Rage - Zorn - Sandra Brown - E-Book

Rage - Zorn E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Nur die Nacht war ihr Zeuge!

Ein Psychopath. Zwei unschuldige Opfer. Nur 72 Stunden zum Überleben.

Paris Gibson lebt in der Nacht – sie ist ihr Versteck, ihre Zuflucht. Paris’ einziges Tor zur Außenwelt ist ihre beliebte Radiosendung. Bis eines Abends ein Hörer sie beschuldigt, mit ihren Ratschlägen seine Beziehung zerstört zu haben. Der Mann schwört Rache: Drei Tage hat Paris Zeit, bevor er erst seine Freundin, dann sie selbst lustvoll tötet. Nur 72 fieberhafte Stunden, die der Polizei – und dem Kriminalpsychologen Dean Malloy – bleiben, Paris’ Geheimnis und den vor Zorn rasenden Killer zu identifizieren …

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Seitenzahl: 719

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Buch

Eine schicksalhafte Nacht in Austin, Texas. Die junge Paris Gibson moderiert ihre höchst erfolgreiche Sendung für Nachtschwärmer. Niemand weiß, dass Paris Nacht für Nacht im Sender Zuflucht sucht – vor schrecklichen Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit. Den Anrufer aber, der sich jetzt bei ihr meldet, wird sie ganz gewiss nicht auf Sendung gehen lassen. Der Mann nennt sich Valentino und erzählt, er sei mit seiner Freundin an einem Ort, an dem sie niemals gefunden werde. Innerhalb von 72 Stunden werde Paris das Leben dieses Mädchens auf dem Gewissen haben. Die sofort informierte Polizei schaltet einen Beamten mit psychologischer Spezialausbildung in die Ermittlungen ein. Bei ihrer überraschenden Begegnung mit dem Profiler bleibt Paris fast das Herz stehen: Es ist Dean Malloy – der Grund für ihre langen, schlaflosen Nächte. Wohl oder übel müssen Paris und Dean nun zusammenarbeiten, denn die Situation spitzt sich zu: Tatsächlich ist ein junges Mädchen spurlos verschwundenh ...

Autor

Sandra Brown ist eine der erfolgreichten Autorinnen der Welt. Mit jedem ihrer Bücher eroberte sie auf Anhieb die Spitzenplätze der »New-York-Times«-Bestsellerliste! Vor allem seit ihrem großen Durchbruch als Thrillerautorin mit dem Roman »Die Zeugin« ist Sandra Brown auch in Deutschland als faszinierende Autorin spannender Psychothriller erfolgreich. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Weitere Informationen finden Sie unter : www.sandra-brown.de

Inhaltsverzeichnis

BuchAutorPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Copyright

Prolog

Bis sechs Minuten vor Schluss war es eine ganz normale Sendung gewesen.

»Es ist eine heiße Nacht hier im Hill Country. Vielen Dank, dass Sie mir auf 101.3 Gesellschaft geleistet haben. Es war mir wie jeden Abend von Montag bis Freitag ein Vergnügen, Sie unterhalten zu dürfen. Ich bin Paris Gibson, und ich bringe Ihnen klassische Lovesongs.

Heute Abend möchte ich mich mit drei von meinen Lieblingssongs verabschieden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Songs gemeinsam mit einem geliebten Menschen hören können. Bleiben Sie einander treu.«

Sie drückte den Knopf auf dem Mischpult, um ihr Mikrofon zuzumachen. Die drei Stücke würden ohne Unterbrechung bis 1 Uhr 59:30 laufen. Während der dreißig letzten Sekunden vor zwei Uhr würde sie ihren Zuhörern noch einmal danken, ihnen eine gute Nacht wünschen und sich verabschieden.

Während Yesterday spielte, schloss sie die Augen und rollte ihren Kopf hin und her, um die verspannten Schultern zu lockern. Verglichen mit einem acht- bis neunstündigen Arbeitstag könnte man eine vierstündige Radiosendung für einen lockeren Spaziergang halten. Weit gefehlt. Bis zum Ende der Sendung war sie regelmäßig auch mit ihren Kräften am Ende.

Sie arbeitete allein und moderierte die Titel, die sie vor der Show ausgewählt und in die Playlist eingespeichert hatte, auch selbst an. Die eingehenden Zuhörerwünsche erforderten ständige Änderungen der Playlist, weshalb sie die Studiouhr im Auge behalten musste. Obendrein beantwortete sie alle eingehenden Anrufe persönlich.

Die notwendigen Handgriffe erledigte sie dabei wie im Schlaf, aber das galt nicht für ihre Ansagen. Sie erlaubte sich nie, in Routine abzugleiten oder schludrig zu werden. Paris Gibson hatte, teils unterstützt von Stimmlehrern, teils allein, schwer daran gearbeitet, den unverkennbaren »Paris-Gibson-Sound« zu perfektionieren, für den sie inzwischen berühmt war.

Diesen perfekten Klang und Tonfall zu treffen, kostete sie mehr Kraft, als sie selbst merkte, denn nach zweihundertvierzig Minuten vor dem Mikrofon schmerzten ihre Nacken- und Schultermuskeln regelmäßig vor Müdigkeit. Dieser brennende Schmerz war ein Beweis dafür, wie gut sie gewesen war.

Etwa nach der Hälfte des Beatles-Klassikers zeigte eine Telefontaste mit einem roten Blinken einen Anruf an. Sie fühlte sich versucht, den Anrufer zu ignorieren, aber offiziell blieben noch sechs Minuten Sendezeit, und sie stand bei ihren Zuhörern im Wort, dass sie ihre Anrufe bis um zwei Uhr morgens entgegennahm. Es war schon zu spät, um den Anrufer noch auf Sendung zu nehmen, aber sie musste das Gespräch zumindest annehmen.

Sie drückte auf die blinkende Taste. »Sie sprechen mit Paris.«

»Hallo, Paris. Ich bin’s, Valentino.«

Sie kannte ihn vom Namen her. Er rief in regelmäßigen Abständen an, und sein ungewöhnlicher Name blieb leicht im Gedächtnis haften. Auch seine Stimme war einprägsam, kaum mehr als ein Flüstern, wahrscheinlich um des Effektes willen oder weil er nicht erkannt werden wollte.

Sie sprach in das Mikrofon über dem Mischpult, das gleichzeitig auch als Telefonmikro diente, wenn sie gerade nicht auf Sendung war. Auf diese Weise hatte sie beide Hände zum Arbeiten frei, während sie mit ihren Zuhörern redete.

»Wie geht es Ihnen heute Abend, Valentino?«

»Nicht gut.«

»Das tut mir Leid.«

»Allerdings. Das wird es.«

Die Beatles machten Anne Murrays Broken Hearted Me Platz.

Paris warf einen kurzen Blick auf den Monitor im Mischpult und registrierte automatisch, dass damit der zweite der drei Songs begonnen hatte. Sie war nicht sicher, ob sie Valentino richtig verstanden hatte. »Verzeihung?«

»Ich sagte, das wird dir Leid tun«, sagte er.

Der dramatische Unterton war typisch für Valentino. Wenn er anrief, war er entweder total aufgedreht oder zu Tode betrübt; so gut wie nie bewegte er sich auf einer emotionalen Zwischenebene. Bei ihm wusste sie nie, was sie erwarten würde, allein schon aus diesem Grund war er ein interessanter Anrufer. Heute Abend klang er jedoch Unheil verkündend, und das war neu.

»Ich verstehe nicht.«

»Ich habe alles genauso gemacht, wie du mir geraten hast, Paris.«

»Ich habe Ihnen etwas geraten? Wann denn?«

»Immer wenn ich angerufen habe. Du sagst doch immer – nicht nur zu mir, sondern zu jedem, der bei dir anruft –, dass wir die Menschen, die wir lieben, respektieren sollen.«

»Das stimmt. Ich glaube –«

»Tja, mit Respekt kommt man nicht weiter, deshalb pfeife ich von jetzt an darauf, was du meinst.«

Sie war keine Psychologin und keine staatlich geprüfte Therapeutin, sondern nur Radiomoderatorin. Eine Ausbildung, die darüber hinausgegangen wäre, hatte sie nicht. Trotzdem nahm sie ihre Rolle als spätabendliche Freundin ernst.

Wenn ein Anrufer außer ihr keinen Menschen hatte, mit dem er oder sie reden konnte, war sie seine anonyme Seelentrösterin. Ihre Zuhörer kannten nur ihre Stimme, aber sie vertrauten ihr. Paris diente ihnen als Vertrauensperson, als Ratgeberin, als Beichtpfarrerin.

Die Menschen teilten ihre Freuden mit ihr, sie schilderten ihre Sorgen, und hin und wieder offenbarten sie ihre Seele. Die Anrufe, die sie nach sorgfältiger Überlegung auf Sendung nahm, erweckten das Mitgefühl der anderen Hörer, lösten Glückwünsche aus und bisweilen auch hitzige Kontroversen.

Oft wollten die Anrufer lediglich ihrem Ärger Luft machen. Sie diente als Puffer. Sie war ein praktisches Ventil für Menschen, die schlicht und einfach stinksauer auf diese Welt waren. So gut wie nie war sie die Zielscheibe des Zorns, aber diesmal war das offensichtlich anders, und das war durchaus beunruhigend.

Falls Valentino am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand, dann könnte sie zwar nichts an den Ursachen ändern, aber eventuell könnte sie ihn vom Abgrund wegführen und ihn überreden, professionelle Hilfe zu suchen.

