achtzehn Meilen pro Stunde, je nach Wind und Gelände.«

»Achtzehn Meilen pro Stunde ist wirklich nicht schlecht«, begann Ryan großzügig. Dann fügte er hinzu: »Ganz allein, bei Gegenwind.« Sollte heißen: Du lahmer Sack.

Gillette lächelte. »Ganz allein, bei Gegenwind die Sixth Avenue zu überqueren, das ist wirklich nicht schlecht.«

Der junge Mann wurde rot. »Ich meinte nur –«

»Ich weiß, was Sie gemeint haben«, sagte Gillette. »Wir sollten mal zusammen fahren am Wochenende. Normalerweise trainiere ich allein, aber es würde mir gefallen, mal mit jemanden zusammen zu fahren; dann bin ich bestimmt schneller.«

»Was haben Sie für ein Rad?«, fragte Ryan.

»Ein Trek. Und Sie?«

»Ein Masi.«

Gillette zuckte zusammen. »Vielleicht komm ich nur vorbei und schaue Ihnen zu. Ich will Sie ja nicht ausbremsen. Am Samstag um wieviel Uhr?«

»Ziemlich früh. Sechs Uhr dreißig.«

»Hmm. Ziemlich früh.«

Ryan O’Sullivan glättete das Papier, ließ die Halterung einrasten und klappte die Maschine zu. Dann blickte er Gillette an, offenbar in Plauderstimmung: »Mister Gillette?«

»Ja, Ryan?«

»Ich wollte nur sagen, dass ich es, äh, toll fand, was Sie neulich geschrieben haben.«

Er konnte eigentlich nur den kürzlich heiß diskutierten Artikel über einen erfolgreichen Mann in den mittleren Jahren meinen, einen Junggesellen, einen heimlichen Schwulen, der so viel Angst vor seiner eigenen Homosexualität hatte, dass seine einzigen schwulen Erlebnisse in seiner Phantasie stattfanden.

Da er befürchtete, dass er eine Lungenentzündung haben könnte, war der Mann – Gillette hatte ihm das Pseudonym Gavin Byrne gegeben, ein ziemlich abgehobenes Wortspiel mit seinem wirklichen Namen, das niemand verstanden hätte, selbst wenn Gillette eine Erklärung versucht hätte – in die Notaufnahme eines Krankenhauses gegangen, wo man ihn, abgesehen von anderen Dingen und ganz routiniert, nach seiner sexuellen Orientierung fragte. Er bekannte, was er noch niemals einem anderen gegenüber zugegeben hatte, nämlich dass er homosexuell sei, und wurde zum AIDS-Test geschickt. Er war HIV-negativ und hatte nur eine schwere Erkältung.

Nachdem er wieder ganz gesund war, ging Gavin Byrne zum ersten Mal in seinem Leben in Schwulenbars. Er war immer noch ängstlich – aus gutem Grund, natürlich –, er könnte seine Jungfräulichkeit verlieren, indem er sich oralem oder analem Sex hingab, und hatte sich vorgenommen, möglichen Bekanntschaften zu erzählen, er sei wegen AIDS untersucht worden und hätte sich deshalb das Zölibat auferlegt. Gavin Byrnes Psychoanalytiker, Gillettes Informant, hatte ihm erzählt, dass sein Patient »die letzte Jungfrau und der einzige Nutznießer von AIDS« sei.

Und hier stand nun also der junge Ryan O’Sullivan und versuchte Gillette durch die Blume mitzuteilen, dass er schwul war, und sich fragte, ob Gillette es vielleicht auch war, wo er doch so einen Artikel geschrieben hatte, und was er nun tun sollte, wenn er es war, wenn sie beide es waren. Damals in der Steinzeit, als Gillette zur Zeitung gekommen war, war das alles nicht so kompliziert gewesen. Alle Frauen, die es sich leisten konnten, und einige, die es sich nicht leisten konnten, trugen Miniröcke und Minikleider, und alle Männer (mit dicken Bäuchen) verbrachten den größten Teil ihrer Freizeit damit, sich in eine Position zu manövrieren, um unter diese Röcke und Kleider spähen zu können. Männer und Frauen hatten zugestimmt, ganz gleich, ob sie dieser Ansicht waren oder nicht, dass der stellvertretende Chefredakteur des Lokalteils, der einen Artikel über die allererste Schwulenparade brachte, die Marschierenden als »eine Horde von Schwuchteln« bezeichnete.

