Rache im Sturm - Hannes Nygaard - E-Book

Rache im Sturm E-Book

Hannes Nygaard

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Beschreibung

Was ist ein Leben wert? In einer gefährlichen Kurve auf Eiderstedt geschieht ein tragischer Verkehrsunfall mit einem Todesopfer. Doch niemand will den Mann kennen. Während Große Jäger und sein Team noch versuchen, die Identität des Toten zu klären, erhalten die Rettungskräfte Morddrohungen. Haben sie wirklich eine Mitschuld, wie der Verfasser der Briefe behauptet? Und wird er seine Ankündigungen wahrmachen? Für die Husumer Kripo beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: beimer/photocase.de Foto Vorwort: Oliver Schmidt, Magic-Photo Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-460-5 Hinterm Deich Krimi Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (

Das Chaos sei willkommen,

denn die Ordnung hat versagt.

Vorwort

Menschen, die– wie in dem neuen Roman von Hannes Nygaard– bedroht werden, mit empfindlichen Übeln, wie es das Strafgesetzbuch nennt, noch dazu, wenn sie auf diese Weise gezwungen werden sollen, etwas gegen ihren eigenen Willen zu tun, werden jeder natürlichen Lebensqualität beraubt. Sie entwickeln existenzielle Ängste um ihr Hab und Gut, um ihre persönliche Integrität, ihre Gesundheit, unter Umständen um andere Menschen, die ihnen lieb sind und die sie ebenfalls bedroht sehen. Bisher selbstverständliche Kontakte zu anderen Menschen und ebenso selbstverständliche Unternehmungen außerhalb der eigenen vier Wände unterbleiben, weil sie oft ohne Panikattacken nicht mehr möglich sind.

Der WEISSERING ist mit diesen Prozessen vertraut. Er begleitet regelmäßig Menschen, die in solche Situationen geraten sind, und hilft ihnen dabei, unter fachkundiger, sofern erforderlich auch therapeutischer Anleitung einen Weg zurück in die Normalität zu finden, die wieder ein Mindestmaß an Sicherheit und Zufriedenheit vermittelt. Er leistet diese Hilfe ehrenamtlich und kostenlos. Und dank der hervorragenden Arbeit seiner ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch sehr erfolgreich.

Es ist deshalb gut, zu wissen, dass es den WEISSENRING gibt. Und es ist richtig, sich dafür zu entscheiden, seine Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Dem Autor dieses Buches gebührt Dank dafür, dass er aus seiner Sympathie für den WEISSENRING keinen Hehl macht, dass er in seiner spannenden Geschichte einen Platz findet, auf den WEISSENRING und seine sozial und menschlich so überaus wichtige Arbeit aufmerksam zu machen, indem er eine seiner Protagonistinnen die Hilfe des WEISSENRINGS in Anspruch nehmen lässt.

Ich wünsche diesem Buch einen großartigen Erfolg und den Leserinnen und Lesern großes Vergnügen bei der Auflösung dieses nicht alltäglichen Falles.

Hans-Jürgen Kamp

WEISSERRING

Landesvorsitzender Hamburg

Mitglied des Bundesvorstandes

EINS

Achtzig Zentimeter Neuschnee. Mancherorts lagen über zwei Meter. Ein strahlend blauer Winterhimmel öffnete sich auf dem Bild des Kalenders, so weit das Auge reichte. Leider nicht auf Eiderstedt. Graue Wolken hingen über der Halbinsel. Gelegentlich regnete es ein wenig. Manchmal mischten sich Graupelschauer dazwischen. Alles war trist. Der Februar zeigte sich nicht von seiner besten Seite. Tönne Christiansen störte das nicht. In den kalten Monaten war seine Arbeitskraft besonders gefordert. »Heizungsbau– Klima– Sanitär«, stand auf der Seitenfront des blauen VWCrafter, mit dem er den Kreisverkehr am Ortsausgang Tönning durchfuhr. Er verzichtete auf das Blinken, als er die Runde verließ und die Bundesstraße unterquerte. Zuvor riskierte er einen Blick auf die Geschäfte und Discounter, die unterhalb der Straße ihren Platz gefunden hatten.

Christiansen schüttelte einen Glimmstängel aus der Zigarettenpackung, die er vor der Windschutzscheibe abgelegt hatte, und ließ das Feuerzeug aufflammen, das er ebenfalls gegriffen hatte. Seine Oberschenkel drückten von unten gegen das Lenkrad. Hier ging es ein Stück geradeaus. Der Verkehr auf diesem Stück war mäßig. So blieb ihm Zeit, die Zigarette anzurauchen.

»Tönne«, kam es aus dem Handy, das er mit links am Ohr hielt. »Spinnst du? Fahren, telefonieren und rauchen. Bei dir hackt es.«

»Ist ja nicht«, erwiderte Christiansen und grinste.

»Du kriegst irgendwann noch mal richtigen Ärger«, behauptete sein Chef Holger Mügge.

»Mensch. Ich bin Profi. Auf allen Gebieten.«

»Dummschnacker. Was war das in Tönning?«

Christiansen wurde kurz abgelenkt. »Arschloch«, sagte er böse und griff mit beiden Händen zum Lenkrad, als ein Rettungswagen aus der an der Straße liegenden Wache herausgeschossen kam, seinen Weg kreuzte und in die entgegengesetzte Richtung fuhr.

»Was’n los?«, wollte Mügge wissen.

»So’n Spinner. Kam vom Grundstück. Affenarsch.«

»Tönne. Sei sinnig. Fahr mir nicht den Wagen in die Grütze. Das ist unser großer.«

»Is gut, Holger. Also, ich war von der Baustelle noch mal in der Schule in Tönning und hab was an der Steuerung gemacht. Die ist im Arsch. Muss ausgetauscht werden. Aber der Hausmeister tut so, als müsste er das Ding selbst berappen.«

»Was ist damit?«

»Sag ich dir, wenn ich im Büro bin.«

Es folgte eine kurze Pause. »Wo bist du jetzt?«

»Ich bieg gleich auf dieB5 ein.«

»Also in zwanzig Minuten. Sei vorsichtig.«

»Klaro. Bin ich immer.«

Mügge hatte aufgelegt und bekam das nächste »Arschloch« nicht mehr mit. Es galt einem Kleinwagen, der mit Abstand einem Tanklastzug mit Anhänger folgte und Christiansen beim Einfädeln in den laufenden Verkehr auf der Bundesstraße zum Bremsen zwang. Christiansen warf einen Blick nach links über die Schulter und entschloss sich, vor dem weißen Sprinter einzubiegen. Er grinste, als der Bofrost-Mann hinter ihm wütend auf die Hupe drückte.

»Glaubst du Affe, ich warte, bis die Schlange durch ist?«, murmelte er zwischen den Zähnen hervor. Er hatte wahrgenommen, dass sich hinter dem Tanklaster, der aus der einzigen Raffinerie des Landes bei Heide seine flüssige Ladung gen Norden schleppte, eine lange Schlange gebildet hatte. Auf der zweispurigen Straße war nur selten ein Überholen möglich. Wer Pech hatte, musste oft vierzig Kilometer von Heide bis Husum geduldig hinter den Lkws herbummeln. Seit Jahrzehnten versäumte es eine überforderte Bürokratie, diesen Verkehrsengpass zu beseitigen.

Christiansen zog an der Zigarette, bevor er die rechte Hand ans Steuer legte und mit links eine Kurzwahlnummer auf dem Handy wählte. Dazu sah er kurz aufs Display und korrigierte seine Fahrt, als er ein wenig in Richtung der Gegenfahrbahn abdriftete. Ihn interessierte der Blick in die weite Marsch nicht. Um diese Jahreszeit war die Vegetation trostlos, die wenigen Bäume und die die Straße begleitenden Sträucher waren kahl. Er schenkte auch dem fernen Kirchturm von Oldenswort keine Aufmerksamkeit.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich eine Frauenstimme meldete.

»Hi, Tönne, wo steckst du, verdammt noch mal?«

»Reg dich ab. Ich hatte noch einen Notfall an der Schule in Tönning.«

Dorle Lankwitz, seine Lebenspartnerin, klang böse. »Du hast immer einen Notfall. Denkst du auch einmal an deine Tochter und an mich?«

»Mensch, ich reiß mir den Hintern auf, um das Geld zu verdienen.«

»Meinst du, ich hocke den ganzen Tag faul rum?«

Christiansen schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Was soll das Gezeter? Ich bin schon auf dem Heimweg.« Er hatte keinen Blick für die Landschaft, nicht für den Deich der Eider, die sich hinter dem Küstenschutzbauwerk parallel zur Straße entlangschlängelte.

»Denkst du daran, noch in Husum vorbeizufahren und Windeln zu kaufen?« Als Christiansen nicht antwortete, ergänzte Dorle Lankwitz: »Bring gleich zwei Pakete mit. Die sind in dieser Woche im Angebot.«

»Ich bin doch kein Dukatenscheißer«, fluchte Christiansen. »Weißt du, wie viel ich noch im Portemonnaie hab?«

»Dann bezahl mit der Kreditkarte.«

»Scherzkeks. Da sind wir am Limit.« Er trat auf die Bremse, als bei dem Kleinwagen vor ihm die roten Lichter aufflammten. »Arschgeigen. Was soll das?«, brummte er vor sich hin.

»Wieso kommst du mit dem Geld nie aus? Andere leben doch auch davon.«

»Die haben auch kein marodes Haus gekauft, in das sie jede Menge hineinstecken müssen.«

Es folgte eine weitere kurze Pause. »Wir brauchen auch Heizöl.«

»Ja– verdammt. Soll ich ’ne Bank überfallen? Warte noch bis nächste Woche. Dann gibt es wieder Knete.« Wütend trat er aufs Gaspedal, näherte sich dem Vordermann und musste wieder in die Bremse steigen.

»Kannst du nicht Holger um einen Vorschuss bitten?«

»Bist du nicht ganz schussecht? Ich hab von meinem Boss schon achtzehnhundert gekriegt.«

»Tönne. Ich hab noch zwanzig Euro.«

»Das muss reichen.«

»Sag das deiner Tochter.«

»Hör mal, Dorle«, schrie Tönne Christiansen. »Du hockst den ganzen Tag zu Hause rum. Sofie ist fast zwei. Das kann doch nicht so schwer sein, ihr beizubringen, dass sie nicht mehr in die Büx kacken soll. Diese Windeln kosten ein Vermögen.«

»Du kannst dich ja mal um deine Tochter kümmern.«

»Hallooo? Ich racker den ganzen Tag.«

»Meinst du, der Haushalt macht sich von allein?«

Christiansen holte tief Luft. »Immer dieser Stress, den du machst.«

»Ich und Stress? Du bist doch ständig unterwegs.«

»Wirfst du mir auch noch vor, dass ich am Wochenende Sport mache?«

»Sport?« Dorle Lankwitz lachte bitter auf. »Wenn ihr überhaupt eine Mannschaft zusammenbekommt. Und die Bierkiste steht am Spielfeldrand.«

»Seniler Stinker. Dorfpenner«, fluchte er, als der Wagen vor ihm abbremste, dann links blinkte und noch langsamer wurde. Das großformatige Hinweisschild kündigte Oldenswort und das »Herrenhaus Hoyerswort« an.

»Halt die Klappe«, fluchte Christiansen. »Das ist immer das Gleiche mit dir. Du stänkerst nur noch rum.« Er kniff die Augen zusammen, weil ihm der Zigarettenrauch in den Augen biss. Er hatte den Glimmstängel bis zum Filter heruntergeraucht.

Christiansen hörte, dass sich ein weiteres Gespräch im Handy anmeldete. Irgendjemand klopfte an.

»Dann hau doch ab.« Ihr Ton war eine Spur weinerlich geworden.

»Sausack. Penner. Arschgesicht«, fluchte Christiansen. Es galt dem Wagen vor ihm, der ihn schon wieder zum Bremsen zwang. Es gab keine Abbiegespur. Die Insassen wollten sicher zur Fischräucherei, die hier an der Bundesstraße lag und Kunden von nah und fern anzog. Endlich war er den Schleicher los. Dann würde er wieder Gas geben können, um zu dem Tanklastzug aufzuschließen, der sich durch die lang gezogene Rechtskurve mit dem Namen »Jans-Kurve« schlängelte und gleich seinem Blickfeld entschwunden war. Siebzig waren hier erlaubt. Vielleicht genug für Rentner und Touris, aber nicht für Profis. »Mach schon!«, schrie er unhörbar für den Kleinwagenfahrer vor ihm, als sich das Fahrzeug in Zeitlupe in Bewegung setzte.

Christiansen nahm das Handy vom Ohr und warf einen Blick aufs Display, um zu sehen, wer ihn außerdem zu erreichen versuchte.

ZWEI

Im Zimmer brannte Licht. Draußen war es trübe. Theodor Storm hätte vermutlich zum Fenster gezeigt und »Siehste« gesagt. »Habe ich schon damals geschrieben: die graue Stadt am Meer.«

Hauptkommissar Große Jäger blickte gedankenverloren in den Husumer Winterhimmel. Er nahm seine Füße aus der herausgezogenen Schreibtischschublade, drehte sich im Schreibtischstuhl um, sah auf den leeren Arbeitsplatz in seinem Rücken und sagte: »Noch ein paar Tage wie diese und Tetje Wind bekommt posthum recht.«

»Tetje Wind? Wer ist das?«

»Theodor Storm. Der hat sein Epos von der ›grauen Stadt am Meer‹ an einem Februardienstag verfasst.«

»Das passt doch zu unserem Fall«, erwiderte Cornilsen.

»Dabei ist unser Husum eine quicklebendige und bunte Stadt. Nicht wahr, Christoph?« Große Jäger ließ seinen Bick zur Zimmerdecke gleiten. »Oder wie siehst du das? Erkennst du überhaupt etwas von oben aus dem Himmel? Kannst du durch die dicken Wolken durchblinzeln?« Er schwenkte den Arm. »Natürlich. Du hast überall durchgeblickt. Nur in einem Punkt nicht, sonst hättest du nicht befürwortet, dass ein Krimineller bei uns Einzug hält.«

»He, he, he«, beschwerte sich Mats Skov Cornilsen vom gegenüberliegenden Schreibtisch.

Große Jäger drehte sich zurück und sah über den Doppelblock hinweg.

»Stimmt doch. Wir hatten hier noch nie einen Taschendieb auf der Dienststelle. Es gibt hier einen blöden Hundt, aber es gab noch nie einen Kleinganoven.« Dann grinste er.

»Halt auf«, erwiderte der junge Kommissar. »Mir hat es gereicht.«

Cornilsen war in eine unangenehme Situation geraten. Am vergangenen Wochenende war er bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung aufgetreten. Seit vielen Jahren betätigte er sich als Zauberkünstler und Magier. Neben allerlei Kunststücken gehörte zu seinem Auftritt, dass er durch die Reihen ging, mit Zuschauern sprach, ihnen die Hand reichte oder ihnen kumpelhaft auf die Schulter schlug. Nach der Rückkehr auf die Bühne wollte er von einzelnen Gästen wissen, wie spät es sei, ob sie Geld wechseln könnten, oder er bewunderte die Halskette einer Dame. Die Angesprochenen stellten fest, dass ihnen die Uhr, Brieftasche oder der Halsschmuck abhandengekommen waren. Unter dem Beifall der Zuschauer händigte er den Betroffenen ihre Besitztümer wieder aus. Nach der Show, als er den Applaus entgegengenommen hatte, stand eine Frau auf und bat darum, dass auch sie ihr Portemonnaie zurückbekäme. Cornilsen war verblüfft. Er hatte alles zurückgegeben. Aber die Frau zerstörte die Heiterkeit des Abends, indem sie hartnäckig auf der Rückgabe bestand.

Cornilsen versicherte, sie nicht als Medium benutzt zu haben. Es entstand viel Unruhe im Saal, als die Frau darauf drang, die Polizei zu rufen. Die herbeigerufene Streife nahm den Sachverhalt und die Personalien auf. Die Beamten waren erstaunt, als sie den Kollegen von der Kripo trafen. Professionell verrichteten sie ihren Dienst.

Es war eine unruhige und schlimme Zeit für den Kommissar. Alle waren überzeugt, dass er die Geldbörse nicht gestohlen hatte, auch wenn er die Anschuldigungen nicht entkräften konnte. Es vergingen vier unangenehme Tage, bis man im Gedränge der Flensburger Fußgängerzone einen Taschendieb auf frischer Tat erwischte, dem auch der Diebstahl des Portemonnaies aus der Handtasche der Frau zugeordnet werden konnte.

Große Jäger hatte in der Zwischenzeit immer wieder versucht, Cornilsen aufzumuntern. Es war ihm nur teilweise gelungen.

»Es war ein Lehrstück, dass wir immer sorgfältig abwägen müssen, wen wir verdächtigen. Auch wenn sich hinterher die Unschuld herausstellt, bleibt häufig etwas an den Menschen haften. Ich will damit…« Er wurde durchs Telefon unterbrochen und warf einen Blick aufs Display. »Der Chef«, sagte er und nahm ab. Es war Große Jäger schwergefallen, Kriminalrat Mommsen als »Chef« zu bezeichnen. Zu viele Jahre hatte er mit Christoph Johannes zusammengearbeitet und ihn als Vorgesetzten akzeptiert, auch wenn sie im Laufe der Zeit gute Freunde geworden waren. Drei Jahre war es jetzt her, dass Christoph bei einem Bankraub zufällig anwesend gewesen war, als Geisel genommen und später von den Tätern ermordet worden war. Mommsen führte die Husumer Kripo mit Umsicht und Professionalität. Er war ein guter Dienststellenleiter, der sich für seine Mitarbeiter einsetzte, dabei aber nicht den Blick für die Aufgaben vergaß.

Große Jäger nahm den Hörer ab. »Moin, Harm.«

Er lauschte einen Moment und sagte dann: »Gut. Wir kommen.« Mit einer Handbewegung deutete er Cornilsen an, dass der Kommissar mitkommen solle.

»Um was geht es?«

»Das werden wir gleich erfahren.«

Das Büro des Dienststellenleiters war nicht größer als das der anderen Beamten.

»Setzt euch«, sagte Mommsen und nickte in Richtung der beiden Besucherstühle. »Ihr habt von dem schweren Verkehrsunfall in der Jans-Kurve gehört. Vorgestern.«

Große Jäger nickte. »Schlimm. Wieder einmal hat es dort gekracht. Ein Toter und mehrere Schwerverletzte.«

»Das sind die Einsätze, um die ich die Kollegen von der Streife, vom Rettungsdienst und von der Feuerwehr nicht beneide.«

»Dem Disponenten in der Leitstelle muss es doch kalt den Rücken herunterlaufen, wenn er wieder einmal hört: die Jans-Kurve. Was haben wir damit zu tun?«

»Der Tote… Wir wissen nicht, wer das ist. Die Identität konnte noch nicht festgestellt werden.«

»Das Auto… die Papiere… Das ist doch Routine.«

»Die Kollegen haben bei ihm keine Papiere gefunden. Und das Auto gehört einer Pizzeria in Hattstedt.«

»Die müssen doch wissen, wer mit dem Wagen unterwegs war.«

»Natürlich haben sich die Kollegen darum gekümmert. Sie sind nach Hattstedt gefahren und haben dort nachgefragt. Der Inhaber hat sich in Widersprüche verwickelt. Gestohlen, so versichert er, war der Wagen nicht. Er könne sich aber keinen Reim darauf machen, wer am Steuer saß.«

Große Jäger stand auf. »Wir kümmern uns darum«, versicherte er, ging ins Erdgeschoss, suchte dort den zuständigen Beamten auf und ließ sich das Einsatzprotokoll geben. Cornilsen sah ihm über die Schulter.

Vor zwei Tagen, am Mittwoch, war ein in Nordfriesland zugelassener Transporter der Marke VWCrafter in der Jans-Kurve Richtung Norden fahrend in den Gegenverkehr geraten und frontal mit einem Renault Kangoo Rapid Compact zusammengestoßen. Die Fahrzeuge waren Fahrerseite auf Fahrerseite zusammengeprallt. Das dem Renault folgende Auto konnte nicht mehr bremsen und war ebenfalls mit dem Renault kollidiert.

»VWCrafter TDI, zwei Liter, einhundertneunPS«, murmelte Große Jäger halblaut. »Zugelassen auf Heizungsbau Mügge GmbH in Mildstedt. Am Steuer saß der Heizungsbauer Tönne Christiansen aus Arlewatt.« Große Jäger sah den Uniformierten an. »Was ist mit dem?«

Der Schutzpolizist zuckte die Schultern. »Das sieht nicht gut aus. Den hat die Oldensworter Feuerwehr mit Unterstützung der Kömbüttler…«

»Du meinst die Koldenbüttler, die mit besonders schwerem Gerät für Verkehrsunfälle ausgestattet sind.«

Der Beamte nickte. »Die haben ihn herausgeschnitten. Nach unserem Kenntnisstand liegt er im Westküstenklinikum in Heide.«

»Besteht Lebensgefahr?«

»Es ist noch sehr kritisch. Ich glaube, er ist immer noch ohne Bewusstsein.«

»Er konnte noch nicht vernommen werden?«

»Richtig.«

Große Jäger legte den Bericht zur Seite. »Bevor ich mich durch den Papierdschungel quäle… Erzähl kurz, was da passiert ist.«

»Der Crafter kam aus Richtung Tönning, der Renault von Bütteleck, also aus Husum. Es gibt mehrere Zeugen, darunter ein Verkaufsfahrer von Bofrost. Der hat ausgesagt, dass der Crafter ihm an der Zufahrt in Tönning-Nord, ein Stück vor Süderdeich…«

»Kenne ich«, unterbrach ihn Große Jäger und wedelte mit der Hand. »Weiter.«

»Da ist der Crafter auf die Bundesstraße eingebogen und hat dem Bofrost-Wagen die Vorfahrt genommen. Der Verkaufsfahrer, er heißt Flottmann, hat berichtet, dass der Crafter auf dem folgenden Stück ein paarmal in Richtung Gegenfahrbahn pendelte. Flottmann hat den Abstand daraufhin bewusst vergrößert. Vor dem Crafter war ein Tanklastzug unterwegs, gefolgt von einem Opel Adam. Der ist vor der Jans-Kurve links abgebogen. Es dauerte eine Weile, weil erst der Gegenverkehr passieren musste. Als der Opel schließlich fahren konnte– wir haben die Insassen, ein älteres Ehepaar, ebenfalls als Zeugen vernommen–, hat der Crafter wieder beschleunigt. Von der Stelle bis zum Eingang der Kurve sind es etwa einhundertdreißig Meter. Flottmann will beobachtet haben, wie der Crafter, statt in die Rechtskurve einzubiegen, geradeaus fuhr und frontal in den Gegenverkehr geriet. Hinter dem Renault fuhr ein älteres Ehepaar mit einem Mercedes C180 der Baureihe W203…«

»Das ist schon ein älteres Modell«, stellte Große Jäger fest.