»Sprechen wir darüber, Valentino. Was beschäftigt Sie so?«

»Ich respektiere die Frauen. Wenn ich eine feste Freundin habe, dann ist sie meine Göttin. Ich behandle sie wie eine Prinzessin. Aber das reicht ihnen nicht. Frauen können nicht treu sein. Jede einzelne betrügt mich vor meinen Augen. Und wenn sie mich schließlich verlässt, rufe ich bei dir an, und du erklärst mir dann, dass es nicht meine Schuld war.«

»Valentino, ich –«

»Du sagst, ich hätte nichts falsch gemacht, es wäre nicht meine Schuld, dass sie mich verlassen hat. Und weißt du was? Du hast ganz Recht. Ich bin nicht schuld, Paris. Sondern du. Diesmal bist du schuld.«

Paris sah kurz über ihre Schulter auf die schalldichte Studiotür. Natürlich war sie zu. Der Korridor hinter den Fenstern zum Gang hatte noch nie so düster ausgesehen, obwohl das Gebäude während ihrer Nachtsendungen immer im Dunkeln lag.

Sie wünschte, Stan würde zufällig vorbeikommen. Sogar Marvin wäre ihr ein willkommener Anblick gewesen. Sie wünschte, irgendwer, egal wer, würde diesen Anruf mithören und ihr helfen, ihn richtig zu deuten.

Sie überlegte, ob sie einfach auflegen sollte. Niemand wusste, wo sie lebte, niemand wusste auch nur, wie sie aussah. Das hatte sie in ihrem Vertrag mit dem Radiosender zur Bedingung gemacht: Sie hatte keine Liveauftritte. Genauso wenig durfte ihr Bild zu Werbezwecken verwendet werden, worunter Zeitungsanzeigen, Fernsehwerbung und Reklametafeln fielen, ohne dass es sich darauf beschränkt hätte. Paris Gibson war nur ein Name und eine Stimme, sie hatte kein Gesicht.

Trotzdem konnte sie guten Gewissens nicht einfach auflegen. Wenn er sich etwas zu Herzen genommen hatte, das sie während einer Sendung gesagt hatte, und schlecht damit gefahren war, dann war es verständlich, dass er wütend auf sie war.

Andererseits hätte jeder halbwegs vernünftige Mensch, wenn er mit einem ihrer Ratschläge nicht einverstanden wäre, die Sache schlicht auf sich beruhen lassen. Valentino hatte ihr eine größere Rolle in seinem Leben eingeräumt, als sie einnehmen sollte oder wollte.

»Erklären Sie mir, inwiefern es meine Schuld war, Valentino.«

»Du hast ihr geraten, sie soll mir den Laufpass geben.«

»Das habe ich bestimmt nicht –«

»Ich habe es selbst gehört! Sie hat vorgestern Abend angerufen. Ich hatte das Radio an. Sie hat nicht gesagt, wie sie heißt, aber ich habe sie an ihrer Stimme erkannt. Sie hat dir unsere ganze Geschichte erzählt. Dann hat sie gesagt, ich wäre eifersüchtig und besitzergreifend.

Du hast ihr geantwortet, wenn sie das Gefühl hätte, unsere Beziehung würde sie einengen, sollte sie etwas dagegen unternehmen. Mit anderen Worten, du hast ihr geraten, mich in die Wüste zu schicken.« Er verstummte kurz und sagte dann: »Dass du ihr das geraten hast, wird dir noch Leid tun.«

Paris’ Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie moderierte schon seit vielen Jahren, aber so etwas war ihr noch nie passiert. »Valentino, lassen Sie uns die Sache in aller Ruhe bereden, okay?«

»Ich bin ruhig, Paris. Ganz ruhig. Es gibt nichts zu bereden. Ich habe sie an einen Ort gebracht, wo sie niemand finden wird. Sie kann mir nicht entkommen.«

Diese Bemerkung war nicht mehr bloß Unheil verkündend, sondern geradezu beängstigend. Was er da gesagt hatte, war doch hoffentlich nicht wörtlich gemeint.

Aber noch ehe sie diesen Gedanken aussprechen konnte, erklärte er: »Sie wird in drei Tagen sterben, Paris. Dann werde ich sie töten, und du wirst ihren Tod auf dem Gewissen haben.«

Inzwischen spielte der letzte Song in dem Musikblock. Der Countdown auf der Uhr des Computermonitors tickte dem Ende der Sendung entgegen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Vox Pro, um sicherzustellen, dass ihn kein elektronischer Kobold außer Betrieb gesetzt hatte. Aber nein, die hochkomplizierte Maschine arbeitete fehlerfrei. Der Anruf wurde aufgezeichnet.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete nervös ein. »Valentino, das ist nicht komisch.«

»Das soll es auch nicht sein.«

»Ich weiß, dass Sie nicht wirklich beabsichtigen –«

»Ich beabsichtige, genau das zu tun, was ich gesagt habe. Ich habe mindestens zweiundsiebzig Stunden allein mit ihr verdient, findest du nicht auch? Nachdem ich so nett zu ihr war? Sind da drei Tage ihrer Zeit und Aufmerksamkeit zu viel verlangt?«

»Valentino, bitte hören Sie mir zu –«

»Dir höre ich bestimmt nicht mehr zu. Du quatschst nur Scheiße. Du gibst miese Ratschläge. Ich behandle mein Mädchen mit Respekt, und sie zieht los und macht für andere Kerle die Beine breit. Dann rätst du ihr noch, sie soll mich abservieren, als hätte ich unsere Beziehung kaputtgemacht, als hätte ich sie betrogen. Ich finde das nur gerecht. Erst werde ich sie ficken, bis sie blutet, dann bringe ich sie um. In genau zweiundsiebzig Stunden, Paris. Eine schöne Nacht noch.«

1

Dean Malloy stand leise vom Bett auf. Er tastete im Dunkeln auf dem Boden nach seiner Unterwäsche und verschwand damit im Bad. So leise wie möglich zog er die Tür hinter sich zu, bevor er das Licht einschaltete.

Liz wachte trotzdem auf.

»Dean?«

Er stützte sich mit beiden Armen am Waschbecken ab und betrachtete sein Spiegelbild. »Komme sofort.« Ob ihn sein Spiegelbild verzweifelt oder voller Abscheu ansah, wusste er selbst nicht. Zumindest tadelnd.

Er starrte noch ein paar Sekunden in den Spiegel, ehe er den Wasserhahn aufdrehte und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Dann benutzte er die Toilette, zog seine Boxershorts an und öffnete die Tür.

Liz hatte die Nachttischlampe eingeschaltet und sich auf einen Ellbogen gestützt. Ihre hellblonden Haare waren verwuschelt. Unter ihrem einen Auge lag verschmierte Mascara. Aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, sündig und gleichzeitig aufreizend zu wirken. »Duschst du noch?«

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.«

»Ich wasche dir den Rücken.«

»Danke, aber –«

»Soll ich dich lieber vorne waschen?«

Er deutete ein Lächeln an. »Ich werde darauf zurückkommen.«

Seine Hose hing über dem Sessel. Als er die Hand danach ausstreckte, fiel Liz in ihr zusammengeknülltes Kissen zurück. »Du gehst.«

»Obwohl ich gern noch bleiben würde, Liz.«

»Du hast seit Wochen keine ganze Nacht mehr bei mir verbracht.«

»Das gefällt mir genauso wenig wie dir, aber bis auf weiteres lässt sich das nicht ändern.«

»Mein Gott, Dean. Er ist sechzehn.«

»Genau. Sechzehn. Wenn er ein Baby wäre, wüsste ich jederzeit, wo er steckt. Ich wüsste, was er gerade macht und mit wem er zusammen ist. Aber Gavin ist sechzehn und hat den Führerschein. Für einen Vater bedeutet das, in einem einzigen Albtraum zu leben.«

»Wahrscheinlich ist er nicht mal zu Hause, wenn du heimkommst.«

»Das möchte ich ihm aber schwer geraten haben«, murmelte er, während er das Hemd in die Hose steckte. »Er ist gestern Abend später als vereinbart heimgekommen, darum habe ich heute Morgen seinen Autoschlüssel einkassiert. Er hat Hausarrest.«

»Und wie lange?«

»Bis er wieder Vernunft annimmt.«

»Und wenn er das nicht will?«

»Im Haus bleiben?«

»Vernunft annehmen.«

Das war eine viel schwerwiegendere Frage. Sie erforderte eine wohl erwogene Antwort, und dafür fehlte ihm heute Abend die Zeit. Er schob die Füße in die Schuhe, setzte sich dann auf die Bettkante und fasste nach ihrer Hand. »Es ist nicht richtig, dass Gavin mit seinem Verhalten deine Zukunft diktiert.«

»Unsere Zukunft.«

»Unsere Zukunft«, wiederholte er leise. »Das ist so ungerecht. Nur seinetwegen müssen wir unsere Pläne auf Eis legen. Das ist einfach unfair.«

Sie küsste ihn auf den Handrücken und sah durch gesenkte Wimpern zu ihm auf. »Ich kann dich nicht mal überreden, eine ganze Nacht bei mir zu bleiben, und dabei hatte ich gehofft, dass wir bis Weihnachten verheiratet wären.«

»Das könnte durchaus passieren. Die Situation könnte sich früher bessern, als wir glauben.«

Ihr Stirnrunzeln ließ erkennen, dass sie da weniger optimistisch war. »Ich war sehr geduldig, Dean. Oder nicht?«

»Allerdings.«

»In den zwei Jahren, die wir jetzt zusammen sind, war ich äußerst kompromissbereit. Ich bin, ohne zu meckern, hierher gezogen. Und ich war einverstanden, diese Wohnung zu mieten, obwohl ich überzeugt bin, dass es vernünftiger wäre, wenn wir zusammen wohnen.«

Ihre Erinnerung war selektiv und unkorrekt. Dass sie zusammen wohnten, hatte nie zur Debatte gestanden. Er hätte das nie auch nur in Betracht gezogen, solange Gavin bei ihm lebte. Und genauso wenig hatte sie einen Grund zum Meckern gehabt, als sie nach Austin gezogen war. Er hatte sie nie darum gebeten. Im Gegenteil, ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie in Houston geblieben wäre.

Die Entscheidung zum Umzug hatte Liz damals ganz unabhängig von ihm gefällt. Als sie ihn damit überrascht hatte, musste er einen Anflug von Verärgerung verhehlen und Freude heucheln. Sie hatte sich ihm aufgedrängt, als er keinesfalls eine weitere Belastung brauchen konnte.

Aber statt jetzt diese brisante Tatsache anzusprechen, gestand er ihr lieber zu, dass sie ihm und seinen Anforderungen gegenüber außergewöhnlich geduldig gewesen war.

»Mir ist durchaus bewusst, dass meine Situation ganz anders ist als zu der Zeit, als wir uns kennen lernten. Du hattest nicht vor, dich mit einem allein erziehenden Vater eines Teenagers einzulassen. Du hast mehr Geduld aufgebracht, als ich erwarten durfte.«

»Danke«, sagte sie besänftigt. »Aber mein Körper kennt keine Geduld, Dean. Für mich bedeutet jeder verstrichene Monat, dass ein Ei weniger im Körbchen liegt.«

Ihr dezenter Hinweis auf ihre biologische Uhr ließ ihn lächeln. »Ich weiß genau, welche Opfer du für mich erbracht hast. Und weiterhin bringst.«

»Ich bin bereit, noch mehr zu opfern.« Sie strich ihm über die Wange. »Denn das Schlimme an der Sache ist, dass du jedes Opfer wert bist, Dean Malloy.«

Er wusste, dass sie das genauso empfand, aber ihre Aufrichtigkeit trug nicht dazu bei, seine Laune zu bessern, sondern verstärkte nur seine bedrückte Stimmung. »Hab noch etwas Geduld, Liz. Bitte. Gavin führt sich unmöglich auf, aber es gibt Gründe für sein Fehlverhalten. Gib uns noch etwas Zeit. So Gott will, werden wir zu gegebener Zeit einen Ort finden, wo wir zu dritt leben können.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Wenn du weiterhin so geschwollen daherredest, könntest du, ehe du dichs versiehst, eine eigene Nachmittagstalkshow haben.«

Er grinste erleichtert, weil sie die ernste Unterhaltung versöhnlich beenden konnten. »Du hast immer noch vor, morgen nach Chicago zu fliegen?«

»Für drei Tage. Ein vertrauliches Treffen mit einer Abordnung aus Kopenhagen. Lauter strammen, blonden Wikingern. Eifersüchtig?«

»Ich bin erbsgrün vor Eifersucht.«

»Wirst du mich vermissen?«

»Was glaubst du?«

»Soll ich dir etwas geben, das dich an mich erinnert?«

Sie schlug die Decke zurück. Nackt und beinahe schnurrend lag sie auf dem zerwühlten Laken, auf dem sie sich vorhin schon einmal geliebt hatten. Im Moment sah Elizabeth Douglas eher nach einer verhätschelten Kurtisane aus, als nach der Marketing-Vizepräsidentin einer internationalen Luxushotelkette.

Sie hatte eine üppige Figur, und ihr gefiel das so. Anders als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen flippte sie nicht wegen jeder Kalorie aus. Sie betrachtete es bereits als Fitnesstraining, wenn sie ihre Koffer selbst trug, und sie verwehrte sich so gut wie nie ein Dessert. An ihr sahen die Kurven gut aus. Nein, sie sahen atemberaubend aus.

»Verführerisch«, seufzte er. »Äußerst verführerisch. Aber ich werde mich mit einem Kuss begnügen müssen.«

Sie küsste ihn leidenschaftlich und zog seine Zunge dabei so lustvoll in ihren Mund, dass jeder Wikinger vor Neid erblasst wäre. Es blieb ihm überlassen, den Kuss zu beenden. »Ich muss jetzt wirklich los, Liz«, flüsterte er gegen ihre Lippen, ehe er sich von ihr löste. »Eine angenehme Reise.«

Sie zog die Decke wieder hoch, um ihre Nacktheit zu bedecken, und setzte ein Lächeln auf, um ihre Enttäuschung zu überspielen. »Ich rufe dich an, sobald ich angekommen bin.«

»Unbedingt.«

Er verschwand und gab sich dabei alle Mühe, nicht so auszusehen, als wäre er auf der Flucht. Draußen legte sich die Luft wie ein feuchtes Handtuch über ihn. Sogar beim Einatmen war sie schwer und heiß wie nasse Wolle. Noch bevor er den kurzen Weg zu seinem Auto zurückgelegt hatte, klebte ihm das Hemd am Rücken. Er ließ den Motor an und stellte die Klimaanlage auf volle Kraft. Das Radio sprang automatisch an. Elvis’ Are You Lonesome Tonight?

Zu dieser Stunde war so gut wie kein Verkehr. Dean bremste vor einer gelben Ampel ab und hielt im selben Moment an, in dem der Song endete.

»Die Nacht bleibt heiß hier im Hill Country. Vielen Dank, dass Sie mir auf 101.3 Gesellschaft geleistet haben.« Die rauchige Frauenstimme hallte durch den Wagen. Die Klangwellen schlugen gegen seine Brust und seinen Bauch. Ihre Stimme wurde von den acht Lautsprechern, die von deutschen Ingenieuren strategisch im Auto platziert worden waren, perfekt moduliert. Dank der ausgeklügelten Soundanlage wirkte Paris Gibson näher, als wenn sie neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hätte.

»Heute Abend möchte mich mit drei von meinen Lieblingssongs verabschieden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Songs gemeinsam mit einem geliebten Menschen hören können. Bleiben Sie einander treu.«

Dean packte das Lenkrad fester und ließ seine Stirn auf die Handrücken sinken, während die Fabulous Four ihr Hohelied auf die Vergangenheit sangen.

Sobald der Parkdienst des Four Season Hotels Richter Baird Kemps Limousine gebracht hatte und der Richter eingestiegen war, zerrte er sich die Krawatte vom Hals und wand sich aus seinem Jackett. »Mein Gott, bin ich froh, dass das vorbei ist.«

»Du wolltest doch unbedingt, dass wir hingehen.« Marian Kemp streifte die Slingbacks von Bruno Magli von ihren Füßen, löste die Ohrklippse mit den Diamanten und verzog das Gesicht, als das Blut unter stechenden Schmerzen in ihre tauben Ohrläppchen zurückfloss. »Aber ich verstehe beim besten Willen nicht, weshalb wir auch zu der Feier bleiben mussten.«

»Also, es macht jedenfalls einen guten Eindruck, dass wir unter den letzten Gästen waren. Es waren viele einflussreiche Leute dabei.«

Wie so viele Galadinners mit anschließender Preisverleihung war es eine unerträglich langatmige Veranstaltung gewesen. Später hatte sich noch eine Cocktailparty in einer der Suiten angeschlossen. Der Richter ließ sich keine Gelegenheit entgehen, für seine Wiederwahl zu werben, selbst wenn die Veranstaltung noch so informell war. Während der Rückfahrt unterhielten sich die Kemps über die anderen Gäste oder, wie sie der Richter verächtlich bezeichnete, »die Guten, die Bösen und die Gemeinen«.

Als sie zu Hause angekommen waren, verzog er sich in seine Höhle, deren Bar dank Marians Fürsorge stets mit seinen Lieblingsmarken bestückt war. »Ich gönne mir noch einen Absacker. Soll ich dir auch einen machen?«

»Nein danke, Schatz. Ich gehe gleich nach oben.«

»Dreh die Klimaanlage im Schlafzimmer auf. Die Hitze ist nicht zu ertragen.«

Marian stieg die geschwungene Treppe hinauf, über die erst neulich in einem Inneneinrichtungsmagazin berichtet worden war. Auf dem Foto hatte sie ein Designerballkleid und ihr Kollier mit den blassgelben Diamanten getragen. Es war ein ziemlich gutes Porträt geworden, das konnte sie ohne Eigenlob sagen. Der Richter war sehr zufrieden mit dem Begleitartikel gewesen, in dem man sie dafür gelobt hatte, dass sie ihr Haus perfekt durchgestylt hatte.

Oben brannte kein Licht im Gang, aber zu ihrer Erleichterung sah sie unter Janeys Zimmertür einen hellen Streifen. Obwohl Sommerferien waren, hatte der Richter ihrer Siebzehnjährigen ein striktes Ausgehverbot auferlegt. Gestern Abend hatte sie dagegen verstoßen und war erst in der Morgendämmerung heimgekommen. Es war nicht zu übersehen, dass sie getrunken hatte, und wenn sich Marian nicht ganz irrte, war der strenge Geruch in ihren Sachen der von Marihuana gewesen. Am schlimmsten war aber, dass sie sich in dieser Verfassung ans Steuer gesetzt hatte.

»Ich werde nicht noch einmal Kaution für dich stellen«, hatte der Richter sie angeschnauzt. »Wenn du noch einmal betrunken am Steuer erwischt wirst, bist du auf dich allein gestellt, junge Dame. Ich werde dann bestimmt keine Fäden mehr ziehen. Meinetwegen kann das ruhig in deinem Führungszeugnis stehen.«

Janey hatte mit einem gelangweilten »Scheiß doch drauf« reagiert.

Die Auseinandersetzung war so laut und ausfallend geworden, dass Marian zuletzt befürchtet hatte, die Nachbarn könnten etwas davon mitbekommen, obwohl zwischen ihrem und dem nächsten Grundstück ein 4000 Quadratmeter großer manikürter Grünstreifen lag. Der Streit hatte damit geendet, dass Janey in ihr Zimmer gestürmt war, die Tür hinter sich zugeknallt und abgesperrt hatte. Seither hatte sie kein Wort mehr mit ihnen gesprochen.

Aber offenkundig hatte die jüngste Drohung des Richters Wirkung gezeigt. Janey war zu Hause, und für ihre Verhältnisse war es noch früh. Marian blieb vor Janeys Tür stehen und hatte schon die Faust zum Anklopfen erhoben. Doch dann hörte sie hinter der Tür die Stimme der Radiomoderatorin, die ihre Tochter immer einschaltete, wenn sie »chillen« wollte. Die Frau war eine willkommene Abwechslung zu den krakeelenden DJs auf den anderen Sendern mit ihrer Acidrock- und Rapmusik.

Janey konnte sich leicht in einen Wutanfall steigern, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihre Privatsphäre verletzt wurde. Ihre Mutter wollte den angespannten Frieden nicht stören, darum senkte sie die Hand wieder und ging weiter durch den Korridor dem ehelichen Schlafzimmer entgegen.

Toni Armstrong schreckte aus dem Schlaf.

Sie blieb reglos liegen und lauschte nach einem Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen haben könnte. Hatte eines ihrer Kinder nach ihr gerufen? Hatte Brad angefangen zu schnarchen?

Nein, bis auf ein leises Surren aus den Belüftungsschächten in der Zimmerdecke lag das Haus in tiefer Stille. Ein Geräusch hatte sie bestimmt nicht aus dem Schlaf gerissen. Nicht einmal das schwere Atmen ihres Mannes. Denn das Kissen neben ihrem war unberührt geblieben.

Toni stand auf und streifte einen leichten Morgenmantel über. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Ein Uhr zweiundvierzig. Brad war immer noch nicht zu Hause.

Bevor sie nach unten ging, schaute sie kurz in die Kinderzimmer. Obwohl die Mädchen jeden Abend in ihre jeweiligen Betten gesteckt wurden, landeten sie nachts unweigerlich zusammen unter einer Decke. Weil sie nur sechzehn Monate auseinander waren, wurden sie oft für Zwillinge gehalten. Im Moment sahen sie praktisch identisch aus: Die stämmigen, kleinen Leiber lagen eng umschlungen und die zerzausten Köpfe dicht nebeneinander auf dem Kissen. Nachdem Toni die beiden zugedeckt hatte, blieb sie ein paar Sekunden lang stehen, und das Herz ging ihr angesichts dieser unschuldigen Schönheit auf, ehe sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich.

Im Zimmer ihres Sohnes war der Boden mit Raumschiffen und Actionfiguren übersät. Vorsichtig stieg sie darüber hinweg, um zu seinem Bett zu gelangen. Er schlief auf dem Bauch, mit gespreizten Beinen, einen Arm aus dem Bett gestreckt.

Sie nutzte die Gunst der Stunde und strich über seine Wange. Inzwischen war er in einem Alter, in dem er bei jeder drohenden Liebesbezeugung eine Grimasse schnitt und sofort die Flucht ergriff. Als Erstgeborener meinte er, sich wie ein Mann benehmen zu müssen.

Aber allein die Vorstellung, dass er zum Mann werden könnte, erfüllte sie mit einer Verzweiflung, die nach panischer Angst schmeckte.

Als sie die Treppe hinunterstieg, knarrten mehrere Stufen, aber Toni liebte die kleinen Macken und Mucken, die einem Haus erst Charakter verliehen. Sie hatten Glück gehabt, dass sie dieses Haus erstanden hatten. Es lag in einer guten Gegend und in der Nähe einer Grundschule. Weil die Vorbesitzer unbedingt verkaufen wollten, hatten sie den Preis gesenkt. Das Haus hatte eine Renovierung nötig, aber sie hatte die meisten Reparaturen selbst ausgeführt, damit der Kauf nicht ihr Budget sprengte.

Die Arbeit am Haus hatte sie auf Trab gehalten, während sich Brad in seiner neuen Gemeinschaftspraxis eingewöhnt hatte. Sie hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, erst alle notwendigen Reparaturen zu erledigen, bevor sie die kosmetischen Mängel beseitigt hatte. Ihre Geduld und ihr Fleiß hatten sich ausgezahlt. Das Haus war nicht nur hübscher als zuvor, sondern auch von Grund auf saniert. Die Missstände waren nicht einfach mit einer Schicht Lack überstrichen, sondern wirklich behoben worden.

Leider Gottes war nicht alles so leicht herzurichten wie ein Haus.

Wie sie befürchtet hatte, waren unten alle Zimmer dunkel und leer. In der Küche schaltete sie das Radio ein, um die bedrückende Stille zu durchbrechen. Sie schenkte sich ein Glas Milch ein, auf das sie keinen Appetit hatte, und zwang sich, es Schluck für Schluck zu trinken.

Vielleicht tat sie ihrem Mann Unrecht. Es war gut möglich, dass er immer noch auf seinem Seminar über Steuern und Finanzplanung war. Schließlich hatte er beim Abendessen verkündet, dass er erst spät heimkommen würde.

»Du weißt doch, Spatz«, hatte er ihr erklärt, als sie ihn überrascht gefragt hatte, »ich habe dir Anfang der Woche davon erzählt.«

»Nein, das hast du nicht.«

»Entschuldige bitte. Ich dachte, ich hätte es erwähnt. Reich mir doch bitte den Kartoffelsalat rüber. Der schmeckt übrigens phantastisch. Was ist das für ein Gewürz?«

»Dill. Du hast keinen Ton von einem Seminar gesagt, Brad.«

»Die Kollegen in der Praxis haben es mir nahe gelegt. Was sie auf dem letzten Seminar erfahren haben, hat ihnen einen Haufen Steuern gespart.«

»Dann sollte ich vielleicht ebenfalls hingehen. Es könnte nicht schaden, wenn ich mehr über diese Finanzgeschichten wüsste.«

»Gute Idee. Auf dem nächsten Seminar bist du dabei. Man muss sich im Voraus anmelden.«

Er hatte ihr Zeit und Ort des Seminars genannt und sie gebeten, nicht auf ihn zu warten, weil sich der offiziellen Präsentation eine informelle Gesprächsrunde anschließen würde, und er nicht wisse, wie lang die dauern würde. Dann hatte er sie und die Kinder geküsst und war aufgebrochen. Für jemanden, der zu einem Seminar über Steuer- und Finanzplanung ging, war er erstaunlich beschwingt zu seinem Auto spaziert.

Toni trank den letzten Schluck Milch.

Dann rief sie zum dritten Mal auf dem Handy ihres Mannes an. Genau wie die beiden Male zuvor meldete sich seine Mailbox. Sie spielte mit dem Gedanken, in dem Vortragssaal anzurufen, wo das Seminar stattgefunden hatte, aber das wäre Zeitverschwendung gewesen. So spät war dort bestimmt niemand mehr.

Nachdem sie Brad verabschiedet hatte, hatte sie den Tisch abgeräumt und die Kinder gebadet. Sobald sie im Bett lagen, wollte sie einen Blick in Brads Arbeitszimmer werfen, aber sie musste feststellen, dass die Tür abgeschlossen war. Zu ihrer Schande war sie wie eine Irre durchs Haus gefegt, um eine Haarnadel, eine Nagelfeile, irgendetwas zum Schlösserknacken aufzutreiben.

Zuletzt hatte sie auf einen Schraubenzieher zurückgegriffen, mit dem sie das Schloss wahrscheinlich irreparabel beschädigt hatte, aber das war ihr egal. Dummerweise hatte sie in seinem Zimmer nichts entdeckt, was ihren panischen Aktionismus oder ihren Verdacht begründet hätte. Auf seinem Schreibtisch lag eine Anzeige für das Seminar. Er hatte sich das Seminar in seinen Terminkalender eingetragen. Offensichtlich hatte er fest vorgehabt hinzugehen.

Andererseits war er auch sehr geschickt darin, falsche Spuren zu legen.

Sie hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und auf den leeren Bildschirm gestarrt. Sie hatte sogar den Finger auf den Schalter zum Starten gelegt und nur mit Mühe der Versuchung widerstanden, den Computer hochzufahren und Nachforschungen zu betreiben, die nur Diebe, Spione und misstrauische Ehefrauen anstellten.

Sie hatte seinen Computer nicht mehr angerührt, seit er ihr einen eigenen gekauft hatte. Als sie die bedruckten Kartons gesehen hatte, die er in die Küche geschleppt und dort auf dem Tisch abgeladen hatte, hatte sie ausgerufen: »Du hast noch einen Computer gekauft?«

»Es wird Zeit, dass du deinen eigenen bekommst. Fröhliche Weihnachten.«

»Wir haben Juni.«

»Dann bin ich eben zu früh dran. Oder zu spät.« Er hatte entwaffnend mit den Achseln gezuckt. »Jetzt brauchst du dich nicht mehr nach mir zu richten, wenn du mal E-Mails schreiben oder etwas im Internet kaufen oder was weiß ich machen willst.«

»Ich benutze deinen Computer doch nur tagsüber, wenn du in der Praxis bist.«

»Genau das habe ich gemeint. Jetzt kannst du jederzeit online gehen.«

Und du auch.

