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Platon ist «eins von den welthistorischen Individuen, seine Philosophie eine von den welthistorischen Existenzen, die von ihrer Entstehung an auf alle folgenden Zeiten für die Bildung und Entwicklung des Geistes den bedeutendsten Einfluß gehabt haben.» (Georg Friedrich Wilhelm Hegel). Den Schöpfer einer Ideenlehre, den Staatstheoretiker und Begründer eines eigenen Wertesystems rückt Uwe Neumann in den Kontext seiner Zeit.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2019
Uwe Neumann
Platon ist «eins von den welthistorischen Individuen, seine Philosophie eine von den welthistorischen Existenzen, die von ihrer Entstehung an auf alle folgenden Zeiten für die Bildung und Entwicklung des Geistes den bedeutendsten Einfluß gehabt haben» (Georg Friedrich Wilhelm Hegel). Den Schöpfer einer Ideenlehre, den Staatstheoretiker und Begründer eines eigenen Wertesystems rückt Uwe Neumann in den Kontext seiner Zeit.
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
Dr. Uwe Neumann, 1964 geboren, hat Klassische Philologie und Germanistik in Freiburg i. Br. und in Kiel studiert. Er wurde mit einer Arbeit zur griechischen Tragödie («Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides») 1994 promoviert. Von 1993 bis 1997 war er Assistent am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. Seit 1998 unterrichtet er an einem Stuttgarter Gymnasium und ist außerdem seit einigen Jahren in der Lehrerausbildung für alte Sprachen tätig. Für die Reihe «rowohlts monographien» schrieb er auch den Band über Augustinus (rm 50617, 1998).
rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, Mai 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek
Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: Februar 2019
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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Covergestaltung any.way, Hamburg
Coverabbildung bpk/Alfredo Dagli Orti (Kopf des Platon. Kopie aus der Zeit des Kaisers Tiberius nach einer Bildnisstatue vermutlich des attischen Bildhauers Silanion, etwa Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. München, Staatliche Antikensammlung und Glyptothek, München)
ISBN 978-3-644-00423-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Auch wenn Platon als Schöpfer der Ideenlehre und Initiator des abendländischen Philosophierens heute eher ein universeller Bezugspunkt der Philosophiegeschichte als eine konkrete Person, auch wenn seine Heimat eher die Unzahl der Bücher von Philosophen und Philosophiehistorikern als das Athen seiner Zeit zu sein scheint, seine Philosophie ist nicht im geschichtslosen Nirgendwo entstanden. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf die politischen und geistigen Veränderungen, die sich in der vielleicht dynamischsten Epoche der griechischen Antike, im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ereignet haben. Der Tiefe, in der die Menschen von diesem historischen Wandel erfasst wurden, der Dringlichkeit, mit der sich dabei neue Probleme stellen mussten, entsprach eine in der Philosophie bislang unbekannte Radikalität, mit der Platon seiner Zeit und damit der europäischen Geistesgeschichte neue Perspektiven erschloss.
Selbstverständlich kann man sich mit der Philosophie Platons auch ohne Kenntnis des historischen Umfelds beschäftigen. Doch die elementare Kraft seines Denkens wird erst dann anschaulich begreifbar, wenn man weiß, woraus es sich speist: einem Unbehagen und einer Empörung über die Verhältnisse seiner Zeit. Es ist deshalb wohl kaum übertrieben, die letzten Wurzeln für alle in den platonischen Dialogen behandelten Probleme und Themen in den Konflikten und krisenhaften Momenten seiner Zeit zu sehen.[1]
Platon wurde im Archontat des Diotimos geboren, also zwischen dem Sommer 428 v. Chr. und dem des folgenden Jahres 427 v. Chr. Kurz zuvor, 429 v. Chr., starb Perikles, jener Politiker, in dessen Regierungszeit sich die attische Demokratie fest etabliert hatte und Athen auf den Gipfel seiner Macht gelangt war. Der Weg von einem eher unbedeutenden griechischen Stadtstaat zur Großmacht hatte bereits mit den Perserkriegen begonnen, in denen den Athenern die bestimmende Rolle unter den griechischen Städten zugefallen war: Im Jahr 480 v. Chr. schlugen die Athener die persische Flotte bei Salamis vernichtend. Im Sommer 479 v. Chr. wurde bei Platäa auch das persische Heer besiegt. Durch diese beiden militärischen Entscheidungen war die Gefahr einer persischen Invasion gebannt. Die Behauptung der politischen Freiheit gegen die äußere Gefahr hatte auch Folgen im Inneren Athens: Ohne die Beteiligung aller Bevölkerungsschichten, ohne die Bereitschaft auch der nicht-adeligen Bürger, Verantwortung zu übernehmen, wäre der militärische Sieg über die Perser nicht möglich gewesen. Jetzt drängten diese Athener darauf, mehr Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Der Prozess, der zur Herausbildung der Demokratie führt, kommt in Gang. Ein zweiter Umstand unterstützte diese Bestrebungen: Athen war nicht länger ein kleiner, für sich existierender Stadtstaat, sondern hatte ein weit ausgreifendes Netz von Verbündeten geknüpft, besaß zahlreiche Inseln, nahm an vielen Stellen Einfluss und musste Politik größeren Stils betreiben. Zur Gestaltung der vielfältigen neuen Aufgaben Athens wurden weit mehr Menschen benötigt, als das vorher der Fall war. Innerhalb kürzester Zeit mussten die Athener lernen, die neu erworbene Machtfülle politisch zu gestalten. Dies führte zu einer Beteiligung der gesamten Bürgerschaft an der Politik. Ständig war man auf der Suche nach Feldherren, Schiffskommandeuren und Experten aller Art. Denn nun mussten politische Entscheidungen mit größerer Tragweite getroffen werden: Neues Wissen, neue Kenntnisse waren gefragt, um der gesteigerten Macht Athens gewachsen zu sein. Aus der Tradition ließen sich keine Maßstäbe, keine Hilfen für Handlungssicherheit gewinnen. Der Adel und sein Normgefüge verloren deshalb an Einfluss. Zu neu, zu entfernt von allem bisher Bekannten waren die politischen, gesellschaftlichen und geistigen Aufgaben, die nun der Gestaltungskraft aller Athener gestellt waren.
Diese Herausforderungen setzten einen guten Teil jener Energie frei, die zur geistigen und kulturellen Blüte, zur klassischen Periode Athens führte. Nahezu auf jedem kulturellen Feld entstanden höchste Leistungen, denen später das Prädikat des Klassischen verliehen werden sollte. Die attische Tragödie erreichte mit Aischylos, Sophokles und Euripides ihre Vollendung. Gerade in dieser Literaturform zeigt sich, wie sich die Athener in den Künsten ein Medium der Selbstreflexion geschaffen haben. Die Tragödien behandelten zwar mythische Stoffe, doch im Grunde genommen wurden die Probleme und Fragen der eigenen Zeit in verfremdeter Gestalt auf die Bühne – und in das Bewusstsein der Zuschauer – gebracht. Wie sich der Einzelne zum Staat verhalten sollte, welche Bedeutung der alte Götterglaube, die sich auflösenden adeligen Normen noch für