Nur Mut, liebe Ruth - Marie Louise Fischer - E-Book

Nur Mut, liebe Ruth E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Ruth bewundert ihre Freundinnen wegen ihrer frechen Art. Gerne wäre Ruth selbst so, sie schafft es nicht. Es liegt wohl daran, dass ihre Eltern sie in ihrer Kindheit zu sehr behütet haben. Selbst wenn sich Ruth zu überwinden versucht, klappt es nicht. Dies zeigt ihr ein besonderer Fall, in den Ruth verwickelt wird. Katrins Oma wird vor Ruths Augen von einer Frau bestohlen. Jetzt wäre es doch ganz einfach, zur Polizei zu gehen und die Frau zu beschreiben. Aber wieder bringt Ruth es nicht fertig, sich vor den Polizisten zu äußern. Doch so geht es nicht weiter, ganz allmählich beginnt Ruth sich zu ändern und über ihren Schatten zu springen.-

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Marie Louise Fischer

Nur Mut, liebe Ruth

SAGA Egmont

Nur Mut, liebe Ruth

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1969 by F. Schneider, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719510

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Bauchlandung

In der Parkschule gab es ein Lehrschwimmbecken, und das war natürlich eine feine Einrichtung, besonders in der kalten Jahreszeit, wenn die Freibäder in der Stadt geschlossen waren.

Die Schülerinnen der Klasse 6 a jubelten stets auf, wenn statt einer Turnstunde eine Schwimmstunde angesetzt wurde. Nur für Ruth Kleiber war das ein Greuel.

Im vorigen Jahr, als Fräulein Freysing, die junge und forsche Turnlehrerin, sich noch damit begnügt hatte, Brust- und Rükkenschwimmen mit ihnen zu üben, war es für Ruth immerhin noch erträglich gewesen. Aber in diesem Schuljahr, da es ans Tauchen und Springen ging, genügte schon der bloße Gedanke an eine Schwimmstunde, ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Sie nutzte jede Möglichkeit aus, sich vor der Teilnahme zu drücken.

Die Schülerinnen der 6 a hatten, zappelnd vor Ungeduld, am Kopfende des rechteckigen Schwimmbeckens Aufstellung genommen, an der Spitze Katrin in einem knallroten Badeanzug, der ihr gut zu ihrer, auch im Winter, leicht gebräunten Haut stand und den schwarzen Augen. Leonore Müller, in einem hellblauen einteiligen Badeanzug, half ihr, das schulterlange Haar zusammenzudrehen und unter die weiße Badekappe zu stecken. Hinter den beiden drängten sich die anderen und zählten ab, um Riegen zu bilden.

Nur die kleine Ruth war nicht unter ihnen; sie duckte sich unter die Balustrade an der gegenüberliegenden Seite, hinter der die Türen zu den Umkleidekabinen und – weiter hinauf – in das Schulgebäude führten. Sie schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, daß Fräulein Freysing ihr Fehlen nicht entdecken möge.

Aber sie hatte die Aufmerksamkeit der Turnlehrerin offensichtlich unterschätzt.

Fräulein Freysing, schlank und muskulös in einem einfachen, knapp sitzenden Badeanzug, ließ einen einzigen Blick über ihre Schäfchen gleiten, murmelte die Namen der Mädchen vor sich hin und rief: „Ruth! Wieso ist Ruth nicht erschienen? Ist sie etwa krank?“

Die anderen sahen sich an, leicht verlegen und betroffen. Sie wollten Ruth nicht hereinlegen, aber genauso wenig Fräulein Freysing belügen.

Die Tumlehrerin wandte sich an Katrin und zielte ihr mit dem Zeigefinger genau auf das Herz. „Ich frage dich! Hat Ruth heute gefehlt?“

„Nein“, mußte Katrin wohl oder übel zugeben.

„Also dann!“ Fräulein Freysing tat einen tiefen Atemzug, sah sich in der Schwimmhalle um, und schon hatte sie den kunstvollen Lockenaufbau der Drückebergerin entdeckt. „Aha! Da steckst du also!“ rief sie. „Was ist los mit dir!“

Über der Balustrade erschien ganz langsam auch der Rest der blonden Locken, die runde Stirn, die grünen Augen, das Näschen, das Mündchen und endlich das ganze Brustbild der kleinen Ruth. Ihre helle Haut war tief rosa angehaucht, und sie stotterte, tödlich verlegen: „Fräulein Freysing, ich … also, das ist so … “

„Nun erzähl mir bloß nicht, daß du dich nicht wohl fühlst!“ donnerte Fräulein Freysing, und ihre kräftige Stimme hallte ordentlich wider in der großen Halle. „Das ist schon die dritte Turnstunde, in der du nicht dabei bist. Du willst mir doch nicht etwa weismachen, daß du an einer schleichenden Kranheit leidest!?“

„Nein, nein, das nicht, aber … “ stammelte Ruth.

„Nun komm schon!“ rief Katrin. „Halt bloß nicht den ganzen Betrieb auf!“

„Sehr richtig“, stimmte die sonst so geduldige Leonore zu, „das ist direkt eine Gemeinheit!“

Silvy Heinze, die sich bis jetzt zurückgehalten hatte, weil sie sich in ihrem knappen Bikini – und wie hatte sie die Mutter darum angebettelt! – doch nicht wohl fühlte, denn in der Gegenwart der anderen war ihr bewußt geworden, daß sie mehr denn je wie eine dürre Bohnenstange darin aussah, tauchte aus dem Hintergrund auf: „Ruth hat ja bloß Angst um ihre Lockenpracht!“ rief sie.

Die anderen, die inzwischen auch ungeduldig geworden waren, lachten und schimpften durcheinander.

Die rothaarige Olga Helwig schrie: „Ach was, sie ist einfach wasserscheu!“

Fräulein Freysing war am schmalen Rand des Beckens entlang zu Ruth hinübergegangen. „Stimmt das?“

„Aber nein!“ protestierte die Kleine. „Natürlich nicht, überhaupt nicht! Nur … nur … “ Auf der Suche nach einer Ausrede fiel ihr das Dümmste ein, was sie vorbringen konnte: „Ich habe meinen Badeanzug vergessen!“

„Wenn es weiter nichts ist! In Kabine 10 liegt ein ganzer Haufen Badeanzüge und Badehauben. Du wirst schon was Passendes finden. Aber trödle, bitte, nicht zu lange! Es würde mich ärgern, wenn ich dich nachexerzieren lassen müßte.“

Ruth stob davon. Sie wußte nur zu gut, daß Fräulein Freysing durchaus imstande war, ihre Drohung wahrzumachen, denn gleich nach dem Turnen kam die große Pause, und Fräulein Freysing blieb oft während der ganzen Pause in der Schwimmhalle.

Als sie zurückkam, in einem schwarzen Badeanzug, der ihr zwei Nummern zu weit war, platschten die anderen schon längst im Wasser herum und hießen sie herzlich willkommen. Vorsichtig stieg Ruth die gekachelte Treppe zu ihnen hinunter. Jetzt, da ihre komplizierte Lockenfülle unter einer Badehaube versteckt war, wirkte ihr Gesichtchen geradezu winzig, und sie schauderte, bevor sie auch nur die Zehenspitze ins Wasser gesteckt hatte.

„He! Beeil dich!“ rief Katrin übermütig und spritzte sie voll.

„Du bist gemein!“ piepste Ruth empört.

„Bangbüchse!“ – „Angsthase!“ – „Feigling!“ spotteten die anderen.

„Komm hierher, Ruth!“ befahl Fräulein Freysing vom anderen Ende des Beckens her, wo es tief war. „Du kannst doch recht gut schwimmen!“

Ja, schwimmen konnte Ruth wirklich, und warum auch nicht? Sie war ja gar keine schlechte Turnerin, sondern gehörte sogar unter die Gelenkigsten in der Klasse. Trotzdem wurde es ihr, sobald sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, mulmig zumute, und sie sehnte sich wieder an das feste Land zurück, während andere Mädchen, die sonst reichlich steif waren, wie zum Beispiel Olga Helwig, für die ein Pferd oder ein Kasten unüberwindliche Hindernisse bedeuteten, sich wie die Fische im Wasser tummelten.

Fräulein Freysing nahm sich Ruth gesondert vor, ließ sie auf der Brust, auf dem Rücken schwimmen und zuletzt auch tauchen.

O weh, meine schöne Frisur, dachte Ruth entsetzt, während sie sich auf den Boden des Beckens sinken ließ, was wird meine Mutti sagen! Da muß ich heute nachmittag bestimmt wieder unter die Haube!

Ruths Eltern führten einen eleganten Frisiersalon in der Innenstadt, und weil es ihr Beruf war, andere Leute schön zu machen, schien es ihnen ganz selbstverständlich, daß auch ihr einziges Töchterchen immer wie aus dem Schaufenster genommen aussah, und diese Einstellung entsprach vollkommen Ruths eigener Eitelkeit.

Als sie wieder hochkam, prustend und schnaufend und mit bekümmertem Herzen, lobte Fräulein Freysing arglos: „Na siehst du, das ist doch wunderbar gegangen! Wie ich immer sage … nur auf das richtige Atmen kommt es an, auf sonst gar nichts!“ Sie kletterte aus dem Wasser, klatschte in die Hände und rief: „Erste Riege aufstellen zum Springen!“

Ruths Herz sank, wenn es möglich war, noch eine ganze Etage tiefer, und schnell versuchte sie, sich so unsichtbar wie möglich zu machen.

Aber Fräulein Freysing hatte sie nicht vergessen. „Du auch, Ruth!“ rief sie. „Komm nur!“

„Aber ich bin nicht eingeteilt!“

„O doch! Gerade jetzt! Du wartest doch hoffentlich nicht auf eine Sondereinladung?“

Wohl oder übel mußte Ruth sich hinter den anderen oben, am Rand des Beckens, aufstellen.

„Wir üben es erst noch einmal einzeln“, ordnete Fräulein Freysing an.

Eine der Schülerinnen nach der anderen trat her zu ihr. Die Tumlehrerin legte jeder den Arm vor den Magen, ließ sie sich dann, die Arme nach unten, wie ein Taschenmesser zusammenklappen und auf: „Los!“ in die Fluten gleiten.

Es klappte bei allen, denn unter Fräulein Freysings starken Händen war kein Widerstand und keine falsche Bewegung möglich. Selbst Ruth schaffte es, es blieb ihr ja gar nichts anderes übrig.

„Und nun noch einmal einzeln! Aber jetzt jede für sich allein!“ kommandierte Fräulein Freysing.

Es kostete die meisten Mädchen – außer Katrin, die eine begeisterte Springerin war – eine gewisse Überwindung, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen, und bei manchen hatte der Köpfer mehr Ähnlichkeit mit einem Plumps als mit einem Sprung. Aber alle wagten sie es und tauchten nachher glücklich und mit sich zufrieden wieder hoch.

Nur Ruth stand wie angewurzelt am Rand des Beckens, fuchtelte mit den Armen, stieß den Kopf vor und – sprang zu guter Letzt mit den Beinen voraus.

Sie hoffte, daß Fräulein Freysing es nicht bemerkt haben würde, aber selbst wenn die Lehrerin einen Augenblick nicht hingeschaut hätte, wäre sie durch das brausende Gelächter der anderen aufmerksam geworden.

„He, Ruth, was sind das für Geschichten!“ rief sie, als das Gesichtchen der Kleinen wieder über der Wasseroberfläche erschien. „Komm, probieren wir es gleich noch einmal!“

Wohl oder übel mußte Ruth dieser Aufforderung folgen, und weil Fräulein Freysing ihr diesmal Hilfestellung leistete, klappte es sogar einigermaßen.

Dann kam die nächste Riege an die Reihe, und Ruth konnte sich erlöst mit ihren Freundinnen im Wasser tummeln. Aber sie war nicht glücklich dabei. Die Angst saß ihr noch in den Knochen, und das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, peinigte sie.

„Du bist ja eine schöne Flasche“, erklärte Silvy, obwohl auch ihre Stärke durchaus nicht im Sportlichen lag.

Und Olga behauptete: „Ich verstehe gar nicht, wie du dich so anstellen kannst!“

„Ach, gebt doch bloß nicht so an“, setzte sich Ruth zur Wehr. „So fabelhaft habt ihr es ja auch nicht gemacht!“

„Aber immerhin … wir haben es versucht!“ trumpfte Olga auf. „Während du …“

„ … einfach eine Niete bist!“ ergänzte Silvy.

Katrin hatte das Geplänkel mit angehört. „Und was seid ihr?“ rief sie übermütig. „Ihr seid doch bloß die beiden Obernieten vom Dienst, und sonst gar nichts!“ Sie packte Silvy und Olga, jede mit einer Hand, in den Nacken und drückte ihre Köpfe unter Wasser.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich, prustend und strampelnd, befreien konnten. Natürlich wollten sie sich an Katrin rächen, aber Katrin war schneller als sie; sie schoß lachend davon.

Ruth hätte nun eigentlich getröstet sein können, weil Katrin für sie Partei ergriffen hatte. Aber sie ärgerte sich zu sehr über sich selber. Warum nur, warum mußte sie sich vor Anforderungen fürchten, die alle anderen spielend meisterten?

Ach, Ruth wäre so gerne tapfer gewesen, aber sie schaffte es einfach nicht. Als Fräulein Freysing ihre Riege das nächste Mal aufrief, stand sie wieder völlig verzweifelt am Rande des Beckens, während die anderen schon den Startsprung – in den Knien federnd, Hände voraus und schräg ins Wasser – übten, den die Lehrerin ihnen vorgemacht hatte. Sie war so verzweifelt über sich selber, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, was zum Glück niemand bemerkte, weil alle Gesichter naß und voller Wassertropfen waren.

Leonore erbarmte sich ihrer und leistete Hilfestellung. „Wovor hast du eigentlich Angst?“ fragte sie. „Ich verstehe dich gar nicht, du bist doch sonst eine ganz gute Turnerin.“

„Es ist mir einfach greulich, so Kopf voraus … ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll!“

„Ich gebe ja zu, es ist ein komisches Gefühl, und man muß sich erst daran gewöhnen. Aber denk doch bloß mal nach… was kann dir denn dabei passieren?“ gab Leonore zu bedenken. „Selbst wenn es ganz schief geht, klatschst du doch höchstens ein bißchen auf. Das ist hundertmal ungefährlicher als das Turnen in der Halle. Wasser hat ja nun einmal keine Balken.“ Sie gab Ruth einen kleinen Schubs und ließ sie ins Wasser rutschen.

Kurz vor Schluß der Stunde, als die Lehrerin schon begonnen hatte, die Mädchen aus dem Wasser zu treiben, rief Katrin, aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfend: „Fräulein Freysing, Fräulein Freysing, darf ich mal etwas vormachen?“

„Ja, was denn?“

„Einen richtigen Kopfsprung vom Brett!“

Fräulein Freysing runzelte mißtrauisch die dichten, geraden Brauen. „Bist du sicher, daß du das kannst?“

„Habe ich schon mindestens hundertmal gemacht!“

„Also dann los!“

Katrin ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie kletterte zum Sprungbrett hinauf und rief: „Mit Anlauf! Achtung, fertig, los!“ Dann rannte sie, federte an der Spitze des Brettes, stieß sich ab, flog in einem eleganten Bogen durch die Luft und landete, die ausgestreckten Hände zuerst, ohne einen einzigen Spritzer im Wasser.

Der Beifall der Klasse war laut und ehrlich.

Nur Silvy zischte: „Als wenn da was bei wäre!“

„Dann mach es ihr doch nach!“ riet Leonore freundlich.

Katrin stieg aus dem Wasser und nahm strahlend die Bewunderungskundgebungen der anderen und das Lob Fräulein Freysings entgegen. Es war bei ihr durchaus nicht an der Tagesordnung, daß sie wirklich etwas leistete außer mit dem Mundwerk, und deshalb war sie jetzt besonders stolz auf sich.

Als sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte, schlüpfte Ruth an ihre Seite. „Du, Katrin“, sagte sie, „das war wirklich eine Wucht! Wie macht man das bloß?“

„Pah, nichts einfacher als das! Denk doch mal nach! Was ist leichter, Weitsprung mit oder ohne Anlauf? Na also. Der Anlauf macht es. Man muß bloß tüchtig Schwung nehmen. Alles andere ist eine Kleinigkeit.“

„Ich hätte Angst“, gestand Ruth leise.

„So ein Unsinn!“ Katrin lachte. „Wenn du Angst hast, dann mach doch einfach die Augen zu!“

Während alle anderen zum Umkleideraum hin drängten, stand Ruth ganz in sich versunken da. Es arbeitete in ihr. Und plötzlich, ehe sie noch selber wußte, was sie tat, rannte sie zum Sprungbrett hin.

„Seht her!“ schrie sie.

Sie wußte, daß alle stehenblieben, sich umwandten und sie anstarrten, aber sie sah es nicht mehr, denn sie hatte schon die Augen geschlossen und lief los.

„Ruth!“ rief Fräulein Freysing ganz entsetzt.

Da öffnete sie doch die Augen. Sie war nur noch einen Schritt vom Wasser entfernt, das tief, viel tiefer als vom Rand aus, unter ihr lag, und erschrak furchtbar. Sie wollte stoppen, aber sie war so in Schwung, der ihren Körper zum Kopfsprung vorwärts warf, daß es unmöglich war. Sie sprang und versuchte gleichzeitig, sich zurückzureißen, und das Ergebnis war, daß sie, zappelnd und strampelnd, mit einem gewaltigen Klatsch mit dem Bauch zuerst auf der Wasseroberfläche aufschlug und wie ein Stein unterging.

Ihr wurde schwarz vor Augen, sie verlor die Besinnung.

Im selben Moment sprangen Leonore und Katrin vom Rand aus ins Becken. Leonore die Füße voran und Katrin mit einem Kopfsprung. Ohne daß Fräulein Freysing es ihnen gesagt oder sie es miteinander abgesprochen hätten, tauchten sie nach Ruth und bekamen sie zu packen, als sie gerade wieder nach oben getrieben wurde.

Sie hatten noch niemals einen Rettungsschwimmerkursus mitgemacht, aber dennoch verhielten sie sich ganz richtig. Katrin griff Ruth unter den einen und Leonore unter den anderen Arm, und so zogen sie sie zwischen sich zum Rand des Beckens. Ruth hatte ihre Bademütze verloren, ihre Locken hatten sich aufgelöst, und ihr schönes blondes Haar floß dunkel vor Nässe um ihr totenblasses Gesichtchen.

„Sie ist ertrunken!“ schrie Olga und begann zu schluchzen, denn blitzartig war ihr eingefallen, daß das alles wohl nicht passiert wäre, wenn sie und Silvy die Kleine nicht so geärgert hätten.

Auch Silvy hatte ein denkbar schlechtes Gewissen. Sie sprang ins Wasser und half mit, Ruth zu Fräulein Freysing hochzuheben, die am Beckenrand kniete und nach ihr griff.

„Unfug“, sagte die Lehrerin. „So schnell ertrinkt man nicht. Sie hat nur einen Schock bekommen.“ Aber auch sie war blaß unter ihrer bratunen Haut geworden, als sie sich über Ruth beugte, die jetzt langgestreckt auf den Fliesen lag.

Katrin war heraufgeklettert. „Vielleicht sollte man Wiederbelebungsübungen machen“, schlug sie vor.

Fräulein Freysing richtete sich auf. „Sag mal, Katrin, hast du der Kleinen eingeredet, daß sie diesen Blödsinn machen sollte?“

„Ich!?“ Katrin tippte sich verblüfft auf die Brust. „Nein, bestimmt nicht! Sie hat mich nur gefragt, und da habe ich ihr gesagt, daß es ganz leicht wäre! Ich konnte doch nicht ahnen, daß sie es selber versuchen würde!“

Nein, das konnte Katrin wirklich nicht, das sah auch die Lehrerin ein; weder sie noch eine von Ruths Mitschülerinnen hätten ihr eine solche Tollkühnheit zugetraut.

„Steht hier nicht herum, sondern verschwindet in die Kabinen und zieht euch an!“ sagte Fräulein Freysing.

In diesem Augenblick schlug Ruth die Augen auf. „Wo bin ich?“ fragte sie.

„Ja, weißt du das denn wirklich nicht?“ schrie Katrin. „In der Schwimmhalle … du hast gerade eben einen Kopfsprung mit Anlauf vom Brett versucht!“

„O je“, sagte Ruth und schloß schaudernd die Augen.

Alle lachten, so erleichtert waren sie.

„Wie fühlst du dich?“ fragte Fräulein Freysing. „Hast du Schmerzen?“

„Nein“, sagte Ruth, „ich bin nur ein bißchen … benommen.“ Ihre Erinnerung war blitzschnell wieder zurückgekehrt, und gerade rechtzeitig fiel ihr ein, daß in der übernächsten Stunde eine Mathematikarbeit geschrieben werden sollte. „Lernen kann ich wohl heute nichts mehr“, erklärte sie mit schwacher Stimme und faßte sich an den Kopf.

„Das sollst du auch nicht“, sagte Fräulein Freysing sofort, „ich werde dich jetzt in meinem Auto nach Hause bringen. Hoffentlich kannst du aufstehen.“

„O doch“, sagte Ruth und richtete sich auf.

Katrin und Fräulein Freysing halfen ihr auf die Beine.

„Danke“, sagte Ruth, „danke“. Und mit einem schwachen Lächeln fügte sie hinzu: „Es tut mir leid, daß ich euch einen solchen Schrecken eingejagt habe.“

„Zieh dich rasch an und trockne dir das Haar“, sagte Fräulein Freysing, „ich möchte zur nächsten Stunde wieder zurück sein.“ Sie verschwand in die Richtung auf die Lehrerkabinen.

Auch die anderen hatten es jetzt eilig, aus ihren nassen Sachen zu kommen.

„Ich will ja nicht lästern“, sagte Olga und riß sich die Bademütze von ihrem leuchtend roten Haar, „aber wenn es nicht so unwahrscheinlich wäre, könnte ich glauben, du hättest es mit Absicht gemacht, Ruth!“

Die Kleine lachte. „Nicht ganz! Aber ich gebe zu, es kommt mir sehr gelegen. Viel Spaß bei der Mathe. Und erzählt mir morgen, wie es gegangen ist!“ Sie lief zum Umkleideraum hin davon.

„So eine unverschämte Wanze“, sagte Olga empört, „jetzt ärgere ich mich direkt, daß ich mir solche Sorgen um sie gemacht habe.“

Katrin hatte inzwischen nach Ruths Badekappe getaucht und sie aus dem Wasser geholt. „Sei friedlich“, sagte sie, „wir haben allen Grund, uns zu freuen, daß es nochmal so ausgegangen ist.“ Sie schwang sich aus dem Wasser. „Und was die Mathe-Arbeit betrifft, so gehe ich jede Wette mit dir ein, daß sie sie wird nachholen müssen.“

„Wollen wir’s hoffen“, brummte Olga und folgte Katrin in den Umkleideraum.

Bangemachen gilt nicht

Katrin sollte recht behalten.

Ruth mußte die Mathematikarbeit tatsächlich nachschreiben, noch dazu in der Freistunde am Donnerstag, die alle anderen dazu benutzten, sich im Milchstübchen schräg gegenüber der Parkschule an einem Eis zu erquicken. Es war zwar noch reichlich kalt draußen, aber den Mädchen der 6 a schmeckte das Eis zu jeder Jahreszeit, und außerdem lag schon so etwas wie Frühling in der Luft. Der Himmel war blau, und an den Bäumen des Stadtwaldes konnte man schon ein erstes zaghaftes Grün entdecken.

So hatte Ruth durch ihr tolldreistes Kunststück also nichts gewonnen, im Gegenteil, sie hatte sich eine Menge Schwierigkeiten eingehandelt. Ihre Eltern, die sehr, sehr besorgt um ihr einziges Töchterchen waren, hatten sich schrecklich aufgeregt und einen ganzen Schwall Vorwürfe und Ermahnungen auf sie niederprasseln lassen, als sie erfuhren, was geschehen war.