Offenbar hatte er ihre Gedanken gelesen, denn er hatte erklärt: »Es ist nicht so, wie du glaubst, Toni.« Dabei hatte er die Hände in die Hüften gestemmt und sie mit seinem Hundeblick angesehen. »Ich war heute Morgen zufällig im Computerladen. Da sah ich diese kleine knallrosa Kiste, die so unglaublich kompakt ist und trotzdem alles kann, und ich dachte mir: ›Feminin und effizient. Genau wie meine tolle Frau.‹ Also habe ich ihn spontan für dich gekauft. Ich dachte, du würdest dich freuen. Anscheinend habe ich mich geirrt.«

»Ich freue mich schon.« Augenblicklich bekam sie ein schlechtes Gewissen. »Das ist sehr aufmerksam von dir, Brad. Vielen Dank.« Dann musterte sie die Kartons mit einem verstohlenen Blick. »Hast du rosa gesagt?«

Und dann mussten beide lachen. Er hatte sie in seine mächtigen Arme geschlossen. Er hatte nach Sonnenschein, Seife und glücklicher Zweisamkeit gerochen. All ihre Ängste waren zerstoben.

Aber nur vorübergehend. Inzwischen hatten sie sich wieder verdichtet.

Sie hatte seinen Computer heute Abend nicht hochgefahren. Sie hatte zu viel Angst, was sie darauf finden könnte. Falls er mit einem Passwort gesichert wäre, hätte das ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und das wollte sie keinesfalls. O Gott, nein, das wollte sie nicht.

Also hatte sie den Türknauf nach bestem Vermögen wieder repariert und war danach ins Bett gegangen, wo sie irgendwann in der Hoffnung eingeschlafen war, dass Brad sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen und mit tausend Details über finanzielle Strategien für Familien in ihrer Einkommensklasse bombardieren würde. Es war eine vergebliche Hoffnung gewesen.

»Es war mir wie jeden Abend von Montag bis Freitag ein Vergnügen, Sie unterhalten zu dürfen«, sagte die sexy Stimme im Radio. »Ich bin Paris Gibson, und ich bringe Ihnen klassische Lovesongs.«

Kein Seminar dauerte bis zwei Uhr früh. Genauso wenig wie eine Therapiesitzung bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Damit hatte sich Brad herausgeredet, als er letzte Woche die ganze Nacht weggeblieben war.

Da hatte er behauptet, dass ein Mann aus seiner Gruppe eine schwere Zeit durchmachen würde. »Nach dem Treffen wollte er unbedingt mit mir ein Bier trinken gehen, weil er jemand brauchte, bei dem er sich ausheulen konnte. Der Typ hat echt Probleme, Toni. Wow! Du würdest nicht glauben, was er mir alles erzählt hat. Echt krank. Jedenfalls hab ich mir gedacht, dass du das bestimmt verstehen würdest. Du kennst das doch.«

Sie kannte das nur zu gut. Die Lügen. Die Beteuerungen. Die langen, einsamen Abende. Sie wusste genau, wie das lief. Es lief genau so.

2

Das hier machte sie fertig. Richtig fertig.

Inzwischen war er schon ewig weg, und sie hatte keine Ahnung, wann er wiederkommen würde. Ihr gefiel die Scene nicht, sie wollte weg von hier.

Aber ihr waren die Hände gebunden. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Genau wie die Füße. Am schlimmsten aber war das nach Metall schmeckende Isolierband, mit dem er ihr den Mund zugeklebt hatte.

Vier-, vielleicht auch fünfmal war sie in den letzten Wochen mit ihm hier gewesen. Jedes Mal waren sie total ausgepowert und mit einem echt geilen Gefühl wieder weggegangen. Der Ausdruck »sich um den Verstand poppen« kam ihr in den Sinn.

Nie zuvor hatte er sie fesseln wollen oder ihr andere perverse Spielchen vorgeschlagen. Also… jedenfalls keine allzu perversen Spielchen. Das hier war was Neues, und ehrlich gesagt hätte sie darauf verzichten können.

Unter anderem hatte sie ihn so interessant gefunden, weil er so erfahren wirkte. Er passte ganz eindeutig nicht in die nomadenhafte Gemeinschaft, die vor allem aus Highschool- und Collegestudenten auf der Suche nach Alkohol, Dope und impulsivem Sex bestand. Klar, ab und zu tauchte einer dieser armseligen alten Säcke auf, die im Gebüsch hockten und jedem, der versehentlich zu ihnen hinschaute, den Schlappschwanz entgegenstreckten. Aber dieser Typ war anders. Er war absolut cool.

Offenbar hatte auch er gefunden, dass sie anders war als die anderen. Sie und ihre Freundin Melissa hatten ihn bemerkt, weil er sie mit voller Konzentration beobachtet hatte.

»Vielleicht ist er ein Bulle«, spekulierte Melissa. »Du weißt schon, ein Ziviler.«

Melissa war an dem Abend total finster drauf gewesen, weil sie am nächsten Tag mit ihren Eltern nach Europa fliegen musste und sich kaum was Übleres vorstellen konnte. Sie wollte sich mit aller Gewalt zudröhnen, aber bis jetzt hatte noch nichts gewirkt. Darum hatte sie alles schwarz in schwarz gesehen.

»Ein Bulle mit so einem Auto? Das glaubst du doch selbst nicht. Außerdem hat er viel zu elegante Schuhe für einen Bullen.«

Es war nicht allein die Tatsache, dass er sie angesehen hatte. Sie war es gewohnt, dass die Typen sie anstarrten. Sondern die Art, wie er sie angesehen hatte, hatte sie total angemacht. Die Beine übereinander geschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, hatte er an der Motorhaube gelehnt, reglos und trotz seiner Konzentration vollkommen relaxt.

Er hatte nicht auf ihren Busen oder ihre Beine geglotzt – wie es die Typen sonst immer taten –, sondern ihr genau in die Augen gesehen. Als würde er sie kennen. Nicht nur vom Sehen oder von einer flüchtigen Begegnung, sondern sie durch und durch kennen und alles über sie wissen, was es über sie zu wissen gab.

»Ist der nicht süß?«

»Wohl schon.« Melissa dümpelte in ihrem Selbstmitleid und hatte kein Interesse an irgendwas.

»Ich finde ihn jedenfalls süß.« Sie leerte ihre Cola-Rum, indem sie sie auf jene provokative Weise durch den Strohhalm zog, die sie durch stundenlanges Üben vor dem Spiegel zur Perfektion gebracht hatte. Die anzüglichen Saugbewegungen machten die Typen total heiß, das war ihr bewusst, genau deshalb trank sie nur noch so.

»Ich schau ihn mir mal an.« Sie streckte die Hand nach hinten, stellte den leeren Plastikbecher auf dem Picknicktisch ab, auf dem sie und Melissa saßen, und löste sich dann mit der weichen Grazie einer Schlange, die von ihrem Stein gleitet. Sie warf das Haar zurück und zupfte kurz am Saum ihres Tanktops, wobei sie tief Luft holte und den Busen vorstreckte. Wie eine Olympionikin absolvierte sie vor jedem wichtigen Start ein genau festgelegtes Ritual.

Sie hatte damals den ersten Schritt getan. Sie hatte Melissa zurückgelassen und war zu ihm hingeschlendert. Als sie bei seinem Auto ankam, hatte sie sich neben ihn gestellt und sich genau wie er an die Motorhaube gelehnt. »Du hast eine echte Unart.«

Er hatte lediglich den Kopf gedreht und sie angelächelt. »Nur eine?«

»Soweit ich weiß.«

Sein Grinsen war breiter geworden. »Dann wird es Zeit, dass du mich besser kennen lernst.«

Ohne weitere Umstände – denn schließlich waren sie einzig und allein aus diesem Grund dort – nahm er ihren Arm und führte sie um das Auto herum auf die Beifahrerseite. Trotz der Hitze fühlte sich seine Hand kühl und trocken an. Er öffnete ihr formvollendet die Tür und half ihr in den ledergepolsterten Sitz. Beim Wegfahren warf sie Melissa ein triumphierendes Lächeln zu, aber Melissa kramte gerade in ihrem Täschchen mit den »Gute-Laune-Pillen« und sah sie nicht.

Er fuhr vorsichtig, mit beiden Händen am Lenkrad und den Blick fest auf die Straße gerichtet. Er glotzte nicht, er grabschte nicht, das war eindeutig mal was Neues. Normalerweise fingen die Kerle an, sie zu befingern, sobald sie neben ihnen im Auto saß, so als könnten sie ihr Glück nicht fassen, als könnte sie sich in Luft auflösen, wenn ihre Finger sie nicht berührten, oder als könnte sie ihre Meinung ändern, wenn sie nicht sofort zur Sache kamen.

Dagegen wirkte der Typ hier irgendwie distanziert, und das fand sie irgendwie cool. Er war reif, er wusste, wo es langging. Er brauchte nicht zu glotzen und zu grabschen, um sich zu vergewissern, dass er bei ihr landen konnte.

Sie fragte ihn nach seinem Namen.

Er hielt vor einer roten Ampel und sah sie an. »Ist der von Bedeutung?«

Sie hob ihre Schultern zu jenem sorgfältig einstudierten Achselzucken, bei dem ihre Brüste mit nach oben wanderten und weiter vorgeschoben wurden, als es der beste Wonderbra geschafft hätte. »Eigentlich nicht.«

Sein Blick blieb ein paar Sekunden lang auf ihren Brüsten liegen, dann schaltete die Ampel auf Grün, und er fuhr wieder an. »Und was für eine Unart habe ich?«

»Du starrst die Leute an.«

Er lachte. »Wenn du das für eine Unart hältst, dann musst du mich unbedingt besser kennen lernen.«

Sie legte die Hand auf seinen Schenkel und raunte ihm mondän zu: »Ich freue mich schon darauf.«

Seine Wohnung war eine herbe Enttäuschung. Ein ranziges Apartment in einem Motel. Vor dem Obergeschoss des zweistöckigen Gebäudes hing ein zerfleddertes rotes Banner, das bezahlbare Monatstarife versprach. Das Motel lag in einer schmierigen Gegend, die weder seinem Auto noch seiner Kleidung entsprach.

Er hatte ihre Enttäuschung bemerkt und gesagt: »Eine Müllhalde, aber was Besseres konnte ich auf die Schnelle nicht finden. Ich bin noch auf der Suche nach einer richtigen Wohnung.« Dann hatte er leise hinzugefügt: »Ich würde es verstehen, wenn du möchtest, dass ich dich zurückfahre.«

»Quatsch.« Er sollte bloß nicht glauben, dass sie eine blöde, zimperliche Zicke von der Highschool ohne jeden Abenteuergeist war. »Abgefuckt ist zurzeit schwer angesagt.«

Das Apartment bestand im Wesentlichen aus einem Raum, der als Wohn- und Schlafzimmer diente. Die Kochnische war gerade mal schulterbreit. Das Bad war noch kleiner.

Im Zimmer standen ein Bett mit Nachttisch, ein Schreibtisch mit vier Schubladen, ein Fernsehsessel mit Stehlampe daneben und ein Klapptisch, der gerade so groß war, dass eine Hightech-Computerausrüstung darauf passte. Die Möbel sahen aus wie vom Flohmarkt, aber immerhin war die Wohnung aufgeräumt.

Sie ging an den Tisch. Der Computer war schon hochgefahren. Mit ein paar Mausklicks fand sie, was sie insgeheim erwartet hatte. Sie lächelte ihn über die Schulter hinweg an und sagte: »Es war also kein Zufall, dass du heute Abend da draußen warst.«

»Ich habe nach dir Ausschau gehalten.«

»Wirklich nach mir?«

Er nickte.

Das gefiel ihr. Sehr gut.

Die mit Resopal beschichtete Bar zwischen der Kochnische und dem Wohnbereich hatte er für seine Fotoausrüstung zweckentfremdet. Er hatte eine 35-Millimeter-Kamera, mehrere Linsen und diverses Zubehör, wie etwa ein tragbares Stativ. Die Ausrüstung sah professionell und teuer aus und passte nicht in das runtergekommene Apartment. Sie griff nach der Kamera und visierte ihn durch den Sucher an. »Bist du Profi?«

»Das ist nur ein Hobby. Möchtest du was zu trinken?«

»Klaro.«

Er ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Rotwein wieder. Cool. Dass er Wein gewählt hatte, zeigte, dass er Geschmack und Klasse hatte. Auch das passte gar nicht zu dem schäbigen Apartment, aber sie war ziemlich sicher, dass seine Erklärung dafür eine Lüge war. Wahrscheinlich war das hier gar nicht seine richtige Wohnung, sondern nur sein Spielzimmer. Weit weg von seiner Frau.

Sie nippte an ihrem Wein und sah sich um. »Und wo hast du deine Bilder?«

»Die zeige ich nicht her.«

»Wieso nicht?«

»Die sind nur für meine Privatsammlung.«

»Privatsammlung?« Sie grinste ihn viel sagend an und ringelte dabei die Haare um den Zeigefinger. »Hört sich gut an. Lass mal sehen.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

»Wieso?«

»Es sind … künstlerische Bilder.«

Wieder sah er ihr prüfend in die Augen, so als wollte er ihre Reaktion abschätzen. Unter seinem Blick begannen ihre Zehen zu kribbeln und ihr Puls zu rasen, das war ihr schon lange nicht mehr passiert, wenn sie mit einem Jungen zusammen war. Normalerweise war es eher ihr Ding, Kribbeln und Herzrasen auszulösen. Es war ein ungewohntes und wunderbares Gefühl, diejenige zu sein, die nicht genau wusste, was passieren würde. Scheißgeil.

Sie verkündete kühn: »Ich will sie aber sehen.«

Nach einem merklichen Zögern ging er vor dem Bett in die Hocke und zog eine Schachtel darunter hervor. Er hob den Deckel herunter und holte ein stinknormales Fotoalbum mit schwarzem Kunstledereinband heraus. Das Album fest an seine Brust gedrückt, stand er wieder auf. »Wie alt bist du?«

Die Frage war eine Beleidigung, schließlich war sie stolz darauf, älter auszusehen, als sie war. Sie musste seit Jahren ihren Ausweis nicht mehr vorzeigen – ein Blick auf das Schmetterlingstattoo auf ihrer rechten Brust reichte gewöhnlich, damit die Türsteher vergaßen, nach einem Ausweis zu fragen. »Was für eine Rolle spielt es denn, wie alt ich bin? Ich will die Bilder sehen. Außerdem bin ich zweiundzwanzig.«

Es war nicht zu übersehen, dass er ihr nicht glaubte. Er musste sich sogar ein Lächeln verkneifen. Trotzdem legte er das Album auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. Möglichst lässig spazierte sie hinüber und schlug es auf.

Das erste Bild war eindeutig und drastisch. Aus dem Aufnahmewinkel schloss sie – korrekt, wie sie später feststellte –, dass es sich bei der Nahaufnahme um ein Selbstporträt handelte.

»Schockiert?«, fragte er.

»Natürlich nicht. Glaubst du, ich hätte noch nie einen Ständer gesehen?« Ihre Antwort war längst nicht so blasiert, wie sie es gern gehabt hätte. Sie fragte sich, ob er ihr Herzklopfen hörte.

Seite um Seite schlug sie auf und betrachtete eine Aufnahme nach der anderen, bis sie das ganze Album durchhatte. Sie studierte jedes Foto und versuchte dabei den Anschein zu erwecken, sie würde es analysieren wie eine Kunstkritikerin. Einige Aufnahmen waren farbig, andere schwarz-weiß, aber abgesehen von dem ersten waren auf allen Bildern nackte junge Frauen in eindeutigen Posen zu sehen. Man hätte die Fotos als obszön bezeichnen können, aber sie war zu erfahren, um sich über entblößte Geschlechtsteile aufzuregen.

Trotzdem waren es in keiner Weise »künstlerische« Aktstudien. Es waren Wichsvorlagen.

»Gefallen sie dir?« Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spürte.

»Sie sind okay.«

Er schob seinen Arm an ihr vorbei und blätterte ein paar Seiten zurück, bis er zu einem bestimmten Foto kam. »Das ist mein Lieblingsbild.«

Sie konnte nicht erkennen, wieso dieses Mädchen anders sein sollte als die anderen. Ihre Nippel standen wie Mückenstiche von dem flachen, knochigen Oberkörper ab. Man konnte ihre Rippen zählen, und ihre Haare hatten Spliss. Außerdem hatte sie Pickel auf den Schultern. Über ihr Gesicht war, wahrscheinlich aus gutem Grund, ein Schleier gebreitet.

Sie klappte das Album zu, drehte sich zu ihm um und ließ ihr verführerischstes Lächeln aufstrahlen. Langsam zog sie ihr Tanktop über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. »Du meinst, es war bis heute dein Lieblingsbild.«

Er hielt den Atem an und stieß ihn dann langsam und stockend wieder aus. Mit sichtbarem Genuss nahm er ihre Hand und platzierte sie so auf ihrem Leib, dass sie ihre Brust in der Hand hielt, als wollte sie sie ihm darbieten.

Er schenkte ihr das süßeste, zärtlichste Lächeln, das sie je gesehen hatte. »Du bist perfekt. Das war mir vom ersten Moment an klar.«

Ihr Ego schwoll megamäßig an. »Wir verlieren unnötig Zeit.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Shorts auf und wollte sie schon ausziehen, als er sie bremste. »Nein, lass sie halb auf deiner Hüfte hängen. Genau so.« Geschmeidig griff er nach seiner Kamera. Offenbar hatte er bereits einen Film eingelegt und sie einsatzbereit gemacht, denn er schaute sofort durch den Sucher.

»Das wird phantastisch.« Er führte sie näher an die Stehlampe neben dem Fernsehsessel und rückte den schmuddligen Lampenschirm zurecht, dann trat er zurück und schaute noch mal durch den Sucher. »Zieh die Hose noch ein kleines bisschen tiefer. Super. Genau so.«

Er schoss mehrere Fotos hintereinander. »O Lady, du bringst mich um den Verstand.« Dabei senkte er die Kamera und sah sie beglückt an. »Du bist ein Naturtalent. Du hast bestimmt schon öfter Modell gestanden.«

»Nie professionell.«

»Kaum zu glauben«, murmelte er. »Jetzt setz dich aufs Bett.«

Er ging vor ihr auf die Knie und setzte sie so hin, wie er sie haben wollte. Beine. Hände. Kopf. Ehe er wieder nach seiner Kamera griff, küsste er die Innenseite ihres Schenkels und sog dabei die Haut zwischen die Zähne, bis ein Knutschfleck zurückblieb.

Über eine Stunde setzte sich das Fotografieren und das Vorspiel fort. Als sie es endlich taten, war sie mehr als bereit. Hinterher füllte er beide Weingläser nach, legte sich neben sie, streichelte sie am ganzen Leib und erzählte ihr, wie schön sie war.

Sie hatte gedacht: Endlich mal ein Typ, der weiß, wie man eine Frau behandelt.

Als sie ausgetrunken hatten, hatte er gefragt, ob er sie noch mal fotografieren dürfte. »Ich will das Nachglühen festhalten.«

»Wie bei einem Vorher-Nachher-Vergleich?«

Er lachte und gab ihr einen kurzen, liebevollen Kuss. »So in der Art.«

Er zog sie an – o ja, er hatte sie eigenhändig angezogen wie sie früher ihre Puppen. Danach hatte er sie an den Park am See zurückgefahren, wo sie sich begegnet waren, und sie zu ihrem Auto begleitet. Bevor er ihre Wagentür schloss, hatte er noch einen Kuss auf ihre Lippen gehaucht. »Ich liebe dich.«

Boah! Damit hatte er sie total überrumpelt. Hunderte von Typen hatten ihr erklärt, dass sie sie liebten, aber fast immer, während sie hektisch einen Pariser über ihren Schwanz zu zerren versuchten. Meistens hatte sie diese Liebeserklärungen hinter den beschlagenen Scheiben eines Autos oder Pick-ups gehört.

Aber noch nie hatte ihr jemand so leise, zärtlich und ehrlich seine Liebe erklärt. Er hatte ihr sogar die Hand geküsst, bevor er sie losgelassen hatte. Sie hatte das unglaublich süß und galant gefunden.

Seit dieser ersten Nacht waren sie noch ein paarmal zusammen gewesen, und jedes Mal hatte es ihr einen Kick gegeben. Leider hatte er, wie zu erwarten, schon bald zu winseln angefangen. Wo warst du gestern Abend? Mit wem warst du zusammen? Ich habe stundenlang auf dich gewartet, aber du bist nicht aufgetaucht. Wann sehen wir uns wieder?

Mit seiner Eifersucht hatte er ihr total den Spaß verdorben. Außerdem war der Reiz des Neuen und des Abenteuers bald verflogen. Die ewigen Fotosessions kamen ihr inzwischen nicht mehr exotisch vor, sondern pervers und widerlich. Es war höchste Zeit zum Absprung.

Vielleicht hatte er gespürt, dass sie vorgehabt hatte, heute Schluss zu machen, denn der Abend war von Anfang an scheiße gelaufen. Gleich nachdem er sie abgeholt hatte, hatten sie sich gestritten. Und von da an war es nur noch bergab gegangen.

Diese Fesselscheiße hier war nur noch bizarr und beängstigend. Sie stundenlang angebunden liegen zu lassen. Was war, wenn dieses Rattenloch abbrannte? Oder wenn ein Tornado oder so was kam?

So eine Scheiße. Sie wollte weg von hier. Je eher, desto besser.

Immerhin hatte er das Radio angemacht und Paris Gibsons Sendung eingestellt, bevor er gegangen war. Auf diese Weise hatte sie wenigstens etwas Unterhaltung. Sie fühlte sich nicht ganz so verlassen, als wenn die absolute Dunkelheit von absoluter Stille begleitet worden wäre.

So lag sie da, lauschte Paris Gibsons Stimme und zerbrach sich den Kopf, wann er verflucht noch mal zurückkommen würde und was ihm sonst noch für Spielchen vorschwebten.

3

Das rote Lämpchen am Mischpult erlosch. Valentino hatte aufgelegt.

Mehrere Sekunden verstrichen, ehe Paris merkte, dass sie außer ihrem klopfenden Herzen nichts mehr hörte. Die Musik war zu Ende. Auf dem Monitor, wo der Backtimer die Zeit bis zum Ende des laufenden Musiktitels abmaß, leuchtete nur noch eine Reihe von Nullen. Wie lange hatte sie schon nichts als tote Luft gesendet?

Hastig machte sie das Mikrofon auf, um die letzten dreiundzwanzig Sekunden ihrer Sendung zu füllen. Sie versuchte, etwas zu sagen. Aber sie brachte keinen Ton über die Lippen. Sie nahm einen neuen Anlauf.

»Ich hoffe, Sie haben diesen Abend mit klassischen Lovesongs genossen. Bitte schalten Sie morgen Abend wieder ein. Ich freue mich auf Sie. Bis dahin bleibe ich Ihre Paris Gibson auf FM 101.3. Gute Nacht.«

Sie drückte zwei Kontrolltasten und war damit nicht mehr auf Sendung. Im nächsten Moment war sie von ihrem hohen Drehhocker herabgesprungen, hatte die schwere Studiotür aufgerissen, raste durch den dunklen Flur und rumpelte, ohne anzuklopfen, in die Sendetechnik.

Bis auf eine Schachtel mit Chicken Wings auf Stans Schreibtisch war der Raum leer. Sie hastete weiter durch den Gang, bog in den ersten Quergang rechts ab und prallte auf Marvin, der in Zeitlupe einen schmuddeligen Putzlumpen über ein Fensterbrett zog.

Keuchend blieb sie stehen. »Haben Sie Stan gesehen?«

»Nein.« Eines musste man Marvin lassen – er war ein Mann weniger Worte. Wenn er überhaupt etwas sagte, dann nur das Allernötigste.

»Ist er schon gegangen?«

Diesmal würdigte er sie keiner so ausschweifenden Antwort, sondern begnügte sich mit einem Achselzucken.

Sie ließ den Hausmeister stehen, lief weiter zur Herrentoilette und drückte die Tür auf. Stan stand vor dem Urinal. »Stan, du musst sofort kommen.«

Verdattert über die unerwartete Unterbrechung drehte er den Kopf. »Was – ich bin gerade beschäftigt, Paris.«

»Beeil dich. Es ist wichtig.«

Sie lief ins Studio zurück und rollte ihren Hocker an den Vox Pro. Er zeichnete alle eingehenden Anrufe auf, damit sie später auf Sendung genommen werden konnten. Außerdem wurde, wie vorgeschrieben, jede ausgestrahlte Sendung aufgenommen und archiviert. Aber das geschah mit einer anderen Maschine und war ein anderes Thema. Im Moment interessierte sie sich nur für den Anruf.

»Was ist denn?« Stan kam hereinspaziert und sah sofort auf seine Armbanduhr. »Ich hab noch was vor.«

»Hör dir das an.«

»Vergiss nicht, dass meine Schicht endet, sobald deine Sendung fertig ist.«

»Halt den Mund, Stan, und hör zu.«

Er lehnte sich gegen das Mischpult. »Okay, aber ich muss wirklich gleich weg.«

»Pst.« Valentino hatte sich eben gemeldet. »Der Mann hat schon öfter angerufen.«

Stan schien sich mehr für die Bügelfalte in seiner Leinenhose zu interessieren. Doch als ihr Valentino erklärte, dass es ihr bald Leid tun würde, zuckten die Brauen ihres Kollegen nach oben. »Was soll das heißen?«

»Hör einfach zu.«

Danach verfolgte er schweigend das Telefonat. Als es zu Ende war, sah ihn Paris erwartungsvoll an. Er hob die schmalen Schultern zu einem abfälligen Achselzucken. »Ein Spinner.«

»Das ist alles? Glaubst du das wirklich? Dass er nur ein Spinner ist?«

Er schniefte. »Was hast du denn? Du glaubst doch nicht, dass er das ernst meint?«

»Ich weiß es nicht.« Sie fuhr herum und drückte die Hotline-Taste auf dem Mischpult. Es handelte sich dabei um eine Telefonleitung für die Privatgespräche der Moderatoren.

»Wen rufst du an?«, fragte Stan. »Die Bullen?«

»Ich finde das angebracht.«

»Wieso? Du wirst doch ständig von irgendwelchen Irren angerufen. War da nicht erst letzte Woche so ein Typ, der dich bei der Beerdigung seiner Mutter als Sargträgerin dabeihaben wollte?«

»Das hier ist was anderes. Ich rede jeden Abend mit den unterschiedlichsten Leuten. Aber der hier… ich weiß nicht«, beendete sie den Satz beklommen.

Als sich die Notrufzentrale meldete, nannte sie zuerst ihren Namen und schilderte der Telefonistin am anderen Ende dann kurz, was vorgefallen war. »Wahrscheinlich ist nichts an der Sache dran. Aber ich finde, dass sich jemand dieses Gespräch anhören sollte.«

»Ich höre Ihre Sendung oft, wenn ich freihabe, Ms Gibson«, sagte die Telefonistin. »Sie kommen mir nicht wie jemand vor, der leicht in Panik gerät. Ich schicke Ihnen gleich einen Streifenwagen vorbei.«

Paris dankte ihr und legte auf. »Sie sind schon unterwegs.«

Stan verzog das Gesicht. »Brauchst du mich dabei?«

»Nein, verschwinde. Ist schon okay. Außerdem ist Marvin noch hier.«

»Nein, ist er nicht. Er ist gegangen. Ich habe ihn am Ausgang gesehen, als ich von der Toilette kam, wo ich unterbrochen wurde. Wir Männer können leicht zu Schaden kommen, wenn wir so überrascht werden, das ist dir hoffentlich klar.«

Sie hatte heute Abend keine Lust auf Stans Scherze. »Ich glaube nicht, dass du bleibenden Schaden genommen hast.« Sie winkte ihn weg. »Hau ab. Aber schließ hinter dir ab. Ich lasse die Polizei dann selbst rein.«

Offenbar hatte er ihre Nervosität gespürt und das Gefühl bekommen, dass er sie im Stich ließ. »Nein, ich warte mit dir zusammen«, meinte er mürrisch. »Mach dir einen Tee oder so. Du siehst durcheinander aus.«

Sie war durcheinander. Eine Tasse Tee hörte sich gut an. Sie machte sich auf den Weg zur Kaffeeküche, kam aber nie dort an. Ein Geräusch hallte durch das Gebäude und zeigte an, dass jemand am Haupteingang wartete.

Sofort machte sie kehrt und eilte zum Vordereingang, wo sie zu ihrer Erleichterung zwei uniformierte Polizisten hinter der Glastür stehen sah. Dass sie frisch von der Polizeiakademie zu kommen schienen, war nicht so schlimm. Der eine sah aus, als müsste er sich noch nicht mal rasieren. Aber beide agierten professionell und stellten sich in lakonischer Kürze vor.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

»Wir waren gerade in der Gegend und auf dem Rückweg zum Revier, als wir den Funkspruch reinbekommen haben«, erklärte der eine. Er und sein Partner sahen sie mit Befremden an, aber das taten die meisten Menschen, wenn sie ihr zum ersten Mal begegneten. Die Sonnenbrille machte jeden stutzig.

Ohne ihre Brille zu erwähnen oder die Neugier der Polizisten zu stillen, führte sie die Officers Griggs und Carson durch das Labyrinth der Gänge. »Wir haben den Anruf in unserem Studio aufgezeichnet.«

Nach dem unauffälligen Äußeren des Radiosenders waren sie völlig unvorbereitet auf die elektronische Hightech-Ausstattung im Studio. Neugierig und ehrfürchtig sahen sie sich um. Paris brachte die beiden wieder auf Spur, indem sie ihnen Stan vorstellte. Alle machten sich kurz miteinander bekannt. Zu einem Händeschütteln kam es nicht. Paris griff nach der Maus des Vox Pros und spielte Valentinos aufgezeichneten Anruf ab.

Während der Wiedergabe sprach niemand ein Wort. Officer Griggs starrte an die Decke, Carson auf den Boden. Erst nach dem Ende der Aufzeichnung hob Carson den Kopf und räusperte sich, deutlich verlegen angesichts Valentinos derber Sprache. »Bekommen Sie oft solche Anrufe, Ms Gibson?«

»Manchmal bekomme ich welche von Spannern oder Spinnern, die mir was vorkeuchen oder schmutzige Anträge machen, aber nichts, was mit dem hier vergleichbar wäre. Noch nie hat mich jemand bedroht. Valentino hat schon öfter bei uns angerufen. Normalerweise erzählt er etwas von einer wunderbaren neuen Freundin oder von einer frisch erfolgten Trennung, die ihm das Herz gebrochen hat. So etwas wie heute hat er noch nie gebracht. Nichts, was dem auch nur nahe käme.«

»Du glaubst also, dass es derselbe Mann war?«

Alle drehten sich zu Stan um, der diese Frage gestellt hatte.

Er zog die Schultern hoch: »Es hätte sich auch jemand den Namen Valentino ausleihen können, weil er ihn in deiner Sendung gehört hat und weiß, dass dieser Valentino schon mehrmals angerufen hat.«

»Das wäre natürlich möglich«, meinte Paris nachdenklich. »Ich bin fast sicher, dass Valentino seine Stimme verstellt. Er hört sich irgendwie unnatürlich an.«

»Außerdem ist es ein ungewöhnlicher Name«, ergänzte Griggs. »Glauben Sie, dass es sein richtiger ist?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Manchmal wollen mir unsere Anrufer nicht einmal ihren Vornamen verraten und bleiben lieber anonym.«

»Können Sie die Anrufe zurückverfolgen?«

»Wir können die Nummern anzeigen lassen, falls sie nicht unterdrückt wurden. Einer unserer Techniker hat ein Programm geschrieben, das die Nummer auf dem Vox Pro anzeigt. Außerdem wird jeder Anruf automatisch mit Datum und Uhrzeit gekennzeichnet.«

Sie holte die Informationen auf den Bildschirm. Es wurde kein Name angezeigt, aber dafür eine Nummer im örtlichen Festnetz, die Carson hastig notierte.

»Das ist ein guter Anfang«, fand er.

»Vielleicht«, sagte Griggs. »Aber warum sollte er eine Nummer verwenden, die wir zurückverfolgen können, wenn er vorhatte, Sie zu bedrohen?«

Paris konnte zwischen den Zeilen lesen. »Sie glauben, es war bloß ein dummer Jungenstreich?«

Keiner der beiden Polizisten ging direkt darauf ein. Carson sagte: »Ich werde die Nummer anrufen und ausprobieren, ob sich jemand meldet.«

Er nahm sein Handy und ließ es ewig lange klingeln, bis er zu dem Schluss kam, dass niemand abheben würde. »Auch kein Anrufbeantworter. Ich werde das lieber überprüfen lassen.« Während er eine neue Ziffernfolge eintippte und der Person am anderen Ende Valentinos Nummer durchgab, erklärte Griggs ihr und Stan, dass die Telefonnummer jetzt zurückverfolgt würde.

»Ich vermute aber, dass der Mann einen Namen verwendet hat, den er in Ihrer Sendung aufgeschnappt hat, und nur Ihre Reaktion testen wollte.«

»Wie diese Gestörten bei ihren obszönen Anrufen«, ergänzte Stan.

Griggs’ kurz geschorener Kopf wippte auf und ab. »Genau so. Ich bin überzeugt, dass wir auf einen einsamen Trunkenbold oder eine Clique gelangweilter Teenager stoßen, die es spannend finden, andere zu schockieren. Etwas in dieser Richtung.«

»Hoffentlich haben Sie Recht.« Paris schlang die Arme um ihren Leib und rieb sich die Oberarme, um die Kälte zu vertreiben. »Ich finde es unfassbar, dass jemand solche Scherze macht, aber das wäre immer noch besser als die Alternative.«

Carson beendete das Telefonat. »Sie arbeiten daran. Wir müssten bald Bescheid bekommen.«

»Lassen Sie mich wissen, was dabei herausgekommen ist?«

»Aber selbstverständlich, Ms Gibson.«

Stan bot ihr an, hinter ihr her zu fahren, bis sie zu Hause war, aber es war ein halbherzig gemeintes Angebot, und er wirkte offenkundig erleichtert, als sie es ablehnte. Er wünschte ihnen allen eine gute Nacht und verschwand.

»Wie können wir Verbindung mit Ihnen aufnehmen, wenn wir etwas Neues erfahren haben?«, fragte Griggs, während sie auf verschlungenen Pfaden zum Haupteingang zurückkehrten.

Sie gab ihnen ihre Privatnummer und betonte dabei, dass es sich um eine Geheimnummer handelte. »Natürlich, Ms Gibson.«

Die beiden Polizisten waren überrascht, dass sie das Gebäude eigenhändig absperrte. »Sind Sie abends immer allein hier?«, fragte Carson, während sie Paris zu ihrem Wagen begleiteten.

»Stan ist da.«

»Was tut er genau und seit wann arbeitet er hier?«

Er tut eigentlich überhaupt nichts, dachte sie ironisch. Aber sie sagte ihnen, dass er als Techniker arbeitete. »Er ist für den Notfall da, falls die Technik ausfallen sollte. Er arbeitet schon einige Jahre hier.«

»Und außer Ihnen beiden ist während der Nachtschicht niemand im Gebäude?«

»Na ja, Marvin ist auch noch da. Er arbeitet seit einigen Monaten als Hausmeister für uns.«

»Sein Nachname?«

»Den kenne ich nicht. Wieso?«

»Man weiß nie, was in den Leuten steckt«, antwortete Griggs. »Kommen Sie gut mit den beiden aus?«

Sie lachte. »Mit Marvin kommt niemand gut aus, aber er ist gewiss nicht der Typ für Drohanrufe. Er spricht nur, wenn er angesprochen wird, und selbst dann brummelt er nur.«

»Was ist mit Stan?«

Sie fand es illoyal, hinter seinem Rücken über ihn zu reden. Wenn sie ehrlich war, würde sie keine besonders schmeichelhafte Beschreibung abgeben, darum erzählte sie den Polizisten nur das Wichtigste. »Wir kommen gut miteinander aus. Ich bin sicher, dass keiner von beiden etwas mit dem Anruf zu tun hat.«

Griggs lächelte sie an und klappte entschlossen sein kleines Notizbuch zu. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

Als sie die Haustür aufschloss, läutete schon das Telefon. Sie hob eilig den Hörer ab. »Hallo?«

»Ms Gibson, hier spricht Officer Griggs.«

»Ja?«

»Sind Sie problemlos heimgekommen?«

»Ja. Ich habe eben die Alarmanlage ausgeschaltet. Gibt es schon etwas Neues?«

»Die Nummer gehört zu einem Münztelefon nahe dem Universitätscampus. Wir haben einen Streifenwagen hingeschickt, aber dort war niemand mehr. Das Telefon steht vor einer Apotheke, die um zweiundzwanzig Uhr schließt. In der Apotheke und auf dem dazugehörenden Parkplatz war niemand.«