Der Campus - Tom Clancy - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Campus E-Book

Tom Clancy

3,8
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Whistleblower im Spiel der Macht – der neue große Tom Clancy

Dominic Caruso, Neffe von Präsident Jack Ryan, ist Agent bei der Geheimorganisation Campus, die gänzlich inoffiziell operiert, vorbei selbst an CIA und NSA. Der plötzliche Mordanschlag auf seinen israelischen Freund und dessen Familie deutet auf eine undichte Stelle bei den Geheimdiensten hin. Die Suche nach Hintermännern führt ihn zu Ethan Ross, einem Mitarbeiter im Weißen Haus mit Zugang zu hochsensiblen Daten. Ross wähnt sich zwar einen Whistleblower mit hehren Absichten, aber die von ihm weitergegebene Festplatte enthält genügend Sprengstoff, um sämtliche amerikanischen Geheimdienstoperationen zunichtezumachen und die westliche Welt ins Chaos zu stürzen. Wer hat die Daten schon in Händen? Weltverbesserer? Terroristen? Die Russen? Die Iraner? Nicht selten wurden Tom Clancys gedankliche Planspiele zu Prophezeiungen, die zeitnah von der Realität eingeholt wurden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 692

Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
5
6
2
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TOM

CLANCY

UND

MARK GREANEY

DER CAMPUS

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Michael Bayer

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Support and Defend

bei G.P. Putnam’s Sons, New York

Redaktion: Werner Wahls

Copyright © 2014 by Rubicon, Inc.

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

ISBN 978-3-641-17646-4

www.heyne.de

 

Hauptpersonen

DOMINIC »DOM« CARUSO: Außenagent des Campus

ETHAN ROSS: Stellvertretender Abteilungsleiter für den Nahen Osten und Nordafrika, Nationaler Sicherheitsrat

EVE PANG: IT-Netzwerk-Systemingenieurin, Ross’ Freundin

DARREN ALBRIGHT: Leitender Spezialagent, Spionageabwehr-Abteilung des FBI

NOLAN und BEALE: Sonderermittler, FBI-Special Surveillance Group

ADARA SHERMAN: Leiterin der Transportabteilung des Campus

HARLAN BANFIELD: Journalist, Mitglied des International Transparency Project

GIANNA BERTOLI: Direktorin des International Transparency Project

MOHAMMED MOBASCHERI: Iranischer Revolutionsgardist

KASCHAN, SCHIRAZ, ISFAHAN undORMAND: Agenten der Quds-Einheit

ARTURO: Offizier des venezolanischen Geheimdiensts

LEO: Offizier des venezolanischen Geheimdiensts

RIGOBERTO FINN: Lügendetektortester, FBI

GERRY HENDLEY: Direktor von Hendley Associates und des Campus

ARIK YACOBY: Ehemaliger Agent der Schajetet 13, der Kommandoeinheit der israelischen Marine

DAVID: Israelischer Geheimagent

PHILLIP McKELL: Computernetzwerkexperte

 

 

Prolog

Im Mondlicht erschien plötzlich die indische Küste. Tatsächlich war gar nicht viel zu sehen, nur ein schmaler Sandstreifen, der einige Hundert Meter vor dem Schiffsbug aus der Dunkelheit auftauchte, aber das erste Land, das er seit vier Tagen erblickte, vermittelte dem Mann auf dem Vorderdeck zwei wichtige Informationen:

Erstens: Die Eindringphase seiner Operation war erfolgreich verlaufen.

Und zweitens: Es war Zeit, dem Kapitän die Kehle durchzuschneiden.

Der Mann auf dem Vorderdeck zog sein Messer und ging zur Treppe hinüber, die zur Kommandobrücke hinaufführte. Zwei seiner Männer folgten ihm auf dem Fuß, sollten ihm jedoch nur zusehen. Als Anführer war es seine Aufgabe, den Kapitän zu töten. Tatsächlich war das für ihn auch keine Belastung. In Wahrheit begrüßte er die Gelegenheit, den anderen wieder einmal seine Hingabe für ihre gemeinsame Mission zu beweisen.

Der Anführer und sein Sechsmannteam hatten die ersten drei Tage an Bord eines omanischen Fischkutters auf dem offenen Arabischen Meer verbracht. In der letzten Nacht näherten sie sich diesem fünfundzwanzig Meter langen Trockengutfrachter und winkten ihnen mit einem gerissenen Keilriemen zu. Auf Hindi baten sie dann um Hilfe. Als der Frachter sich neben sie legte, huschten der Anführer und seine Männer jedoch wie Sumpfratten an Bord, überrannten die kleine Mannschaft und schlachteten alle ab. Nur den Kapitän ließen sie am Leben und befahlen ihm, genau nach Osten Kurs auf die indische Malabarküste zu nehmen.

Der Anführer hatte einen halben Tag gebraucht, um den verängstigten Kapitän davon zu überzeugen, dass er nicht dasselbe Schicksal erleiden würde wie seine Mannschaft. Wenn er ihn jetzt tötete, würde sich das natürlich als Lüge erweisen, aber als der Anführer zur dunklen Brücke hinaufstieg, machte ihm dieser Vertrauensbruch nicht im Mindesten zu schaffen. Seine Gedanken waren schon längst an Land und galten nur noch der Zielphase seiner Operation.

Der Anführer war ein Unterkommandeur der Essedin-al-Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas. Man hatte ihn auf diese Mission geschickt, um einen einzigen Mann auszuschalten, aber er wusste von Anfang an, dass viele andere wie etwa der Kapitän und seine Mannschaft bei dieser Aktion notwendigerweise geopfert werden mussten.

Bisher hatte er vollständige Kontrolle über seinen Einsatz gehabt. Die nächste Phase lag jedoch in der Hand von jemand andres, was ihm große Sorge bereitete. Alles hing jetzt von der Kompetenz einer lokalen Kontaktperson ab – einer Frau. Bei der Einsatzbesprechung hatte man ihm mitgeteilt, dass sie die Anwesenheit der Zielperson festgestellt und die Einsatzbereitschaft der örtlichen Polizei überprüft hatte und, Inschallah, ein Fahrzeug zu seiner Landestelle bringen würde und, Inschallah, daran denken würde, die Schlüssel unter den Fahrersitz zu legen.

Am Ende der Treppe zum äußeren Brückendeck verlor der Anführer kurzzeitig das Gleichgewicht und streckte den Arm aus, um sich aufzufangen. Die Männer hinter ihm auf der Treppe hatten sein Stolpern nicht mitbekommen. Darüber war er froh, denn sie könnten sich sonst fragen, ob es sich dabei um ein Zeichen von Nervosität handelte, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Tatsächlich hatte ihn nur ein leichter Schwenk des Schiffes nach Steuerbord aus dem Gleichgewicht gebracht. Im Übrigen war es kein Wunder, dass seine Beine nicht unbedingt seefest waren. Er stammte zwar aus dem Gazastreifen, wo er in unmittelbarer Nähe des Meeres aufgewachsen war, hatte jedoch vor dieser Woche nichts Größeres als ein Fischerboot mit Außenbordmotor betreten.

Man hatte ihn wegen seiner Intelligenz, Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit, aber bestimmt nicht wegen irgendwelcher seemännischen Fähigkeiten ausgewählt.

Oben auf dem Brückendeck hielt der Anführer kurz an, um aufmerksam in alle Richtungen in die Dunkelheit zu spähen. An Land gab es außer einigen Bretterbuden kaum Anzeichen von Zivilisation. Nur im Süden war im Dunst der Lichtschein der fünfundvierzig Kilometer entfernten riesigen Küstenmetropole Kochi zu erkennen.

Zufrieden, dass es niemand gab, der einen Schrei über das offene Wasser hören würde, griff er nach dem Türriegel.

Der nicht mehr ganz junge indische Kapitän schaute sich nicht einmal um, als der Anführer die Brücke betrat. Er hielt weiterhin das Steuerrad fest und schaute unverwandt geradeaus. Nur sein schwerer Atem zeigte seine Angst.

Er wusste Bescheid.

Der Anführer ging auf ihn zu und hielt sein Messer hinter dem Oberschenkel versteckt. Eigentlich wollte er ihn mit lockerer Stimme irgendetwas fragen, um ihn abzulenken, damit er einen Augenblick ruhig blieb. Aber jetzt sagte er kein Wort, sondern hob nur die Klinge in seiner rechten Hand.

Drei Schritte später stand er direkt hinter dem Rücken des Mannes, umfasste ihn mit dem rechten Arm, stieß ihm das Messer in den Hals und zog die Klinge durch die Kehle nach hinten. Danach ließ er das Messer fallen und trat einen Schritt zurück. Der Inder wirbelte herum, und sein Blut spritzte quer über die Brücke auf die Hosen und Schuhe des Anführers, obwohl dieser bis zur Wand der Steuerkabine zurücksprang, um ihm auszuweichen.