Die Lautsprecheranlage knisterte, und der Angestellte in der Zentrale gab Gillettes Namen durch. Ein Anruf sei für ihn gekommen.

»Freut mich, dass Sie den Artikel mochten, Ryan«, sagte Gillette. »Viel Spaß beim Trainieren. Bis bald mal wieder.«

»Bis bald«, antwortete Ryan.

Gillette rief in der Zentrale an. Es war ein Anruf aus dem Haus, und er bestand nur aus einer Nachricht: Don Reynolds, der Herausgeber, verlangte nach ihm.

Gillette ging wieder los, durchquerte die Bücherei und die Nachrichtenzentrale, kürzte den Weg durch das Finanzressort ab und erreichte Reynolds Büro, das sich exakt in der Mitte des Geschehens befand.

»Hallo, Kumpel.«

Sally Holt bremste ihn aus, indem sie den Stuhl in den Gang rollte und einen Fuß auf den gegenüberstehenden Tisch legte. Die Bewegung entblößte ihr Bein bis zur Mitte des Oberschenkels. Es war ein kräftiges Bein, wohlgeformt, ein bisschen kurz vielleicht, aber gut proportioniert.

»Hallo, Sal.«

Holt nahm die schildpattverzierte Brille ab. In der Hand hielt sie jede Menge Agenturmeldungen, ihr Schreibtisch befand sich irgendwo unter einem Berg von Jahrbüchern, Vierteljahresschriften, J. Crew- und Tweeds-Katalogen, einem Squash-Schläger, einem American-Heritage-Wörterbuch, das auf der Seite mit Bummelstreik / Bunsenbrenner / Burggraf geöffnet war.

Ihr Versuch, sich ihm in den Weg zu legen, hatte ihre Bluse in Mitleidenschaft gezogen, und jetzt konnte er sehen, dass ihr BH ein aufwendiges Blumenmuster hatte.

Sie bemerkte, dass Gillette ihr in den Ausschnitt starrte, und schloss den Kragen der Bluse. »Das dürfte als Anreiz wohl genügen. Falls du größeres Interesse hast, können wir jederzeit eine Privatvorführung vereinbaren.«

»Schöne Frisur«, sagte Gillette.

Ihre vor einer Woche noch schulterlangen Haare waren jetzt kurzgeschnitten und sahen flott aus, wie der ganze Rest. Er mochte das, aber er wollte lieber über etwas reden, das ihn von dem ablenken würde, was er gerade gesehen hatte – die grellroten Kratzspuren auf Sally Holts Brust.

Sie versuchte, sich übers Haar zu streichen, brauchte aber ihre Hand gerade für etwas anderes. »Danke«, war alles, was ihr einfiel. Sie war aus dem Konzept gebracht, verwirrt, lahm, stumm.

Gillette beugte sich nach vorn, um im Wörterbuch zu lesen. Ein Burggraf war 1. der von außen ernannte Befehlshaber einer Stadt oder einer Burg, 2. der durch Erbe legitimierte Herrscher über eine Stadt und ihre Umgebung.

»Trägst du Strümpfe?« Gillette hatte sich wieder aufgerichtet. »Oder ist das eine Strumpfhose?«

Holt errötete, sie war in ihre eigene Falle getappt. Sie nahm das Bein herunter und rollte ihren Stuhl zurück zum Schreibtisch, plötzlich ganz sittsam geworden. »Strümpfe«, sagte sie argwöhnisch, aber wahrheitsgemäß. Immerhin gehörte sie zur Wirtschaftsredaktion.

»Trägst du Strapse?«

»… die halten ohne Strapse«, antwortete sie so gelassen wie möglich.

»Und was für eine Farbe ist das?«

Holt kicherte nervös. »Mein Gott, Tom. Manchmal kannst du einen ganz schön durcheinanderbringen.«

»Nein, wirklich. Das interessiert mich.«

Sie schob die Brille zurück auf die Nase und hob den Rocksaum an. Nur ein Stückchen, mehr nicht. »Ich nenne es grau. Die Hersteller nennen es wahrscheinlich Zinn oder irgend so ein Blödsinn.«

»Donner«, meinte Gillette. »Ich habe mal einen Katalog gesehen, darin wurde eine Farbe ›Donner‹ genannt. ›Donner‹ und ›Venus‹. Und ›Urlaubsbräune‹.«

»Wieso interessiert dich so was?«, fragte Holt.

»Ich … schreibe ein Buch.«

»Uber was? Strümpfe?«

»Über das Leben allgemein, und Strümpfe sind ein Teil des Lebens.«

»Du machst mir Angst«, sagte Holt. »Du machst mir wirklich Angst.«

Gillette trat den Rückzug an. »Entschuldige bitte, Sally. Ich bin ausgerufen worden.«

Holt knallte die Agenturmeldungen auf den Schreibtisch und einige Papierberge gerieten ins Rutschen. Sie ignorierte sie. »Ich hab bald die Schnauze voll. Und jetzt frag bloß nicht wovon denn? Dir hinterherzulaufen, das meine ich. Hast du wirklich keine Lust, mit mir auszugehen, Tom?«

Gillette unterdrückte den Drang, einen Scherz darüber zu machen, dass sie ihn Tom genannt hatte.

»Hast du?«

»Ich ruf dich an«, sagte er, salutierte im Stil von Fred Astaire und steppte so flink davon, dass die Funken stoben.

Kapitel 3

Aretha Stubbs, Don Reynolds’ Sekretärin, winkte Gillette zu, als er an ihrem Schreibtisch vorbeikam, ziemlich hastig, weil er immer noch auf der Flucht vor dem Wirtschaftsressort war und direkt auf die große Eichentür zuhielt, auf deren Messingschild groß HERAUSGEBER stand.

»Warte einen Moment, bitte, Tom. Ja? Er ist in einer Konferenz.«

»Weißt du …« Gillette setzte sich auf den robusten alten Holzstuhl neben ihrem Schreibtisch, nachdem er ihre riesige Umhängetasche auf die Eingangsablage gelegt hatte, um Platz zu schaffen. »Keiner der Herausgeber, für die ich gearbeitet …«

»Ach, Tom, bitte. Nicht so eine Langweiliger-alter-Furz-Story.« Stubbs wedelte mit der Hand vor der Nase, als wollte sie einen unangenehmen Geruch verscheuchen. »Es ist viel zu früh und der Tag ist viel zu schön. Wir haben fast schon Sommer. Mein Gott, ich liebe diese Jahreszeit.«

Gillette legte eine Hand auf seine Brust. Zum zweiten Mal an diesem Morgen, zum zweiten Mal in wenigen Minuten, obwohl es das erste Mal nur eine Andeutung gewesen war. »Alter Furz? Ich bin getroffen. Zerschmettert. Wirklich.«

»Gar nicht nötig. Tut mir leid. Es ist nicht wegen dir, es ist« – Stubbs schwenkte einen Daumen Richtung Reynolds’ Tür – »Seine Exzellenz. So ein junger Kerl, und das einzige, wovon er redet, sind die alten Zeiten und wie es damals war. Dies ist eine Zeitung, zum Teufel. Dies ist die Hauptstadt des Universums. Er sollte sich um das kümmern, was gerade geschieht, was hip ist –«

»Was abgeht«, ergänzte Gillette.

Stubbs lachte und belohnte ihn mit ein bisschen Hip-Hop-Jargon, den er so gerne hörte. »Echt, Alter. Was geht ab, da ist die Kacke am Dampfen. Voll, ey.«

»Was soll das also?« Jetzt wedelte Gillette mit seinem Daumen Richtung Tür.

Stubbs schnippte mit den Fingern, zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf: »Kein’ blassen Schimmer, ey.«

»Genau das meine ich ja«, sagte Gillette. »Nennst mich einen alten Furz, aber früher haben die Herausgeber ihre Türen offengelassen. Die Wände sind aus Glas, zum Donnerwetter, sie haben früher nicht die Rollläden runtergelassen, damals gab es so was nicht. Und ihre Sekretärinnen wussten alles.«

»Assistentin«, korrigierte Stubbs und reckte ihre ohnehin schon umfangreiche Brust.

