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Missmutig trottet die kleine Patrizia hinter den anderen Kindern her. So sehr hat sie sich auf den Zoobesuch heute gefreut - und nun mault die Heimleiterin nur herum! Nie dürfen sie an einem Käfig stehen bleiben! Immer heißt es: "Weiter, weiter!" Zornig kickt die Kleine einen Kiesel weg, als ihr Blick auf eine junge Frau fällt, die im Strom der Zoobesucher zu verschwinden droht. Mami! Da ist sie ja! Endlich!
In diesem Moment hat die Fünfjährige vergessen, dass ihre Eltern nicht mehr leben. Sie hat nur noch den einen Wunsch: zu ihrer Mama zu laufen und mit ihr nach Hause zu gehen, wo es schön ist, bunt und lustig! So schnell ihre Beinchen sie tragen, läuft sie der Frau nach, durch den Ausgang und in die nächste Straßenbahn ...
Auch noch Tage später fehlt von Patrizia jede Spur. Dr. Werner Bergen, der behandelnde Arzt des Mädchens, und seine Frau Andrea rechnen mit dem Schlimmsten und beginnen eine verzweifelte Suchaktion. Doch sie suchen nach der Nadel im Heuhaufen ...
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Seitenzahl: 129
Veröffentlichungsjahr: 2015
Cover
Impressum
Eine Mama für Patrizia
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock / Sunny studio
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-1175-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Noch nie habe ich meinen Mann Werner so aufgelöst, ja, verzweifelt gesehen! Doch das Schicksal der kleinen Patrizia, die bei einem tragischen Unfall beide Elternteile verloren hat, hat ihn von Anfang an tief berührt. Und nun ist das Mädchen spurlos verschwunden! Bei einem Zoobesuch ihrer Heimgruppe soll Patrizia einer geheimnisvollen Fremden nachgelaufen sein, heißt es. Ein anderer Zeuge will die Kleine mit einem auffallend verstört wirkenden jungen Mann in einem Zug gesehen haben. Nicht auszudenken, welches Martyrium ihr bei ihm möglicherweise bevorsteht! An einen guten Ausgang der traurigen Geschichte wagt inzwischen niemand mehr zu glauben, denn alle Aufrufe der Polizei, das Waisenkind zurückzubringen, blieben bisher ohne Erfolg. Und das schon seit sieben langen Tagen …
»Geschafft!« Jupp Diederichs, der Fahrer des Rettungswagens in Andrea Bergens Team, blickte auf die Uhr und grinste breit. »Wir haben den Dienstschluss erreicht, ohne noch einmal ausrücken zu müssen.«
»Dann nichts wie nach Hause zu Frau und Abendessen.« Ewald Miehlke, der Rettungssanitäter, warf die Zeitung auf den Tisch und sprang vom Stuhl auf.
Auch die Notärztin freute sich, zur Abwechslung wieder einmal pünktlich nach Hause zu kommen. In letzter Zeit war das nur selten der Fall gewesen. Besonders gestern Abend war es sehr spät geworden, da sie nach einem Einsatz, bei dem sie zwei schwer verletzte Unfallopfer zu versorgen hatte, auch noch mehrere Stunden am Operationstisch gestanden hatte.
Als Unfallchirurgin wurde sie immer wieder mal in den OP geholt, wenn Not am Mann war oder wenn eine komplizierte Operation ein größeres Chirurgenteam erforderte.
Da kamen auch schon die beiden Sanitäter in Dr. Stellmachers Team zur Tür herein, um Jupp und Miehlke abzulösen. Draußen in der Notaufnahme hörte Andrea ihren Notarztkollegen plaudern. Sie verabschiedete sich von ihren Sanitätern und ging hinaus, um Clemens Stellmacher den Pager zu übergeben, über den die Notärzte zu ihren Einsätzen gerufen wurden, und ihm einen kurzen Bericht über ihre letzten Patienten zu erstatten, von denen einige noch in den Behandlungskabinen lagen.
»Wünsche Ihnen einen angenehmen Nachtdienst mit wenigen Einsätzen, Herr Stellmacher«, sagte sie abschließend.
»Danke. Und ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend, Frau Bergen.« Dr. Stellmacher nickte ihr zu und ging in Richtung Bereitschaftsraum.
Im Umkleideraum zog Andrea sich um und holte ihre Tasche aus dem Spind. Dann verabschiedete sie sich von den Kollegen in der Notaufnahme und ging über den Parkplatz zu ihrem Auto.
Sie freute sich auf einen gemütlichen Feierabend im Kreise ihrer Lieben. Es war ein schöner warmer Abend, der zum Spaziergehen einlud. Vielleicht konnten sie nach dem Essen noch einen Abendspaziergang in den Rheinauen unternehmen. Dolly, die lebhafte Mischlingshündin, würde sich am allermeisten darüber freuen.
Nicht ahnend, dass der Abend von neuen Problemen und bedrückenden Erinnerungen überschattet werden sollte, machte Andrea sich auf den Heimweg.
Als sie in die Einfahrt zur Bergen’schen Villa in der Beethovenstraße fuhr, wo ihr Mann Werner auch seine Kinderarztpraxis hatte, sah sie zu ihrer Enttäuschung, dass weder sein Auto noch das ihrer Schwiegermutter da stand. Waren sie alle ausgeflogen?
Nachdem sie ihr Auto in der Garage abgestellt hatte, ging sie zur Haustür, hinter der aufgeregtes, von wehleidigem Winseln unterbrochenes Hundegebell zu hören war. Andrea musste lachen. Sie verstand jeden Laut dieser Botschaft. Dolly teilte ihr mit, dass sie allein im Haus war, sich zu Tode langweilte und sich jetzt riesig freute, dass zumindest eins ihrer geliebten Frauchen nach Hause gekommen war.
Kaum hatte sie die Haustür aufgeschlossen, wurde sie von Dolly so stürmisch begrüßt, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und rückwärts die Vortreppe hinuntergefallen wäre.
»Dolly, du verrücktes Hundevieh!«, schimpfte sie halb ärgerlich, halb belustigt. »Ist ja schon gut. Bist du denn ganz allein im Haus, mein Mädchen?«
Ein lang gezogenes, anklagendes Jaulen war die Antwort.
Andrea schob die Hündin in die Diele und schloss die Haustür. Dann gab sie Dolly erst einmal die ersehnten Streicheleinheiten.
Andreas Blick fiel auf den Zettel, der auf dem Dielentisch lag. Es war eine Nachricht ihrer zwölfjährigen Tochter, verziert mit Glitzerherzchen.
Bin bei Paula und werde nach dem Abendessen heimgebracht. Hoffe, das ist okay?
Andrea lächelte. Was sollte sie jetzt noch dagegen sagen? Natürlich war es okay, wenn Franzi bei ihrer besten Freundin war. Offenbar war niemand von der Familie da gewesen, den sie um Erlaubnis hätte fragen können.
»Dein kleines Frauchen ist bei ihrer Freundin«, erklärte Andrea der Hündin, die neugierig ihre Nase auf den Dielentisch schob.
Der nächste Zettel hing an dem Korkbrett neben der Verbindungstür zu Werners Praxis.
Musste zu einem Notfall. Anschließend Hausbesuche. Wartet nicht mit dem Essen auf mich. W.
Andrea seufzte. Es sah ganz so aus, als würde es bei ihrem Göttergatten wieder später werden. Und wo war Mutter Hilde?
Auf dem Küchentisch fand sie einen dritten Zettel, der ihr Antwort auf diese Frage gab.
Lisbeth hat sich den Knöchel verstaucht und braucht Hilfe. Werde noch bleiben, bis ich sie zu Bett gebracht habe. Das Gulasch ist fertig. Bitte kocht euch selbst die Nudeln dazu.
Wenn sie daheim wäre, dachte Andrea und seufzte erneut.
So enttäuscht sie auch war, in ein leeres Haus zu kommen, so angenehm fand sie es aber auch, ein wenig Zeit für sich allein zu haben. Sie schlüpfte in bequeme Yogahosen, ließ Dolly in den Garten und ging dann in die Küche, wo es verlockend nach Gulasch roch. Es stand in einem Topf auf dem Herd. Andrea hob kurz den Deckel an. Mhm, lecker!
Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, die Nudeln zu kochen und schon mal zu essen, denn sie hatte großen Hunger. Aber dann wollte sie lieber auf Werner warten. So machte sie sich einen Teller mit Baguette und Käse zurecht, schenkte sich ein Glas Wein ein und setzte sich damit in den gemütlichen Wintergarten.
Während sie den Wein genoss und sich den Snack schmecken ließ, wanderten ihre Gedanken zu ihrem zurückliegenden Arbeitstag. Eigentlich war es ein richtig guter Tag gewesen. Kein Todesfall, keine niederschmetternden Diagnosen, nur leichte Fälle und positive Erfahrungen.
Mittags hatte sie sich mit Lore Keller, der Oberärztin auf der Inneren Station, mit der sie auch privat befreundet war, im Personalrestaurant zum Essen getroffen und sich mal wieder ausgiebig mit ihr unterhalten. Wegen unterschiedlicher Dienstzeiten hatten sie sich in letzter Zeit nur kurz gesehen, wenn Andrea sich auf der Station nach einem Patienten erkundigt hatte.
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Gedanken. Rasch erhob sie sich aus ihrem Korbsessel.
Wahrscheinlich Hilde, die sich vergewissern will, dass wir auch ohne sie zurechtkommen, dachte sie. Oder Werner, der Bescheid gibt, dass es bei ihm wesentlich später wird als angenommen. Aber es kann auch Franzi sein, die fragen will, ob sie bei Paula übernachten darf.
Entgegen ihren Vermutungen war es niemand von ihrer Familie.
»Guten Abend, Frau Dr. Bergen, hier ist Tobias Martens«, tönte es ihr entgegen. »Ich störe doch nicht?«
Andrea schloss kurz die Augen. Nein, nicht schon wieder!, dachte sie und unterdrückte einen Seufzer. Schlagartig stand die furchtbare Unfallszene wieder vor ihrem geistigen Auge, die sie so gern aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte.
»Hallo, Tobias«, sagte sie ergeben. »Nein, Sie stören nicht. Was kann ich für Sie tun?«
***
»Na, schon alles vorbereitet für das Musikfest, Ariane?« Hans Gellert, Lehrer am Thomas-Morus-Gymnasium und verheiratet mit der Oberärztin auf der Kinderstation des Elisabeth-Krankenhauses, blickte seine Kollegin lächelnd an.
Ariane Behringer, die am Gymnasium Musik unterrichtete und privat Klavierstunden gab, klappte den Ordner mit ihren Unterlagen zu.
»So ziemlich«, gab sie zurück, wobei sie das Lächeln des Kollegen nur flüchtig erwiderte.
Hans Gellert sah sie etwas verwundert an. »Ist alles in Ordnung, Ariane? Du bist in letzter Zeit etwas … hm, merkwürdig. Fahrig, nervös …«
Ariane biss sich auf die Lippe. Hans hatte nur zu recht. Doch das wollte sie nicht zugeben.
»Ach, es ist nichts«, sagte sie betont heiter. »Nur etwas viel Arbeit. Ich muss mir die Termine meiner Klavierstunden anders einteilen. Und vielleicht für eine Weile keine neuen Schüler annehmen.«
»Ja, man hat sich schnell übernommen.« Auch Hans packte seine Unterlagen ein. Er und Ariane befanden sich im Lehrerzimmer, wo sie nach Schulschluss noch eine Tasse Kaffee getrunken und verschiedene Dinge besprochen hatten.
»Doris meinte übrigens, du und Harald solltet mal wieder zu uns zum Essen kommen«, sagte er.
»Hm.« Ariane überlegte kurz. »Wären nicht wir mit einer Einladung an der Reihe?«
»Das spielt doch keine Rolle. Wir wissen ja, wie beschäftigt du bist mit dem Klavierunterricht, den du am Abend noch gibst, und Harald ist beruflich viel unterwegs.«
»Deine Frau hat als Oberärztin wahrscheinlich am meisten um die Ohren«, wandte Ariane ein.