Die beiden anderen beobachteten das Ganze durch die offene Tür und entgingen damit dem rhythmisch spritzenden Blutschwall.

Der Kapitän sank auf die Knie. Für einen Augenblick war das Zischen und Gurgeln aus seiner offenen Wunde zu hören. Dann starb er. Sein Todeskampf war Gott sei Dank nur kurz, dachte der Anführer mit einer gewissen Erleichterung.

»Allahu akbar«, rief er in ehrerbietigem Ton, stieg über die Leiche, stellte sich notgedrungen mitten in die immer größer werdende Blutlache und packte das Steuerrad.

Aber nur für einen Moment. Schließlich war er kein Kapitän. Tatsächlich wusste keiner seiner Männer, wie man den Frachter sicher in einen Hafen bringen konnte. Der Kapitän hatte ihnen allerdings erzählt, dass es dort überhaupt keinen Hafen gab. Der Anführer schaltete also nur die Motoren in den Leerlauf und befahl seinen Männern, das Beiboot, in das sie bereits ihre gesamte Ausrüstung geladen hatten, zu Wasser zu lassen.

Zwanzig Minuten später kletterten die Männer in die leichte Küstenbrandung hinaus und zogen das kleine Beiboot auf den Ufersand hinauf, bis es die anbrandenden Wellen nicht mehr erreichen konnten.

Das Boot hier einfach zurückzulassen war kein Problem. Sie würden es nicht mehr benötigen. Laut Plan würde die Abzugsroute in Richtung Osten über Land nach Madurai verlaufen, wo sie mit gefälschten Papieren von einem Flugzeug ausgeflogen werden würden. Außerdem fiel das Boot hier gar nicht auf und konnte deshalb auch nicht ihren Einsatz gefährden, da auf diesem Uferstreifen mehrere kleine Wasserfahrzeuge unbeaufsichtigt herumlagen. Netzfischer hatten sie dort über Nacht zurückgelassen. Nur die Außenbordmotoren hatten sie entfernt und in ihre heimischen Strohhütten mitgenommen, um sie vor Dieben zu schützen.

Die Männer holten schwarze Segeltuchtaschen aus dem Beiboot und legten ihre Ausrüstung an. Drei zogen sich schwere Schutzwesten und darüber große schwarze Windjacken an. Die anderen vier hängten sich kleine Maschinenpistolen an Gurten um den Hals und schnallten sich Munitionstaschen um. Ihre Waffen waren Micro-Uzis, 9-mm-Maschinenpistolen, die ausgerechnet in Israel hergestellt worden waren. Aber die Ironie ihrer Auswahl wurde von der unbestreitbaren Zuverlässigkeit der Waffen in den Schatten gestellt.

Drei Minuten später hatten sie den Sandstrand verlassen und liefen eine dunkle Uferstraße entlang, die von Kokospalmen gesäumt war.

Die örtliche Kontaktperson hatte tatsächlich ihr Fahrzeug auftragsgemäß direkt neben der Straße an einen schmalen Graben gestellt. Wie man es dem Anführer während der Einsatzbesprechung mitgeteilt hatte, handelte es sich um einen großen braunen Lieferwagen, der normalerweise Milch aus einem örtlichen Bauernhof zu den Einwohnern von Kochi beförderte. Die Kühlanlage hatte man aus dem Laderaum ausgebaut, was den fünf Männern, die jetzt durch die Seitentür einstiegen, gerade genug Platz ließ.

Auch die Schlüssel lagen wie ausgemacht unter dem Fahrersitz. Der Anführer war ebenso erfreut wie erstaunt über die Tüchtigkeit dieser Frau. Er rutschte auf den vorderen Beifahrersitz, sein Stellvertreter klemmte sich hinter das Lenkrad, und die anderen setzten sich nach hinten. In dieser ganzen Zeit sprachen sie kein einziges Wort.

Sie verließen die Uferzone und fuhren nach Osten über eine enge befestigte Straße, die durch die sogenannten Backwaters führte, ein System von natürlichen und künstlich angelegten Brackwasserseen und Kanälen, wo sich das Salzwasser aus dem Arabischen Meer mit dem Süßwasser des Periyar-Flusses vermischte. Auch diese Straße säumten auf beiden Seiten Kokospalmen. Dichter Dunst zerstreute das Licht der Scheinwerfer.

Der Anführer schaute auf die Uhr und auf sein tragbares GPS-Gerät, in das er die Koordinaten eingegeben hatte, die ihnen die örtliche Kontaktfrau übermittelt hatte. Ihr erster Halt war der Mobilfunksendemast an der Landstraße von Paravur nach Bhoothakulam. Da zu ihrer Zielperson keine Telefonleitung hinführte, würde sie die örtliche Polizei nicht mehr alarmieren können, nachdem sie den Sendemast außer Funktion gesetzt hatten.

Der Anführer besprach sich kurz mit seinem Fahrer und drehte sich danach zu den Männern hinter ihm um. Er sah nur dunkle Silhouetten.

Zwei der fünf Männer kannte er bereits seit Jahren. Sie waren wie ihr Anführer und der Fahrer Fedajin aus den von Israel besetzten Gebieten. Obwohl er ihre Gesichter nicht sehen konnte, erkannte er sie an ihrer Körperhaltung. Die drei anderen Männer hatte er erst kurz vor der Abfahrt im Lager im Jemen kennengelernt. Er konzentrierte sich jetzt ausschließlich auf diese Ausländer und lächelte sie sogar wie ein geduldiger, gütiger Onkel an. In Wirklichkeit hielt er diese Männer für Narren. Er wollte ihnen auf keinen Fall Waffen geben, da er ihre Kampffähigkeit bezweifelte. Diese Männer würden keine Waffen tragen, hatte der Anführer beschlossen, weil sie selbst Waffen waren.

Sein Lächeln vertiefte sich, als er die Narren auf arabisch ansprach: »Die Zeit ist gekommen, meine tapferen Brüder. Ihr müsst euch jetzt darauf vorbereiten, Märtyrer zu werden.«

 

 

1

Dominic Caruso war erst zweiunddreißig Jahre alt und in jeder Hinsicht körperlich fit. Trotzdem fiel es ihm schwer, mit dem fünfundvierzigjährigen Mann Schritt zu halten, der mehrere Meter vor ihm herrannte. In der vergangenen Stunde hatten die beiden acht Kilometer auf Straßen und Wegen, nur unterbrochen von einer achthundert Meter langen Schwimmstrecke, zurückgelegt. Die äußeren Bedingungen waren ebenfalls nicht sehr hilfreich. Dom saugte so viel von dieser übel riechenden Luft in seine Lungen, wie er nur konnte, nur um überhaupt weiterlaufen zu können. Es war mitten in der Nacht und trotzdem immer noch brütend heiß. Der Dschungelpfad war mit Ausnahme des gelegentlichen Mondlichts, das durch die Palmwedel hindurchdrang, völlig dunkel.

Doms Laufpartner hatte anscheinend keinerlei Schwierigkeiten, den Weg in dieser Dunkelheit zu finden, während sich Dom mit der Schuhspitze in der freiliegenden Wurzel eines Jakarandabaums verfing und der Länge nach auf seine Hände und Knie stürzte.

»Verdammte Scheiße«, fluchte er schwer atmend vor sich hin.

Sein Trainer schaute sich kurz nach ihm um, ohne jedoch anzuhalten. Dom meinte, ein Lächeln auf dem Gesicht des Älteren zu entdecken. Dessen Stimme war leise und wies einen schweren Akzent auf: »Brauchen Sie einen Krankenwagen?«

»Nein, ich bin nur …«

»Dann stehen Sie auf, verdammt noch mal!« Der Ältere kicherte und fügte hinzu: »Auf geht’s, D, keine Müdigkeit vorschützen!«

»In Ordnung.« Dom rappelte sich wieder hoch, wischte den Schlamm von seinen Shorts und versuchte, zu dem anderen aufzuschließen.

Noch vor einem Monat hätte der Amerikaner auf keinen Fall einen 16-Kilometer-Lauf bei dreißig Grad Hitze und einer Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent absolvieren können und dies auch noch mitten in der Nacht nach einem ganztägigen Kampfsporttraining. Aber seit seiner Ankunft hier in Indien hatte seine körperliche und mentale Stärke schneller zugenommen, als er sich das je hätte vorstellen können. Dies alles verdankte er Arik Yacoby, dem Mann, der jetzt zwölf Meter vor ihm her trabte.

Der schlammige Dschungelpfad endete an einer befestigten Straße, auf die Arik nach links einbog. Dominic jagte ihm nach, obwohl er dachte, sie hätten sich eigentlich nach rechts wenden müssen. Er war schließlich der Besucher, und er vertraute darauf, dass Yacoby sich hier weit besser auskannte als er.