»Es passt zum Fahrer. Wolfgang Schnelle, zweiundachtzig, ehemaliger Berufssoldat, und dessen Ehefrau Franziska. Wir prüfen noch, ob Schnelle zu dicht aufgefahren ist oder ob es einfach an der Reaktion mangelte, dass er nicht mehr bremsen konnte. Beide wurden ins Husumer Krankenhaus eingeliefert. Die Ehefrau konnte es gestern verlassen, der Mann liegt dort noch.«

»Weshalb ist… Wie heißt er noch gleich?«

»Christiansen.«

»Weshalb ist Christiansen direkt in den Gegenverkehr geraten?«, fragte Große Jäger.

»Das ist für uns auch ein Rätsel. Der Crafter ist in der Technik in Kiel. Dort wird man kontrollieren, ob die Lenkung versagt hat oder ob es ein anderes technisches Problem gab. Ich will dem Ergebnis nicht vorgreifen, aber für mich sieht es nach menschlichem Versagen aus.«

»Warten wir das Ergebnis ab«, sagte Große Jäger. »Waren das alle Zeugen?«

»Die Straße ist stark befahren. Zu nennen wäre noch eine pensionierte Ärztin, Dr.Christiane Grimm aus Husum. Die war mit ihrem Porsche hinter dem Bofrost-Wagen unterwegs. Sie hat am Unfallort Erste Hilfe geleistet, soweit es ihr möglich war. Dann gibt es noch einen gewissen Ben-Reiner Graf. Der fuhr hinter dem Mercedes.«

»Was wissen wir über den anderen beteiligten Fahrer?«

Der Uniformierte breitete die Hände aus. »Nichts. Das ist merkwürdig. Bei ihm fanden sich keine Papiere. Kein Ausweis, kein Führerschein, keine Bankkarte. Einfach nichts.«

»Das mag sein, dass ein Mensch ohne alles unterwegs ist. Aber er hat ein Handy«, sagte Große Jäger mit Bestimmtheit.

»Danach haben die Rettungskräfte vor Ort nicht gesucht. Da müsstest du in Kiel nachfragen.«

»Der Renault muss doch auf jemanden zugelassen sein.«

»Er gehört Hekuran Rashica.« Der Beamte drehte das Protokoll zu sich um und las vor: »Er ist neunundvierzig Jahre alt und stammt aus Vushtrria, das liegt im Kosovo. Rashica lebt seit einundzwanzig Jahren in Deutschland und betreibt seit vier Jahren die Pizzeria Siziliana in Hattstedt.«

»Die kenne ich auch«, sagte Große Jäger. »An der Bundesstraße. Du sagtest eben, er stammt aus dem Kosovo? Und hat eine Pizzeria?«

»Ist es verboten? Mein Getränkehändler schnackt Platt und kommt aus Langenhorn. Trotzdem verkauft er mir Hefeweizen.«

»Echt?«

Der Schutzpolizist zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ja. Warum?«

»Ich wundere mich, dass du dieses Zeug in dich hineinkippst. Ein Pils– okay. Aber Hefeweizen?« Große Jäger schüttelte sich.

Der Uniformierte ging nicht darauf ein.

»Wir kümmern uns darum«, sagte Große Jäger und kehrte mit Cornilsen im Gefolge in sein Büro zurück. Dort prüfte Cornilsen, welche Informationen über Hekuran Rashica vorlagen.

»Nicht viel. Er hat Punkte in Flensburg gesammelt. Der Mann war mehrfach zu schnell unterwegs. Einmal hat ihn ein Gast angezeigt und behauptet, Rashica wäre handgreiflich geworden. Die Ermittlungen wurden aber eingestellt. Das ist alles. Der Mann ist in Hattstedt unter derselben Anschrift wie die Pizzeria gemeldet. Da finden sich auch Atdhe Rashica, fünfundzwanzig, gebürtig in Priština, vermutlich der Sohn, und Naile Hajdini, siebenundvierzig. Laut Melderegister ist das die Ehefrau.«

»Was für ein Blödsinn«, knurrte Große Jäger. »Früher trugen die Ehefrauen den Nachnamen des Mannes. Heute weißt du nicht mehr, woran du bist.« Mühsam schraubte er sich in die Höhe. »Wir sehen uns die Pizzeria und die Leute an. Wenn der Sohn am Steuer gesessen hat, würde man es den Kollegen gesagt haben. Ach– da fällt mir noch etwas ein. Haben die drei einen Führerschein?«

Cornilsen ließ seine Finger über die Tastatur gleiten. Kurz darauf bestätigte er: »Ja. Alle drei.«

Im Hof des Polizeigebäudes in der Poggenburgstraße in Husum bestiegen sie den VWGolf. Große Jäger zwängte sich hinter das Lenkrad.

»Hä?« Cornilsen sah ihn erstaunt an. »Üblicherweise schläfst du ein, sobald du ein Auto geentert hast.«

»Da musst du dich irren. Ich bin immer hellwach«, entgegnete Große Jäger mit einem breiten Grinsen.

Sie umfuhren Husums Zentrum, überquerten die Klappbrücke, die den Binnen- vom Außenhafen trennte, und nutzten die Umgehungsstraße, die nach langem Warten fertiggestellt worden war und die enge Neustadt vom Durchgangsverkehr entlastete.

»Man wundert sich«, merkte Große Jäger an, »dass gefühlt jedes bayerische Dorf eine großzügige Umgehung bekommt, während bei uns nichts vorankommt. Es ist ein Trauerspiel, dass die östliche Umgehung derB5 plötzlich im Niemandsland endet.« Er warf Cornilsen einen Seitenblick zu. »Es liegt nicht immer an der viel gescholtenen bayerischen Seilschaft. Unser Land bekommt einfach keine Planung in den Griff. Das ist ja auch die Krux an der Jans-Kurve.«

Wenig später widersprach ihm Cornilsen, als sie den Kreisverkehr am Neubaugebiet Kronenburg passierten.

»Das ist doch ein Beispiel dafür, dass Husum Wachstumspotenzial hat. Hier ist ein neuer Stadtteil entstanden, der im Nu besiedelt wurde. Die Nachfrage war größer als das Angebot. Man wohnt relativ zentrumsnah, aber dennoch ruhig.«

»Dafür ist die Stadt verantwortlich, nicht der Landesbetrieb Verkehr«, erwiderte Große Jäger. »Damit sind nicht die Straßenwärter gemeint, die bei jedem Wetter draußen sind, um die maroden Straßen in Schuss zu halten. Die machen nicht nur einen guten, sondern auch einen harten Job. Wie so oft… Der Fisch stinkt vom Kopf her.«

Wenig später hatte der Hauptkommissar erneut Grund zur Klage. Als er versuchte, am Ende der »alten Nebenstrecke« auf die Bundesstraße abzubiegen, musste er eine Ewigkeit warten. »Sieh dir das an«, fluchte er. »Unübersichtlicher geht es nicht. Mitten in einer Kurve. Dank der katastrophalen Straßenplanung wird Nordfriesland ein dünn besiedelter Landstrich bleiben.«

»Du meinst, hier zieht keiner hin?«

»Im Wilden Westen starben die Leute vorzeitig im Sattel. Hier auf der Straße.«

»Das war aber sehr schwarz«, monierte Cornilsen.

Große Jäger verzichtete auf eine Erwiderung. »Da«, sagte er, als sie auf der linken Seite die Pizzeria Siziliana entdeckten. Er bremste und setzte den Blinker.

Es dauerte eine Weile, bis eine Lücke im Gegenverkehr entstand, die er zum Abbiegen nutzen konnte. »Ein weiteres Beispiel«, knurrte er, während er ungeduldig aufs Lenkrad trommelte. »Der ganze Verkehr schlängelt sich durch die Dörfer. Wir sind der einzige Landkreis in Deutschland«, behauptete er, »der keinen Kilometer Autobahn hat. Dahinten in der Marsch– da wohnt keiner. Aber nein. Seit vierzig Jahren plant man die Umgehung. Wir müssen den alten Kaiser Wilhelm zurückhaben.«

»Hä?«

»In seiner Zeit hat man binnen neun Jahren den Nord-Ostsee-Kanal gebaut, von der Planung bis zur Fertigstellung. Und das ohne Computer und Riesenmaschinen. Heute benötigen die Deppen diese Zeit, um eine einzige Brücke wie die in Rendsburg zu planen. Planen! Nicht bauen!« Große Jäger parkte den Golf neben dem weißen Haus mit dem Reetdach. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete blinzelnd das Gebäude. »Ein bisschen Pflege würde ihm guttun.«

»Hast du heute deinen Meckertag?«, wollte Cornilsen wissen.

»Wir könnten uns diesen Einsatz sparen, würden andere ihren Job machen. In Flensburg und in Kiel.«

»Was die nicht zustande bringen, müssen die Husumer ausbügeln.«

»So sind wir eben… die Nordfriesen.«

»…stellte der Westfale fest«, antwortete Cornilsen mit einem breiten Grinsen.

Sie stiegen aus und blieben vor der Speisekarte neben der Eingangstür stehen. Große Jäger studierte sie. »Typisch Italiener«, stellte er fest. »Lauter Pizzen und viel Pasta. Keine Bratkartoffeln. Aber hier.« Sein Finger klopfte gegen die Scheibe. »›Pizza Hawai‹. Da fehlt ein ›i‹. Was soll’s. Ich glaube nicht, dass auf Hawaii jemand Pizza kennt.« Er rüttelte an der verschlossenen Eingangstür.

»Da steht doch: ›Heute ab siebzehn Uhr geöffnet‹. Laut Karte haben die aber auch mittags offen. Weshalb ist das heute anders?«

»Wir werden sie fragen.«

»Tun wir das machen«, sagte Cornilsen und folgte Große Jäger, der das Haus umrundete.

Die Rückseite war noch weniger einladend als die Vorderfront. Bierfässer, Leergut und Abfallsäcke standen neben der Tür, die trotz der kühlen Witterung geöffnet war. Aus dem dunklen Flur schlug ihnen ein schaler Geruch entgegen.

»Hallo?«, rief Große Jäger ins Haus.

Erst nach mehrmaliger Wiederholung tauchte ein junger Mann auf. Er war hochgewachsen und hatte eine sportliche Figur. Die dunklen Augen passten zum schwarzen Haar. Nur die leichte Krümmung des Nasenrückens störte den nahezu perfekten Schnitt seines Gesichts. Seine Jeans und das modische Hemd ließen ihn in der unaufgeräumt wirkenden Umgebung fast ein wenig deplatziert erscheinen.

»Wir haben geschlossen«, sagte er mit dunkler Stimme, bestimmt, aber nicht unfreundlich.

»Das haben wir gelesen«, sagte Große Jäger und wollte ins Haus, aber der junge Mann versperrte ihnen den Weg. »Wir sind von der Polizei.«

Der Mann musterte ihn kritisch. »Polizei?« Er wirkte ungläubig.

»Kriminalpolizei«, erklärte Große Jäger.

»Kriminalpolizei?«, echote der Mann mit der gleichen Stimmlage wie zuvor. Dann drehte er den Kopf und rief: »Ati. Nuk është dikush. Polici.«

Italienisch war es nicht, stellte Große Jäger für sich selbst fest. »Polizia«, hätte der Mann sonst sagen müssen, wenn er die Beamten hätte ankündigen wollen.

»Polici?«, kam es aus dem Dunkeln. Es war die Stimme eines älteren Mannes.

»Po. Policia. Departamenti i Hetimeve penale.«

Der junge Mann drehte sich wieder zu den Beamten um. »Mein Vater kommt gleich.«

»Sie sind– wer?«, wollte Große Jäger wissen.

»Der Sohn.«

»Und Sie heißen?«

»Rashica. Atdhe.« Er lächelte. »Also… Atdhe ist der Vorname. Und wer sind Sie?«

Große Jäger stellte sich und Cornilsen vor. »Wir kommen von der Husumer Kriminalpolizei.«

»Kriminalpolizei– ist die für Verkehrsunfälle zuständig?«

»Das regeln die Kollegen von der Schutzpolizei. Die möchten gern wissen, wer der Tote ist, der in Ihrem Wagen saß.«

Rashicas Blick schweifte für einen kurzen Moment ab und ging ins Leere. »Schlimm, so etwas. Ganz plötzlich ist es vorbei– das Leben.«

»Im Augenblick gehen wir davon aus, dass bei diesem Unfall ein Verschulden des anderen Fahrers vorliegt. Dafür sprechen die Zeugenaussagen.«

»Das hilft den anderen Beteiligten auch nicht.«

»Wer hat den Wagen Ihrer Pizzeria gefahren?«

»Sprechen Sie mit meinem Vater.«

»Ist es so geheimnisvoll?«

Atdhe Rashica wurde durch das Erscheinen des Vaters erlöst. Auch wenn der einen Kopf kleiner war, deutliche Geheimratsecken und graue Strähnen aufwies, war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden.

Hekuran Rashica trug ein buntes Flanellhemd und eine grobe Cordhose, die durch Hosenträger gehalten wurde.

»Was wollen Sie?«, fragte er in barschem Ton. Die Stimme klang hart.

»Ihr Fahrzeug war gestern an einem Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang beteiligt.«

»Das weiß ich. Deshalb kommen Sie aber nicht her.« Eine unterschwellige Aggressivität lag in den Antworten des alten Rashica.

»Wir kennen noch nicht die Identität des Toten.«

Jetzt schwiegen die beiden Männer.

»Wem haben Sie das Auto geliehen?«

Keine Antwort.

»Wir haben festgestellt, dass der Renault auf Ihren Namen zugelassen ist, Herr Rashica.«

»Es ist unser Firmenwagen.«

War, dachte Große Jäger. Laut sagte er: »Wer ist der Fahrer?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Sparen wir uns solche Spielchen. Sie wollen nicht behaupten, der große Unbekannte hat sich das Fahrzeug genommen und ist damit Richtung Süden gefahren.«

Rashica rollte mit den Augen. »Sie haben keine Ahnung, was? In einem Restaurant wie unserem ist ständig Betrieb. Wir können nicht davon leben, dass die Leute zu uns kommen. Das hier ist ein Dorf. Da geht nicht jeder Einwohner wöchentlich zum Italiener.«

»Der ein Kosovo-Albaner ist«, warf Große Jäger ein.

»Na und? Ist das verboten? Ich habe gehört, dass Nürnberger Würstchen immer aus Nürnberg kommen müssen. Aber Hamburger kommen nicht aus Hamburg.«

Große Jäger unterließ es, zu erklären, dass Hamburger nichts mit der Weltstadt an der Elbe zu tun haben.

»Es ist nicht verboten, gute Pizzas zu machen.«

»Was hat das damit zu tun, wer in Ihrem Auto saß?«

»Sag ich doch«, behauptete Rashica. »Wir haben auch einen Lieferservice. Auf dem platten Land brauchen Sie dazu einen Transporter. In der Stadt kommt der Pizzabote mit dem Fahrrad. Die Bestellungen werden von diesem und von jenem ausgefahren. Kommt sie aus dem Ofen, muss es schnell gehen. Da können Sie nicht jedes Mal nach dem Autoschlüssel suchen. Der hängt in der Küche an einem Haken.«

»Und den kann sich jeder nehmen?«

»Theoretisch. Aber Fremde laufen nicht durch die Küche.«

»Also kennen Sie den Fahrer. Nennen Sie uns den Namen.«

Rashica schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Begreifen Sie es nicht, was ich Ihnen eben erklärt habe?«

»Doch. Sie haben gesagt, den Schlüssel können sich nur Leute aneignen, die Sie kennen.«

»Ja– aber da steht nicht ständig jemand am Haken und passt auf.«

»Haben Sie nicht bemerkt, dass der Renault plötzlich weg war?«

»Um die Zeit haben wir selten Außer-Haus-Bestellungen. Deshalb hat niemand darauf geachtet.«

»Sie haben erst vom Verschwinden des Wagens erfahren, als die Polizei Sie über den Unfall informierte?«

Rashica wich Große Jägers Blick aus.

»Ja– äh, nein.«

»Was denn nun?«

»Hier ist immer viel Betrieb. Ich stehe am Ofen. Wenn ich dort weggehe, verbrennt alles. Da ist Präzision gefordert. Als kleiner Familienbetrieb können wir uns kein Personal leisten.«

Große Jäger sah den Sohn an, der halb versetzt hinter dem Alten stand.

»Sie arbeiten auch in der Pizzeria?«

»Ich helfe mit, soweit ich es zeitlich schaffe.«

»Sie haben noch einen anderen Job?«

Der Junior nickte. »Ich studiere in Flensburg und will Lehrer an Gemeinschaftsschulen werden.«

Ein Leuchten trat in die Augen des Alten. »Atdhe war in Husum auf der Hermann-Tast-Schule und hat dort sein Abitur gemacht. Deutsch-Leistungskurs. Er war einer der Besten.«

Große Jäger ging nicht darauf ein.

»Waren Sie gestern Abend hier?«

»Erst später«, antwortete der junge Mann. »Nachdem ich aus Flensburg zurück war.«

»Und da haben Sie nicht bemerkt, dass der Renault weg war?«

»Ich habe nicht darauf geachtet. Ich bin angekommen und habe sofort meine Mutter im Service unterstützt. Das Auto habe ich nicht gesehen.«

»Liefern Sie auch die Pizzen aus?«

»Manchmal«, antwortete Atdhe Rashica einsilbig. Dann erklärte er auf Große Jägers Frage, dass er ein eigenes Auto habe, einen alten VWPolo. »Der steht hinten auf dem Hof.«

Es war unbefriedigend. Vater und Sohn blieben dabei, nicht bemerkt zu haben, dass der Renault benutzt worden war. Einen Diebstahl melden? Wie sollte das gehen, wenn sie es nicht mitbekommen hatten?

»Weshalb haben Sie heute Mittag geschlossen? Ich denke, das Geschäft läuft schlecht.«

»Aus familiären Grü…«, setzte der Sohn an, aber sein Vater fuhr dazwischen und übertönte ihn.

»Das ist doch klar. Schließlich ist jemand mit unserem Firmenwagen verunglückt.«

Als die beiden Beamten wieder im Auto saßen, schüttelte Große Jäger den Kopf. »Ich glaube denen nicht. Aber weshalb will man uns nicht sagen, wer mit dem Auto unterwegs war?«

Nach der Rückkehr auf die Dienststelle suchte Große Jäger noch einmal die Schutzpolizei auf und erkundigte sich nach dem Unfallverursacher.

»Dem mutmaßlichen«, korrigierte ihn der uniformierte Kollege. »Der liegt im Westküstenklinikum in Heide. Mehr weiß ich auch nicht. Wir haben ihn bisher noch nicht vernehmen können.« Er zeigte sich dankbar, als Große Jäger sagte, das würden er und Cornilsen übernehmen.

»Könnt ihr das?«, fragte er skeptisch nach.

»Nein, aber wir wollen Hundt bitten, mit Christiansen zu sprechen.«

Der Schutzpolizist hob theatralisch beide Hände zur Abwehr in die Höhe. »Um Gottes willen. Da wähle ich doch das kleinere Übel.« Er warf einen Blick auf Große Jägers Schmerbauch, das Holzfällerhemd, das sich darüber spannte, die Lederweste mit dem Einschussloch und ergänzte: »Oder das dickere Übel.«

Große Jäger tippte dem Beamten auf den Sixpack-Bauch. »Werdet ihr so schlecht bezahlt?«

Beide lachten, dann folgte Große Jäger Cornilsen in die erste Etage. Sie gönnten sich einen Kaffee, den Große Jäger im Nachbarzimmer bei Hilke Hauck schnorrte. Anschließend beschlossen sie, nach Heide zu fahren.

»Warum ist Christiansen aus der Kurve getragen worden?«, fragte er unterwegs.

Cornilsen antwortete nicht. Er wusste, dass die Frage rhetorisch gemeint war.

Unterwegs passierten sie die Unfallstelle. Die Leitplanke an der Kurve war eingedrückt. Lange Schrammen markierten die Stelle, an der die Fahrzeuge in die Straßenbegrenzung gedrückt worden waren. Lübecker Hütchen, wie die Verkehrsleitkegel im Volksmund hießen, standen am Rand, wo die Pfosten der Leitplanke umgebogen waren und das Erdreich aufgerissen war.

»Das muss ganz schön heftig gewesen sein«, sagte Cornilsen, dem der Hauptkommissar das Steuer überlassen hatte.

»So sieht es aus. Aber weshalb sieht man keine Bremsspuren? Die können doch noch nicht abgefahren sein.«

»Bedeutet das, Christiansen ist ungebremst in den Gegenverkehr geraten?«

»Warten wir ab, was der Gutachter feststellt«, erwiderte Große Jäger und räkelte sich im Sitz zurecht. »Diese Stelle ist die Unfallkurve Nummer eins in Schleswig-Holstein. Immer wieder kommt es hier zu tödlichen Unfällen. In zehn Jahren gab es allein an dieser Stelle zehn Tote und sechsundfünfzig Schwerverletzte. Das ist eine erschütternde Bilanz. Erst vor Kurzem hat sich ein Unfall ereignet, der nahezu genauso wie dieser ablief. Nur geriet dabei ein aus der anderen Richtung, also aus Husum, kommendes Fahrzeug in den Gegenverkehr und kollidierte dort mit einemVW. Die beiden älteren Insassen des ersten Wagens und der VW-Fahrer kamen schwerverletzt ins Krankenhaus. Immer wieder und immer wieder kracht es dort. Das ist wie verhext.«

»Verhext«, wiederholte Cornilsen. »Das ist eine Kurve, wie es sie tausendfach an anderen Stellen gibt. Außerdem gibt es eine Geschwindigkeitsbeschränkung von siebzig Stundenkilometern. Deshalb verstehe ich nicht, dass dort so häufig etwas passiert.«

In Heide fanden sie nur mit Mühe einen Parkplatz vor dem Westküstenklinikum, das nach eigenen Angaben das drittgrößte Gesundheitsunternehmen im Lande und der größte Arbeitgeber im Landkreis war. Der Empfang führte sie auf die Intensivstation. Dort war der Zutritt untersagt. Eine drahtige Schwester mit naturkrausen Haaren, die vier Dinge gleichzeitig zu erledigen schien, hörte sich ihren Wunsch an, mit Tönne Christiansen zu sprechen, und verschwand hinter der Glastür.

Es dauerte zehn Minuten, bis sie zurückkehrte und sagte: »Wir haben im Augenblick alle Hände voll zu tun. Deshalb lässt sich der Arzt auch entschuldigen. Die Grippewelle. Da fällt nicht nur Personal aus, wir sind auch über Gebühr belegt. Ich soll Ihnen aber ausrichten, dass…« Dann schien ihr etwas einzufallen. »Zeigen Sie mir bitte zuvor Ihre Ausweise.« Sie studierte die Dokumente sorgfältig. Dann fuhr sie fort: »Ich soll Ihnen ausrichten, dass der Patient nicht ansprechbar ist.«

»Wie ist sein Zustand? Was hat er?«, wollte Große Jäger wissen.

»Er ist nicht ansprechbar«, wiederholte die Krankenschwester.

»Wann können wir mit ihm reden?«

Sie zuckte mit den Schultern und hatte sich schon halb umgedreht, als sie anfügte: »Der Patient hat vermutlich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Soweit ich informiert bin, war er nicht angeschnallt. Alles Weitere soll Ihnen ein Arzt erklären.«

»Heißt das, er ist nicht bei Bewusstsein?«

Sie nickte stumm.

»Und es ist damit zu rechnen, dass er es in nächster Zeit auch nicht wiedererlangt?«

Ihr erneutes Nicken war kaum wahrnehmbar.

Sie erschraken, als die Tür aufgerissen wurde und ein Mann in Arztkleidung herausgestürmt kam.

»Eine Reanimation auf derM2«, rief er im Vorbeilaufen.

»Ich muss«, rief ihnen die Krankenschwester zu und verschwand in entgegengesetzter Richtung in die Intensivstation. Sekunden später tauchte sie mit dem Notfallrucksack wieder auf und hastete dem Mediziner hinterher.

»Es gibt Berufe, die möchte ich nicht ausüben«, sagte Große Jäger, als sie langsam zum Auto zurückkehrten.

Cornilsen war unzufrieden. »Den Weg hätten wir uns sparen können.«

»Dann hätten wir nicht erfahren, dass Christiansen für lange Zeit als Zeuge ausfällt. Schweres Schädel-Hirn-Traum. Hm. Das klingt nicht gut.«

Nachdenklich stiegen sie in den Dienstwagen und fuhren Richtung Husum.

»Das ist nicht unsere Aufgabe«, sagte Cornilsen unterwegs.

Große Jäger erklärte ihm, dass sie sich ein Gesamtbild machen müssten. »Vordergründig geht es nur um die Identität des toten Unfallbeteiligten. Es ist aber auch zu klären, weshalb es zu diesem Unfall gekommen ist. Der Sachverständige wird die technischen Fakten bewerten. Es schadet nicht, wenn wir ein wenig an der Aufklärung der menschlichen Aspekte mitwirken.« Große Jäger rief bei der Husumer Polizei an und vergewisserte sich, dass der dritte Beteiligte im Husumer Klinikum lag. »Den suchen wir jetzt auf«, erklärte er.

Vor dem Krankenhaus am Erichsenweg gab es keine freien Parkplätze. »Ich halte ein Stück weiter Richtung Schlosspark«, sagte Cornilsen und zog Große Jägers Unmut auf sich.

»Dann hätte ich gleich zu Fuß kommen können.«

Sie mussten zudem warten, weil ein Rettungswagen rangierte und vor der Zufahrt stand, in der zwei andere ihre Patienten ablieferten.

»Das sind drei Rettungswagen, die hier versammelt sind«, sagte Große Jäger. »Wie viele gibt es davon in Nordfriesland? Wenn jetzt ein weiterer Notfall eintritt– wer versorgt den?«

»Bei den wenigen Menschen, die hier leben, hat jeder Nordfriese seinen eigenen Wagen«, erwiderte Cornilsen. »Außerdem ist das eine Region, in der die Leute gesund sind. Da stellen sich solche Fragen nicht.«

»Wir sollten das trotzdem prüfen«, erklärte Große Jäger. »Ich habe gehört, dass es im Zusammenhang mit dem Unfall Behauptungen gab, die Rettungskräfte seien zu spät eingetroffen.«

»Das ist immer so, wenn man wartet. In solchen Situationen dehnen sich die Sekunden zu Minuten, und es dauert eine Ewigkeit, bis Hilfe vor Ort ist.«

Inzwischen hatten sie ein Stück entfernt geparkt und waren zum Krankenhaus zurückgekehrt. Große Jäger gesellte sich zu den Rauchern, die vor der Tür standen und ihrem Laster frönten.

Eine ältere Frau, die trotz des unwirtlichen Wetters nur mit einem Morgenmantel bekleidet war, hustete kräftig, bis sie wieder Luft bekam, noch einen tiefen Lungenzug nahm und ihn dann fragte: »Weshalb bist du hier?«

Ihre tiefe Stimme ließ erahnen, dass sie sich auch noch anderen Süchten hingab. Große Jäger zog an seiner Zigarette.

»Ich versuche, mir endlich eine Eintrittskarte für das Klinikum zu beschaffen. Die Rundumversorgung im Krankenhaus ist besser, als zu Hause alles allein bewerkstelligen zu müssen.«

Sie bedachte ihn mit einem »Arschgeige« und wandte sich ab.

Der Hauptkommissar folgte Cornilsen, der zum Empfang vorgegangen war und sich nach der Station erkundigte, auf der Wolfgang Schnelle untergebracht war.

»Wir müssen zur Unfallchirurgie«, sagte Cornilsen.

Sie fanden das Zimmer, klopften an und traten ein. Am Fenster lag ein Mann, dessen Kopfteil hochgestellt war. Er sah kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Sportzeitung, nachdem er das »Moin« der Polizisten erwidert hatte. Wolfgang Schnelle lag im Bett an der Tür. Ein spärlicher Kranz kurzer weißer Haare umschloss seinen sonst kahlen Schädel. Auf der fleischigen Nase saß eine Hornbrille, die am oberen Rand von den buschigen Augenbrauen berührt wurde. Er sah den beiden genauso stumm entgegen wie die grauhaarige Frau, die an seinem Bett saß.

Große Jäger erkundigte sich, ob er Schnelle sei, und stellte dann sich und Cornilsen vor.

»Ohne Uniform?«, fragte Schnelle misstrauisch. Er sprach kurzatmig.

»Wir sind zivil«, erklärte Große Jäger, ohne explizit zu sagen, dass sie von der Kripo kämen. »Wir haben noch ein paar Fragen.«

»Was gibt es da zu fragen? Eingesperrt gehört dieser Verbrecher. Ich werde den verklagen. Der wird sein Lebtag nicht mehr froh.« Schnelle klopfte auf die Bettdecke. »Der wird ein Vermögen an Schmerzensgeld blechen müssen.«

»Was haben Sie denn?«, wollte Große Jäger wissen.

»Rippenbrüche. Ich bekomme nur schwer Luft.«

Der Hauptkommissar sah die Frau an. »Frau Schnelle?«

Sie nickte.

»Sie haben nichts abbekommen?«

»Der Schreck«, sagte sie leise. »Meinen Mann hat es schlimmer erwischt.«

»Sie sind bei dem Zusammenstoß auf das Lenkrad geprallt? Waren Sie angeschnallt?«

»Was hat das damit zu tun, dass dieser Rowdy so rücksichtslos fährt? Hoffentlich hat er auch etwas abbekommen und nicht nur unbeteiligte Dritte. Klar war ich angeschnallt. Wenn nicht, hätte ich mir die blöden Rippen nicht gebrochen.«

»Dann wären Sie vermutlich am ausgelösten Airbag hochgerutscht und hätten sich schlimme bis tödliche Kopfverletzungen zugezogen.«

»Kommen Sie mir nicht mit so was«, schimpfte Schnelle. »Ich war Berufssoldat. Da kann man mit dem Risiko umgehen. Sie lesen selbst, welchen Gefahren wir ausgesetzt sind.«

»Wie lange sind Sie schon pensioniert?«

Da Schnelle schwieg, übernahm seine Frau das Antworten: »Wolfgang ist seit fast dreißig Jahren pensioniert.«

»Das habe ich mir auch redlich verdient. Und dann passiert so was. Und das bei meinem gefährlichen Beruf.«

»Die Soldaten der Bundeswehr sind heute gefordert und werden zu gefährlichen Einsätzen geschickt. Aber zu Ihrer Zeit hatten wir zum Glück lange Zeit keine Missionen für die Bundeswehr.«

»Es hätte aber jederzeit passieren können«, beharrte Schnelle.

»Sie waren auf derB5Richtung Tönning unterwegs. Vor Ihnen fuhr der Renault.«

»Das war auch ein komischer Vogel. Franziska«, dabei sah er seine Frau an, »wollte ihre Freundin in Wesselburen besuchen. Also der vor uns, der Pizzadienst, der schlingerte immer so komisch. So, als wäre der Fahrer abgelenkt. Das habe ich mal im Fernsehen gesehen. Die schneiden sich beim Fahren die Fußnägel.«

Möglicherweise hat der Fahrer telefoniert und war abgelenkt, überlegte Große Jäger. Diese Frage mussten sie der Kriminaltechnik stellen.

»Wie kam es zum Unfall?«

»Das habe ich doch schon alles gesagt. Mitten in der Kurve kam der andere plötzlich auf unsere Fahrbahn. Rumms. Da hat es gekracht.«

»Warum haben Sie keinen ausreichenden Sicherheitsabstand gehalten?«

»Hören Sie mal«, empörte sich Schnelle. »Wollen Sie mir jetzt was anheften? Ich bin unschuldig. Ich bin nicht in den Gegenverkehr gerast. Der andere war viel zu schnell. Der ist bestimmt hundertdreißig gefahren.«

»Woher wollen Sie das wissen?

»Ich habe meinen Führerschein sechzig Jahre. Das ist die Erfahrung.«

»Nach dem Zusammenstoß sind Sie auf den Renault aufgefahren?«

»Das kam so plötzlich. Das kann man doch nicht ahnen. So schnell kann man nicht reagieren, selbst mit meiner Erfahrung nicht.«

»Wann trafen die ersten Rettungskräfte ein?«

»Das hat ewig gedauert. Zuerst kam die Feuerwehr. Die war schätzungsweise nach einer halben Stunde da. Dann hat es noch einmal eine halbe Stunde gedauert, bis die Sanitäter eintrafen. Da lief auch noch eine alte Frau rum. Das soll eine Ärztin gewesen sein? Die verklage ich auch. Weshalb hat die sich nicht um uns gekümmert? Die muss doch gesehen haben, wie schwer wir verletzt waren.« Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. »Stimmt es, dass einer tot ist?«

»Ja«, bestätigte Große Jäger.

»Da sehen Sie es. Wären die Sanitäter eher da gewesen, wäre das nicht passiert. Warum hat die Ärztin nichts unternommen? Und wenn einer tot war, hätte sie sich doch um uns kümmern können.«

Große Jäger hätte dem starrsinnigen alten Mann gern erklärt, was er von seinen Worten hielt. Es hätte nichts gebracht. Die Kollegen vom Verkehrsdienst würden prüfen, ob Wolfgang Schnelle noch über die Fähigkeit verfügte, ein Fahrzeug zu führen. Es war auch nicht ihre Aufgabe, zu bewerten, welche Mitschuld Schnelle traf. Er hätte mit mehr Sicherheitsabstand und einer angemessenen Reaktion den Auffahrunfall möglicherweise vermeiden können. Sie hatten aber eine wertvolle Information erhalten: Der unbekannte Tote hatte eventuell telefoniert.

»Schnelle ist starrköpfig. Wie viele Verkehrsteilnehmer definiert er seine eigenen Regeln. Rippenbrüche sind schmerzhaft, erschwerend kommt sein Alter hinzu«, sagte Große Jäger unterwegs.

Sie fuhren zur Dienststelle zurück. Im Unfallprotokoll fand sich kein Hinweis auf ein Handy. Große Jäger nahm Kontakt zur Kriminaltechnik in Kiel auf und bat darum, dieser Spur nachzugehen. Cornilsen hatte auf Große Jägers Geheiß inzwischen Daten zu den anderen Zeugen zusammengetragen.

Bernhard Flottmann war als selbstständiger Handelsvertreter für Bofrost unterwegs. Er wohnte in Viöl. Cornilsen hatte die Ehefrau erreicht und erfahren, dass Flottmann tagsüber unterwegs war. Cornilsen rief Flottmann auf dem Handy an. Der Bofrost-Fahrer bestätigte noch einmal seine bisherigen Aussagen, ergänzt um seine persönliche Einschätzung: »Das musste so kommen. Der ist in Tönning wie ein Irrer auf die Bundesstraße geschossen. Ich musste in die Eisen gehen. Mann, habe ich unterwegs gedacht, der ist doch besoffen, so wie der hin und her gependelt ist.«

Während des Gesprächs war Mommsen ins Büro gekommen und hörte aufmerksam zu. Dann ließ sich der Kriminalrat den aktuellen Sachstand berichten.

»Ihr wisst noch nicht, wer der Tote im Renault ist?« Es war eine rhetorische Frage. Mommsen erwartete keine Antwort. »Es gibt eine neue Entwicklung, die eventuell im Zusammenhang mit dem Unfall steht. Es ist eine Anzeige wegen Sachbeschädigung eingegangen. Truels Erichsen, neunundzwanzig, ist Notfallsanitäter beim Kreis Nordfriesland und auf der Rettungswache Husum eingesetzt. Er hatte letzte Nacht Dienst und stellte heute Morgen fest, dass jemand seinen Seat Ibiza besprüht hat, vermutlich mit Graffitilack.«

»An der Wache Schleswiger Chaussee, kurz vor dem Kreisverkehr?«, fragte Große Jäger.

Mommsen nickte. »Der Seat ist ein Jahr alt. Dunkelblau. Auf die Windschutzscheibe wurde ›Mörder‹ und auf die Motorhaube ›Versager‹ gesprayt.«

»In welchem Zusammenhang soll das mit dem Unfall stehen?«

»Heute Morgen stand in den Husumer Nachrichten ein Bericht dazu. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die Notfallversorgung wirklich so optimal läuft, wie es Politik und Verwaltung behaupten. Kritische Worte kamen von der freiwilligen Feuerwehr, die sehr schnell vor Ort war und sich alleingelassen fühlte. In einem Leserbrief wurde es deftiger formuliert.«

»Woher wusste der Täter, dass Erichsen am Einsatz beteiligt war? Und woher kannte er dessen Auto?«, fragte Große Jäger.

»Das ist das Merkwürdige. Truels Erichsen hatte am Mittwoch frei. Er war nicht auf derB5 in der Jans-Kurve dabei.«

»Dann könnte es auch einen anderen Hintergrund geben? Etwas Persönliches?«

»Kümmert euch darum«, bat Mommsen.

Truels Erichsen wohnte in der Husumer Klaus-Groth-Straße. Dort hatte man ein ganzes Areal komplett neu bebaut. Die freundlichen hellen Klinker, die aufgelockert gestalteten Fassaden und das eingestreute Grün boten ein angenehmes Wohnumfeld. Den beiden Beamten war auch noch das Glück hold. Sie fanden in der engen Straße mit wenigen Parkmöglichkeiten eine Abstellmöglichkeit für ihr Fahrzeug.

Es dauerte eine Weile, bis ihnen ein untersetzter Mann die Tür öffnete.

»Ja?«, fragte er und gähnte. Die rotblonden Haare waren strubbelig, das T-Shirt mit einem Olifanten auf der Brust zerknautscht. Er hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte.

»’tschuldigung.«

»Polizei Husum«, sagte Große Jäger.

»Wegen mein Auto?«

»Auch.«

Erichsen sah sie groß an. »Was’nnoch?«

»Wir möchten gern wissen, ob die Sachbeschädigung etwas Persönliches ist.«

Der Mann unterdrückte mühsam das nächste Gähnen. »Ich habe tief und fest geschlafen«, entschuldigte er sich. »Nachtschicht. Das war ziemlich heftig letzte Nacht. Wir hatten sieben Einsätze.« Dann trat er zur Seite und forderte die Beamten auf, hereinzukommen. »Da lang.« Er zeigte auf einen Raum. Nachdem Große Jäger und Cornilsen sich in zwei Sesseln niedergelassen hatten, nahm er selbst auf der Multifunktionscouch Platz. Der niedrige Buchenholztisch, die beiden Freischwinger aus dem gleichen Material und die unsymmetrisch an die Wand geschraubten Fächer stammten ebenso wie der Esstisch und die vier Stühle aus dem Katalog von »Elchmöbel«. Große Jäger vermutete, dass der Teppich ebenfalls von dort kam.

Auf dem Tisch standen eine angebrochene Wasserflasche und ein halb gefülltes Glas.

Erichsen bemerkte Große Jägers Blick.