»Deshalb übernehme ich auch zum größten Teil das Kochen.« Hans zwinkerte. »Ich bin ja nur Gymnasiallehrer mit einer geregelten Arbeits- beziehungsweise Freizeit.«
Ariane musste lachen, auch wenn ihr nicht danach zumute war. Sie fand es immer entspannend, mit dem Kollegen zu plaudern, und eine Einladung zum Essen bei den Gellerts war stets eine nette Abwechslung. Alles, was sie von ihrem Kummer ablenkte, war ihr willkommen. Deshalb hatte sie in letzter Zeit auch mehr Klavierstunden gegeben als sonst.
»Ja, du hast es gut, du unausgelasteter Gymnasiallehrer«, neckte sie ihn. »Dann brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben, mich kulinarisch von dir verwöhnen zu lassen.«
»Das brauchst du ganz sicher nicht, Ariane.« Hans nahm sein Sakko von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Ich werde mit Doris reden und sehen, wann ein günstiger Tag wäre. Dann kann ich nur hoffen, dass es bei euch beiden ebenfalls passt.«
»Wir werden es schon hinkriegen.« Ariane ließ sich von Hans in ihren Popelinemantel helfen.
Gemeinsam verließen sie das Lehrerzimmer. Sie waren die Letzten an diesem Tag. Im Korridor befand sich nur noch die Putzkolonne.
Auf dem Parkplatz verabschiedeten sie sich und stiegen in ihre Autos. Mit einem Hupen zum Abschied fuhren sie in verschiedenen Richtungen davon.
Auf dem Heimweg überkam Ariane eine große Müdigkeit. Sie wusste, dass sie psychisch bedingt war. Jeden Tag war sie müde – seelisch müde. Müde von all den Versuchen, schwanger zu werden, müde von den Fehlschlägen, der Enttäuschung, den stummen Vorwürfen, die ihr Mann ihr machte. Denn wenn sie nicht schwanger wurde, konnte es nur an ihr liegen. So dachte er zumindest.
»Unsinn!«, sagte Ariane laut und ärgerlich. Wenn sie demnächst wieder bei den Gellerts eingeladen waren, würde sie ihre Kinderlosigkeit, über die sie schon öfter gesprochen hatten, wieder einmal zur Sprache bringen. Vor allem die Frage, ob Harald sich im Elisabeth-Krankenhaus nicht einmal untersuchen lassen sollte. Doris konnte da bestimmt etwas arrangieren. Denn die Kinderlosigkeit konnte schließlich auch an ihm liegen. Über diese Möglichkeit hatte Ariane sich im Internet eingehend informiert.
Zu Hause angekommen, hätte Ariane sich am liebsten hingelegt. Doch in weniger als einer halben Stunde würde sie einen Klavierschüler haben, einen jungen Japaner, der kaum Deutsch konnte und mit dem sie sich auf Englisch unterhielt.
Kaito war ein netter, musikbegeisterter Junge, der sehr talentiert war und vor allem die klassische Musik liebte. Es war eine Freude, ihn zum Schüler zu haben.
Ariane machte sich etwas frisch und ging dann ins Musikzimmer, um sich auf ihren Unterricht vorzubereiten. Bevor sie sich ans Klavier setzte und ihre routinemäßigen Fingerübungen machte, trat sie ans Fenster und blickte hinaus in den Garten.
Nachdenklich wickelte sie eine Strähne ihrer dunklen, halb langen Haare um den Finger, eine Angewohnheit, wenn sie nervös war oder nachdachte. Ihr Mann hatte einmal scherzhaft gemeint, mit dieser Methode erspare sie sich die Lockenwickler. Tatsächlich kringelten ihre Haare sich an den Enden, aber das kam natürlich nicht nur davon, dass sie oft die Strähnen in den Fingern drehte.
Der Rasen, die blühenden Sträucher und das Nachbarhaus verschwammen vor ihren Augen. Dafür tauchte ein Arzt im weißen Mantel vor ihrem geistigen Auge auf.
»Gratuliere, Frau Behringer, Sie sind schwanger«, hatte er damals zu ihr gesagt und ihr mit einem breiten Lächeln die Hand gedrückt. Das war vor vier Jahren gewesen, zwei Jahre nachdem Harald und sie geheiratet hatten. Sie waren überglücklich gewesen, denn sie hatten sich sehnlichst ein Kind gewünscht.
Ariane schluckte den Kloß herunter, der in ihrem Hals aufstieg. Die Erinnerung schmerzte immer noch. Glück und Freude hatten nicht lange angehalten, denn im fünften Monat hatte sie das Baby verloren.
Es war im Winter gewesen. Ariane hatte einen Spaziergang unternommen und war auf dem schneeglatten Weg ausgerutscht und gestürzt. Nur mühsam hatte sie sich nach Hause geschleppt. Am Abend hatten sich dann scheußliche Unterleibsschmerzen eingestellt, und plötzlich war ihre Hose voller Blut gewesen.
Harald hatte sie sofort ins Krankenhaus gefahren. Leider hatte man ihr Baby nicht mehr retten können.
Noch heute konnte Ariane die Verzweiflung und Enttäuschung von damals nachempfinden. Harald war ebenso enttäuscht gewesen. Sie hatte auch deutlich gespürt, dass er ihr die Schuld gab, auch wenn er es nie direkt ausgesprochen hatte. Doch seine stummen Vorwürfe, weil sie bei diesem Wetter mit unpassenden Schuhen draußen gewesen war, waren genauso schlimm gewesen.
Auf Anraten ihres Frauenarztes hatten Harald und sie drei Monate gewartet, bis sie es erneut versucht hatten. Doch in all den Jahren hatte es nicht mehr geklappt, dass sie schwanger wurde. Ariane hatte sich allen möglichen Untersuchungen unterzogen, um nach dem Grund ihrer Unfruchtbarkeit zu forschen, doch es hatte sich nichts Konkretes ergeben.
Natürlich konnte es auch an Harald liegen, aber er selbst hatte eine Untersuchung bisher immer hinausgezögert. Er war der Meinung, dass bei ihm alles in Ordnung war. Aber wie konnte er da so sicher sein?
Deswegen hatte es auch schon etliche Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben. Überhaupt kriselte es in ihrer Ehe immer heftiger. Das würde sich auch nicht mehr vor ihren Freunden verbergen lassen. Und wenn sie nicht endlich schwanger wurde und Harald das ersehnte Kind schenkte, würde er sich letzen Endes noch von ihr trennen.
Ariane wischte die aufsteigenden Tränen weg. Sie liebte Harald und der Gedanke, ihn zu verlieren, tat scheußlich weh. Aber hatte sie das Recht, ihn weiterhin an sich zu binden, wenn sie keine Kinder bekommen konnte, aus welchem Grund auch immer?
Vielleicht sollte ich ihn gehen lassen, damit er mit einer anderen Frau, die fruchtbar ist, Kinder haben kann, dachte sie und erschrak gleichzeitig vor ihren eigenen Gedanken. Wollte sie das wirklich?
Ein Klingeln an der Haustür ließ sie zusammenzucken. Das war ihr Klavierschüler. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie rasch die Zeit vergangen war. Dabei hatte sie doch noch Fingerübungen machen wollen.
Froh, nicht länger über ihre Kinderlosigkeit nachdenken zu müssen und die Möglichkeit, dass sie Harald deswegen eines Tages verlor, wandte Ariane sich vom Fenster ab und ging, um zu öffnen.
***
Mit gefurchter Stirn hielt Andrea Bergen den Hörer ans Ohr. Sie wünschte, nicht abgenommen zu haben, als das Telefon klingelte.
Der Anrufer am anderen Ende gab ein trockenes Aufschluchzen von sich.
»Ich bin wieder mal völlig fertig mit den Nerven, Frau Dr. Bergen. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen, ich kann nicht arbeiten …«
»Arbeiten?« Andrea zog die Augenbrauen hoch. Seit jenem schrecklichen Unfall vor zwei Jahren war der damals zwanzigjährige Tobias Martens nicht mehr in der Lage gewesen, seinem Beruf als Versicherungskaufmann nachzugehen.
Aufgrund seiner schweren Kopfverletzung hatte er große Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er sprach sehr gemächlich, und er war auch geistig sehr langsam geworden. Andrea wusste, dass man ihm deshalb eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen hatte.
»Arbeiten Sie denn wieder?«
»Ja, stundenweise in einer Gärtnerei. Das kriege ich so einigermaßen auf die Reihe. Aber es ist hart.«
Andrea schluckte. Der junge Mann tat ihr von Herzen leid. Doch sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.