sich beanspruchen konnten, wie die Macht den Menschen und das soziale Zusammenleben veränderte – alle diese Fragen brachten die Tragiker zur Anschauung. Ähnliche Bedeutung besaß die Geschichtsschreibung, in der Herodot und Thukydides Maßstäbe setzten. Besonders das Werk des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg zeichnet ein genaues Bild des zeitgenössischen Menschen. Den Lauf der Geschichte bestimmen bei ihm nicht mehr die Götter, sondern in der Natur des Menschen liegen die Antriebe wie Furcht, Hoffnung und das, was er das «Mehrhabenwollen» nennt. Das ästhetische Können und die ökonomische Macht Athens wurden in dieser Zeit gerade in den prachtvollen Bauten und den Skulpturen der Akropolis sichtbar. Hier entstand jener Festplatz der griechischen Götter, der bis heute als beispielhaft klassisch erscheint. Die Propyläen, der Nike-Tempel, der Marmorbau des Parthenon, in dem das berühmte Goldelfenbeinbild der Athena Parthenos, ein Werk des Bildhauers Phidias, aufgestellt wurde, ferner das Erechtheion mit der Korenhalle – alle diese Bauten sind Ausdruck des neuen Geistes und drücken die Leistungsfähigkeit Athens auf glanzvolle Weise aus. Die Athener scheinen sich an ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten geradezu berauscht zu haben. Ihr Selbstbewusstsein stieg beträchtlich, und es wurde durch die zentrale Bildungsmacht des 5. Jahrhunderts v. Chr., die Sophistik, noch weiter gehoben. Der Ansatz des sophistischen Bildungsprogramms war ausgesprochen optimistisch, verhieß es doch, mit gekonnter und wirkungsmächtiger Rhetorik ließe sich im Grunde jedes Ziel erreichen und diese Kunst sei – wie jede andere Fähigkeit auch – erlernbar. Durch ihre Bildungsangebote wollten die Sophisten das für eine politische Karriere notwendige Rüstzeug vermitteln. Insbesondere durch profunde rhetorische Schulung sollten ihre Schüler Leistungs- und Durchsetzungsfähigkeit erwerben, um den Kampf um Einfluss, hohe politische Posten und Prestige erfolgreich bestehen zu können. Der letzte Triumph dieses neuen Selbstwertgefühls war die Zuversicht, dass selbst der Zufall durch gekonnte Kalkulation auszuhebeln sei.[2] Offenbar gab es eine derartig entfesselte Dynamik nur in Athen; Thukydides jedenfalls stellt dieses athenische Wesen gegen das der Spartaner: «Sie sind Neuerer, leidenschaftlich, Pläne auszudenken und Beschlossenes wirklich auszuführen, ihr [die Spartaner] aber, das Bestehende zu bewahren, ja nichts zu erfinden und im Handeln auch das Notwendige nicht zu erfüllen. Und wiederum sind sie Draufgänger über ihre Macht, waghalsig über jede Vernunft und in Nöten hoffnungsvoll […]. Und immer gehen sie frisch ans Werk gegenüber euch Zauderern, sind Weltfahrer gegen euch Nesthocker […]. Einen nicht durchgeführten Anschlag empfinden sie, als hätten sie vom Eigentum eingebüßt, aber jede Eroberung, als sei ihnen nur ein erster Anfang gelungen; wenn ihnen gar – selten genug – ein Versuch fehlschlägt, so schließen sie die Lücke schnell durch eine neue Hoffnung – denn bei ihnen allein ist es gleich, ob sie haben oder hoffen, was sie sich vorgenommen haben, weil sie jeden Beschluß so rasch ins Werk setzen.»[3]
Die Sophisten ermöglichten ihren Schülern durch Rhetorik und Dialektik Einfluss im öffentlichen Leben zu gewinnen. Sie boten erstmals Wissen für Geld als ‹Ware› an.
Die Hauptvertreter sind:
Protagoras von Abdera, der ein stark subjektivistisch und relativistisch geprägtes Denken vertrat («Der Mensch ist das Maß aller Dinge.»);
Gorgias von Leontinoi, dessen Redelehre vor allem die Möglichkeiten psychologischer Beeinflussung heraushob;
Prodikos von Kos, dessen Synonymik in gewisser Weise der Definitionskunst des Sokrates vorarbeitete und
Hippias von Elis, der Lehrbücher zu unterschiedlichen Wissensgebieten verfasste.
