Trügerischer Spiegel - Sandra Brown - E-Book

Trügerischer Spiegel E-Book

Sandra Brown

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Beschreibung

Wie durch ein Wunder überlebt Avery Daniels ein tragisches Flugzeugunglück. Doch ist sie nicht mehr sie selbst: Irrtümlicherweise hat man sie als Carole Rutledge, die Frau eines texanischen Senators, identifiziert und ihr bei einer plastischen Operation deren Gesichtszüge verliehen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, aber es gibt kein zurück mehr. Denn Avery verstrickt sich immer tiefer in einem Netz aus Lügen und findet sich inmitten einer tödlichen Intrige wieder. Als ihr plötzlich klar wird, wie sehr sie ihren »Ehemann« liebt, begreift sie auch, dass sie sich beide am Rande eines Abgrunds bewegen ...

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Inhaltsverzeichnis

PROLOGKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4Copyright

PROLOG

Der Wahnsinn dabei war, daß es keinen besseren Tag zum Fliegen hätte geben können. Der Januarhimmel war grell und so blau, daß man ihn kaum ansehen konnte. Unbegrenzte Sicht. Eine kühle, harmlose Brise wehte aus nördlicher Richtung.

Der Flugverkehr war mäßig bis dicht für diese Tageszeit, aber das Bodenpersonal arbeitete effektiv, und die Flugpläne wurden eingehalten. Nur wenige Maschinen warteten darauf, daß die Startbahn für sie freigegeben wurde.

Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagmorgen auf dem internationalen Flughafen von San Antonio. Den Passagieren des AireAmerica-Fluges 398 war es höchstens unangenehm, daß es auf den letzten eineinhalb Kilometern der Hauptverkehrsader vor dem Flughafen wegen Straßenbauarbeiten einen Stau gegeben hatte.

Die siebenundneunzig Passagiere kamen rechtzeitig an Bord, verstauten ihr Handgepäck in den Gepäckfächern über ihren Köpfen und machten es sich mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in ihren Sitzen bequem. Die Crew im Cockpit erledigte routiniert den letzten Checkup vor dem Start. Die Flugbegleiter erzählten sich Witze, während sie Getränkewagen beluden und Kaffee kochten, der nie ausgeschenkt werden würde. Dann wurde die Gangway zurückgeschoben. Das Flugzeug rollte zur Startbahn.

Die freundliche Stimme des Flugkapitäns ertönte über Lautsprecher und teilte den Passagieren mit, daß der Start unmittelbar bevorstand. Dann berichtete er noch, daß die augenblicklichen Wetterverhältnisse über ihrem Zielflughafen Dallas ausgezeichnet seien, und forderte die Besatzung und die Passagiere auf, sich zum Start anzuschnallen.

Niemand an Bord ahnte, daß der Flug 398 nur weniger als dreißig Sekunden in der Luft bleiben würde.

»Irish!«

»Hmm?«

»Beim Flughafen hat es gerade einen Absturz gegeben.«

Irish McCabe sah plötzlich auf. »Abgestürzt?«

»Es hat Feuer gefangen. Am Ende der Startbahn herrscht ein wahres Inferno.«

Der Nachrichtendirektor sprang trotz seines Alters und seiner untrainierten Verfassung erstaunlich behende hinter seinem unordentlichen Schreibtisch hervor und hastete durch die Tür seines kleinen, mit Glaswänden abgeteilten Büros, wobei er fast den Reporter umrannte, der ihm den Zettel aus dem Nachrichtenraum gebracht hatte.

»Beim Start oder bei der Landung?« fragte er im Laufen.

»Unklar.«

»Überlebende?«

»Unklar.«

»Linienflug oder Privatmaschine?«

»Unklar.«

»Zum Teufel, seid ihr überhaupt sicher, daß es einen Absturz gegeben hat?«

Eine Gruppe von Reportern, Fotografen, Sekretärinnen und anderen hatte sich mit ernsten Gesichtern schon bei der Reihe von Polizeifunkgeräten eingefunden. Irish stieß sie zur Seite und drehte an einem Lautstärkeknopf.

»... Startbahn. Zur Zeit kein Zeichen von Überlebenden. Die Flughafenfeuerwehr rast auf das Feuer zu. Überall Rauch und Flammen. Hubschrauber kreisen. Rettungswagen sind auf –«

Irish brüllte Anordnungen, deren Lautstärke die Geräte übertönte. »Du«, sagte er und zeigte auf den Reporter, der erst vor wenigen Sekunden in sein Büro gestürmt war, »besorge dir eine Aufnahmeausrüstung und sieh zu, daß du so schnell wie möglich verschwindest, um dir vor Ort anzuschauen, was eigentlich los ist.« Der Reporter und ein Kameramann mit seiner Videokamera hasteten zum Ausgang. »Wer hat uns den ersten Bericht hereingefunkt?« wollte er wissen.

»Martinez. Er war auf dem Weg zur Arbeit und ist vor dem Flughafen im Stau steckengeblieben.«

»Ist er noch in der Nähe?«

»Ja, er hat vom Autotelefon aus angerufen.«

»Sagt ihm, er soll versuchen, so nah wie möglich zur Absturzstelle zu fahren und Videoaufnahmen machen, bis die mobile Hilfstruppe eintrifft.«

Er überblickte suchend die Gesichter. »Ist Ike hier irgendwo?« fragte er. Ike war der Redakteur für das Morgenprogramm.

»Der ist auf dem Scheißhaus.«

»Geht und holt ihn. Sagt ihm, er soll sich ins Studio setzen. Wir machen eine aktuelle Sendung. Ich will eine Stellungnahme von jemandem aus dem Tower, von der Flughafenleitung, der Fluglinie, der Polizei – irgendwas, damit wir eine Sendung hinkriegen, noch bevor die Jungs von der NTSB wieder alle knebeln. Übernimm du das, Hal. Und dann soll jemand Avery zu Hause anrufen und ihr sagen –«

»Geht nicht, sie fliegt doch nach Dallas heute, wissen Sie nicht mehr?«

»Scheiße, hatte ich vergessen. Nein, ich hab’s«, sagte Irish hoffnungsvoll und schnippte mit den Fingern. »Vielleicht ist sie ja noch auf dem Flughafen. Dann kann sie vor allen anderen da sein. Wenn sie es schafft, in die Abflughalle von AireAmerica zu kommen, kann sie die Story aus der menschlichen Perspektive aufziehen. Falls sie anruft, will ich sofort informiert werden.«

In der Hoffnung auf neueste Informationen wandte er sich wieder den Funkgeräten zu. Eine Portion Adrenalin schoß durch seinen Kreislauf. Also kein Wochenende. Sondern Überstunden und Kopfschmerzen, kaltes Essen und abgestandener Kaffee, aber Irish war in seinem Element. Es gab doch nichts Besseres am Ende einer Nachrichtenwoche als so ein richtiger Flugzeugabsturz.

Tate Rutledge parkte das Auto vor dem Haus. Er winkte dem Vorarbeiter der Ranch zu, der gerade mit seinem Pick-up die Ausfahrt hinunterfuhr. Eine Promenadenmischung, im wesentlichen Collie, sprang auf und rieb sich an seinen Knien, so daß er stehenbleiben mußte.

»Hi, Shep.« Tate bückte sich und strich über den zotteligen Kopf des Tieres. Der Hund sah mit uneingeschränkter Heldenverehrung zu ihm auf.

Zehntausende von Menschen verehrten Tate Rutledge auf ähnliche Art. Und es gab auch eine Menge an ihm zu bewundern. Von seinem Schopf zerzausten braunen Haars bis hinunter zu den Spitzen seiner abgenutzten Stiefel war er der Inbegriff eines Mannes, den sich Frauen erträumen.

Aber er hatte ebenso viele Feinde wie Bewunderer.

Er machte Shep klar, daß er vor der Tür bleiben solle, betrat die weite Eingangshalle des Hauses und nahm die Sonnenbrille ab. Seine Stiefelabsätze hallten auf dem Fliesenboden, als er sich auf den Weg in die Küche machte, aus der Kaffeeduft drang. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, daß er vor seiner Fahrt nach San Antonio nicht gefrühstückt hatte. Er stellte sich ein zartes Frühstückssteak vor, perfekt gegrillt, eine große Portion lokkeres Rührei und ein paar Scheiben heißen, gebutterten Toast. Sein Magen knurrte noch lauter.

Seine Eltern saßen in der Küche an dem runden Eichentisch, den es schon gab, solange Tate denken konnte. Als er hereinkam, drehte sich seine Mutter mit betroffener Miene zu ihm um. Sie war beunruhigend bleich. Nelson Rutledge, sein Vater, stand sofort auf und kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.

»Tate.«

»Was ist los?« fragte er verwirrt. »Wenn man euch beide so sieht, könnte man meinen, eben wäre jemand gestorben.«

Nelson zuckte zurück. »Hast du denn im Auto nicht Radio gehört?«

»Nein. Kassette. Warum?« Der erste Anflug von Panik umklammerte sein Herz. »Was, zum Teufel, ist los?« Sein Blick wanderte zu dem tragbaren Fernsehgerät auf dem gefliesten Küchenschrank. Seine Eltern hatten gebannt darauf gestarrt, bevor er hereingekommen war.

»Tate, Kanal zwei hat gerade mitten im Programm aktuelle Nachrichten gebracht. Vor ein paar Minuten ist auf dem Flughafen ein Flugzeug kurz nach dem Start abgestürzt.« Tates Brust hob und senkte sich, als er schnell und lautlos einatmete.

»Es ist immer noch ungewiß, welche Flugnummer es genau war, aber sie nehmen an –« Nelson schwieg und schüttelte kummervoll den Kopf. Zee, die noch am Tisch saß, drückte sich ein zerknülltes Papiertaschentuch auf die Lippen.

»Caroles Maschine?« fragte Tate heiser.

Nelson nickte.

KAPITEL 1

Sie schob sich mühsam durch den grauen Nebel.

Dahinter mußte es eine Öffnung geben, auch wenn sie sie noch nicht sehen konnte. Einen Augenblick hatte sie gedacht, daß es gar nicht der Mühe Wert sein würde, sie zu erreichen, aber irgend etwas hinter ihr war so grauenhaft, daß es sie immer weiter vorantrieb.

Sie war erfüllt von Schmerzen. Immer häufiger tauchte sie aus einem segensreichen Vergessen wieder auf in grelles Bewußtsein, das von so durchdringendem, so umfassendem Schmerz erfüllt war, daß sie nicht wußte, woher er kam. Er war überall – in ihrem Innern, auf ihrer Haut. Mehr wäre nicht möglich gewesen. Und dann wieder, wenn sie dachte, sie könne den Schmerz keinen Augenblick länger ertragen, wurde sie von einer warmen Welle von Gefühllosigkeit überströmt, als flösse ein Zaubertrank durch ihre Adern. Und kurz darauf versank sie wieder in das ersehnte Vergessen.

Doch die Momente, in denen sie bei Bewußtsein war, wurden länger. Trotz ihrer verschwommenen Wahrnehmung drangen gedämpfte Laute bis zu ihr durch. Sie konzentrierte sich, so sehr sie konnte, und allmählich erkannte sie das unaufhörliche Schnaufen eines Beatmungsgeräts, das ständige Piepsen elektronischer Instrumente, Gummisohlen, die auf gefliesten Böden quietschten, Telefone.

Einmal, als sie aus ihrer Bewußtlosigkeit an die Oberfläche kam, hörte sie eine geflüsterte Unterhaltung in ihrer Nähe.

»... unwahrscheinliches Glück gehabt. Ihr Körper war voller Kerosin. Verbrennungen, aber im wesentlichen oberflächlicher Art.«

»Wie lange dauert’s noch, bis sie reagiert?«

»Geduld. Ein derartiges Trauma betrifft mehr als nur den Körper.«

»Wie wird sie aussehen, wenn alles verheilt ist?«

»Der Chirurg wird Sie informieren.«

»Wann?«

»Wenn die Gefahr einer Infektion gebannt ist.«

»Haben die Verletzungen Auswirkungen auf den Fötus?«

»Fötus? Ihre Frau ist nicht schwanger.«

Die Worte waren bedeutungslos und flogen wie Meteoriten aus der dunklen Tiefe auf sie zu. Sie wollte ihnen ausweichen, weil sie in ihr friedliches Nichts eindrangen. Sie sehnte sich danach, absolut nichts zu spüren, also blendete sie die Stimmen aus und sank wieder in die weichen Kissen des Vergessens hinab.

»Mrs. Rutledge, können Sie mich hören?«

Sie reagierte instinktiv, und ein tiefes Ächzen formte sich in ihrer schmerzenden Brust. Sie versuchte, die Augenlider zu heben, schaffte es aber nicht. Das eine wurde von einer Hand aufgezogen, und ein Lichtstrahl durchdrang grell ihren Schädel. Schließlich verlosch das schreckliche Licht.

»Sie kommt langsam zu sich. Rufen Sie gleich ihren Mann an«, sagte die körperlose Stimme. Sie versuchte, den Kopf zu drehen, stellte aber fest, daß sie unfähig war, sich zu bewegen. »Haben Sie die Nummer seines Hotels?«

»Ja, Herr Doktor. Mr. Rutledge hat sie uns gegeben, für den Fall, daß sie zu sich kommen sollte, wenn er nicht hier ist.«

Die letzten Fetzen des grauen Nebels lösten sich auf. Worte, die sie vorher nicht verstanden hatte, bekamen jetzt wieder eine Verbindung zu erkennbaren Begriffen in ihrem Gehirn. Sie verstand die Worte, und doch erschienen sie ihr irgendwie sinnlos.

»Ich weiß, daß Sie sich sehr unwohl fühlen, Mrs. Rutledge. Wir tun unser möglichstes, um das zu ändern. Sie können nicht sprechen, also sollten Sie es am besten auch nicht versuchen. Entspannen Sie sich. Ihre Familie wird bald hier sein.«

Der schnelle Pulsschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie wollte atmen, konnte aber nicht. Eine Maschine atmete für sie. Durch einen Schlauch in ihrem Mund wurde die Luft direkt in ihre Lungen gepumpt.

Sie versuchte noch einmal vorsichtig die Augen zu öffnen. Auf der einen Seite gelang es ihr schließlich zumindest teilweise. Durch den Spalt sah sie Licht. Es tat weh, den Blick auf etwas zu richten, aber sie strengte sich weiter an, bis sie schließlich undeutliche Formen wahrnehmen konnte.

Ja, sie war tatsächlich in einem Krankenhaus. Das hatte sie schon begriffen.

Aber wie war es dazu gekommen? Warum? Es hatte sicher etwas mit diesem Alptraum zu tun, den sie im Nebel hinter sich zurückgelassen hatte. Sie wollte sich jetzt aber nicht daran erinnern und beschränkte sich auf die Gegenwart.

Sie konnte sich nicht rühren, so sehr sie sich auch bemühte. Auch den Kopf konnte sie nicht bewegen. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem steifen Kokon eingesponnen. Diese Lähmung jagte ihr Angst ein. War sie bleibend?

Ihr Herz schlug noch wilder. Fast im selben Augenblick tauchte neben ihr etwas oder jemand auf. »Mrs. Rutledge, Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden wieder völlig in Ordnung kommen.«

»Ihr Puls ist zu schnell«, bemerkte jemand, der auf der anderen Seite ihres Bettes stand.

»Ich glaube, sie ist desorientiert und weiß nicht, was sie von alldem hier halten soll.«

Eine weißgekleidete Gestalt beugte sich über sie. »Es wird alles wieder gut. Wir haben Mr. Rutledge angerufen, und er ist schon unterwegs. Sie sind doch bestimmt froh, ihn zu sehen, oder? Er ist so erleichtert, daß Sie wieder bei Bewußtsein sind.«

»Die Arme. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man plötzlich in einem Krankenhaus zu sich kommt?«

»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, einen Flugzeugabsturz zu überleben.«

Ein tonloser Schrei hallte lautlos durch ihr Hirn.

Sie erinnerte sich wieder!

Schrill knirschendes Metall. Kreischende Menschen. Rauch, dicht und schwarz. Flammen und furchtbare Angst.

Sie hatte automatisch die Sicherheitsanweisungen befolgt, die ihr auf Hunderten von Flügen von unzähligen Flugbegleitern eingeschärft worden waren.

Als sie erst einmal dem brennenden Treibstoff entkommen war, rannte sie wie blind durch eine blutige Welt und schwarzen Qualm. Auch wenn es furchtbare Schmerzen bereitete, sich zu bewegen – sie lief und drückte dabei etwas an sich.

Drückte etwas an sich? Sie erinnerte sich nur daran, daß es etwas Bedeutsames war – etwas, das sie in Sicherheit bringen mußte.

Sie war gefallen. Noch im Sturz glaubte sie, die Welt das letzte Mal zu sehen. Sie spürte nicht einmal den Schmerz des Aufpralls auf dem harten Boden. Vergessen umhüllte sie und bewahrte sie vor dem Schmerz und der Erinnerung.

»Herr Doktor! Ihre Pulsfrequenz ist plötzlich stark angestiegen.«

»Na gut, dann wollen wir sie ein wenig ruhig stellen. Mrs. Rutledge«, sagte der Arzt im Befehlston, »so beruhigen Sie sich doch. Es ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Sorge.«

»Dr. Martin, Mr. Rutledge ist angekommen.«

»Sorgen Sie dafür, daß er draußen bleibt, bis wir ihren Zustand stabilisiert haben.«

»Was ist los?« Die neu hinzugekommene Stimme schien wie aus großer Entfernung zu kommen, hatte aber doch einen sicheren und bestimmten Klang.

»Mr. Rutledge, bitte geben Sie uns noch ein paar –«

»Carole?«

Plötzlich spürte sie ihn. Er war sehr nah, beugte sich über sie, sprach mit weicher, beruhigender Stimme zu ihr. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du kommst schon wieder in Ordnung. Ich weiß, daß du Angst hast und verwirrt bist, aber es wird alles wieder gut. Auch bei Mandy, Gott sei Dank. Sie hat nur ein paar Knochenbrüche und oberflächliche Verbrennungen an den Armen. Mama bleibt bei ihr im Krankenhauszimmer. Aber sie wird sich bald erholen. Hörst du mich, Carole? Du und Mandy, ihr habt überlebt, und das ist im Moment das einzig Wichtige.«

Direkt hinter seinem Kopf war eine grelle Neonlampe, darum blieb sein Gesicht undeutlich, aber sie konnte genug von seinen kräftigen Zügen erkennen, um sich in etwa eine Vorstellung davon zu machen, wie er aussah. Sie klammerte sich an jedes seiner Trostworte. Und weil er so voller Überzeugung sprach, glaubte sie ihm.

Sie griff nach seiner Hand – oder versuchte es wenigstens. Er mußte ihr stummes Flehen nach einer menschlichen Berührung gespürt haben, denn er legte seine Hand leicht auf ihre Schulter.

Ihre Angst schwand unter seiner Berührung, vielleicht wirkte auch nur das starke Beruhigungsmittel, das in ihren IV-Schlauch gespritzt worden war. Sie ließ es zu, daß die Ruhe sie überkam, weil sie sich neben diesem Fremden irgendwie sicherer fühlte.

»Sie döst. Sie sollten jetzt wieder gehen, Mr. Rutledge.«

»Ich bleibe.«

Sie schloß das eine Auge, und sein undeutliches Bild verschwand. Das Medikament lullte sie ein, schaukelte sie wie ein Boot in den sicheren Hafen der Sorglosigkeit.

Wer ist Mandy? fragte sie sich.

Sollte sie diesen Mann kennen, der sie mit Carole ansprach?

Warum sagten immer alle Mrs. Rutledge zu ihr?

Glaubten die etwa, sie wäre mit ihm verheiratet?

Das stimmte natürlich nicht.

Sie kannte ihn nicht einmal.

Er war da, als sie wieder aufwachte. Sie wußte nicht, ob seitdem Minuten, Stunden oder Tage vergangen waren. Da die Tageszeit in einer Intensivstation keine Rolle spielte, wuchs ihre Verwirrung noch weiter.

In dem Augenblick, als sie das eine Auge öffnete, beugte er sich über sie und sagte »Hallo«.

Es war wirklich nervenaufreibend, daß sie ihn nicht klar erkennen konnte. Aber es war unmöglich, mehr als nur ein Auge zu öffnen. Erst jetzt wurde ihr langsam bewußt, daß ihr ganzer Kopf bandagiert war, darum konnte sie ihn auch nicht bewegen. Wie der Arzt schon angekündigt hatte, konnte sie nicht sprechen, der untere Teil ihres Gesichts schien wie versteinert.

»Verstehst du mich, Carole? Weißt du, wo du bist? Blinzle, wenn du mich verstehst.«

Sie blinzelte.

Er machte eine Handbewegung. Sie nahm an, er strich sich übers Haar, war aber nicht sicher. »Gut«, sagte er und seufzte. »Man hat mir gesagt, daß ich dich nicht beunruhigen soll, aber wie ich dich kenne, willst du alles genau wissen. Habe ich recht?«

Sie blinzelte.

»Erinnerst du dich daran, wie du an Bord des Flugzeugs gegangen bist? Das war vorgestern. Du wolltest ein paar Tage mit Mandy nach Dallas zum Einkaufen gehen. Erinnerst du dich an den Absturz?«

Sie versuchte verzweifelt, ihm irgendwie mitzuteilen, daß sie nicht Carole war und nicht wußte, wer Mandy war, aber sie blinzelte als Antwort auf die Frage, ob sie sich an den Absturz erinnere.

»Insgesamt haben nur vierzehn Passagiere überlebt.«

Sie wußte nicht, daß Tränen aus ihrem Auge sickerten, bis er sie mit einem Papiertuch abtupfte. Seine Berührung war sehr sanft dafür, daß seine Hände so kräftig aussahen.

»Irgendwie – der Himmel weiß, wie – hast du es geschafft, mit Mandy aus dem brennenden Wrack zu kommen. Erinnerst du dich daran?«

Sie blinzelte nicht.

»Na ja, macht nichts. Aber auf jeden Fall hast du es geschafft und ihr das Leben gerettet. Natürlich ist sie jetzt sehr mitgenommen und ängstlich. Ich fürchte, ihre Verletzungen sind insgesamt eher seelischer als körperlicher Art und deswegen schwieriger zu behandeln. Ihr gebrochener Arm ist eingerichtet worden, sie hat keinen bleibenden Schaden erlitten. Sie wird für ihre Verbrennungen nicht einmal eine Hautverpflanzung brauchen. Weil du sie«, und bei diesen Worten sah er sie durchdringend an, »mit deinem Körper vor den Flammen geschützt hast.«

Sie verstand diesen Blick nicht so recht, aber es hatte beinah den Anschein, als bezweifle er die Tatsachen, von denen er ihr gerade berichtete. Aber er wandte schließlich als erster den Blick ab und setzte seine Erklärung fort.

»Die NTSB untersucht den Absturz. Sie haben den Flugschreiber gefunden. Alles schien völlig normal zu verlaufen, dann ist plötzlich eine der Turbinen explodiert. Das Flugzeug verwandelte sich in einen Feuerball. Du hast es geschafft, durch einen Notausgang auf den Flügel hinauszukommen, mit Mandy auf dem Arm.

Einer der anderen Überlebenden hat erzählt, er hätte gesehen, wie du erst vergeblich versucht hast, ihren Sicherheitsgurt aufzubekommen. Er sagte, drei Leute hätten den Weg durch den Rauch zum Notausgang gefunden. Er meinte auch, dein Gesicht sei dort schon blutüberströmt gewesen, das heißt, die Verletzungen mußt du durch den Aufprall bekommen haben.«

Sie erinnerte sich an nichts derartiges. Sie erinnerte sich nur daran, daß sie glaubte, im Rauch ersticken zu müssen, wenn sie nicht zuerst verbrennen würde. Er würdigte ihr mutiges Handeln während der Katastrophe, dabei war sie doch einfach nur ihrem instinktiven Überlebenswillen gefolgt.

Vielleicht würden die genaueren Erinnerungen an die Tragödie Stück für Stück wieder zurückkehren. Vielleicht auch nicht. Sie war nicht sicher, ob sie sich überhaupt daran erinnern wollte. Diese schrecklichen Augenblicke nach dem Absturz im Geiste noch einmal durchzuleben, erschien ihr, als müsse sie noch einmal in eine Hölle hinabsteigen.

Wenn nur vierzehn Passagiere mit dem Leben davongekommen waren, mußte es unzählige Todesopfer gegeben haben. Und sie hatte unglaublicherweise überlebt. Durch eine Laune des Schicksals war sie am Leben geblieben, und sie würde niemals eine Erklärung dafür finden.

Ihr Gesichtsfeld verzerrte sich, und ihr wurde klar, daß wieder Tränen der Grund waren. Wortlos tupfte er sie mit dem Papiertuch weg. »Sie haben dein Blut untersucht und daraufhin entschieden, daß du das Beatmungsgerät brauchst. Du hast eine Gehirnerschütterung, aber keine ernsthafte Schädelverletzung. Beim Sprung von dem Flügel hast du dir das rechte Schienbein gebrochen.

Deine Hände sind wegen der Verbrennungen bandagiert und geschient. Gott sei Dank waren bis auf die Rauchvergiftung alle deine Verletzungen nur äußerlich.

Ich weiß, daß du dir Sorgen um dein Gesicht machst«, sagte er etwas unbehaglich. »Ich will dir nichts vormachen, Carole, ich weiß, daß du das nicht willst.«

Sie blinzelte. Er zögerte und sah sie unsicher an. »Dein Gesicht ist am stärksten betroffen. Ich habe den besten plastischen Chirurgen des Landes beauftragt. Er ist spezialisiert auf wiederherstellende Operationen bei Unfallopfern und Verletzten.«

Ihr Auge blinzelte jetzt wie wild, nicht als Ausdruck ihres Verstehens, sondern ihrer Beunruhigung. Ihre weibliche Eitelkeit war also geblieben, obwohl sie unbeweglich in der Intensivstation eines Krankenhauses lag und von Glück sagen konnte, daß sie noch am Leben war.

»Deine Nase und ein Wangenknochen sind gebrochen. Der andere ist völlig zertrümmert. Darum ist auch das Auge bandagiert, es gibt keine Stütze mehr darunter.«

Sie machte ein kleines Geräusch, ein Ausdruck ihres Entsetzens. »Nein, du hast das Auge nicht verloren. Gott sei Dank. Der Oberkieferknochen ist auch gebrochen. Aber der Chirurg kann das wieder in Ordnung bringen – alles. Dein Haar wird wieder wachsen. Du wirst Zahnimplantationen bekommen.«

Sie hatte keine Zähne und keine Haare mehr.

»Wir haben ihm Fotos von dir gebracht, neuere Fotos, die dich aus allen Perspektiven zeigen. Er wird dein Gesicht perfekt wiederherstellen können. Die Verbrennungen haben nur die äußerste Hautschicht in Mitleidenschaft gezogen, daher wirst du keine Hauttransplantationen brauchen. Wenn sich die Haut erneuert hat, wird es wie nach einer Schälkur sein, du wirst zehn Jahre jünger wirken, hat der Arzt gesagt. Das sollte dich beruhigen.«

Die sanften Andeutungen in seinen Erklärungen machten ihr einiges deutlich, auch wenn er sich nur auf die wesentlichsten Worte beschränkte. Die Erkenntnis, die laut und klar durch alles zu dringen schien, war, daß sie unter all den Verbänden aussah wie ein Monstrum.

Panik überkam sie, und das mußte sich ihm mitgeteilt haben, denn er legte wieder seine Hand auf ihre Schulter.

»Carole, ich habe dir nicht erklärt, wie es um dich steht, um dich zu erschrecken. Ich weiß, daß du Angst hast. Ich dachte nur, es wäre das beste, offen zu sein, damit du dich in Gedanken auf all das vorbereiten kannst, was dir bevorsteht.

Es wird nicht leicht werden, aber die ganze Familie steht hundertprozentig hinter dir.« Er hielt inne und senkte seine Stimme. »Im Moment werde ich meine persönlichen Überlegungen hintansetzen und mich ganz darauf konzentrieren, daß du wieder gesund wirst. Ich werde dich mit aller Kraft unterstützen, bis du mit dem Ergebnis der plastischen Chirurgie zufrieden bist. Das verspreche ich dir. Ich bin es dir schuldig, weil du Mandy das Leben gerettet hast.«

Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, um all dem etwas entgegenzusetzen, was er gesagt hatte, aber es war sinnlos. Sie konnte sich nicht rühren. Wenn sie versuchte, um das Rohr in ihrer Kehle herum zu sprechen, wurde der Schmerz in dem von Rauch angegriffenen Gewebe einfach zu groß.

Ihre Verzweiflung steigerte sich weiter, bis eine Krankenschwester hereinkam und ihn bat zu gehen. Als er schließlich die Hand von ihrer Schulter nahm, fühlte sie sich verlassen und allein.

Die Krankenschwester verabreichte ihr eine Dosis Beruhigungsmittel. Es breitete sich schleichend in ihren Adern aus, und sie widersetzte sich der betäubenden Wirkung. Doch das Medikament war stärker als sie, und schließlich mußte sie aufgeben.

»Carole, kannst du mich hören?«

Sie schreckte zusammen und stöhnte mitleiderregend. Durch das Medikament fühlte sie sich schwer und leblos, als wären die letzten lebenden Zellen in ihrem Gehirn tot.

»Carole?« flüsterte die Stimme ganz dicht an ihrem verbundenen Ohr.

Das war nicht der Mann, den sie Rutledge nannten, seine Stimme hätte sie wiedererkannt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob er fortgegangen war, und wußte nicht, wer jetzt mit ihr sprach. Vor dieser Stimme hätte sie sich am liebsten verkrochen. Sie war nicht so wohltuend wie die von Mr. Rutledge.

»Du bist nach wie vor in schlechtem Zustand, und sie wissen nicht, ob du durchkommst. Aber wenn du das Gefühl hast, daß du sterben wirst, dann mach bitte keine Bekenntnisse auf dem Totenbett, falls du das bis dorthin können solltest.«

Sie fragte sich, ob sie träumte, und öffnete ängstlich das eine Auge. Wie gewöhnlich war der Raum hell erleuchtet. Das Beatmungsgerät zischte rhythmisch. Derjenige, der gerade mit ihr gesprochen hatte, stand außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Sie spürte seine Anwesenheit, konnte ihn aber nicht sehen.

»Wir zwei haben immer noch mit dieser Sache zu tun. Und du steckst auf jeden Fall schon zu tief drin, um jetzt noch herauszukommen, also würde ich dir empfehlen, daran nicht mal nur zu denken.«

Vergeblich versuchte sie ihre Verwirrung und die durch das Medikament bewirkte Mattigkeit niederzukämpfen. Der Sprecher blieb nicht mehr als ein vager Eindruck, ohne Form oder klare Bestimmtheit – eine körperlose, finstere Stimme.

»Tate wird seinen Amtsantritt nicht erleben. Dieser Flugzeugabsturz kommt uns etwas ungelegen, aber das können wir zu unserem Vorteil nutzen, wenn du nicht in Panik gerätst. Hörst du? Wenn du alles hinter dir hast, werden wir dort weitermachen, wo wir stehengeblieben waren. Es wird niemals einen Senator Tate Rutledge geben. Er wird vorher sterben.«

Sie drückte ihr Auge fest zu in dem Versuch, ihrer ständig wachsenden Panik Herr zu werden.

»Ich weiß, daß du mich hören kannst, Carole. Tu nicht so, als könntest du’s nicht.«

Nach wenigen Momenten öffnete sie das Auge wieder und drehte es so weit nach hinten, wie sie konnte. Sie sah niemanden, und sie spürte, daß ihr Besucher fort war.

Weitere Minuten vergingen, zu denen das Beatmungsgerät den Takt schlug. Sie war an der Grenze zwischen Schlaf und Wachen, immer noch bemüht, die Wirkung des Medikaments und ihre Angst zu bekämpfen.

Kurz darauf kam eine Krankenschwester herein, überprüfte ihre Infusionsflasche und maß ihren Blutdruck. Sie benahm sich ganz normal. Die Krankenschwester hätte es doch sicher bemerkt, wenn jemand in ihrem Zimmer war oder es gerade erst verlassen hatte, aber sie schien zufrieden mit dem Zustand ihrer Patientin zu sein und ging.

Als sie schließlich wieder einschlief, war es ihr gelungen, sich einzureden, daß sie nur einen Alptraum gehabt hatte.

KAPITEL 2

Tate Rutledge stand am Fenster seines Hotelzimmers und betrachtete den Verkehr auf der vierspurigen Straße. Rote Rücklichter und weiße Scheinwerfer spiegelten sich auf der feuchten Fahrbahn in wäßrigen Leuchtstreifen.

Als er hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete, drehte er sich um und nickte seinem Bruder zur Begrüßung zu.

»Ist Vater noch nicht wieder da?«

Tate schüttelte den Kopf und ließ die Gardine fallen, bevor er sich vom Fenster abwandte.

»Mir knurrt der Magen«, sagte Jack. »Hast du keinen Hunger?«

»Ich denke schon. Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht.« Tate sank in den Sessel und rieb sich die Augen.

»Du wirst weder Carole noch Mandy einen Gefallen damit tun, wenn du nicht auf deinen eigenen Zustand achtest, Tate. Du siehst grauenvoll aus.«

»Danke.«

»Ich meine das ernst.«

»Das weiß ich«, sagte Tate, ließ die Hände sinken und sah seinen Bruder mit einem matten Lächeln an. »Du bist ganz offen und bar jeden Taktgefühls. Deswegen bin ich Politiker und nicht du.«

»Ich versuche ja nur, dir zu helfen.«

Tate senkte müde den Kopf, spielte an der Fernbedienung des Fernsehgerätes und sah ohne Ton die Kanäle durch. »Ich habe Carole gesagt, wie es mit ihrem Gesicht steht.«

»Wirklich?«

Jack Rutledge setzte sich auf die Bettkante, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. Ganz anders als sein Bruder trug er eine Anzughose, ein weißes Hemd und eine Krawatte dazu. Doch so spät am Tag sah er schon etwas zerknittert aus. Das gestärkte Hemd wirkte verwelkt, die Krawatte hatte er gelockert und die Ärmel aufgekrempelt.

»Wie hat sie darauf reagiert?«

»Wie soll ich das denn wissen?« murmelte Tate. »Außer ihrem rechten Auge kann man nichts von ihr sehen. Tränen kamen heraus, also kann ich sagen, daß sie geweint hat. Und da ich ihre Eitelkeit kenne, nehme ich an, daß sie unter all den Bandagen absolut hysterisch ist.«

Jack ließ den Kopf hängen und betrachtete seine Hände, als versuche er sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn sie Verbrennungen erlitten hätten und von Verbänden bedeckt wären. »Glaubst du, daß sie sich noch an den Absturz erinnert?«

»Sie hat mir zu verstehen gegeben, daß es so ist, aber ich weiß nicht genau, an wieviel sie sich erinnert. Ich habe die häßlichen Einzelheiten ausgelassen und ihr nur erklärt, daß sie und Mandy und zwölf andere überlebt haben.«

»Heute abend haben sie in den Nachrichten gebracht, daß man immer noch dabei ist, verkohlte Leichenteile zusammenzustellen, um sie irgendwann zu identifizieren.«

Tate hatte die Berichte in der Zeitung gelesen. Demnach war das Unglück wirklich so grauenhaft, daß nicht einmal Hollywood einen schrecklicheren Film hätte drehen können als die Wirklichkeit, wie sie sich jetzt dem amtlichen Leichenbeschauer und seiner Truppe von Helfern darstellte.

Immer wenn Tate daran dachte, daß Carole und Mandy auch zu dessen verstümmelten Opfern hätten gehören können, wurde es ihm flau im Magen. Er konnte nächtelang nicht schlafen, weil er immer daran denken mußte.

In seiner Vorstellung fügte Tate der Liste der Todesopfer noch die Namen von Carole und Mandy hinzu: Die Frau und die dreijährige Tochter des Bewerbers um den Senatorenposten Tate Rutledge waren ebenfalls unter den Opfern von Flug 398.

Aber das Schicksal hatte anders entschieden. Wegen Caroles erstaunlichem Mut hatten sie die Katastrophe überlebt.

»Mein Gott, draußen regnet’s wirklich wie aus Eimern.« Nelsons Stimme dröhnte durch die Stille, als er hereinkam, wobei er eine große, viereckige Pizzaschachtel balancierte und mit der anderen Hand seinen tropfenden Regenschirm ausschüttelte.

»Wir sind völlig ausgehungert«, sagte Jack.

»Ich bin so schnell wie möglich zurückgekommen.«

»Es duftet wunderbar, Dad. Was willst du dazu trinken?« fragte Tate, während er sich auf den Weg zum Kühlschrank machte. »Bier oder alkoholfrei?«

»Zu Pizza? Bier.«

»Jack?«

»Bier.«

»Wie war’s im Krankenhaus?«

»Er hat Carole die Wahrheit über ihre Verletzungen gesagt«, erklärte Jack, indem er Tate vorgriff.

»Ach ja?« Nelson biß in ein dampfendes Stück Pizza. Mit vollem Mund murmelte er: »Bist du sicher, daß das richtig war?«

»Nein. Aber wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich auch wissen wollen, was los ist, du etwa nicht?«

»Ich denke schon.« Nelson trank einen Schluck von dem Bier, das Tate ihm gebracht hatte. »Wie ging es deiner Mutter, als du gegangen bist?«

»Sie war ziemlich erschöpft, wollte aber bleiben, weil Mandy sich jetzt schon so an sie gewöhnt hat.«

»Das hat sie dir gesagt«, meinte Nelson. »Aber wahrscheinlich hat sie nur einen Blick auf dich geworfen und beschlossen, daß du den Schlaf mehr brauchst als sie.«

»Vielleicht kann ja die Pizza etwas zu meiner Wiederbelebung beitragen.« Tate versuchte, seiner Stimme einen humorvollen Klang zu geben.

»Sei nicht so leichtfertig mit deiner Gesundheit, Tate«, meinte Nelson ernst.

»Das habe ich auch nicht vor.« Er prostete ihnen mit seiner Bierdose zu, trank und ergänzte dann ruhig: »Jetzt, da Carole weiß, was ihr bevorsteht, werde ich eher zur Ruhe kommen.« Tate tupfte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und faßte sich. Jetzt würde er sie auf die Probe stellen. »Trotzdem sollte ich vielleicht lieber noch sechs Jahre warten und erst dann zur Wahl antreten, wenn ich bedenke, was uns noch alles erwartet.«

Ein paar Sekunden vergingen, dann redeten Jack und Nelson gleichzeitig, wobei jeder versuchte, den anderen zu übertönen.

»Und die ganze Arbeit, die wir schon investiert haben?«

»Zu viele Menschen zählen schon auf dich.«

»Du solltest nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, jetzt aufzugeben, kleiner Bruder.«

Tate hob die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ihr wißt, wie gern ich antreten möchte. Mein Gott, das einzige, was ich immer sein wollte, war Regierungsmitglied. Aber ich kann nicht das Wohl meiner Familie aufs Spiel setzen, nicht einmal für meine politische Karriere.«

»Carole verdient derartige Rücksichten doch gar nicht.«

Tates rasiermesserscharfer grauer Blick traf auf den seines Bruders. »Sie ist meine Ehefrau«, stellte er fest.

Wieder entstand gespanntes Schweigen. Nelson räusperte sich und sagte: »Natürlich sollst du so viel wie möglich an Caroles Seite sein. Es ist bewundernswert, daß du zuerst an sie und dann erst an deine Karriere denkst. Diese Art von Selbstlosigkeit hätte ich auch von dir erwartet.« Um dem, was er als nächstes sagen wollte, mehr Nachdruck zu verleihen, beugte sich Nelson über die geplünderte Pizzaschachtel, die offen auf dem kleinen Tisch stand. »Aber denk daran, wie sehr dich Carole dazu ermutigt hat, den Schritt zur Kandidatur zu wagen«, sagte er und streckte warnend den Zeigefinger aus.

»Und wenn man versuchen würde, eine ganz gefühlskalte und drastische Perspektive einzunehmen«, fuhr er fort, »dann könnten wir diesen Unfall vielleicht auch zu unserem Vorteil nutzen. Durch ihn bekommen wir kostenlos Reklame.«

Tate fand diese Bemerkung abstoßend. Er stand auf und wanderte ziellos im Zimmer umher. »Hast du das schon mit Eddy besprochen? Er hat nämlich praktisch dasselbe gesagt, als ich ihn vorhin anrief.«

»Er ist dein Wahlkampfmanager. Er wird dafür bezahlt, daß er dir gute Ratschläge gibt.«

»Dafür, daß er auf mir herumreitet, meinst du wohl.«

»Eddy will, daß Tate Rutledge Senator der Vereinigten Staaten wird, genau wie wir alle.« Nelson lächelte breit, stand auf und schlug Tate auf den Rücken. »Du wirst im November zur Wahl antreten. Carole würde dir da als erste gut zureden.«

»Also gut«, sagte Tate ruhig. »Ich wollte nur wissen, ob ihr wirklich hinter mir steht. Die Anforderungen, die mich in den nächsten Monaten erwarten, werden mich ungeheuer in Anspruch nehmen.«

»Du hast unsere ganze Unterstützung, Tate«, sagte Nelson.

»Und kann ich auch auf eure Geduld und euer Verständnis zählen, wenn ich es nicht schaffe, an zwei Stellen gleichzeitig zu sein?« Tate ließ seinen fragenden Blick hin und her wandern.

»Wir ziehen mit dir an einem Strick«, versicherte ihm Nelson.

»Was hat Eddy noch gesagt?« fragte Jack, erleichtert darüber, daß die Krise vorüber war.

»Er hat Freiwillige mobilisiert, die Fragebögen in Umschläge stecken, damit sie Ende der Woche verschickt werden können.«

»Wie ist es mit öffentlichen Auftritten? Sind noch irgendwelche eingeplant?«

»Eine kleine Rede vor Oberschülern. Ich habe ihn gebeten, den Termin abzusagen.«

»Warum?«

»Ich muß Prioritäten setzen. Carole und Mandy werden viel von meiner Zeit in Anspruch nehmen, also muß ich genauer auswählen, wann ich wohin gehe. Jede Rede soll Gewicht haben, und eine Rede in einer Oberschule kann nicht besonders bedeutend sein.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, meinte Nelson beschwichtigend.

Tate merkte, daß sich sein Vater bemühte, nett zu ihm zu sein, aber es war ihm egal. Er war müde und voller Sorgen, wollte ins Bett und wenigstens versuchen zu schlafen. So taktvoll wie möglich machte er das seinem Vater und seinem Bruder klar.

Als er sie hinausbegleitete, drehte sich Jack noch einmal um und drückte ihm kurz die Hand. »Tut mir leid, wenn ich dich gedrängt habe. Ich weiß, daß du viel im Kopf hast.«

»Wenn du es nicht tätest, wäre ich wahrscheinlich schon nach kürzester Zeit dick und faul. Ich verlasse mich darauf, daß du mich drängst.« Tate warf ihm das ermutigende Lächeln zu, das auch die Wahlplakate zierte.

»Wenn ihr einverstanden seid, werde ich morgen früh nach Hause fahren«, sagte Jack. »Jemand sollte dort nach dem Rechten sehen. Wer weiß, was die da so treiben.«

»Als ich zuletzt zu Hause war«, erklärte Nelson, »schien nicht alles in Ordnung zu sein. Deine Tochter Francine hat seit Tagen niemand gesehen, und deine Frau... nun, du weißt ja, in welchem Zustand sie war, Jack. Die Dinge stehen nicht gut, wenn ein Mann so wenig Einfluß auf seine Familie hat wie du.« Er sah Tate an. »Oder auch du. Ihr beide habt eure Frauen in letzter Zeit tun lassen, wozu sie gerade Lust hatten.«

Dann wandte er sich wieder an Jack und sagte: »Du solltest dich darum kümmern, daß Dorothy Rae möglichst bald geholfen wird, bevor es zu spät ist.«

»Vielleicht nach der Wahl«, murmelte er. Dann sah er seinen Bruder an und fügte hinzu: »Ich bin ja nur eine Stunde Fahrt entfernt, falls ihr mich brauchen solltet.«

»Danke, Jack.«

»Hat der Arzt schon gesagt, wann sie operieren wollen?«

»Erst wenn das Infektionsrisiko nicht mehr so groß ist«, erklärte ihnen Tate. »Der Rauch hat ihr Lungengewebe angegriffen, deswegen müssen sie vielleicht noch zwei Wochen warten. Und das ist ein Problem für ihn, denn wenn er zu lange wartet, werden ihre Gesichtsknochen so verheilen, wie sie jetzt sind.«

»Mein Gott«, sagte Jack. Dann fügte er mit schlecht gespielter Fröhlichkeit hinzu: »Also, grüß sie von mir. Auch von Dorothy Rae und Fancy.«

»Mach’ ich.«

Jack ging den Flur hinunter zu seinem Zimmer. Nelson blieb noch einen Augenblick stehen. »Ich habe heute morgen mit Zee gesprochen. Sie ist, während Mandy schlief, in der Intensivstation gewesen. Sie hat gesagt, Carole biete einen schlimmen Anblick.«

Tates breite Schultern sanken ein wenig. »Ja, stimmt. Ich hoffe wirklich, daß der Chirurg sein Handwerk versteht.«

Nelson legte in einer schweigenden Geste der Beruhigung eine Hand auf Tates Arm. Tate berührte die Hand seines Vaters. »Dr. Sawyer, das ist der Chirurg, hat heute die Videobilder gemacht. Dabei hat er Caroles Gesicht elektronisch auf einen Bildschirm gezeichnet, anhand der Fotos, die wir ihm gegeben hatten. Es war wirklich bemerkenswert.«

»Und er geht davon aus, daß er während der Operation dieses Videobild reproduzieren kann?«

»Das behauptet er. Er meinte, es würde natürlich ein paar kleine Unterschiede geben, doch die meisten zugunsten von Carole.« Tate lachte trocken. »Wogegen sie sicher nichts einzuwenden hat.«

»Vielleicht wird sie noch denken, daß jede Frau in Amerika ein solches Glück haben sollte«, meinte Nelson mit seinem typischen Optimismus.

Aber Tate dachte an dieses eine Auge, blutunterlaufen und geschwollen, das voller Angst zu ihm aufgesehen hatte. Er fragte sich, ob sie wohl Angst vor dem Tod hatte. Oder davor, ohne dieses faszinierende Gesicht leben zu müssen, das sie bei jeder Gelegenheit zu ihrem Vorteil eingesetzt hatte.

Nelson zog sich in sein Zimmer zurück. Tief in Gedanken versunken, stellte Tate das Fernsehgerät ab und schaltete die Lichter aus, dann ging er ins Bett.

Blitze durchdrangen die Vorhänge und erleuchteten für Augenblicke das Zimmer. Der Donner krachte ganz in der Nähe, und die Fensterscheiben schepperten. Er starrte die flimmernden Muster an der Wand mit trockenen, schmerzenden Augen an.

Sie hatten sich zum Abschied nicht einmal geküßt.

Weil sei sich erst vor kurzem so schrecklich gestritten hatten, stand auch an jenem Morgen noch eine unangenehme Spannung zwischen ihnen. Carole wollte unbedingt ein paar Tage zum Einkaufen nach Dallas fliegen. Am Flughafen war noch Zeit für eine Tasse Kaffee.

Mandy tropfte ein bißchen Orangensaft auf ihr Kleid, und Carole reagierte viel zu heftig. Als sie aus dem Café gingen, versuchte sie, den Fleck von Mandys zerknittertem Rock zu reiben, und schimpfte mit ihr, weil sie so unvorsichtig gewesen war.

»Mein Gott, Carole, man kann den winzigen Fleck ja kaum erkennen«, sagte Tate.

»Ich sehe ihn schon.«

»Dann schau eben nicht so genau hin.«

Sie warf ihrem Mann daraufhin diesen mörderischen Blick zu, der ihn schon lange nicht mehr verärgerte. Dann trug er Mandy bis zum Abflugterminal und unterhielt sich dabei mit ihr darüber, was für aufregende Dinge sie in Dallas sehen und tun würde. Beim Ausgang kniete er sich vor sie und drückte sie an sich. »Viel Spaß, Süße. Bringst du mir was mit?«

»Darf ich, Mami?«

»Sicher«, antwortete Carole abwesend.

»Sicher«, erklärte ihm Mandy mit einem breiten Lächeln.

»Darauf freue ich mich.« Er umarmte sie noch einmal zum Abschied.

»Komm nicht zu spät, um uns abzuholen«, rief Carole noch, während sie Mandy durch den Ausgang zerrte, wo ein Angestellter der Fluggesellschaft darauf wartete, ihre Bordkarten entgegenzunehmen. »Ich hasse es, auf dem Flughafen warten zu müssen.«

Kurz bevor sie in dem Durchgang zum Flugzeug verschwanden, drehte sich Mandy noch einmal um und winkte ihm zu. Carole würdigte ihn keines Blickes mehr. Selbstsicher und zielbewußt ging sie zur Maschine.

Vielleicht war das der Grund, warum dieses eine Auge jetzt so ängstlich wirkte. Die Grundlage von Caroles Selbstvertrauen – ihr gutes Aussehen – war ihr vom Schicksal genommen worden. Sie haßte alles Häßliche. Vielleicht hatten ihre Tränen gar nicht jenen gegolten, die beim Absturz umgekommen waren, wie er ursprünglich angenommen hatte. Vielleicht wünschte sie sich, sie wäre gestorben, statt entstellt zu sein, auch wenn es nur vorübergehend war.

Bei Carole würde ihn das nicht überraschen.

In der Rangordnung der Helfer des Leichenbeschauers im Landkreis Bexar war Grayson der unterste. Deswegen überprüfte er mehrmals seine Informationen, bevor er sich mit seiner verwirrenden Entdeckung an seinen direkten Vorgesetzten wandte.

»Haben Sie kurz Zeit?«

Ein erschöpfter, mißgelaunter Mann mit Gummischürze und Handschuhen warf ihm einen finsteren Blick über die Schulter zu. »Was hatten Sie sich vorgestellt – eine Runde Golf?«

»Nein, ich habe das hier.«

»Was?« Der Vorgesetzte wandte sich wieder seiner Arbeit an dem schwarzen Haufen zu, der einmal ein Mensch gewesen war.

»Der zahnmedizinische Bericht von Avery Daniels«, sagte Grayson, »Fall Nummer siebenundachtzig.«

»Sie ist schon identifiziert und obduziert worden.« Der Vorgesetzte warf einen Blick auf die Liste an der Wand, um ganz sicherzugehen. Ihr Name war mit einer roten Linie durchgestrichen. »Ja, genau.«

»Ich weiß, aber –«

»Sie hatte keine lebenden Verwandten. Ein enger Freund der Familie hat sie heute nachmittag identifiziert.«

»Aber dieser Bericht –«

»Hör zu, junger Mann«, sagte der Vorgesetzte streng. »Ich habe Körper ohne Köpfe, Hände ohne Arme, Füße ohne Beine. Und die da oben wollen, daß ich bis heute abend fertig bin. Wenn also jemand schon sicher identifiziert ist, dann nerv mich nicht mit Berichten, okay?«

Grayson steckte die Röntgenaufnahmen zurück in den Umschlag, in dem sie angekommen waren, und ließ sie in Richtung Papierkorb segeln. »Von mir aus. Alles klar. Leck mich doch!«

»Kein Problem. Sobald wir diese ganzen verkohlten Typen hier identifiziert haben, jederzeit.«

Grayson zuckte mit den Schultern. Er wurde schließlich nicht dafür bezahlt, Dick Tracy zu spielen. Wenn sich sonst keiner um diese seltsamen Unstimmigkeiten kümmerte, warum sollte er es dann tun? Er machte sich wieder daran, zahnärztliche Berichte mit den Leichen zu vergleichen, die noch nicht identifiziert waren.

KAPITEL 3

Es sah so aus, als ob das Wetter auch in Trauer wäre.

Am Tag von Averys Beerdigung regnete es. In der vergangenen Nacht waren heftige Gewitter über das Hügelland von Texas gezogen, die einen jämmerlichen, kalten Regen hinterlassen hatten.

Mit bloßem Kopf stand Irish McCabe unerschütterlich neben dem Sarg. Er hatte darauf bestanden, daß er mit gelben Rosen geschmückt war, denn er wußte, daß das ihre Lieblingsblumen gewesen waren. Mit ihrer leuchtenden Farbe schienen sie sich über den Tod lustig zu machen. Das war ihm ein Trost.

Tränen rollten über seine Wangen. Seine fleischige, mit Äderchen gezeichnete Nase wirkte roter als sonst, obwohl er in letzter Zeit nicht mehr so viel getrunken hatte. Avery hatte immer deswegen geschimpft, denn übermäßig viel Alkohol sei nicht gut für seine Gesundheit.

Sie hatte auch mit Van Lovejoy wegen seiner Suchtneigung Streit, aber er war jetzt trotzdem high von billigem Scotch und einem Joint. Die altmodische Krawatte um seinen schlechtsitzenden Kragen war ein Zugeständnis an das ernste Ereignis und belegte die Tatsache, daß er Avery mehr geschätzt hatte als die meisten anderen Exemplare der Gattung Mensch.

Van Lovejoy war bei anderen Leuten auch nicht beliebter als sie bei ihm. Avery hatte zu den ganz wenigen gehört, die ihn ertragen konnten. Als der Reporter, der den Auftrag hatte, für KTEX über ihren tragischen Tod zu schreiben, Van fragte, ob er das Video dazu drehen würde, hatte ihn der Fotograf nur vorwurfsvoll angesehen, ihm einen erhobenen Mittelfinger entgegengestreckt und war wortlos aus dem Nachrichtenraum geschlurft  – typisch für Van.

Nach dem kurzen Zeremoniell am Grab machten sich die Trauernden auf den Weg zu den auf der Straße geparkten Autos, so daß nur Irish und Van am Grab zurückblieben. In diskretem Abstand warteten Friedhofsangestellte darauf, ihre Arbeit beenden zu können, um möglichst bald ins Trockene zu kommen.

Van war in den Vierzigern und dünn wie ein Bohnenstange. Sein Haar hing von der Mitte seines Kopfes aus gerade nach unten bis fast auf seine gebeugten Schultern und umrahmte sein hageres, schmales Gesicht. Er war ein alternder Hippie, der nie über die sechziger Jahre hinausgekommen war.

Im Gegensatz dazu war Irish kurz und stämmig. Während Van wirkte, als könnte ihn ein kräftiger Windstoß davonblasen, sah Irish aus, als würde er auf ewig stehenbleiben, wenn er seine Füße nur fest genug gegen den Boden stemmte. So unterschiedlich sie dem Wesen nach auch sein mochten, heute glichen sich ihre Haltungen und Mienen.

In einer seltenen Geste des Mitgefühls legte Van eine magere, bleiche Hand auf Irishs Schulter. »Komm, wir besaufen uns.«

Irish nickte abwesend. Er trat einen Schritt vor und pflückte eine der gelben Rosen von dem Sargschmuck, dann ließ er Van vor sich aus dem provisorischen Zelt und den Weg hinuntergehen. Regentropfen klatschten in sein Gesicht und auf seinen Mantel, aber er beschleunigte seinen gemessenen Schritt nicht.

»Ich bin mit dem Leichenwagen hergekommen«, sagte er, als wäre es ihm gerade eingefallen, weil er ihn dastehen sah.

»Willst du damit auch zurückfahren?«

Irish warf einen Blick auf Vans ziemlich ramponierten Lieferwagen. »Ich komme mit dir.« Er kletterte in den Lieferwagen. Das Innere war noch schlimmer als das Äußere. Die zerrissenen Sitzpolster waren mit einem abgewetzten Strandlaken bedeckt, und der braune Teppichstoff, mit dem die Wand bespannt war, roch nach abgestandenem Marihuana-Rauch.

Van ließ den Motor an, steckte mit nikotingelben Fingern eine Zigarette an und gab sie Irish.

»Nein, danke.« Nach kurzem Nachdenken nahm Irish die Zigarette dann doch und inhalierte tief. Avery hatte ihn dazu gebracht, das Rauchen aufzugeben. Er hatte schon seit Monaten keine Zigarette mehr in der Hand gehabt. Jetzt zog der Rauch beißend über seine Zunge und durch die Kehle. »Mein Gott, ist das gut«, seufzte er und nahm den nächsten Zug.

»Wohin?« fragte Van um die Zigarette herum, die er gerade für sich anzündete.

»Egal. Hauptsache, es kennt uns keiner. Könnte gut sein, daß ich heute auffallen werde.«

Ein paar Minuten später schob Van Irish durch die rotbespannte Tür einer Bar irgendwo in den düsteren Randbezirken der Stadt. »Werden wir hier drin ausgeraubt?« fragte Irish.

»Man wird am Eingang nach Waffen durchsucht.«

»Und wenn du keine hast, geben sie dir eine«, griff Irish den angestaubten Witz auf.

Die Stimmung war gedämpft. Sie setzten sich in eine dunkle Nische. Die vormittäglichen Besucher waren ähnlich abgewetzt wie die Glitzergirlande, die vor ein paar Jahren zu Weihnachten an die matten Deckenlampen gehängt worden war. In lebhaftem Kontrast zu der schläfrigen Stimmung dröhnte wilde Musik aus der Musikbox.

Van bestellte eine Flasche Scotch. »Ich sollte wirklich mal was essen«, murmelte Irish wenig überzeugt.

Der Videokameramann zuckte mit den Schultern und füllte die beiden Gläser, die der Wirt ihnen brachte. »Seine bessere Hälfte kocht auch, wenn man was bestellt.«

»Ißt du öfter hier?«

»Gelegentlich«, erwiderte Van und zuckte noch einmal lakonisch mit den Schultern.

Das Essen kam, aber nach ein paar Bissen merkte Irish, daß er eigentlich doch keinen Hunger hatte. Er schob den Teller zur Seite und griff nach seinem Whisky. Der erste Schluck traf seinen Magen wie ein Flammenwerfer. Tränen stiegen ihm in die Augen, und er holte pfeifend Luft.

Aber mit der Übung eines professionellen Trinkers erholte er sich schnell und nahm noch einen Schluck. Die Tränen blieben in seinen Augen. »Ich werde sie verdammt vermissen.«

»Ja, ich auch. Sie konnte verflucht lästig sein, aber längst nicht so wie die meisten anderen.« Die Musikbox verstummte.

»Sie war wie meine Tochter, weißt du?« fragte Irish rein rhetorisch. Van rauchte weiter und zündete sich die nächste Zigarette an der Spitze der letzten an. »Ich erinnere mich an den Tag, als sie geboren wurde. Ich war auch im Krankenhaus und schwitzte zusammen mit ihrem Vater. Wir warteten. Gingen auf und ab. Und jetzt muß ich mich an den Tag erinnern, an dem sie gestorben ist.« Irish kippte einen kräftigen Schluck Whisky hinunter und füllte sein Glas wieder. »Weißt du, ich bin einfach gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß das ihre Maschine war, die abgestürzt ist. Und ich habe sie nach Dallas geschickt.«

»Mensch, mach dir deswegen keine Vorwürfe, du hast nur deine Arbeit gemacht. Du konntest es doch nicht wissen.«

Irish starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas. »Mußtest du schon mal einen Toten identifizieren, Van?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Sie lagen alle in einer Reihe, wie –« Er seufzte unsicher. »Verflucht, ich weiß es nicht. Ich war nie im Krieg, aber so ähnlich muß es gewesen sein. – Sie war in einer schwarzen Plastiktüte mit Reißverschluß. Sie hatte kein einziges Haar mehr«, sagte er, und seine Stimme bebte. »Es war alles verbrannt. Und ihre Haut... mein Gott!« Er bedeckte die Augen mit seinen gedrungenen Fingern. »Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre sie nicht mit dieser Maschine geflogen.«

»Mensch, Irish.« Mit diesen beiden Worten war Vans Wortschatz an mitfühlenden Ausdrücken erschöpft. Er füllte Irishs Glas nach, zündete noch eine Zigarette an und gab sie dem trauernden Mann. Er selbst ging inzwischen zu Marihuana über.

Irish zog an seiner Zigarette. »Gott sei Dank mußte ihre Mutter sie nicht so sehen. Wenn sie nicht ihr Medaillon fest in der Hand gehabt hätte, hätte ich sie nicht einmal als Avery erkannt.« Sein Magen drehte sich ihm fast’um, wenn er daran dachte, was durch den Absturz aus ihr geworden war. »Ein Glück, daß ihre Mutter sie nicht so sehen mußte.«

Irish drehte seinen Drink hin und her, bevor er seinen Blick hob. »Ich habe sie geliebt – Rosemary meine ich. Averys Mutter. Zum Teufel, ich konnte nicht anders. Cliff, ihr Vater, war fast ständig weg, in irgendeinem fernen Höllenloch irgendwo auf der Welt. Jedesmal, wenn er wegfuhr, hat er mich gebeten, mich um sie zu kümmern. Er war mein bester Freund, aber mehr als einmal hätte ich ihn dafür am liebsten umgebracht.«

Er schlürfte an seinem Drink. »Ich bin sicher, daß Rosemary es wußte, aber wir haben nie auch nur ein Wort darüber verloren. Sie liebte Cliff. Das wußte ich.«

Irish war seit Averys siebzehnten Lebensjahr so etwas wie ein Ersatzvater gewesen. Cliff Daniels, ein bekannter Fotoreporter, war bei einem Kampf um irgendein unbedeutendes, unaussprechliches Dorf in Mittelamerika ums Leben gekommen. Ohne viel Aufhebens zu veranstalten, hatte Rosemary nur wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes ihrem Leben ein Ende gemacht und Avery allein und ohne einen Menschen außer Irish, dem standhaften Freund der Familie, zurückgelassen.

»Ich bin genausosehr Averys Daddy wie Cliff es war. Vielleicht sogar noch mehr. Als ihre Eltern starben, wandte sie sich an mich. Und zu mir ist sie auch gekommen, nachdem sie sich letztes Jahr in D. C. so in Schwierigkeiten gebracht hatte.«

»Damals hat sie wirklich voll danebengehauen, aber sie war trotzdem eine gute Journalistin«, meinte Van durch eine dicke Wolke süßlichen Rauchs.

»Es ist tragisch, daß sie mit dem Bewußtsein von diesem Reinfall sterben mußte.« Er nahm einen Schluck. »Weißt du, Avery hatte Schiß vor dem Versagen. Vor nichts fürchtete sie sich mehr. Cliff war nicht oft da, als sie klein war, und so hatte sie immer versucht zu erreichen, was seine Billigung gefunden hätte, und seinem Namen Ehre zu machen. Deswegen war die Sache in D. C. auch so katastrophal für sie. Sie wollte versuchen, das wiedergutzumachen, ihre Glaubwürdigkeit und ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen. Verdammt noch mal, sie ist gestorben, während sie sich für eine Versagerin hielt.«

Der Kummer des älteren Mannes weckte ein seltenes Gefühl in Van. Also bemühte er sich noch einmal, Irish zu trösten. »Mit dieser anderen Sache – du weißt schon, wie du für ihre Mutter empfunden hast – das hat Avery gewußt.«

Irishs rote Augen konzentrierten sich auf Van. »Woher weißt du das?«

»Sie hat’s mir mal erzählt«, sagte Van. »Ich fragte sie, wie lange ihr euch eigentlich schon kennt. Sie sagte, daß sie dich schon kennt, solange sie sich erinnern kann. Sie ahnte, daß du im stillen ihre Mutter geliebt hast.«

»Sah es so aus, als bedeute ihr das etwas?« fragte Irish sofort. »Ich meine, hattest du den Eindruck, daß es ihr etwas ausmachte?«

Van schüttelte sein langes, strähniges Haar.

Irish zog die welkende Rose aus der Brusttasche seines dunklen Anzugs und strich über die zarten Blütenblätter. »Mein Gott, da bin ich aber froh. Ich habe sie alle beide geliebt.«

Seine schweren Schultern bebten. Er schloß die Finger um die Rose zu einer harten Faust. »O verdammt«, stöhnte er, »ich werde sie so vermissen.«

Er senkte den Kopf bis auf den Tisch und schluchzte krampfartig, während Van ihm gegenübersaß und auf seine Art versuchte, mit seinem Kummer zurechtzukommen.

KAPITEL 4

Als Avery wach wurde, wußte sie wieder, wer sie war.

Eigentlich hatte sie es gar nicht wirklich vergessen. Sie war nur verwirrt gewesen. Wer wäre nicht durcheinander, wenn er aus einer längeren Bewußtlosigkeit erwachen und feststellen würde, daß er sich nicht bewegen, nicht sprechen und nur ganz wenig sehen kann? Sie war selten krank gewesen, und deshalb war es schockierend für sie, so schwer verletzt zu sein.

Die ständige Beleuchtung und Geschäftigkeit der Intensivstation waren an sich schon genug, um jede normale Gehirntätigkeit zu behindern. Was Avery aber endgültig verwirrte, war die Tatsache, daß man sie mit einem falschen Namen ansprach. Wie hatte es dazu kommen können, daß man sie für eine Frau namens Carole Rutledge hielt? Selbst Mr. Rutledge schien davon überzeugt zu sein, daß er mit seiner Frau sprach.

Irgendwie mußte sie versuchen, diesen Irrtum klarzustellen. Aber sie wußte nicht wie, und das machte ihr angst.

Ihr Name war Avery Daniels. Sie nahm an, daß wohl alle ihre Papiere beim Absturz vernichtet worden waren.

Erinnerungen von diesem Ereignis versetzten sie nach wie vor in Panik, also schob sie sie entschlossen zur Seite, um sich später damit auseinanderzusetzen, wenn sie mehr Kraft haben würde.

Wo war Irish? Warum war er nicht gekommen, um ihr zu helfen?

Die offensichtliche Antwort auf diese Frage erschreckte sie. Es war unerträglich, aber doch offensichtlich. Wenn man sie für Mrs. Rutledge hielt und annahm, Mrs. Rutledge sei am Leben, dann wurde Avery Daniels für tot gehalten.

Sie stellte sich den Kummer vor, den Irish jetzt wohl durchmachte. Ihr >Tod< würde ihn schwer treffen. Doch im Augenblick konnte sie nichts unternehmen, um ihn in seinem Leid zu trösten. Nein! Es mußte einen Weg geben. Sie mußte sich konzentrieren.

»Guten Morgen.«

Sie erkannte seine Stimme sofort. Die Schwellung in ihrem Auge war wohl etwas besser, denn jetzt konnte sie ihn deutlicher sehen.

Seine buschigen, klar geformten Augenbrauen trafen sich beinahe über seiner langen, geraden Nase. Sein Unterkiefer und sein Kinn waren stark und ließen an Sturheit denken. Seine Lippen waren fest, lang und schmal, die Unterlippe nur wenig voller als die Oberlippe.

Er lächelte, allerdings nicht mit den Augen, stellte sie fest. Ihm war nicht wirklich zum Lächeln zumute, es sprach ihm nicht aus der Seele. Avery fragte sich, warum das so war.

»Man hat mir gesagt, daß du eine ruhige Nacht hattest. Nach wie vor keine Anzeichen für eine Lungenentzündung. Das ist wirklich erfreulich.«

Sie kannte dieses Gesicht und diese Stimme. Nicht erst seit gestern. Schon seit längerem. Aber sie konnte sich nicht erinnern, wo sie diesem Mann begegnet war.

»Mama hat Mandy kurz alleingelassen, um dich zu besuchen.« Er wandte den Kopf zur Seite und bedeutete jemandem, näher heranzukommen. »Du mußt dich hierhin stellen, Mama, sonst kann sie dich nicht sehen.«

Das außergewöhnlich hübsche Gesicht einer Frau mittleren Alters erschien in Averys Blickfeld. Das weiche, dunkle Haar der Frau war in sehr schmeichelnder Weise gezeichnet durch einen silbernen Streifen.

»Hallo, Carole. Wir sind alle erleichtert, daß es dir schon wieder besser geht. Tate hat gesagt, daß die Ärzte zufrieden sind mit deinen Fortschritten.«

Tate Rutledge, natürlich!

»Erzähl ihr von Mandy, Mama.«

Pflichtschuldig berichtete die Fremde von einer weiteren fremden Person. »Mandy hat heute morgen fast ihr ganzes Frühstück gegessen, damit sie besser schläft. Der Gips an ihrem Arm ist ihr lästig, aber ich denke, das war zu erwarten. Sie ist der Liebling der Kinderabteilung und wickelt das ganze Personal um den Finger.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie tupfte sie mit einem Papiertaschentuch weg. »Wenn ich daran denke, was...«

Tate Rutledge legte seiner Mutter den Arm um die Schultern. »Aber es ist nicht so gekommen, Gott sei Dank.«

Da wurde Avery klar, daß es wohl Mandy Rutledge gewesen war, die sie aus dem Flugzeugwrack getragen hatte. Sie erinnerte sich wieder an die Schreie des Kindes, während es wie wild versucht hatte, sich von seinem verklemmten Sicherheitsgurt zu befreien. Als er sich schließlich öffnete, hatte sie das völlig verstörte Kind an sich gedrückt und war mit der Hilfe eines weiteren Passagiers durch den dichten, beißenden Rauch gestolpert auf einen Notausgang zu.

Weil sie das Kind trug, hatte man sie für Mrs. Carole Rutledge gehalten. Aber das war nicht alles. Sie hatten auch die Plätze getauscht.

Ihr Gehirn begann ungeschickt, die Teile eines Puzzles zusammenzusetzen, das nur sie kannte. Sie erinnerte sich daran, daß auf ihrer Bordkarte die Nummer eines Fensterplatzes gestanden hatte, doch als sie zu ihrer Reihe kam, saß dort schon eine Frau. Sie hatte nicht versucht, das zu korrigieren, sondern sich statt dessen auf den Sitz am Gang gesetzt. Und das Kind saß auf dem Sitz zwischen ihnen beiden.

Die Frau hatte dunkles, schulterlanges Haar gehabt, ganz ähnlich wie Avery. Und sie hatte ebenfalls dunkle Augen. Sie waren sich ähnlich. Genaugenommen hatte die Flugbegleiterin sogar gefragt, welche der beiden Frauen die Mutter und welche die Tante wäre, weil sie Avery und Carole Rutledge für Schwestern gehalten hatte.

Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Mrs. Rutledge war vermutlich bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Man hatte sie verwechselt wegen des Kindes und der Änderung der Sitzplätze, von der niemand etwas wußte. Mein Gott, sie mußte es ihnen irgendwie mitteilen!

»Vielleicht gehst du jetzt besser zurück, bevor Mandy Angst bekommt, Mama«, sagte Tate. »Sag ihr, daß ich auch bald komme.«

»Also, dann auf Wiedersehen, Carole«, sagte die Frau zu ihr. »Ich bin sicher, daß du nach der Operation von Dr. Sawyer genauso hübsch sein wirst wie zuvor.«

Ihre Augen lächeln auch nicht, dachte Avery, als die Frau verschwand.

»Bevor ich es vergesse«, sagte Tate und trat wieder nah ans Bett, so daß sie ihn sehen konnte, »Eddy, Vater und Jack lassen dich grüßen.

Jack ist heute morgen nach Hause gefahren«, fuhr Tate fort, ohne zu wissen, daß er nicht mit seiner Frau sprach. »Ich bin sicher, daß er sich Sorgen wegen Dorothy Rae macht. Außerdem weiß man nie, was Fancy tut, selbst wenn Eddy sie bei den Freiwilligen in der Wahlkampfzentrale mitarbeiten läßt. Du wirst sie alle nicht sehen dürfen, solange du noch in der Intensivstation bist, aber ich nehme auch nicht an, daß du sie besonders vermissen wirst, oder?«

Er dachte, daß sie genau wußte, über wen oder was er redete. Wie konnte sie ihm nur mitteilen, daß sie auch nicht die leiseste Ahnung hatte, was er meinte? Sie kannte diese Leute nicht. Sie mußte irgendwie Irish verständigen. Dieser Mann mußte erfahren, daß er Witwer war.

»Und was den Wahlkampf betrifft, Carole, wollte ich dir auch noch etwas sagen.« Angesichts der Bewegung, die seine Schultern machten, nahm sie an, er habe die Hände in die Hosentaschen gesteckt. »Ich werde ihn fortsetzen wie geplant. Vater, Jack und Eddy sind einverstanden, sie haben mir ihre Unterstützung zugesagt. Es wird ein harter Kampf werden. Aber ich bin dazu verpflichtet.«

Tate Rutledge hatte in letzter Zeit Schlagzeilen gemacht. Daher kannte sie ihn, auch wenn sie ihm persönlich nie begegnet war. Er hoffte darauf, im Mai die Vorwahlen zu gewinnen, und wollte dann bei der Wahl im November gegen den amtierenden Senator antreten.

»Ich werde meine Verantwortung dir und Mandy gegenüber nicht vergessen, während ihr noch auf dem Weg der Besserung seid, aber ich habe mich mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet, eines Tages Mitglied des Kongresses zu werden. Ich möchte nicht noch sechs Jahre bis zur nächsten Wahl warten, sonst verliere ich all den Schwung und die Wähler, die ich jetzt schon gewonnen habe. Jetzt ist der richtige Augenblick.«

Er sah auf seine Armbanduhr und sagte: »Ich denke, ich gehe jetzt besser. Ich habe Mandy versprochen, daß ich sie mit Eis füttere. Jetzt, da ihre Arme eingegipst sind und so weiter — na ja«, fuhr er fort und sah auf ihre verbundenen, in Schienen aufgehängten Hände, »du weißt, was ich meine. Heute hat sie die erste Sitzung beim Psychologen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, setzte er noch schnell hinzu, »das sind vor allem Vorsichtsmaßnahmen.«

Er hielt inne und sah sie vielsagend an. »Darum glaube ich auch, daß es besser ist, wenn sie dich jetzt noch nicht sieht. Ich weiß, das hört sich grausam an, aber all diese Verbände würden ihr Angst einjagen. Wenn der Chirurg erst einmal mit der Arbeit an deinem Gesicht begonnen hat, werde ich sie öfter auf einen kurzen Besuch vorbeibringen.«

Avery versuchte zu sprechen, aber der Atemtubus war seitlich an ihrem Mund festgeklebt. Sie hatte gehört, wie eine Krankenschwester sagte, durch den scharfen Rauch seien ihre Stimmbänder vorübergehend geschädigt worden. Und den Kiefer konnte sie auch nicht bewegen. Sie blinzelte angestrengt, um ihre Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen.