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Mit schmerzhaft klopfendem Herzen beobachtet Dr. Andrea Bergen die verzweifelten Unternehmungen der Rettungskräfte, die auf dem Rhein nach der kleinen Emily Ausschau halten, die ins Wasser gezogen und von den Fluten verschluckt wurde. Doch noch immer fehlt von dem Mädchen jede Spur! Niemand kann sagen, wie lange Emily schon unter Wasser ist, denn ihre Mutter steht unter Schock!
"Da, da ist sie!", hört Andrea plötzlich den Sanitäter Ewald Miehlke rufen, und im nächsten Moment springt er schon ins Wasser. Mit kräftigen Zügen durchpflügt er den Rhein, doch dann scheint er von einer Strömung ergriffen zu werden - denn nach einem entsetzlichen Schrei versinkt er vor Andreas Augen in den Fluten!
Dies ist ein Tag, den die junge Notärztin in ihrem ganzen Leben nicht vergessen wird - denn danach ist nichts mehr, wie es einmal war ...
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Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2015
Cover
Impressum
Unglück am Rheinufer
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock / MNStudio
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-1676-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Was für ein fürchterlicher, rabenschwarzer Tag! Noch immer bebe ich am ganzen Körper und kann mich gar nicht mehr beruhigen! Vor meinen Augen ist unser lieber Sanitäter Ewald Miehlke bei dem Versuch, ein kleines Mädchen aus dem Rhein zu retten, von einer heimtückischen Strömung erfasst und in die Tiefe gezogen worden!
Lange, ja, endlos erscheinende Minuten fehlte von ihm jede Spur, und als sein regloser Körper endlich von den Rettungsschwimmern an Land gezogen wurde, konnte ich nur noch den Kreislaufstillstand feststellen! Nie im Leben habe ich so verzweifelt um ein Menschenleben gekämpft – und tatsächlich ist es mir gelungen, Ewald zu reanimieren. Doch wofür?, frage ich mich nun. Was für ein Leben erwartet ihn? Er wird kaum je wieder der Alte sein! Inzwischen tun die Kollegen von der Intensivstation ihr Möglichstes, um ihn zu stabilisieren. Doch niemand kann sagen, wie schwer sein Gehirn durch den Sauerstoffmangel geschädigt ist …
»Diese Hitze!« Jupp Diederichs, Rettungssanitäter und Fahrer des Rettungswagens in Andrea Bergens Team, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Auch der Notärztin brannte die Sonne auf den Rücken, als sie auf der Standspur der Autobahn kniete und eine Erstuntersuchung des verletzten Autofahrers vornahm. Auf der anderen Seite strömte der Verkehr vorbei, ein Mähdrescher auf dem Feld wirbelte Staub auf.
»Bringen wir den Mann gleich in den Wagen«, wies Dr. Bergen ihre beiden Sanitäter an. Weit und breit war kein Schatten, und da der Patient keine schwerwiegenden Verletzungen hatte, konnten sie es riskieren, ihn zu transportieren und erst im Rettungswagen zu versorgen, statt am Unfallort die nötigen Maßnahmen zu ergreifen.
Jupp Diederichs und sein Kollege Ewald Miehlke hoben den Mann vorsichtig auf die Trage und brachten ihn in den Rettungswagen. Ein Polizeibeamter folgte ihnen. Er wollte dem Unfallopfer Fragen stellen, doch die Notärztin wimmelte ihn ab. Übereifrige Polizisten, die den Patienten selbst auf dem Operationstisch noch verhören wollten, waren ihr ein Gräuel.
»Kommen Sie später ins Elisabeth-Krankenhaus«, erwiderte sie mit einer gewissen Autorität in der Stimme. »Erst muss die optimale Versorgung des Verletzten sichergestellt werden.« Sie stieg in den Rettungswagen, und setzte sich zu ihrem Patienten. Jupp schloss die Türen.
»Können wir schon losfahren, Chefin?«, erkundigte er sich.
»Warten wir noch einen Moment! Ich möchte dem Patienten rasch ein EKG anlegen«, sagte sie zu Ewald Miehlke. »Wir brauchen einen Infusionsbeutel und eine Fertigspritze mit einem Analgetikum.«
Zu dritt versorgten sie den Patienten. Dann setzte Jupp sich ans Steuer und fuhr mit Blaulicht und Martinshorn vom Unfallort.
Im Elisabeth-Krankenhaus wurde der Patient gleich zum Röntgen gebracht. Die Notärztin vermutete mehrere gebrochene Rippen und eine Schulterprellung. Innere Verletzungen schloss sie aus, empfahl aber dennoch eine gründliche Untersuchung.
Anschließend kehrte sie wieder in den Bereitschaftsraum zurück, wo das Notarztteam seine Einsätze abwartete. Ewald Miehlke war gerade dabei, die Kaffeemaschine zu füllen.
»Sie möchten doch sicher auch eine Tasse, Chefin«, meinte er.
»Ich könnte uns von Fanny etwas Gebäck holen«, bot Miehlke an. Fanny Reimers war die Pächterin der Cafeteria und hielt für ihre Stammkunden, zu denen in erster Linie das Personal des Elisabeth-Krankenhauses gehörte, selbst gebackene Leckerbissen bereit.
»Danke, weder noch«, lehnte Andrea Bergen ab. »In einer Stunde ist unser Frühdienst zu Ende, dann fahre ich nach Hause und werde von meiner Schwiegermutter mit Kaffee und Kuchen verwöhnt.«
Jupp grinste. »Na, da kann unser bescheidenes Angebot natürlich nicht mithalten.«
»Selbst Fannys berühmte Aprikosentaschen werden nicht mit den Kuchen Ihrer Schwiegermama konkurrieren können«, schloss Miehlke sich an.
»Nicht ganz«, gab Andrea lächelnd zu.
»Bestimmt ist auch Ewalds Dünnbrühe kein Vergleich zu Ihrem Kaffee zu Hause«, konnte Jupp sich nicht verkneifen, seinen Kollegen und Kumpel ein wenig aufzuziehen.
»So schlecht kann er gar nicht sein, wenn man bedenkt, dass du heute Morgen drei Tassen davon getrunken hast«, gab Ewald Miehlke trocken zurück.
Das Klingeln des Telefons unterbrach die Diskussion. Jupp angelte nach dem Hörer und meldete sich.
Es handelte sich um einen neuen Einsatz. In der Hölderlingasse war eine ältere Frau von einem Auto angefahren worden. Rasch schlüpften die Notärztin und ihre beiden Männer in ihre orangefarbenen Sicherheitswesten und eilten im Laufschritt hinaus zum Rettungswagen.
Zum Glück handelte es sich um einen Bagatellfall. Andrea Bergen war erleichtert. Es tat ihr immer sehr leid, wenn ältere Menschen, die im Straßenverkehr nicht mehr so sicher waren, durch ihre Unachtsamkeit verletzt wurden.
»Ich fürchte, wir haben Sie umsonst gerufen, Frau Doktor«, wurden sie von einem Polizeibeamten empfangen. »Die Dame ist schon wieder ganz munter.«
Andrea musste schmunzeln, als ihr Blick auf eine ältere Frau fiel, die den Umstehenden gerade kriegerisch erklärte, dass sie sich außer blauen Flecken nichts getan hatte, und sie aufforderte, den Weg frei zu geben, da sie endlich nach Hause gehen wollte.
»Es wäre aber sicher besser, wenn ich Sie kurz untersuchen würde«, wagte die Notärztin einzuwenden. »Nur, um sicherzustellen, dass Sie keine ernsten Verletzungen davongetragen haben und keine Spätfolgen …«
»Das weiß ich selber«, fiel die Frau ihr ungnädig ins Wort. »Ich gehe in keinen Rettungswagen und schon gleich gar nicht ins Krankenhaus. Auf Wiedersehen.« Damit schubste sie den Polizisten zur Seite, zwängte sich durch das Grüppchen Neugieriger und ging davon.
»Hat sich schon erledigt«, kommentierte Jupp schulterzuckend.
Andrea Bergen sah der Frau noch kurz nach, bis sie ihren Blicken entschwunden war. Ihr war aufgefallen, dass sie ein wenig humpelte, und sie machte sich Sorgen. Aber sie konnte nichts mehr für sie tun. Mit einem Seufzer folgte sie Jupp und Miehlke zum Rettungswagen.
»Vielleicht haben wir Glück, und es kommt vor Dienstschluss kein Einsatz mehr«, meinte die Notärztin, als sie wieder in der Notaufnahme waren. »Ich hätte gar nichts dagegen, zur Abwechslung mal wieder pünktlich nach Hause zu kommen.«
***
Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Clemens Stellmacher, ihr Notarztkollege, erschien diesmal nicht nur pünktlich, sondern sogar überpünktlich zur Ablösung, was bei ihm nicht allzu oft vorkam. Andrea plauderte kurz mit ihm und übergab ihm den Pager, über den die Notärzte zu ihren Einsätzen gerufen wurden. Dann verabschiedete sie sich von ihm und ihren beiden Sanitätern.
Es war ein wunderbarer Sommernachmittag, auch wenn die Sonne es fast ein wenig zu gut meinte. Andrea öffnete das Schiebedach und ließ ihr halblanges dunkelblondes Haar im Fahrtwind flattern.
Zu Hause angekommen, empfand sie das kühle Innere der Jugendstilvilla als äußerst angenehm. Aromatischer Kaffeeduft empfing sie, aus der Küche drang Geschirrklappern.
»Hallo, Hildchen, ich bin zu Hause«, rief sie, während sie in der Diele ablegte.
In der offenen Küchentür erschien das fröhliche Gesicht ihrer Schwiegermutter.
»Der Kaffee ist schon fertig«, erwiderte Hilde Bergen. »Möchtest du draußen sitzen, oder ist es dir zu heiß?«
Andrea überlegte kurz. Die Terrasse lag um diese Zeit bereits halb im Schatten.
»Draußen«, entschied sie. »Kann ich dir was helfen?«
»Ich habe den Tisch bereits in weiser Voraussicht gedeckt. Du kannst den Kaffee nehmen, ich trage den Kuchen hinaus.«
Gemeinsam trugen sie alles auf die Terrasse, was sie für ein gemütliches Kaffeestündchen brauchten. Dort wurde Andrea erst einmal ausgiebig von Dolly begrüßt. Wie immer gebärdete die junge Mischlingshündin sich so, als hätte sie ihr Frauchen eine ganze Woche lang nicht gesehen.
»Ist Franzi unterwegs?«, erkundigte Andrea sich nach ihrer zwölfjährigen Adoptivtochter.
»Ja, beim Reiten. Werner wollte zusehen, dass er auf ein Tässchen Kaffee und ein Stück Kuchen herüberkommen kann. Vielleicht schafft er es ja. Aber was ich so mitbekommen habe, geht es drüben in der Praxis heute recht hektisch zu.«
Dr. Werner Bergen war Kinderarzt und hatte die Praxis, die sich im Anbau der elterlichen Villa befand, von seinem verstorbenen Vater übernommen. Er war auch Belegarzt auf der Kinderstation des Elisabeth-Krankenhauses.
»Das kannst du laut sagen, Mutsch«, ertönte eine Männerstimme von der Terrassentür her. Andrea wandte den Kopf und lächelte, als sie ihre bessere Hälfte erblickte.
»Hallo, Werner! Schön, dass du trotzdem Zeit gefunden hast, um uns Gesellschaft zu leisten.« Andrea tauschte einen liebevollen Kuss mit ihrem Mann. Dann schenkte sie ihm eine Tasse Kaffee ein, während Hilde ihm ein großes Stück Kuchen auf den Teller legte.
Man konnte Werner Bergen ansehen, dass ihm die kleine Pause guttat, vor allem, nachdem er während des Mittagessens zu einem Notfall gerufen worden war. Nun ließ er es sich doppelt schmecken. Dolly hatte es sich unter dem Tisch bequem gemacht in der Hoffnung, dass einer ihrer Lieben »aus Versehen« ein Bröckchen unter den Tisch fallen ließ. Leider wartete sie heute vergeblich darauf, denn erst gestern Abend hatte ihre Familie sich gegenseitig vorgeworfen, den ohnehin schon maßlos verwöhnten Hund noch mehr zu verwöhnen.
Dolly schnaufte verdrossen. Waren Hunde nicht dazu da, verwöhnt zu werden?
Leider musste Werner sich gleich wieder verabschieden, kaum dass er seinen Kaffee ausgetrunken und sich den letzten Bissen von seinem Kuchen in den Mund geschoben hatte. Ute Loth, seine tüchtige Sprechstundenhilfe, und Aylin Usta, die nicht minder engagierte türkische Azubi, kamen im Moment nicht ohne ihn aus, wie Aylin ihm auf seinem Handy mitteilte.
»Bis heute Abend dann«, verabschiedete Werner sich. »Es kann etwas später werden.«
Was bei ihm nichts Neues war.
Andrea und ihre Schwiegermutter unterhielten sich über verschiedene Dinge, bis Hilde sich abrupt aufsetzte und ein Gesicht machte, als wäre ihr soeben etwas Wichtiges eingefallen.
»Hast du an das Geschenk für Henriettchen gedacht?«, sprach sie es dann auch schon aus.
»Ach, du Schreck!« Beinahe hätte Andrea den Kaffee verschüttet, den sie gerade nachschenkte. »Daran hab ich gar nicht mehr gedacht!«, gab sie zerknirscht zu.
Henriette Fink war die langjährige Zugehfrau der Bergens, die drei Mal die Woche kam und schon fast mit zur Familie gehörte. Sie und Hilde verstanden sich prächtig. Morgen kam sie wieder. Es war ihr Geburtstag.
»Sie wollte doch so gern eine Muffinform haben.« Hilde seufzte bekümmert.
Andrea blickte auf die Uhr. »Verenas Küchenlädchen«, rief sie. »Mutsch, das schaffen wir noch. Wir können sogar noch unseren Kaffee austrinken.«
***
»Oh, die Damen Bergen, wie nett!« Herzlich begrüßte Verena Dannhoff die Notärztin und ihre Schwiegermutter, die zu ihrer Stammkundschaft zählten.
»Tut uns leid, dass wir so spät dran sind«, entschuldigte Hilde Bergen sich. »Gerade ist uns eingefallen, dass wir noch ein Geburtstagsgeschenk für unsere Zugehfrau brauchen.«
»Wir beeilen uns auch«, versicherte Andrea Bergen. »Sicher wollen Sie pünktlich den Laden schließen.«
»Es sind ja noch ein paar Minuten hin«, meinte Verena freundlich. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Unser Henriettchen hätte gern eine Muffinform, hat sie kürzlich erwähnt«, erklärte Hilde. »So eine, wie wir sie von Ihnen haben.«
»Mit bunten Papierförmchen«, fügte Andrea hinzu.
»Oder eine herzförmige Springform, das war ihr anderer Wunsch«, erinnerte Hilde sich.
Andrea runzelte die Stirn. »Davon hast du aber nichts gesagt. Nun haben wir die Qual der Wahl.«
»Davon kann ich Sie erlösen«, beruhigte Verena sie. »Die Herzkuchenformen sind mir nämlich ausgegangen. Ich bekomme sie erst nächste Woche wieder herein.«
Und somit war der Einkauf rasch erledigt. Verena packte Muffinform und Papierförmchen hübsch in Geschenkpapier ein und überreichte der Notärztin die Tüte. Ihre Schwiegermutter holte ihren Geldbeutel aus der Handtasche.
Andreas Blick fiel auf ein kleines blondes Mädchen, das aus dem Nebenraum kam. Es war die dreijährige Emily, Verenas Tochter. Die Kleine gehörte zu Werners Patientenkreis. Vor zwei Jahren war sie sein größtes Sorgenkind gewesen.
»Mami, hab Hunger«, sagte sie und zupfte ihre Mutter am Rock.
Liebevoll strich Verena ihr über das feine blonde Haar. »Gleich fahren wir nach Hause, mein Schatz. Aber willst du die Frau Doktor und Frau Hilde Bergen nicht begrüßen? Du kennst sie doch.«
»Hallo«, sagte Emily etwas schüchtern.
»Hallo, Emily.« Andrea Bergen schenkte der Kleinen ein freundliches Lächeln. »Wie geht’s dir denn?«
»Gut«, piepste das zarte kleine Mädchen.
»Nächste Woche haben wir wieder einen Termin bei Ihrem Mann«, bemerkte Verena. »Nur eine reine Routineuntersuchung. Es ist sicher alles in Ordnung.«
»Das wünsche ich Ihnen, Frau Dannhoff«, erwiderte Andrea Bergen herzlich.
Verena brachte die beiden Kundinnen zur Tür und bedankte sich für den Einkauf. Anschließend schloss sie die Ladentür ab. Doch bevor Verena nach Hause fahren konnte, musste sie erst noch die Kassenabrechnung machen. Aufräumen und Saubermachen würde ihre Putzhilfe, die jeden Morgen kam, bevor sie den Laden öffnete.
Eine halbe Stunde später verließ Verena mit ihrem Töchterchen an der Hand den Laden. Ihr Kombi mit der Aufschrift Verenas Küchenlädchen parkte in einer Seitengasse. Sie setzte Emily in ihren Kindersitz und stieg dann selbst ein.
Diesmal dauerte es eine ganze Weile, bis sie zu Hause waren. Wegen eines Unfalls wurde der Verkehr umgeleitet, und an einer Ampel stauten sich die Fahrzeuge.
Im Auto neben ihr saß ein junges Paar, das die Wartezeit nutzte, um ausgiebig zu schmusen und sich zu küssen. Der Anblick schmerzte Verena. Zu gern hätte sie ebenfalls zu diesen glücklichen Menschen gehört, die sich freuten, mit ihrem Partner zusammen sein zu können. Leider war sie allein, was sie manchmal hart ankam.
Beklage dich nicht, du hast Emily!, mahnte eine innere Stimme sie. Du bist Besitzerin einer gut gehenden Küchenboutique und hast keine finanziellen Sorgen. Und wenn du einen Partner möchtest, brauchst du dir nur einen zu suchen.
Verena seufzte. So einfach war das leider nicht, auch wenn ihre Freunde und vor allem ihre Mutter das glaubten. Dass sie ein Kind hatte, wäre nicht unbedingt ein Problem gewesen, aber ein herzkrankes Kind, das besondere Aufmerksamkeit brauchte, war es auf jeden Fall. Das hatte sie ja an Emilys Vater gesehen, der sie sitzen gelassen hatte, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ihr Baby mit einem Herzfehler zur Welt gekommen war. Damit wollte er nichts zu tun haben. Und da sie nicht verheiratet gewesen waren, war er einfach gegangen.
Für Verena war damals eine Welt eingestürzt. Sie hatte sich alles so schön ausgemalt. Eine Traumhochzeit, einen gut verdienenden Mann, ein schönes Haus, nur noch für die Familie da sein – all diese Träume waren mit dieser schrecklichen Diagnose, die ein Kinderarzt nach der Entbindung gestellt hatte, zerbrochen. So war sie mit dem herzkranken Baby allein gewesen.
Zum Glück hatte sie ihre Mutter gehabt, die ihr sehr geholfen hatte. Verena hatte ihr viel zu verdanken. Sie hatte ihr finanziell unter die Arme gegriffen, hatte zusätzliche Behandlungen für Emily bezahlt und Verena eine Küchenboutique eingerichtet, wie es schon ihr Traum gewesen war, bevor sie Emilys Vater kennengelernt hatte.
Der Laden lief gut, sie konnte die Kleine problemlos bei sich haben, und sie hatte auch eine nette Frau gefunden, die Emily die restliche Zeit zu Hause betreute und auch Hausarbeiten erledigte. Für das Geschäft hatte sie zwei Aushilfen, die stundenweise kamen, wenn sie gebraucht wurden.
Endlich löste sich der Stau auf, und es ging wieder weiter. Zehn Minuten später hatte Verena die Siedlung erreicht, in der sie in einem der modernen Reihenhäuser wohnte. Sie fuhr ihr Auto in die Garage und stieg aus.
Als sie die Tür öffnete, um Emily aus ihrem Sitz zu heben, hatte die Kleine schon den Gurt gelöst.
»Kann allein aussteigen«, meinte sie und kletterte rasch aus dem Auto. Trällernd hüpfte sie zur Haustür.