Das Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten drückte sich vor allem in der Rhetorik aus, die nun zum prägenden Kommunikationsmedium wurde. Nicht dass es nicht schon vorher rhetorisches Sprechen und Sinn für sprachliche Wirkung gegeben hätte, das lässt sich schon bei Homer nachweisen. Doch im 5. Jahrhundert kam unter dem Einfluss der Sophisten der auf Wirkung zielenden Rede eine neue Qualität zu: Die Möglichkeiten, mit rhetorischen Mitteln Situationen zu beeinflussen, erweiterten sich erheblich, weil führende sophistische Denker zugleich einen erkenntnistheoretischen Relativismus vertraten. Gorgias von Leontinoi etwa stellte in seiner philosophischen Schrift «Über das Nichtseiende» drei Thesen auf: Es existiert nichts; sollte doch etwas existieren, ist es für den Menschen nicht erkennbar; und selbst wenn es erkennbar wäre, ist es nicht mitteilbar. Auf diese Weise koppelt er die Ebene der Sprache und der Verständigung von der der Wirklichkeit ab, und damit erweitert sich das Feld, auf dem rhetorische Mittel Anwendung finden können: Die Rhetorik wird aus bislang wie selbstverständlich geltenden Abhängigkeiten von realen Sachverhalten gelöst und kann gewissermaßen autonom ihre Ziele verfolgen. Das bedeutet aber, dass sich die Wahrheit einer Rede nicht mehr durch Verweis auf eine irgendwie geartete objektive Ebene beglaubigen ließ. Allein die Durchsetzungsfähigkeit, die einer Rede immanent zukommt – etwa durch geschickte Argumentation und wirkungsvolle Sprachform –, entscheidet über Sieg oder Niederlage. Diese Form der Kommunikation gab nicht mehr vor, dass die Wahrheit Kriterium einer Entscheidung sei. Die Rede ist nicht mehr Abbild von Realität, sondern bringt selbst erst Realität hervor.[4]
Die Griechen hatten eine besondere Vorliebe für Wettkämpfe, für Agone. Und der Agon wurde jetzt zum beherrschenden Muster, nach dem politische oder juristische Konflikte ausgefochten wurden. Der sophistisch geprägte Redner hat demnach nur ein Ziel: sich im Agon durchzusetzen. Um dieses Ziel mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erreichen, muss er seine Rede so flexibel handhaben, dass er je nach Situation pro oder contra argumentieren kann. Hier erhielt das ohnehin gewachsene Selbstwertgefühl des Menschen seine letzte Begründung: In dem Maß, in dem er allein mit seiner Redefähigkeit Situationen gestalten konnte, wurde die Rede zum «Inbegriff menschlichen Könnens überhaupt»[5]. In einem eindrücklichen Rededuell werden bei Thukydides die Gefahren einer schrankenlos eingesetzten Rhetorik ausgesprochen. Einer der Redner, Kleon, hält den Athenern vor: «Was geschehen soll, beurteilt ihr nach einer guten Rede als möglich, was schon vollbracht ist, nicht nach dem sichtbaren Tatbestand, sondern verlaßt euch auf eure Ohren, wenn ihr eine schöne Scheltrede dagegen hört. Auf die Neuheit eines Gedankens hereinfallen, das könnt ihr gut, und einem bewährten nicht mehr folgen wollen – ihr Sklaven immer des neuesten Aberwitzes, Verächter des Herkommens, jeder nur begierig, wenn irgend möglich, selber reden zu können, oder doch um die Wette mit solchen Rednern bemüht zu zeigen, daß er mit dem Verständnis nicht nachhinkt, ja einer geschliffenen Wendung im voraus beizufallen, überhaupt erpicht, die Gedanken des Redners vorweg zu erraten, langsam nur im Vorausbedenken der Folgen; so sucht ihr nach einer anderen Welt gleichsam, als in der wir leben, und besinnt euch dafür nicht einmal auf das Nächste zur Genüge; kurz, der Hörlust preisgegeben tut ihr, als säßet ihr im Theater, um Redekünstler zu genießen, und hättet nicht das Heil des Staates zu bedenken.»[6] Sein Kontrahent stimmt mit Kleon zumindest in der Analyse der Rhetorik als durchaus ambivalenter Gestaltungsmacht überein: Es sei für eine Stadt besser, wenn sie ungeübte Redner hätte, lautet das paradoxe Urteil des Diodotos.[7] Die Gestaltung der athenischen Politik ist zwar ohne die Rhetorik nicht vorstellbar, doch die Gefahren des so universell einsetzbaren Wortes traten im 5. Jahrhundert ebenso deutlich zu Tage. Das vorherrschende Ziel der Rhetorik war es, Macht über andere zu gewinnen. Insofern verschärfte sie die Spannung zwischen Einzel- und Gemeininteresse und heizte das Streben nach persönlicher Macht weiter an. Das Gesamtinteresse des Staates geriet so zunehmend außer Acht, und mitunter war der Zusammenhalt der Bürgerschaft akut gefährdet. Denn indem die Demokratie erstmals alle Bürger an der Politik beteiligte und dem persönlichen Erfolg keine institutionellen Schranken mehr entgegenstanden, setzte ein heftiger Wettbewerb ein. Bei Thukydides wird Perikles als der letzte athenische Staatsmann charakterisiert, der seine Kräfte in den Dienst der gemeinsamen Sache stellte. Nach seinem Tod erlangte ein neuer Typus von Politikern das Sagen, und deren egoistisches Vorgehen verursachte nach dem Urteil des Thukydides auch die Niederlage Athens: «Denn er [Perikles] hatte ihnen gesagt, sie sollten sich nicht zersplittern, die Flotte ausbauen, ihr Reich nicht vergrößern während des Krieges und die Stadt nicht aufs Spiel setzen, dann würden sie siegen. Sie aber taten von allem das Gegenteil und rissen außerdem aus persönlichem Ehrgeiz und zu persönlichem Gewinn den ganzen Staat in Unternehmungen, die mit dem Krieg ohne Zusammenhang schienen und die, falsch für Athen selbst und seinen Bund, solange es gut ging, eher einzelnen Bürgern Ehre und Vorteil brachten, im Fehlschlag aber die Stadt für den Krieg schwächten.»[8]
Vorerst jedoch führte der in Athen frisch entfesselte Wettkampf zu Erfolgen: Athen konnte seine Macht auf dem griechischen Festland und den Inseln immer mehr ausweiten. – Der rasante Machtzuwachs warf jedoch bald ein neues Problem auf: Wie sollte man mit diesem ungeheuren Phänomen umgehen? Aus Reflexen in der Geschichtsschreibung und der Tragödie wird das Erschrecken der Athener deutlich, als sie der Doppeldeutigkeit der Macht gewahr wurden: Die Macht, die man besitzt, erhält und möglichst vergrößert, steht gegen jene, von der man bedroht und sogar ernsthaft gefährdet wird, wenn man die falschen politischen Entscheidungen trifft und der Hass der Beherrschten eine Schwäche ausmachen kann. Im zeitgenössischen Denken entwickelte sich eine Auffassung von Macht, die ihrem Wesen nach als unteilbar gedacht ist und der eine Eigengesetzlichkeit zukommt, die einen Ausgleich mit moralischen oder ethischen Rücksichten weitgehend ausschließt. Bündnisse werden daher nur nach ihrem Nutzen geschlossen; in der Ausnutzung militärischer Siege kommt das Recht des Stärkeren ohne Einschränkungen zum Zuge; kein Schwächerer kann mit Gnade rechnen. Wie ein Autor anmerkt, wäre das auch völlig widersinnig, denn überall werde der Herrschende vom Beherrschten gehasst.[9] Deutlich lässt auch Thukydides die Athener eine Maxime ihres Handelns aussprechen: «Wir glauben nämlich, vermutungsweise, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht.»[10] Ähnlich ihr Feldherr Alkibiades: «So können wir es uns nicht einteilen, wie weit wir herrschen wollen, sondern nachdem wir einmal so weit sind, braucht es notwendig immer neue Anschläge auf die einen, straffe Führung der anderen, weil uns droht, selber anderen zu dienen, wenn wir nicht selber andere beherrschen.»[11] Und mit dem Verweis auf die Gerechtigkeit oder das Recht kann nur zwischen gleich starken Partnern argumentiert werden; ansonsten setzt der jeweils stärkere seine Interessen durch. Fernab jeder moralischen Bindung zählt allein der Vorteil: «Für einen Menschen, der als Tyrann, für einen Staat, der über ein Reich herrscht, ist nichts widersinnig, was vorteilhaft, nichts zugehörig, was nicht verläßlich; mit jedem muß er Freund oder Feind werden nach dem Gebot der Stunde.»[12]
Nach der Darstellung des Thukydides fallen diese Äußerungen, als der Peloponnesische Krieg schon lange ausgebrochen ist. Doch dieser Krieg hatte sich folgerichtig aus dem skizzierten Machtdenken ergeben: Er entsteht 431 v. Chr. aus den sich verschärfenden Spannungen der beiden Großmächte Athen und Sparta, die beide von dem Willen getrieben werden, die Hegemonie in Griechenland zu erringen, beide jedoch auch bedrängt von tiefem Misstrauen, ja Furcht vor ihrem Rivalen. Eine friedliche Koexistenz der beiden Staaten Athen und Sparta erschien undenkbar.
Die Furcht Spartas macht auf ein weiteres typisches Merkmal dieser Zeit aufmerksam: Trotz aller Rationalität und kalkulierten Methodik der Politik zeigen sich die Menschen paradoxerweise doch häufig in bemerkenswerter Weise von ihren Affekten gesteuert. Thukydides betont immer wieder, wie an wichtigen Weichenstellungen letztlich nicht rationales Abwägen, sondern impulsives Nachgeben gegenüber den eigenen Trieben die Entscheidung steuert. Der Kriegsausbruch ist das erste Glied in einer langen Kette emotional gefällter Entscheidungen, und der waghalsige Versuch, aus Herrschsucht auch das ferne Sizilien unter seine Kontrolle zu bringen, ist die letzte Station vor der Niederlage Athens im Jahr 404 v. Chr.
Der Peloponnesische Krieg wurde fast dreißig Jahre lang mit rücksichtsloser Brutalität und nicht minder erschreckender machtpolitischer Konsequenz geführt. Der Einfluss des Kriegserlebnisses auf Platon muss prägend gewesen sein. Seine Jugendzeit war fast ausschließlich Kriegszeit, und wenn er später eine Philosophie schuf, die sich von der empirischen Wirklichkeit distanziert, wird man bedenken müssen, dass die Welt, die er als Heranwachsender kennen lernte, vom Krieg und seinen Folgen verdunkelt und entstellt war. Vielleicht liegt hierin der erste Anstoß, eine Welt von unveränderlichen und in sich vollkommenen Ideen zu denken? In seinem letzten Werk, den Gesetzen (Nomoi), schildert Platon ein vergangenes goldenes Zeitalter, das im scharfen Kontrast zur eigenen Gegenwart steht und exemplarisch deutlich werden lässt, was Platon an seiner Zeit gestört hat. Die Menschen dieser idyllischen Vergangenheit, heißt es, hätten von den Göttern als Hilfe gegen die Not die Töpfer- und Weberkunst erhalten: Aus diesem Grunde blieben sie denn vor besonderer Armut bewahrt und demgemäß auch vor den Zwistigkeiten, deren Quelle die Armut ist. Anderseits war es aber auch unmöglich für sie, etwa reich zu werden bei dem Mangel an Gold und Silber, der damals unter ihnen bestand. In einem Gemeinwesen aber, dem Reichtum und Armut fremd sind, wird auch die beste Gesittung zu finden sein. Denn weder Frevelmut noch Ungerechtigkeit kommen da auf, auch nicht Eifersucht und Neid. So waren sie denn wohlgesittet nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch durch jene ‹Einfalt›, wie man es nennt; denn wenn ihnen etwas als (sittlich) schön oder häßlich bezeichnet wurde, so entspreche das auch, meinten sie in ihrer Einfalt, in vollstem Sinne der Wahrheit, und dieser Überzeugung folgten sie in ihrem Handeln. Denn eine Lüge zu argwöhnen, dazu fehlte ihnen die Klugheit der heutigen Zeit. […] Zahlreiche Geschlechter, die ihr Leben in der geschilderten Weise hinbrachten, werden im Vergleich […] zu den jetzt lebenden Menschen zwar weniger bewandert und kenntnisreich gewesen sein sowohl in den übrigen Künsten wie besonders in allen den Kriegskünsten, wie sie heutzutage einerseits zu Lande und zu Wasser, anderseits an Ort und Stelle in der Stadt selbst geübt werden, Rechtshändel nämlich und Auflehnungen – was der gewöhnliche Ausdruck dafür ist –, bei denen mit Wort und Tat alle möglichen Kniffe und Pfiffe zur Schädigung und widerrechtlichen Beeinträchtigung der Nebenmenschen in Anwendung kommen; dafür aber werden sie einfältiger gewesen sein und tapferer und zugleich auch besonnener und in allen Stücken gerechter. (Nomoi 679b–e)
Platon übt Kritik an einer moralischen Deformation, die sich besonders in jenem Bemühen ausdrückt, mit allzu großer Klugheit dem eigenen Vorteil zu dienen und hierfür auch bedenkenlos rhetorische Kniffe einzusetzen. In dieser Wahrnehmung trifft er sich mit vielen Zeitgenossen. Auch Sophokles warnt in seinen Dramen «Ödipus» und der «Antigone» vor der allzu großen Klugheit des Menschen, und besonders deutliche Parallelen lassen sich zu einer Passage des Thukydides ausmachen, in der die Paralyse jeder Verlässlichkeit zwischen den Menschen beschrieben wird: «So tobten also Parteikämpfe in allen Städten, und die etwa erst später dahin kamen, die spornte die Kunde vom bereits Geschehenen erst recht zum Wettlauf im Erfinden immer der neusten Art ausgeklügelter Anschläge und unerhörter Rachen. Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür: unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als aufgeschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes Art, aber behutsames Weiterberaten nahm man als ein schönes Wort zur Verbrämung der Abkehr. Wer schalt und eiferte, galt immer für glaubwürdig, wer ihm widersprach, für verdächtig. Tücke gegen andere, wenn erfolgreich, war ein Zeichen der Klugheit, sie zu durchschauen war erst recht groß, wer sich aber selber vorsah, um nichts damit zu tun zu haben, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Gegnern. […] Denn im allgemeinen heißt der Mensch lieber ein Bösewicht, aber gescheit, als ein Dummkopf, wenn auch anständig; des einen schämt er, mit dem andern brüstet er sich.»[13]
Platon wurde also in eine Zeit hineingeboren, in der ein entfesselter Krieg – den Thukydides einen «gewalttätigen Lehrer» nennt – den moralischen Verfall beschleunigte, dessen Ursachen jedoch tiefer lagen. Die Krisen und Verwerfungen seiner Zeit waren auch in einer oftmals skrupellos eingesetzten Rhetorik und im Triumph des einzelnen Interesses über das gemeine Wohl begründet. Hinzu kam, dass zu Platons Lebzeiten ein medialer Umbruch von der überwiegend mündlich bestimmten Kultur Griechenlands zur Schriftlichkeit stattfand und die mythische Überlieferung zunehmend rationalisiert und allmählich durch ausgeprägt methodische Verfahren der Wissensbeschaffung abgelöst wurde. Es gab also Anlässe und Anstöße genug für einen begabten Denker, nach neuen Lösungen zu suchen und dort Wege zu weisen, wo sich Sackgassen und Gefahren für den Menschen aufgetan hatten. Eben diesem Zweck diente Platons Philosophie: für die – vielen Anfechtungen ausgesetzte – Seele des Menschen Sorge zu tragen.