Gillette war nicht so leicht zu beeindrucken. »Du bist eine Assistentin. Sie waren Sekretärinnen. Ich spreche von den alten Zeiten. Damals wussten die Sekretärinnen des Chefs alles. Das hat Zeit gespart. Es hat den … wie sagt man noch?«

»Entscheidungsweg verkürzt?«

»Danke schön. Es hat den Entscheidungsweg verkürzt. Statt hier herumzusitzen und dich zu fragen, was er eigentlich will, hättest du mir längst erzählt, was er will, und ich würde schon darüber nachdenken und ein paar Ideen entwickeln. Zum Teufel, ich wäre schon draußen auf der Straße, würde ausstehende Gefälligkeiten einsammeln, Fakten ermitteln. Erinnert sich noch jemand an Fakten? Wann hat dieses Blatt sich eigentlich das letzte Mal mit ganz und gar wahren, unverfälschten Fakten abgegeben?

Diese Zeitung druckt Rezepte, Rezepte, für die man Pilze ernten muss, die nur in Tibet wachsen, auf einer Seite der Berghänge, wo alle Namen – die tibetanischen wohlgemerkt – mit einem C beginnen, nur im Nordwesten dieser Berghänge, nur im Schatten, nur im November; Rezepte, Interviews mit Balletttänzerinnen, die mit Blanche Middlebrooks befreundet sind« – der Ehefrau des Verlegers Norman Middlebrooks – »lange, lange, lange Artikel, wie man einen Schaukelstuhl aus Schilfrohr repariert, aber keine Fakten.«

Kathleen Sisk, eine Redaktionsassistentin, trat ein mit einem Armvoll Fahnen des Leitartikels. Sie lächelte Gillette an. »Hallo, Mr. Gillette.«

»Tag, Kathleen.«

»Ihre Kolumne neulich hat mir gefallen.«

»Vielen Dank.«

»Ich hab sie ein paar Freunden gezeigt. Schwulen Freunden. Sie meinten … Na, ja, vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber sie meinten, es sei eine ungewöhnlich gute Kolumne für einen Hetero gewesen.«

»Danke. Danke ihnen.«

»Mach ich.«

Kathleen Sisk ging wieder.

Aretha Stubbs hakte nach: »Um was ging es denn eben?«

»Alle hier – na gut, vielleicht nicht alle, aber die jüngeren Angestellten – wollen herausfinden, ob ich schwul bin, weil ich eine Kolumne über einen Schwulen geschrieben habe.«

»Bist du denn schwul?«, fragte Stubbs.

»Nein.«

»Aber du bist Junggeselle.«

»Ja.«

»Warst nie verheiratet.«

»Nein.«

»Hast keine Kinder.«

»Nein.«

»Eine feste Freundin?«

»Nein. Also, mit wem konferiert er da drin?« Gillette deutete mit dem Daumen auf Reynolds’ Büro.

»Versuchst du das Thema zu wechseln?«

»Stalin? Churchill?«

»Die sind längst tot, Tom.«

»Früher haben Herausgeber keine Konferenzen abgehalten«, sagte Gillette. »Sie kamen an, setzten sich auf deinen Schreibtisch, verschütteten Kaffee über dem Manuskript, an dem du gerade geschrieben hattest. Dann sagten sie, was sie sagen wollten, und es war ihnen egal, wer es sonst noch hören konnte. Konferenz. Demnächst werden sie noch Schwerpunktgruppen einrichten.«

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Susan Willoughby kam herausstolziert auf ihren millionenschweren Beinen aus der besten Familie von Virginia. Sie ging ein wenig in die Knie, als sie an Gillette vorbeikam, berührte mit einer Hand seine Schulter, etwa so wie die frühere Prinzessin von Wales einem Kind den Kopf getätschelt hätte.

»Schwerpunktgruppen, Tom. Gute Idee.«

Und dann war sie verschwunden, und Gillette und Stubbs und Kathleen Sisk blieben allein zurück, und mit ihnen die Erinnerung an Susan Willoughbys kastanienbraunes Haar, ihren lachsfarbenen Leinenanzug und ihr Parfüm: Irgendwas Teures von einem Angeber.

Gillette sah Aretha Stubbs ausdruckslos an.

Sie sah weg, wieder zu ihm hin, wieder weg. Dann schnappte sie sich die Fahnen, die Kathleen Sisk gebracht hatte, presste sie an sich, froh über die Ablenkung. Schließlich blickte sie Gillette wieder an. »Hör mal, es tut mir leid, okay? Wenn er sagt, ›Ich bin in einer Konferenz‹, dann sage ich, ›Er ist in einer Konferenz‹. Wenn er mich ansieht wie ›Sag bloß keinem, mit wem‹, dann sag ich nicht, mit wem. Ich bin die Tochter des Regiments, der Liebling der Infanterie. Ich stelle keine Fragen.«

»Infanterie?« Diesmal war es Don Reynolds, der unbedingt wissen wollte, was ihm gerade entgangen sein könnte. »Was hat die Infanterie mit wem zu tun?«

Reynolds füllte erschreckenderweise den gesamten Gang, da er seit der Übernahme des Postens zwanzig Pfund zugenommen hatte, stellte Gillette fest. Vierzig Pfund. Seine Haare dagegen waren weniger geworden; klebrige Strähnen reichten von einem Ohr hinüber bis zum anderen und machten in ihrer Erbärmlichkeit die Hoffnungslosigkeit dieses Kampfs deutlich.

»Tom!« dröhnte Reynolds freundlich. »Schön, dich zu sehen. Jesus. Komm, wir gehen zum Konferenzraum. Ich möchte, dass du an unserer Besprechung teilnimmst.«

»Bis später«, sagte Gillette über die Schulter zu Aretha Stubbs.

»Bis später.«

Kapitel 4

Vorgeführt.

Das war die richtige Bezeichnung für die Art, wie Reynolds Gillette durch die Lokalredaktion dirigierte, während er den Kollegen rechts und links zuwinkte, denen er gerade erst auf dem Hinweg ein knappes Hallo zugemurmelt oder die er überhaupt nicht beachtet hatte, damit sie alle sehen konnten, um wen er seinen Arm gelegt hatte.

All die Gesichter, die zu ihm aufsahen, als er vorbeiging: Gillette fühlte sich wie ein Ballon bei einer Straßenparade.

Gillette erinnerte sich, dass Reynolds auf die gleiche Art Darryl Strawberry vorgeführt hatte, und, bei anderer Gelegenheit, Christy Turlington (damals in den finsteren Tagen des amerikanischen Journalismus, würde er Aretha Stubbs auseinandersetzen, wenn sie noch zuhören könnte, waren das zwei Musterbeispiele von Zeitungsmachern). Ihre Zeit war gekommen und vergangen, und Gillette vermutete, dass es ihm nicht anders gehen würde, wahrscheinlich eher früher als später. Die, an denen er jetzt vorbeischwebte, sahen ihn eher skeptisch als ehrfürchtig an.

»Was gibt’s Neues, Don?«, sagte Gillette, als sie das Ende des Großraumbüros erreicht hatten und in den Korridor zum Konferenzzimmer traten.

»Hmm?«, machte Reynolds hinterhältig, und bevor Gillette so etwas wie Hör auf, michfür dumm zu verkaufen! sagen konnte, fiel Reynolds’ Blick auf zwei junge Reporter, die gerade aus der Toilette kamen. Er stürmte auf sie zu, als seien es Lebensretter. »Mike! Pat! Schön, euch zu sehen. Nett, dass ihr gekommen seid!«

Pat und Mike sahen sich verunsichert an, fragten sich wahrscheinlich, ob es eine Möglichkeit gäbe, nicht mit reinkommen zu müssen. Sie kannten Gillette als Tom, aber Reynolds war normalerweise Mister Reynolds, sonst nichts. Sollten sie ihn jetzt Don nennen, wenn er plötzlich so … so zutraulich war?

Noch bevor Pat und Mike die Sache klären konnten, hatte Reynolds Gillette schon an ihnen vorbei in den Konferenzraum geschoben und sie ihrem Gestammel überlassen.

Die morgendliche Redaktionskonferenz, an der Reynolds nur gelegentlich teilnahm, war bereits in vollem Gang, unter dem Vorsitz von Lou Santangelo, dem stellvertretenden Herausgeber, der am Ende des langen Konferenztisches saß, am weitesten von der Tür entfernt. Als er Reynolds eintreten sah, machte er ein Gesicht, als wünschte er sich noch viel weiter weg, vielleicht sogar nach draußen auf den Fenstersims.

Um den Tisch herum, möglicherweise in einer bestimmten hierarchischen Ordnung, saßen zahlreiche Männer und Frauen, die Gillette angrinsten, als seien sie allesamt alte Freunde, obwohl sie das in Wirklichkeit nur gerne wären.

Das war also das neue mittlere Management; die Besitzer der Zeitung hatten unzählige von ihnen eingestellt, um sicherzugehen, dass die Veteranen des Blattes, die in einer Kampagne zur Reduzierung der Kosten rausgeschmissen oder vor die Tür komplimentiert worden waren, nicht zurückzukommen versuchten.

Den neuen, mehr oder weniger leitenden oder stellvertretenden Redakteuren waren Büros im achten Stock zugewiesen worden, direkt über der Lokalredaktion, dort, wo früher die Personalabteilung residiert hatte (die überflüssig geworden war, seit sie einen Einstellungsstopp verkündet hatten), weshalb sie einmal am Tag hinabstiegen, um an dieser Zusammenkunft teilzunehmen; die restliche Zeit blieben sie im achten Stock, spürten Trends auf, schrieben Memoranden, verabredeten sich zum Mittagessen oder zum Squash nach der Arbeit oder zum Joggen am Wochenende und ließen Papierflugzeuge fliegen.

All diese Grünschnäbel hatten offizielle Werbebecher mit Kaffee vor sich stehen, die auf der einen Seite das Konterfei des Zeitungsobermackers trugen, auf der anderen ihre eigenen Namen – BILL und CHIP und BOB und JEFF und TAMMY und SID und STU und HOWIE und JAN und TRIP – aber die meisten sprangen von den Plätzen auf, als Reynolds seinen Kopf reinsteckte, und ihr ängstliche Lächeln bewies, dass sie wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet waren, und wussten, dass man mehr benötigte als Souvenirs und Monogramme, um nicht mehr um seinen Job zu fürchten.

»Don!«

»Lou!«

»Howie!«

»Don!«

»Jan! Wie geht’s denn so?«

»Hi, Don. Prima. Prima, prima, prima.«

»Wie geht’s dir?«

»Wie geht’s dir?«

»Don, schön, dich zu sehen.«

Und so weiter.

Gillette fragte sich, ob an König Artus’ Tafelrunde ähnlich viel aufgesetzte Heiterkeit geherrscht hatte oder wenn sich die Sieben Zwerge zu einem Familienplausch zusammensetzten.

Für Reynolds wurde am Kopf des Tisches Platz gemacht. Gillette konnte stehenbleiben, wo er war, neben der Tür, seine Hand auf der Stuhllehne von …

Er lehnte sich leicht nach vorn, um den Becher zu lesen.

… NATE. Oder er konnte sich um den ganzen Tisch herumquetschen und auf der Fensterbank Platz nehmen.

Oder …

Reynolds wartete, und schließlich stand jemand direkt neben seinem rechten Ellbogen auf. »Setz dich doch hierher, Tom.«

»Oh, äh, verflixt. Danke, äh …« Reynolds war außerordentlich weitsichtig geworden und trug deshalb eine Lesebrille an einer Kordel um den Hals. Er kannte den Namen seines Opfers nicht und konnte auch seinen Becher nicht lesen, denn wenn er die Brille aufsetzte, würde dies seine Achillesferse preisgeben.

»Steve.«

»Steve!«, brüllte Reynolds, als wäre das alles nur ein toller Witz, eine Art verspäteter Aprilscherz. Lasst uns mal einen Schabernack mit Steve treiben. Wir tun so, als wüssten wir nicht, wie er heißt. »Steve, es macht dir doch nichts aus?«

»Hey, natürlich nicht. Tom. Setz dich doch.«

Nachdem Gillette neben Reynolds auf Steves altem Platz saß, lächelte der Herausgeber, zuckte mit den Schultern und breitete die Arme aus. Wenn ein Redakteur freiwillig seinen Sitz an den Kolumnisten abtrat, war er natürlich machtlos; dagegen konnte er rein gar nichtstun.

Santangelo durchwühlte die Zettel, auf jedem eine Liste der Topthemen des Tages, zusammengestellt von den Redakteuren der wichtigsten Ressorts. (In alphabetischer Reihenfolge – auch wenn jedes Ressort glaubte, das wichtigste zu sein – gab es da: Außenpolitik, Innenpolitik, Kunst und Unterhaltung, Nationales, Lokales, Modernes Leben, Wirtschaft, Sport.) Die Zettel waren größtenteils für die Redakteure geschrieben worden, von Volontären wie Ryan O’Sullivan, jenen schlauen, aufgeweckten Kerlen, die eigentlich die richtige Arbeit besorgen sollten und nicht bloß Sandwiches für die anderen.

Santangelo, ein Veteran aus Selma, Saigon und dem Senat, neigte ständig