Yacoby war zwar auch kein Einheimischer, aber er lebte bereits einige Jahre hier. Seine ausgezeichnete körperliche Verfassung zeigte, dass er diese Wege und Straßen bereits Hunderte Male entlanggelaufen sein musste.

Dom wusste nur wenig über Arik Yacobys Vergangenheit, nur dass er Israeli war, nach Indien ausgewandert war und früher einmal in der Armee gedient hatte. Dom hatte keinerlei Probleme, sich Arik als Elitesoldaten vorzustellen. Seine Fitness und Disziplin und das selbstsichere und entschlossene Funkeln in seinen stählernen Augen zeigten dies jedem, der wusste, worauf er achten musste.

Dom war nach Indien gekommen, um sechs Wochen mit diesem Mann zu trainieren. Yacoby besaß den schwarzen Gürtel des vierten Grades in Krav Maga, einer Kampfsportart, die für das israelische Militär entwickelt worden war. Doms Kampftraining mit Arik war für sich allein schon höchst intensiv, aber diese zusätzlichen nächtlichen Konditionstrainingseinheiten fügten dem noch eine weitere äußerst anstrengende Facette hinzu.

Sie waren geschwommen, gerannt und geklettert – oft alle drei Fortbewegungsarten in ein und derselben Nacht. Dom hatte das Gefühl, dass es Arik als seine Pflicht empfand, ihm nicht nur seine Fähigkeiten im Kampf Mann gegen Mann weiterzugeben, sondern ihm jeden körperlichen und mentalen Aspekt zu vermitteln, den ein Mitglied der israelischen Streitkräfte besitzen musste.

Zumindest alles außer dem Gebrauch von Schusswaffen. Dies hier war Indien, und obwohl Yacoby jetzt seinen ständigen Wohnsitz in Paravur hatte, war er kein Polizist und kein Soldat und konnte deshalb legal auch keine Waffe erwerben.

Dom glaubte jedoch nicht, dass die fehlende Schusswaffe Yacoby in irgendeiner Weise ungefährlicher machte.

Dieser Aufenthalt in Indien, um Krav Maga zu üben, war der dritte von fünf Teilen eines viermonatigen Trainingskurses, den sich Dominic Caruso selbst verordnet hatte. Bevor er hierher kam, war er drei Wochen bergsteigen im Yukon-Territorium, wobei ihn ein altgedienter kanadischer Alpinist seine gesamten Kniffe lehrte. Davor hatte er sich zwei Wochen lang in Reno, Nevada, von einem Meisterzauberkünstler die besten Taschenspielertricks und andere Ablenkungsmethoden beibringen lassen.

Nach seinem Krav-Maga-Training in Indien sollte Dom nach Pennsylvania fliegen, um dort mit einem ehemaligen Scharfschützen der US-Marines das Schießen über große Entfernungen zu üben. Als Letztes würde er direkt ins japanische Sapporo zu einem Schwertkampfmeister reisen.

Bei jeder dieser Trainingsphasen profitierte Dom von der Erfahrung dieser Spezialisten, die sich ihm ganz allein widmeten. Dabei löcherte er sie buchstäblich mit Tausenden von Fragen. Die Trainer stellten ihm dagegen kaum eine Frage. Sie kannten seinen wirklichen Namen nicht – Arik sprach ihn einfach mit »D« an –, sie wussten nicht, für welche Organisation er tätig war, und sie wussten auch sonst nichts über seinen Hintergrund. Sie wussten nur, dass Dom den Segen wichtiger Persönlichkeiten aus der US-amerikanischen Geheimdienstgemeinschaft besaß. Mehr mussten sie auch nicht wissen. Ihnen war bewusst, dass Dom zur CIA, DIA, JSOC oder einer anderen Organisation mit einem Akronym gehörte, das möglicherweise Ärger bedeuten konnte, wenn man ihr zu nahe kam, und Caruso selbst tat nichts, um diese Meinung zu zerstreuen. Dabei gehörte er zu keiner von ihnen. Er war nicht einmal Mitglied einer offiziellen Regierungsbehörde.

Stattdessen war Dominic Caruso Einsatzagent einer Organisation, die sich Campus nannte. Es handelte sich um einen geheimen, nicht staatlichen Nachrichtendienst mit einer Abteilung für direkte Vor-Ort-Einsätze. Nur wenige im offiziellen Staatsapparat wussten überhaupt von der Existenz des Campus. Diese wenigen hatten jetzt ihre Beziehungen zu Eliteausbildern in der ganzen Welt spielen lassen, um Dom und seinen Mitagenten ein persönliches Spezialtraining bei Kampfsportlern, Bergsteigern, Scharfschützen, Tauchern, Extremsportlern, Sprach- und Kulturexperten und Meistern in irgendeiner anderen Disziplin zu vermitteln, die sie einmal bei ihren Geheimeinsätzen benötigen könnten.

Vor seiner Zeit beim Campus war Dom Spezialagent beim FBI gewesen. Dort hatte er zwar eine Menge Praxistraining erhalten, aber die FBI-Akademie in Quantico ließ ihre Rekruten dennoch keine Berge emporklettern oder durch tropische Sümpfe schleichen.

Caruso hatte auf dieser sehr speziellen Trainingstour bereits eine Menge gelernt, aber seine Zeit hier mit Arik Yacoby war die bisher schönste Erfahrung. Dies lag vor allem an Yacoby und seiner Familie. Ariks Frau Hanna, eine Yogalehrerin, hatte ihn wie einen lange vermissten Verwandten in ihr Haus aufgenommen, und ihre beiden kleinen ein- und dreijährigen Jungen Mosche und Dar behandelten ihn von Anfang an wie einen menschlichen Abenteuerspielplatz und kletterten jeden Abend spielerisch an ihm hinauf, während die Erwachsenen im Wohnzimmer von Ariks rustikalem Dorfbauernhaus saßen und sich bei gutem Essen und Bier über alles Mögliche unterhielten.

Dominic war als überzeugter Junggeselle nicht wenig überrascht, wie sehr er diesen Einblick in ein Familienleben genoss.

An diesem Abend hatte sich Dom nach dem gemeinsamen Abendessen in sein Zimmer zurückgezogen, um seine »Hausaufgaben« zu machen und über die Philosophie des Krav Maga zu lesen. Noch vor elf Uhr war er eingenickt, aber kurz nach Mitternacht riss Yacoby die Tür auf und erklärte ihm, er habe genau drei Minuten Zeit, um Shorts und Laufschuhe anzuziehen und ihn vor dem Haus zu treffen.

Diese Nachtübungen, wie sie Yacoby nannte, sollten Carusos Körper daran gewöhnen, sich an plötzliche Arbeitsanforderungen anzupassen, auch dann, wenn er nur wenig geschlafen hatte oder sein Biorhythmus ihm mitteilte, es sei Zeit, die Arbeit erst einmal einzustellen.

Tatsächlich hatte sich Doms Körper, wenn auch zögerlich, an diesen Trainingsplan gewöhnt, während Arik selbst die Lauf- und Schwimmübungen mitten in der Nacht sogar zu genießen schien.

Drei Minuten nachdem Yacoby Caruso aufgeweckt hatte, begannen die beiden Männer ihren Nachtlauf. Sie wählten eine Straße, die sie aus der Ansammlung von Farmen und Bungalows des jüdischen Viertels in die Palmenwälder hinausführte. Dort wandten sie sich nach Westen in Richtung Meer, um kurz darauf nach Norden abzubiegen. Sie ließen das Nachbardorf hinter sich und joggten einen Dschungelpfad entlang, der manchmal in dieser vollkommenen Dunkelheit unter dem doppelten Blätterdach der Kokospalmen und Bananenbäume fast unpassierbar war.

Als sie das Ufer des Paravur-Sees erreichten, stürzte sich Yacoby ins Wasser, ohne groß an Geschwindigkeit zu verlieren. Seine ruhigen, aber kräftigen Bruststöße brachten ihn so schnell vorwärts, dass Dom nur in einem wilden australischen Kraulstil mithalten konnte.

Dom mochte diesen See überhaupt nicht. Als er beim ersten Mal an seinem anderen Ende ankam, stellte er voller Schrecken fest, dass er nur wenige Schritte von einem Nest voller Kobras entfernt war. Arik lachte über Doms Panik und erklärte ihm, dass die Kobras wie die meisten gefährlichen Lebewesen auf diesem Planeten nur in Ruhe gelassen werden wollten. Wenn sich Dom also ruhig verhalte, würden sie ihrerseits ganz bestimmt nichts unternehmen.

An diesem Abend bemerkte Dom im Uferschilf eine riesige Python. Als er Ariks Rat beherzigte und sie einfach ignorierte, schlängelte sie sich davon, und die beiden Männer konnten ohne weitere Komplikationen ihre Schwimmstrecke beenden. Dann liefen sie auf einem Damm an einem großen Maniokfeld entlang, bevor sie erneut den Dschungel erreichten und die nächsten dreieinhalb Kilometer dem zweiten stockdunklen Pfad an diesem Abend folgten.

Auf einer befestigten Straße erreichten sie bald das Dorf Nord-Paravur. Ein kleines Tuk-Tuk knatterte auf der ansonsten völlig leeren Straße an ihnen vorüber. Sein Zweitaktmotor hustete vor sich hin, als es an einem Haus anhielt, um eine Frau abzuholen, die zur örtlichen Bushaltestelle wollte, um zu ihrer Frühschicht in einer Fabrik in Kochi zu fahren. Arik und Dom winkten dem Fahrer und der Frau zu, als die Motorrikscha direkt vor ihnen wendete.

Schließlich wurde Arik langsamer und ging in den Gehschritt über. Er atmete zwar etwas angestrengt, konnte jedoch ohne Probleme sprechen: »Bis nach Hause sind es noch zwei Kilometer. Auf dem Rest der Strecke machen wir es uns bequem. Heute Nacht werde ich Sie ein wenig schonen.«

Dom versuchte, sein Keuchen zu unterdrücken. Trotzdem konnte er kaum antworten. Zwischen seinen Atemstößen brachte er nur ein gepresstes »Vielen Dank« heraus.

»Morgen früh werden Sie mir erst recht danken. Wir fangen mit einem Vollkontakt-Training im Dojo an und schwimmen danach noch vor dem Mittagessen eine ziemlich lange Strecke.«

Dom nickte nur und sog beim Gehen gierig die heiße, nasse Luft ein.

Einige Sekunden später tauchten hinter ihnen die Lichter eines Fahrzeugs auf. Die beiden Männer verließen kurz die Fahrbahn, als ein großer brauner Milchlieferwagen auf seinem Weg nach Süden an ihnen vorbeifuhr.

Arik runzelte beim Anblick des Fahrzeugs die Stirn, sagte jedoch kein Wort.

Eine Minute später gingen Dom und Arik an der dunklen örtlichen Synagoge vorbei. »Auf dem Friedhof dahinter liegen Vorfahren von mir«, sagte Arik. »Das hier ist die älteste jüdische Gemeinde in Indien, wissen Sie.«

Dom nickte nur. Ihm fehlte immer noch der Atem, um etwas zu entgegnen, aber er musste doch ein Lächeln unterdrücken. Schließlich hatte ihm Arik das im vergangenen Monat bereits ein halbes Dutzend Mal erzählt. Yacobys Vorfahren hatten tatsächlich seit ewigen Zeiten an der Westküste Indiens gelebt, bis seine Familie von hier nach Israel ausgewandert war. Er war vor einigen Jahren während eines Urlaubs vom Militärdienst hierher zurückgekehrt, um seine Wurzeln zu erforschen. Als er damals die alte Synagoge besuchte und durch die Straßen von Nord-Paravur ging, entschloss er sich, eines Tages zurückzukehren und hier zu leben, die kleine jüdische Gemeinde zu verstärken und seine Kinder auf demselben Land großzuziehen, auf dem seine Vorfahren bereits über viele Generationen gewandelt waren.

Das mochte Dom an Arik. Er war charakterstark und zielstrebig.

Die kleine Farm der Yacobys lag am Ende einer langen Stichstraße, die von der Temple Road abzweigte. Auf beiden Seiten lag dichter Dschungel und hinter dem Farmhaus ein riesiges Pokkali-Reisfeld. Das Gelände war vom Rest des Dorfes abgeschnitten, aus diesem Grund fiel Arik und Dom das Fahrzeug, das vor ihnen am Straßenrand parkte, bereits auf, als sie noch gut fünfzig Meter von ihm entfernt waren.

Es war der Milchlieferwagen, der vor zehn Minuten an ihnen vorbeigeprescht war.

Yacoby packte Dom am Arm und ging langsamer. »Der gehört nicht hierher.«

Als sie sich dem Wagen näherten, waren sie eher neugierig als besorgt. Als sie durch die Fenster schauten, merkten sie, dass er leer war.

Arik schaute die Straße in Richtung seiner Farm hinunter.

»Den Lieferwagen habe ich früher schon mal gesehen«, sagte Dom.

Arik zog sein Handy aus einer wasserdichten Tasche seiner Cargo-Shorts. Gleichzeitig sagte er: »Ja, aber nicht hier. Er liefert Milch von einer Farm nördlich der Stadt nach Kochi im Süden. Seine tägliche Fahrtstrecke geht zwei Kilometer westlich von hier vorbei.«

Caruso war beeindruckt. Yacoby kannte also die Bewegungen eines einzelnen örtlichen Fahrzeugs mit einer solchen Genauigkeit. Trotzdem teilte er die offensichtliche Besorgnis seines Trainers noch nicht.

Yacoby wählte die Nummer seiner Frau, während er die Straße weiter entlangging. Dom folgte dicht hinter ihm. Nach einem kurzen Moment schaute Arik auf sein Handy.

»Kein Netz.«

»Passiert das hier öfter?«, fragte Dom.

»Gelegentlich«, antwortete Arik flüsternd. »Aber ich glaube nicht an solche Zufälle. Hier geht etwas Seltsames vor.«

Dom fand, dass Arik seine Schlüsse etwas voreilig zog. Yacoby kannte jedoch die Gegend und die hiesigen Bedrohungen viel besser als er. »Schauen wir einfach mal nach«, sagte Dom und wollte auf der Straße weitergehen.

»Nicht auf diesem Weg«, entgegnete Arik. »Wir nähern uns von Westen her durch die Bäume.« Arik verschwand im dichten Unterholz, und Dom folgte ihm.

Im Dschungel selbst merkte Dom, dass der gar nicht so dicht war, wie er von außen erschien. Alle Kokospalmen und Bananen-, Jakaranda- oder Mangobäume ließen in ihrem Umfeld keinen Konkurrenten groß werden. Es gab also zwischen den Stämmen genug Platz, um ohne größere Schwierigkeiten hindurchzukommen. Außerdem beschränkte das wenige Licht, das bis zum Boden durchdrang, das Unterholz. Arik hatte zwar eine Taschenlampe dabei, ließ sie jedoch in der Tasche. Stattdessen nutzte er das schwache Leuchten seines Handys, um sie beide durch den Dschungel zu führen, ohne dabei ihren Standort zu verraten. Trotzdem kamen die beiden Männer schnell voran. Beide trieb der Wunsch vorwärts, endlich herauszufinden, wer die Handyverbindung gekappt und den Lieferwagen abgestellt hatte.

Als sie den Dschungel schließlich verließen, standen sie direkt hinter einem Holzschuppen, der neben der Kieszufahrt zu Ariks Farmhaus lag. Die beiden Männer ließen sich auf ein Knie nieder und musterten das ganze Grundstück. Dabei kam ihnen ihre ausgezeichnete Nachtsicht zugute. Sie hatten schließlich die letzten anderthalb Stunden draußen in der Dunkelheit verbracht. Deswegen waren ihre Pupillen inzwischen darauf eingerichtet, auch noch das letzte Quäntchen Umgebungslicht aufzufangen.

Die Farm war nur etwa anderthalb Hektar groß. In ihrer Mitte standen das zweistöckige Wohnhaus, ein langes einstöckiges Gebäude, das Arik in sein Dojo und Hannas Yoga-Studio umgewandelt hatte, und dahinter ein großer Hühnerstall neben dem Gemüsegarten. Auf der Zufahrt parkten direkt vor dem Wohnhaus Yacobys Kleintransporter und seine zwei Jeeps.

Caruso griff langsam zu Yacoby hinüber und kniff ihn ganz leicht in den Arm. Der Israeli folgte dem Blick des Amerikaners. In der Dunkelheit konnte er auf der anderen Seite eines kleinen Teichs vor dem Wohnhaus eine Bewegung ausmachen. Es war eine menschliche Gestalt, das war sicher, aber bei dieser Dunkelheit ließ sich unmöglich Näheres feststellen.

Einige Sekunden später wandten sich die beiden Männer dem Geräusch von knirschendem Kies zu. Eine zweite Gestalt huschte zwischen Ariks und Hannas Jeeps hindurch, die nebeneinander auf der Zufahrt standen. Von dort bis zu den Männern, die zwischen den Palmen knieten, waren es nicht einmal zwanzig Meter. Die zweite Gestalt gesellte sich zu der ersten neben dem Teich. Gemeinsam schienen sie jetzt das Haus zu beobachten.

Dominic hatte zuerst gedacht, Arik habe bei dem Anblick des leeren Lieferwagens überreagiert, aber jetzt fing sein Herz heftig zu schlagen an, und er spürte den dumpfen Schmerz in seinem Kreuz, der ihn jedes Mal in einer Gefahrensituation überkam. Irgendetwas Ominöses ging hier vor, und er war sich schmerzlich bewusst, dass er und sein Trainer unbewaffnet waren und nichts außer Cargo-Shorts trugen.

Arik zog Dom ein paar Meter in die Deckung zurück und erklärte ihm im Flüsterton, während seine Augen immer noch die Dunkelheit vor ihnen zu durchdringen versuchten: »Also zwei Leute vor dem Haus. Vielleicht kann ich erkennen, ob sie irgendwelche Waffen haben. Sie sollten sich durch die Bäume hindurcharbeiten und schauen, ob sich hinter dem Haus auch jemand befindet. Danach kommen Sie hierher zurück. Los!«

»Arik, wenn das eine Art Test ist oder …«

Yacoby wandte sich Caruso zu. Seine Augen waren starr vor Sorge, und sein Kinn war vorgereckt und leicht erhoben. »Das ist keine Übung, D. Das ist die Wirklichkeit.«

»Verstanden.« Dom schlich davon.

Caruso benötigte weniger als eine Minute, bis er einen Blick auf die Rückseite des Grundstücks werfen konnte. Zuerst fiel ihm nichts auf außer einem gelegentlichen Flügelschlag im Hühnerstall und einer großen Eidechse, die den oberen Rand eines Holzzauns beim Gemüsegarten entlanghuschte. Gerade als er wieder zum Holzschuppen zurückkehren wollte, spürte er in der Dunkelheit direkt hinter dem Haus eine Bewegung. Er schlich ein paar Meter nach rechts und reckte den Hals, um zu erkennen, was dort vor sich ging.

Jetzt sah er sie trotz der schwarzen Nacht. In dreißig Meter Entfernung standen zwei Gestalten. Wenigstens eine von ihnen besaß eine Waffe, die von einem Gurt über ihrer Schulter herabhing. Beide trugen dunkle Kleidung und standen dicht nebeneinander im Zentrum des Hinterhofs. Ihr Gesicht war Ariks Haus zugewandt.

Dom vermutete, dass einer von ihnen eine Maske trug, da sich kein Mondlicht in seinen Gesichtszügen spiegelte. Über ihre Volkszugehörigkeit oder ihre Absichten konnte er nichts sagen. Er konnte nicht einmal erkennen, um welche Waffe es sich handelte. Er zog sich in den Palmenwald zurück und machte sich so leise wie möglich auf den Rückweg. Hinter dem Holzschuppen wäre er fast an Arik vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken.

»Und?«, fragte Arik und tauchte aus der fast vollkommenen Dunkelheit auf.

»Zwei Männer. Ich habe eine Schusswaffe gesehen. Eine Maschinenpistole oder so etwas. Was genau, konnte ich nicht erkennen. Sie beobachten das Haus von jenseits des Hühnerstalls aus. Sind die Kerle hier vorne bewaffnet?«

»Einer hat eine Micro-Uzi und trägt eine Maske. Der andere hat vielleicht eine Pistole, aber ich kann seine Hände nicht deutlich sehen.«

Doms Gedanken überschlugen sich. »Shit. Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, dass es sich um indische Polizisten handelt?«

Yacoby schüttelte den Kopf.

»Was denken Sie?«

»Zwei-Mann-Feuerteams. Das ist die klassische Vorgehensweise der Fedajin.«

»Laschkar?«, fragte Dom. Die Laschkar-e-Taiba waren eine pakistanische Terrororganisation, die seit Jahren in Indien aktiv war.

»Vielleicht«, erwiderte Arik, klang jedoch nicht sehr überzeugt.

»Glauben Sie, dass sie das Haus angreifen werden?«

Bevor Arik etwas antworten konnte, schallte der Schrei einer Frau durch die heiße Nachtluft. Es war Hanna, Ariks Ehefrau, die dort schrie, wie Dom sofort erkannte. Sie klang eher kämpferisch als ängstlich, aber ihre erhobene Stimme in der ansonsten so stillen Nacht ließ einem das Blut gefrieren.

Yacoby sprang auf und wollte erst in Richtung des Schreis seiner Frau laufen, aber er fing sich wieder und ging erneut auf die Knie. »Das haben sie bereits«, flüsterte er. »Die da vor uns sollen das Ganze nach außen absichern. Drinnen gibt es noch ein paar andere. Wenigstens zwei. Es könnten aber noch mehr sein.«

Dom schaute den Israeli entsetzt an. Er bemerkte die verhältnismäßige Ruhe in Yacobys Stimme. Er war angespannt, aber es war keinerlei Panik zu erkennen. Natürlich musste er an seine Frau und seine Kinder denken, aber es gelang ihm irgendwie, diesen Gedanken beiseitezuschieben und sich ganz auf das Problem vor ihm zu konzentrieren.

Irgendwie musste er an den vier Männern draußen vor seinem Haus vorbeikommen.

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Caruso.

Arik beobachtete immer noch das Haus. Er sprach schnell, aber leise. »Es würde eine halbe Stunde dauern, um die Ortspolizei hierherzubekommen, und ich könnte mir vorstellen, dass sie die Lage eher noch schlimmer machen würden. Keiner meiner Nachbarn hat einen Festnetzanschluss oder eine Schusswaffe. Ich muss mit dieser Situation allein fertigwerden.«

»Richtig.«

»Hanna und ich haben einen Notfallplan vereinbart. Wenn sie noch die Zeit dazu hatte, hat sie die Kinder in das Badezimmer neben unserem Schlafzimmer gebracht. Dort gehe ich jetzt hin. Ich gehe direkt ins Haus. Von der Zufahrt führt eine Seitentür in die Küche.«

»Und ich?«

»Sie bleiben hier. Beobachten Sie die Männer hinter dem Haus und schlagen Sie Alarm, wenn es ein Problem geben sollte.«

Caruso schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht infrage. Ich werde Sie begleiten. Ich kann Ihnen im Haus besser Deckung geben.«

Arik drehte nicht den Kopf zu Dom, sondern nickte nur leicht, während er seine Augen weiterhin auf die Szene vor ihm richtete. »Gut. Dann gehen wir gemeinsam zur Seitentür hinüber. Wenn wir drinnen sind, hole ich mir ein Küchenmesser und versuche, zu meiner Familie im ersten Stock zu gelangen. Sie greifen sich ebenfalls ein Messer und nehmen sich die vier Typen hier draußen vor, wenn sie ins Haus eindringen wollen.«

Es klang für Dom wie ein Himmelfahrtskommando, aber er sah ebenfalls keine andere Möglichkeit.

Yacoby stand ganz langsam auf und machte sich bereit, aufs Haus zuzueilen, als er sich plötzlich noch einmal Caruso zuwandte. »Wenn mir etwas zustoßen sollte und Sie dorthin gelangen können: Ich bewahre ein Tavor-Gewehr und sechs Magazine in einer Stahlkiste mit Zahlenschloss unter meinem Bett auf. Die Kombination ist eins, neun, sechs, sechs, vier.«

Dom wusste, dass Arik hier in Indien eigentlich kein Gewehr haben durfte, aber er war dennoch nicht sehr überrascht.

»Eins, neun, sechs, sechs, vier. Verstanden.«

In aller Eile, aber immer noch flüsternd, sagte Arik: »Es darf jetzt kein Zögern geben. Sie dürfen gegenüber diesen Männern keinerlei Gnade walten lassen.«

Dom stand auf. »Gehen Sie einfach zu Ihrer Familie.«

Die beiden Männer bewegten sich gerade auf den Holzschuppen zu, als Hanna Yacoby erneut einen Schrei ausstieß. Ihre Stimme schnitt wie ein Messer durch die schwülheiße Nacht.

 

 

2

Arik und Dom krochen vorsichtig quer über die Zufahrt und zwischen den Autos hindurch, wobei sie sich Knie und Hände an dem ausgestreuten Muschelsplitt aufrissen. Dom folgte Yacoby und ließ dabei ständig seine Augen zwischen diesem und dem wenigen hin und her wandern, das er von dem hinteren Teil des Grundstücks erkennen konnte. Er hoffte inständig, dass keiner der Männer dort ein Geräusch hörte und herbeieilte, um nach dem Rechten zu sehen. Gleichzeitig versuchte Yacoby, die Männer vor dem Haus im Auge zu behalten. Hauptsächlich wollte er jedoch so schnell wie möglich die freie Fläche überwinden.

Als sie an der Seitentür ankamen, streckte Arik einen Arm in die Höhe, bis er mit der Hand den Türgriff erreichte. Er drückte diesen ganz langsam nach unten. In diesem Moment hörte man aus dem Obergeschoss des Farmhauses zum dritten Mal lautes Schreien. In diesem Fall stammte es jedoch eindeutig von einem Mann, aber Arik konnte die Worte nicht verstehen. Er nutzte jedoch den Lärm, um in die dunkle, leere Küche zu schlüpfen.

Caruso folgte direkt hinter ihm. Drinnen griffen sich beide Männer zwei scharfe Schneidemesser aus einem Messerblock. Sie sprachen dabei kein einziges Wort. Arik verschwand in dem dunklen Gang, der zur Treppe im ersten Stock führte, während Dom den einzigen Platz in der Küche einnahm, von dem aus man beide Eingänge sehen konnte. Er war jetzt neun Meter von der Vordertür und etwas über vier Meter von dem Seiteneingang in die Küche entfernt. Offen gestanden war das nicht gerade eine ideale Position, um sich im Notfall bewaffneten Eindringlingen entgegenzustellen. Er konnte sich also nur innerlich auf einen solchen Fall vorbereiten und hoffen, dass Yacoby es zu seiner Familie oder zu seinem Gewehr schaffte, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen, das den Feind aufmerksam machte und eine Verstärkung ins Haus schicken ließ.

Als er seine Optionen überdachte, ging er zum Messerblock hinüber, um sich mit einer zweiten Waffe auszurüsten. Dieses Mal entschied er sich für ein gut ausbalanciertes, scharfes Schälmesser. Danach kehrte er zu seinem Beobachtungsposten zurück.

Dies mochte zwar immer noch ein Himmelfahrtskommando sein, aber Caruso würde sich bestimmt nicht kampflos seinem Schicksal ergeben.

Arik Yacoby hatte zwar keine Ahnung, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte, aber er kam zu dem Schluss, dass das Erdgeschoss sauber war. Er konnte nur den einen Mann über ihm hören, der seiner Frau brüllend Fragen stellte, die jetzt genauso wütend zurückschrie.

Am Fuß der Treppe zog er seine Laufschuhe aus und schlich möglichst leise nach oben. Dabei hielt er sich dicht an der Wand, weil dort die Stufen nicht so knarrten.

Oben angekommen, konnte er kaum bis zum Ende des Ganges sehen, der das gesamte zweite Stockwerk durchlief. Eine offene Badezimmertür etwa in der Mitte des Ganges auf der rechten Seite ließ zumindest so viel Mondlicht herein, dass er erkennen konnte, dass die Schlafzimmertür am anderen Ende des Flurs offen stand. Es bewegten sich jedoch keine Schatten durch das schwache Licht, was ihm zeigte, dass das Badezimmer entweder leer war oder ein möglicher Eindringling dort drinnen vollkommen stillhielt. Die beiden Türen auf der linken Seite standen ebenfalls offen, aber die Zimmer dahinter waren stockdunkel. Das erste war sein eigenes Arbeitszimmer und das zweite das Zimmer seiner Kinder.

Langsam bewegte er sich mit stichbereitem Messer den Gang entlang.

Er konnte den Mann, der seine Frau im Schlafzimmer befragte, jetzt verstehen. Er sprach englisch und fragte sie wohl nicht zum ersten Mal, wohin ihr Ehemann gegangen sei. Er klang frustriert, fast verzweifelt, und das Klatschen einer offenen Hand auf Fleisch und der anschließende Schrei seiner Frau zeigten Yacoby, dass der Eindringling Hanna bisher nicht zum Reden gebracht hatte.

Arik suchte im Mondlicht im Badezimmer erneut nach der Anwesenheit eines Gegners, konnte jedoch weiterhin keine Bewegungen erkennen. Er musste zunächst die beiden Zimmer auf der linken Seite überprüfen, bevor er zum Ende des Gangs weitergehen konnte. Als er sich gerade auf sein Arbeitszimmer zubewegte, trat plötzlich ein Mann aus dem dunklen Raum auf den Flur hinaus. Er trug eine schwarze Sturmhaube und war mehrere Zentimeter größer als Yacoby. Ihre Augen begegneten sich einen Moment. Arik spürte, dass der Mann eine Waffe in der Hand hielt, aber er nahm sich nicht die Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Stattdessen schoss seine eigene Hand wie ein Kolben nach vorne. Er stach dem Mann sein Messer in den Arm, verlor dabei jedoch kurzzeitig das Gleichgewicht, als sich sein Gegenüber zur Seite drehte. Yacoby fing sich jedoch sofort wieder und ging mit der Geschicklichkeit und Schnelligkeit eines Krav-Maga-Meisters erneut zum Angriff über. Er packte den Gurt der Maschinenpistole des Maskierten, riss ihm die MP aus der Hand, drehte sie um und richtete sie auf das Gesicht seines Gegners. Der maskierte Terrorist versuchte, die Hände hochzureißen, um sich selbst zu verteidigen, aber Yacoby stach mit der kurzläufigen MP wie mit einer Stichwaffe zu und trieb deren Mündungsfeuerdämpfer in die Augenhöhle des Mannes. Dessen Kopf schnappte nach hinten. Als der Eindringling rückwärts in das Arbeitszimmer zurücktaumelte, stürzte sich der Israeli auf ihn, verdeckte dessen Mund mit der Hand und zog ihn auf den Boden. Dort brach er dem Mann mit einer ruckartigen Bewegung das Genick.

Der Israeli schnallte in aller Eile die Uzi von ihrem Gurt ab und schaute sich nach weiteren Bedrohungen um. Sein Arbeitszimmer war zwar leer, aber als er wieder auf den Gang hinausschaute, tauchte aus der Tür des Elternschlafzimmers plötzlich eine Gestalt auf. Arik konnte sie im schwachen Mondlicht kaum erkennen, aber es handelte sich ganz klar um einen erwachsenen Mann, der jetzt schnell den Arm hob.

In diesem Augenblick wusste Arik, dass er die Uzi abfeuern musste. Dies würde jedoch jeden Bewaffneten auf seinem Grundstück sofort alarmieren. Er zielte und gab nur einen einzigen Schuss ab. Den bewaffneten Eindringling riss es herum. Er schrie laut auf und griff sich an den Hals, als er zu Boden fiel.

Arik rannte jetzt den Gang hinunter. Er wusste, dass er möglichst schnell zu seiner Familie gelangen musste. Er hielt die rauchende Uzi im Anschlag, als er durch die letzte dunkle Tür auf der linken Seite schaute und dabei auf jede Bewegung achtete. Es war das Kinderzimmer, und er war froh, dass es leer war. Seiner Frau war es also offenbar gelungen, sie in das Badezimmer neben dem Elternschlafzimmer zu bringen.

Er wollte gerade als Letztes die Gangtoilette hinter ihm überprüfen, als er einen Mann schreien hörte. Bevor er sich umdrehen konnte, sprang eine Gestalt aus dem Badezimmer gegen seinen Rücken und schleuderte ihn gegen die Gangwand.

Arik glitt die Maschinenpistole aus den Händen, als er zu Boden stürzte.

Dom nahm an, dass der Schuss im ersten Stock zumindest einige Männer dort draußen dazu bringen würde, ins Haus einzudringen, aber er wusste nicht, durch welche Tür sie kommen würden. Seine Augen sprangen ständig zwischen dem Kücheneingang und der Eingangstür im Hausgang hin und her. Er war entschlossen, sich dem Feind entgegenzustellen, wusste jedoch noch nicht genau, wie er das anstellen sollte.

Für einige Sekunden war es still, dann gab es einen wilden Schrei und das krachende Geräusch von Männern, die auf dem Gang direkt über ihm aneinandergerieten.

Als Dom zum Wohnzimmer hinüberschaute, flog plötzlich die Haupteingangstür auf, und ein Mann stürzte herein. Dom konnte kaum mehr als seine Umrisse erkennen. Er hatte nicht die Zeit festzustellen, ob er bewaffnet war, aber dieses Risiko wollte er gar nicht erst eingehen. Er holte mit der rechten Hand hoch über seinem Kopf aus und schleuderte das Schälmesser auf den Eindringling. Dabei zielte er auf dessen Gesicht, da er wusste, dass ein solcher Neun-Meter-Wurf die Wucht des Einschlags verringern würde.

Tatsächlich drang die Stahlklinge in den Oberkörper seines Gegners direkt unter dem Schlüsselbein ein. Der Mann taumelte rückwärts durch die Eingangstür. Dom sah gerade noch, wie er zusammenbrach, bevor die federgelagerte Tür wieder zufiel.

In diesem Moment quietschte die Küchentür in seinem Rücken. Dom wirbelte herum und wollte gerade nachsehen, ob sein Angreifer eine Waffe besaß, als eine MP-Salve diese Frage klärte. Dom ließ sich hinter der Kochinsel in der Mitte der Küche auf den Boden fallen und kroch dann über den Boden, wobei er versuchte, die Kücheninsel zwischen sich und dem Mann in der Tür zu halten.

Eine weitere lange Gewehrsalve zeigte ihm, dass der Eindringling immer noch an der Tür stand. Caruso kroch links um die Kochinsel herum und sprang mit dem Messer in seiner Rechten unvermittelt auf. Mit einem einzigen Satz stürzte er sich über mindestens eineinhalb Meter auf den Eindringling, rammte ihm die Klinge bis zum Heft genau zwischen zwei Rippen in die Seite und beförderte ihn mit geballtem Körpereinsatz in die offene Speisekammer neben der Tür, wobei er den Lauf der Uzi mit Hüfte und Armen von sich wegdrückte.

Der Mann schrie vor Schmerz. Als Dom sein Gesicht gegen dessen Nylonmaske drückte, konnte er seine Angst und seinen Schweiß riechen. Er meinte auch, im Stoff seiner Kleidung den Geruch des Meeres zu erkennen. Kurz darauf spürte Dom, wie der muskulöse Körper seines Gegners allmählich erschlaffte, als der Schock eintrat und sein Gehirn nicht mehr mit genügend Blut versorgt wurde. Dom wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis der Blutverlust den maskierten Eindringling töten würde, aber bereits jetzt konnte er ihm die Uzi aus seinen schwächer werdenden Händen ziehen. Da der Angreifer sich die Waffe jedoch um den Hals gehängt hatte, musste sie Dom zuerst von ihrem Gurt lösen. In diesem Moment öffnete sich erneut die Küchentür, die sich nur anderthalb Meter hinter ihm befand. Als er sich umblickte, sah er im Mondlicht die Umrisse eines Mannes. Er hielt eine Uzi im Anschlag und war offensichtlich ziemlich überrascht, unmittelbar rechts von sich eine Zielperson vorzufinden. Er schwenkte seine Waffe in Doms Richtung.

Dom hörte auf, dem Mann, den er erstochen hatte, seine Uzi zu entwinden. Dafür war die Zeit zu knapp. Er griff hinter sich, um etwas zu finden, was er auf den Angreifer werfen konnte. Jetzt zahlte sich sein Training aus. Er hatte Krav Maga in den vergangenen Wochen nicht nur geübt, sondern regelrecht gelebt. Dabei hatte er von Arik gelernt, jedes Werkzeug, das ihm zur Verfügung stand, zur Abwehr einer drohenden Gefahr zu verwenden.

Krav Maga mochte keine attraktive Kampfsportart im klassischen Sinne sein, aber ihre Schönheit lag eben gerade in ihrer kalten Effizienz.

Caruso hoffte, mit der Hand ein Messer zu erwischen. Stattdessen schlossen sich seine Finger um den Rand eines Metalltopfs. Er packte zu, hob ihn hoch, schleuderte ihn durch die Luft und traf tatsächlich die Uzi und die Hand, die sie hielt, sodass der Schütze sein Ziel verlor.

Dom stürzte sich auf den Angreifer, schlug ihm die Faust in den Bauch und versuchte, ihm den Ellbogen ins Gesicht zu rammen. Dieser glitt jedoch ab und verursachte keinen weiteren Schaden.

Der Bewaffnete wollte einen Schritt zurücktreten, damit er seine MP wieder heben konnte, wurde jedoch durch die Kochinsel, die genau in der Mitte der Küche stand, daran gehindert.

Dom verpasste dem Mann einen weiteren Körperhaken. Der zeigte zwar eindeutig Wirkung, aber jetzt gelang es dem Angreifer, um den Rand der Insel herumzukommen und ein Stück zurückzuweichen.

Caruso griff sich ein Nudelholz und schleuderte es auf die Gestalt in der Dunkelheit. Tatsächlich traf es ihn auf der Brust und schleuderte ihn rückwärts auf den Kühlschrank im hinteren Teil der Küche.

Dom wusste, dass er sich nur ein paar Sekunden erkauft hatte, deshalb eilte er jetzt in die Speisekammer zurück, wo immer noch der Mann mit dem Messer zwischen den Rippen lag. Dom packte seine Uzi, drehte sie um, zog den Sterbenden am Gurt um seinen Hals hoch, bis die Waffe etwa auf Hüfthöhe war und ihr Lauf in die Küche hineinzeigte. Er drückte den Abzug. Es begann eine Art flammendes Inferno, als er lange Automatiksalven in Richtung des Bewaffneten am Kühlschrank abfeuerte. Die ausgeworfenen Patronenhülsen prallten von den Konservendosen in der Speisekammer ab, regneten auf Caruso herunter und verbrannten seinen nackten Oberkörper. Trotzdem feuerte er immer weiter. Die letzten beiden Stunden hatte er in fast vollkommener Dunkelheit verbracht. Aus diesem Grund wirkte das Dauerfeuer der kurzläufigen Waffe auf seine Augen, als ob er direkt in die Sonne schauen würde. Da er sein Ziel nicht erkennen konnte, hielt er die Maschinenpistole weiter nach oben, drückte den Abzug und ließ die Kugeln spritzen, bis das Magazin leer war.

Inzwischen war Dom durch das Mündungsfeuer praktisch blind geworden. Er rieb sich mit der freien Hand die Augen und schüttelte den Kopf in dem vergeblichen Versuch, das Klingeln in seinen Ohren zu vertreiben. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mit seinen brennenden Augen die Zielperson wahrnahm. Befriedigt stellte er fest, dass der Maskierte rücklings ausgestreckt tot auf dem Boden lag.

Dom wusste, dass er jetzt in den ersten Stock musste, um Arik zu helfen. Er wusste auch, dass er dafür eine geladene Schusswaffe benötigte. Er wollte sich gerade hinknien, um dem ersten Toten seine Uzi abzuschnallen, als ein weiterer Mann durch die Küchentür hereinstürzte.

Dieser Typ trug jedoch keine Sturmhaube, er war glatt rasiert und jung, und seine Augen waren voller Angst und Panik weit geöffnet. Aber er befand sich in Schlagdistanz zu Caruso, der mit dem Rücken zur Kochinsel auf dem Boden kniete.

Dom sprang auf und schlug dem Mann mit seiner freienHand direkt in den Magen. Dabei traf seine Faust auf etwas erstaunlich Hartes. Offensichtlich trug der Eindringling einen Munitionsgurt unter seiner Jacke, wahrscheinlich um ihn vor gegnerischer Sicht zu verbergen.

Dom schlug jetzt mit seiner anderen Faust zu, machte denselben Fehler jedoch nicht zum zweiten Mal. Diesmal nahm er sich das Gesicht des jungen Mannes zum Ziel und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihn auf die Kochinsel im Zentrum der kleinen Küche schleuderte.

Dom ging schnell in die Knie, packte die Uzi und jagte dem Mann, der auf der Kochinsel lag, eine Kugel in die Stirn. Die Maschinenpistole bellte in seiner Hand kurz auf, und der ganze Raum wurde durch den Mündungsblitz hell erleuchtet. Danach war alles wieder dunkel und still. Er wollte gerade durch den Hausflur zur Treppe rennen, als er plötzlich haltmachte, sich umdrehte und auf den Toten zurückschaute.

Erst jetzt fiel es ihm auf. Dieser Mann hatte keine Waffe dabei, hatte jedoch etwas Schweres und Festes umgeschnallt.

Warum zum Teufel sollte er einen Gurt voller Uzi-Magazine mit sich herumschleppen, ohne eine Uzi zu haben?

Dom eilte zur Leiche zurück und riss deren Windjacke auf. Plötzlich wich er so heftig zurück, dass er sich die Hüfte an der Kochinsel anschlug.

Der Tote, der da vor ihm im Dämmerlicht lag, trug eine Sprengstoffweste. Lange, dicke Reihen von Sprengladungen waren auf graues Tuch aufgenäht. Lose Drähte verliefen kreuz und quer über die ganze Höllenmaschine.

Caruso ließ einen erstickten Schrei los. »Arik.«

Während Dominic im Erdgeschoss um sein Leben kämpfte, hatte Arik Yacoby im Flur des ersten Stockes genau dasselbe getan. Der Mann, der ihm in den Rücken gesprungen war, war jetzt tot, sein Hals, Kiefer und Schädel waren nur noch eine undefinierbare Masse zerschmetterter Knochen. Auch Yacoby war verletzt, von seinen Lippen und aus seiner Nase troff Blut, aber er verdrängte den Schmerz und die Erschöpfung. Er tastete in der Dunkelheit nach der Uzi, bis er sie fand, packte sie mit der linken Hand und stand auf.

Hinter ihm rief seine Frau auf hebräisch: »Arik! Neschek!«Waffe!

Yacoby warf sich auf den Gangboden, drehte sich noch während des Fallens um die eigene Achse und landete auf dem Rücken, als ein Feuerstoß aus seinem Schlafzimmer überschallschnelle Geschosse in seine Richtung jagte. Die Kugeln pfiffen über ihn hinweg. Er lag flach auf dem Rücken und hielt die winzige Maschinenpistole so, dass ihre Mündung zwischen seinen nackten Füßen hindurch auf das Ende des Ganges zielte. Er konzentrierte sich dabei auf das Mündungsfeuer seines Gegners. Er feuerte nur gezielte Einzelschüsse und keine automatischen Salven ab, damit er seine Familie nicht gefährdete.

Plötzlich wurde ihm seine eigene Uzi aus der Hand gerissen. Offensichtlich hatte ein Geschoss seines Gegners sie getroffen. Wahrscheinlich war sie jetzt unbrauchbar geworden. Gleichzeitig hatte jedoch auch der Beschuss aus seinem Schlafzimmer aufgehört. Trotz seiner klingelnden Ohren glaubte Arik das unverkennbare Geräusch einer Micro-Uzi zu vernehmen, die auf dem elastischen Holzboden mit einer solchen Wucht aufprallte, dass sie noch mehrmals in die Höhe sprang.

Im Erdgeschoss spielte sich derweil offenbar ein erbittertes Feuergefecht ab. Er hörte eine lange MP-Salve, die Schreie eines Mannes und eindeutige Kampfgeräusche. Im Geist war er jedoch bereits in seinem Schlafzimmer und fragte sich, was er dort vorfinden würde.

Er sprang auf die Füße und rannte los.

Dominic Caruso eilte durch das Wohnzimmer zur Treppe. Als er an der offenen Haustür vorbeikam, schaute er kurz hinaus und erwartete eigentlich, den ersten Mann zu sehen, den er mit seinem Messerwurf außer Gefecht gesetzt hatte. Aber der Boden vor dem Haus war leer. Als Caruso die Treppe erreichte, hielt er an der unwahrscheinlichen Hoffnung fest, dass der Mann, dem er das Messer in die Brust geworfen hatte, nicht gerade ebenfalls die Treppe emporstieg und eine Sprengstoffweste trug.

Die Treppe schien jedoch frei zu sein. Dom hastete empor, wobei er drei Stufen auf einmal nahm. »Arik! Bombenweste!«

Yacoby war inzwischen im Schlafzimmer angekommen, wo seine Frau mitten im Raum an einen Stuhl gefesselt war. Ihre zerzausten Haare hingen ihr ins Gesicht. Sie schaute in der Dunkelheit zu ihm hoch.

»Die Kinder verstecken sich im Wäscheschrank. Es geht ihnen gut.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Badezimmer.

Arik war erleichtert, dass seine Familie noch lebte. Jetzt musste er jedoch ins Erdgeschoss hinunter, um seinem Schüler zu helfen. Er kniete sich hin, um die Micro-Uzi aufzuheben, die neben dem Toten auf dem Boden lag.

Dabei hörte er hinter sich ein Geräusch. Als er über die Schulter in den halbdunklen Flur zurückschaute, sah er einen jungen, glatt rasierten Mann auf sich zuwanken. Im schwachen Schimmer des Mondlichts, das aus der Badezimmertür in den Gang sickerte, konnte Arik erkennen, dass dem Mann ein Messer in der oberen linken Brust steckte. Trotzdem konnte er sich immer noch bewegen. Arik richtete seine MP auf den Mann.

Von der Treppe am anderen Ende des Ganges hörte er D rufen: »Arik! Bombenweste!«

Yacoby hatte die Brustmitte des Eindringlings als Ziel gewählt. Eine Sprengstoffweste änderte schlagartig alles. Er visierte so schnell wie möglich den Kopf des Terroristen an und schrie gleichzeitig: »Hanna!«

Dominic hatte beinahe den ersten Stock erreicht, als ihn von oben eine Welle von Licht und Hitze überflutete. Sein Gehirn registrierte die Tatsache, dass er durch die Luft flog. Er fühlte sich einen Augenblick schwerelos, bis ihn ein unglaublicher Lärm überwältigte. Er wusste, dass er nach hinten stürzte. Sein nackter Rücken traf immer wieder auf den hölzernen Stufen auf, während seine Beine irgendwie über ihm schwebten. Plötzlich rollte er rückwärts die Treppe hinunter, bis er durch das hölzerne Treppengeländer krachte und mit dem Hinterkopf auf das Teakholzparkett des Erdgeschosses knallte.

Der Aufprall setzte ihn kurzzeitig außer Gefecht, und er brauchte ein paar Sekunden, bis er wieder wusste, wo er war und was gerade passiert war. Der dichte Rauch ließ ihn husten, und seine Augen brannten, aber er verdrängte den Schmerz und bereitete sich darauf vor, in den Kampf zurückzukehren.

Er blinzelte in die immer dicker werdende schwarze Luft und kämpfte sich wieder auf die Beine. Dann stolperte er zur Treppe zurück, aber seine Beine gaben nach, und er fiel auf die untersten Stufen. Als er sich mit den Armen wieder hochzustemmen versuchte, schaute er nach oben. Der erste Stock stand in hellen Flammen, und über dem Feuer war der Nachthimmel zu erkennen.

Anscheinend war bei dieser Explosion das gesamte Hausdach weggesprengt worden.

Dom zog es erneut den Boden unter den Füßen weg, und er brach ohnmächtig zusammen, während schwarzer Rauch seinen lang ausgestreckten Körper einhüllte.

 

3

Als Caruso erwachte, wurde er von Schmerzen geschüttelt, und ihm war speiübel. Er brauchte eine gewisse Zeit, sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht verbrannt war.

Er öffnete die Augen, schaute an sich hinunter und merkte, dass er in einem Krankenhausbett lag. Dies war jedoch nicht das erste Mal, dass er wieder das Bewusstsein erlangt hatte, nachdem er in Arik Yacobys brennendem Haus ohnmächtig zusammengebrochen war. Jedes Mal konnte er jedoch nur den Kopf heben, einen kurzen Blick auf den Krankenwagen, den Hospitalflur oder das Zimmer, in dem er lag, erhaschen, bevor sein Kopf wieder zurückfiel und er erneut wegdriftete.

Er wusste nicht einmal, ob einige Stunden oder einige Wochen vergangen waren.

Als seine Sicht etwas klarer wurde, merkte er, dass ein Arzt an seinem Bett stand. Der dunkelhäutige indische Doktor mit grauen Haaren und einem jugendlichen Gesicht trug immer noch einen OP-Kittel. Er fühlte Dom den Puls und legte dazu seine Finger auf Doms linkes Handgelenk, während er auf seine Uhr schaute. Als er fertig war, blickte er Dom ins Gesicht und schien erstaunt, dass sein Patient bei Bewusstsein war.

»Aber hallo, Sir. Ich bin überrascht, Sie bereits wach zu sehen. Eigentlich stehen Sie noch unter Betäubung.«

Für Dom klang der sanfte indische Akzent des Arztes fast wie Musik, er war sich jedoch nicht sicher, ob das nicht nur ein Effekt der Beruhigungsmittel in seinem Blutkreislauf war.

Der Inder begann eine ganze Liste von Verletzungen aufzuzählen: »Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung. Nichts Ernstes, aber Sie werden ein paar Tage mit Kopfschmerzen rechnen müssen. Vielleicht sogar ein paar Wochen.« Er schaute auf sein Klemmbrett hinunter. »Sonst sind es meistens Prellungen und Schnittwunden. Ein paar waren ganz schön groß. Ihren Unterarm mussten wir mit elf Stichen nähen. Wahrscheinlich ein kleiner Bombensplitter, aber er ist glatt durch sie hindurchgegangen, deshalb sind wir uns nicht sicher. Auf ihrer rechten Brust haben Sie eine Einschlagswunde. Es war eine Metallschraube. Wir haben sie herausgeholt. Sie saß nicht sehr tief. Wir haben die Wunde gesäubert, sie dürfte sich eigentlich nicht entzünden, aber Sie sollten auf diese Verletzungen achtgeben. Weitere größere Prellungen gibt es auf …«

Der Patient unterbrach seinen Arzt. »Was ist mit den Yacobys?«

Der Arzt gab ihm keine direkte Antwort. Er trat nur beiseite, und Dominic merkte, dass noch jemand im Zimmer war und mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem billigen Lehnstuhl neben der Tür saß. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters mit nach hinten gegelten schwarzen Haaren und einem dichten Schnurrbart. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte.

»Hallo, John.«

Caruso gab keine Antwort.

»John Doe. Das ist doch Ihr Name.« John Doe war im englischen Sprachraum gewöhnlich der Name für einen unbekannten Menschen. Er musterte den Amerikaner mit ausdruckslosem, fast müdem Gesicht. »Außer Sie nennen uns einen anderen. Nicht? Wie wäre es mit John Rambo?«