In seinen Dialogen erfahren wir fast nichts über Platon; lediglich an drei Stellen nennt er sich selbst[14], ohne dass sich aus ihnen Wichtiges über sein Leben entnehmen ließe. Weitaus ergiebiger sind die unter seinem Namen erhaltenen Briefe, besonders der berühmte siebte, der über die Versuche Platons berichtet, seine philosophischen Konzepte in Sizilien in die Realität umzusetzen. Auch wenn die Echtheit dieses Briefes nicht unangefochten ist, hat er als biographisches Dokument einen hohen Wert, da er in jedem Fall aus dem Schülerkreis Platons heraus entstanden sein muss und deshalb wohl authentische Nachrichten bietet.
Einen gewissen Quellenwert besitzen auch die bald nach Platons Tod von seinen Schülern verfassten Gedenk- und Lobesschriften. Derartige Werke stammen von Speusippos, Klearchos von Soloi und Aristoteles. Auch die Tradition, die Platon ablehnend und gar feindselig gegenübersteht, wird in dieser Zeit mit Aristoxenos von Tarent begründet. Die meisten vollständig erhaltenen Biographien Platons stammen jedoch aus dem späteren Mittel- und Neuplatonismus, ihre wichtigsten Autoren sind Apuleius, Diogenes Laertios und Olympiodorus. Wie bei anderen großen Gestalten der Antike waren auch über Platon unzählige legendenhafte Erzählungen im Umlauf. Ihr historischer Wert ist zumeist sehr zweifelhaft, oftmals enthüllen sie jedoch einen in der Rezeption als typisch empfundenen Charakterzug. So soll Platon in seiner Jugend wegen seines sittsamen Naturells niemals richtig gelacht haben.[15] Auch der Bericht, Platon habe nach der Bekanntschaft mit Sokrates seine Tragödien verbrannt, gehört in den Bereich der anekdotischen Ausmalung. Trotzdem wird erkennbar, dass Sokrates eine Wende in seinem Leben ausgelöst hat und die prägendste Gestalt seiner Entwicklung gewesen ist.
Platon wurde 428 oder 427 v. Chr. in Athen geboren. Sein Vater hieß Ariston; seine Mutter Periktione war Angehörige einer altadeligen, vornehmen Familie, zu der Solon, der Gesetzgeber Athens, in einer nicht mehr bestimmbaren Verbindung stand. Nach dem Tod seines Vaters heiratete seine Mutter ihren Onkel Pyrilampes, der zu dem Kreis um Perikles zählte. Von mütterlicher Seite hatte Platon zwei berühmte Verwandte: Kritias, der Vetter seiner Mutter, erlangte als Anführer der dreißig Tyrannen, aber auch als Autor verschiedener Schriften Bekanntheit. Ihr Bruder Charmides verwickelte sich ebenfalls in die Schreckensherrschaft der «Dreißig» und erwarb dadurch einen zweifelhaften Ruf. Beide lässt Platon ebenso wie seine Brüder Adeimantos und Glaukon in seinen Dialogen auftreten. Nach Charmides ist sogar ein Dialog benannt. Zum politischen Wirken seiner Verwandten äußert sich Platon nicht direkt. Er hatte auch eine Schwester, Potone, deren Sohn Speusippos der zweite Leiter der Akademie wurde. Platon selbst war niemals verheiratet.
Seine adelige Herkunft prädestinierte Platon für eine politische Laufbahn. Er selbst hat diese Möglichkeit, wie aus seinem Siebten Brief hervorgeht, ernsthaft erwogen: