Sanft kommt der Tod - J.D. Robb - E-Book

Sanft kommt der Tod E-Book

J.D. Robb

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Beschreibung

Liebe, Skandale und Intrigen

Lieutenant Eve Dallas muss in ihrem neuesten Fall ausgerechnet an einer Privatschule mit dem dubiosen Namen »Sarah Child Academy« ermitteln. Dort wurde in der Mittagspause ein junger Geschichtslehrer tot aufgefunden. In seinem Blut entdeckt man Spuren eines tödlichen Giftes. Hat ihn seine frisch Angetraute auf dem Gewissen? Oder hatte er Feinde in der Schule? Und was wissen die Schüler? Die Leiche des Lehrers ist aber nicht Eves einziges Problem. Eine attraktive Blondine wird immer häufiger an der Seite von Roarke gesehen, Eves steinreichem und äußerst attraktivem Ehemann …

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Seitenzahl: 715

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Buch

Eve Dallas ermittelt in einem mysteriösen Mordfall an der exklusiven Schule »Sarah Child Academy«. Der beliebte Geschichtslehrer Craig Foster ist mit Rizin vergiftet worden. Spuren davon finden sich im Kakao, den er in der Mittagspause getrunken hat. Der Verdacht fällt auf seine junge Frau, denn sie hat das Lunchpaket zubereitet. Doch es fehlt das Motiv für einen Mord. Eve stößt in der Eliteschule auf ein undurchdringliches Dickicht von Geheimnissen, Skandalen und Intrigen. Die ehrgeizige Direktorin scheint darin ebenso verstrickt zu sein wie Lehrer und Eltern. Sogar Schüler geraten in Verdacht. Und dann wird die Leiche eines weiteren Lehrers im Swimmingpool der Schule gefunden, der auf Eves Liste der Verdächtigen ganz oben stand …

Auf diesen komplizierten Fall kann sich Eve eigentlich kaum konzentrieren, denn ihre Ehe mit dem milliardenschweren Roarke steckt in einer tiefen Krise. Magdalena Percell, eine alte Flamme ihres Mannes, ist plötzlich in New York aufgetaucht …

Autorin

J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.

Weiter Informationen finden Sie unter: www.blanvalet.de und

www.jdrobb.com

Liste lieferbarer Titel

Rendezvous mit einem Mörder (1; 35450) · Tödliche Küsse (2; 35451)· Eine mörderische Hochzeit (3; 35452) · Bis in den Tod (4; 35632) · Der Kuss des Killers (5;35633) · Mord ist ihre Leidenschaft (6; 35634) · Liebesnacht mit einem Mörder (7; 36026) · Der Tod ist mein (8; 36027) · Ein feuriger Verehrer (9; 36028) · Spiel mit dem Mörder (10; 36321) · Sündige Rache (11; 36332) · Symphonie des Todes (12; 36333) · Das Lächeln des Killers (13; 36334) · Einladung zum Mord (14; 36595) · Tödliche Unschuld (15; 36599) · Der Hauch des Bösen (16; 36693) · Das Herz des Mörders (17; 36715) · Im Tod vereint (18; 36722) · Tanz mit dem Tod (19; 36723) · In den Armen der Nacht (20; 36966) · Stich ins Herz (21; 37045) · Stirb, Schätzchen, stirb (22; 37046) · In Liebe und Tod (23; 37047)

Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas (36753)

Nora Roberts ist J. D. Robb

Ein gefährliches Geschenk (36384)

J. D. Robb

Sanft kommt der Tod

Roman

Deutsch von Uta Hege

Die Originalausgabe erschien 2007

unter dem Titel »Innocent in Death« bei G. P. Putnam’s Sons,

a member of Penguin Group (USA) Inc., New York

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Mai 2013 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2007 by Nora Roberts

Published by Arrangement with Eleanor Wilder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarischen Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © 2010 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Umschlaggestaltung: © bürosüd°, München

Umschlagmotiv: Getty Images/View Stock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Redaktion: Regine Kirtschig

LH ∙ Herstellung: sam

ISBN: 978-3-641-09474-4

www.blanvalet.de

Ein Lehrer arbeitet für die Ewigkeit;

er kann nie sagen, wo sein Einfluss endet.

– Henry Adams

So unschuldig wie ein frisch gelegtes Ei.

– W.S. Gilbert

1

Unangekündigte Tests waren einfach mörderisch. Wie Heckenschützen erfüllten sie die Opfer mit Furcht und Abscheu, den Jäger hingegen mit einem gewissen schwindelerregenden Gefühl der Macht.

Als Craig Foster in die Mittagspause ging, um dort den Test noch einmal durchzugehen, wusste er genau, wie sein Geschichtskurs der fünften Klasse reagieren würde. Die Kinder würden stöhnen oder leise keuchen, unglücklich die Gesichter verziehen oder in nackte Panik ausbrechen. Was er sehr gut verstand. Schließlich hatte er mit seinen sechsundzwanzig Jahren längst noch nicht vergessen, welchen Schmerz und welche Angst man als Schüler vor Prüfungen empfand.

Er packte den Thermosbehälter mit seinem Mittagessen aus. Er war ein Gewohnheitsmensch und wusste, seine Frau hätte ihm ein Geflügelsandwich, einen Apfel, ein paar Sojafritten sowie seine geliebte heiße Schokolade eingepackt. War es nicht fantastisch, verheiratet zu sein?

Er hatte sie noch nie darum gebeten, ihm ein Lunchpaket zu machen oder dafür zu sorgen, dass er immer frisch gewaschene und ordentlich paarweise zusammengelegte Socken in der rechten Hälfte der obersten Schublade seiner Kommode fand. Sie sagte einfach, sie täte das gern für ihn.

Die sieben Monate seit ihrer Trauung waren die schönsten seines Lebens gewesen. Dabei hatte er es vorher auch nicht gerade schlecht gehabt.

Er hatte eine Arbeit, die er liebte und auch ausgezeichnet machte, dachte er mit einem Anflug von Stolz. Er und Lissette hatten ein mehr als anständiges Apartment, von dem aus er in wenigen Minuten zu Fuß zur Schule kam. Seine Schüler und Schülerinnen waren aufgeweckt und interessant und, was das Allerbeste war, er war bei ihnen ausnehmend beliebt.

Natürlich würden sie wegen des Tests ein wenig murren und vielleicht auch schwitzen, doch sie kämen ganz bestimmt damit zurecht.

Bevor er sich an die Arbeit machte, schickte er noch eine kurze Mail an seine Braut.

Hey, Lissy!

Was hältst du davon, wenn ich heute Abend auf dem Heimweg einen großen Salat und die Suppe hole, die du so gerne isst?

Ich vermisse dich und liebe jeden süßen Zentimeter von dir!

Du weißt schon, wer.

Er musste grinsen, als er daran dachte, wie sie lächeln würde, wenn sie diese Nachricht läse, wandte sich dann aber wieder seiner Arbeit zu und blickte auf den Bildschirm, als er sich die erste Tasse heißer Schokolade in den Becher schenkte und in das mit dünnen Sojascheiben, die sich als Geflügelbrust ausgaben, gefüllte Sandwich biss.

Es gab so viel zu lehren und so viel zu lernen. Die Geschichte dieses Landes war dramatisch, vielfältig und reich an Tragödien, Komödien, Romantik, Heldentum, Feigheit und Verrat. All das wollte er seinen Schülern nahebringen, wollte ihnen zeigen, wie die Welt, in der sie lebten, sich zu dem entwickelt hatte, was sie jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 2060, war.

Er aß, löschte ein paar Fragen, fügte andere ein und trank einen großen Schluck seiner geliebten heißen Schokolade, während lautlos blütenweißer Schnee vor dem Fenster seines Klassenzimmers auf die Erde fiel.

Während seine eigene kurze Geschichte ihrem Ende von Minute zu Minute näher kam.

Sie bekam noch immer Zustände, wenn sie in eine Schule kam. Was für einen zähen, toughen Cop ziemlich blamabel war. Trotzdem war es so. Lieutenant Eve Dallas, eindeutig die beste und bekannteste Ermittlerin in Mordsachen von ganz New York, wäre lieber auf der Suche nach einem psychotischen Junkie auf Zeus durch eine verlassene Fabrikhalle gestapft als durch die jungfräulichen Flure der eindeutig der oberen Mittelklasse verschriebenen Sarah Child Akademie.

Trotz der in freundlichen Primärfarben gestrichenen Fußböden und Wände und der blank geputzten Fenster kam Eve das Gebäude wie die reinste Folterkammer vor.

In den meisten Räumen, deren Türen offen standen, war außer Tischen, Stühlen, Bildschirmen und Tafeln nichts zu sehen.

Eve blickte auf Rektorin Arnette Mosebly, eine leicht gedrungene, beinahe statuenhafte Frau von vielleicht fünfzig Jahren, mit dank ihres gemischtrassigen Erbes rauchig blauen Augen und karamellfarbener Haut. Ihr schimmernd schwarzes Haar fiel in dichten Korkenzieherlöckchen um ihr etwas strenges Gesicht, sie trug einen langen schwarzen Rock unter einer kurzen roten Jacke, und die Absätze ihrer vernünftigen Schuhe klackerten vernehmlich auf dem Boden, als sie neben Eve den Flur im ersten Stock hinunterlief.

»Wo sind die Kinder?«, fragte Eve.

»Ich habe sie in die Aula bringen lassen, bis ihre Eltern oder Betreuer sie abholen können. Auch die meisten Lehrer halten sich dort auf. Ich hielt es für das Beste und vor allem für ein Zeichen des Respekts, den Nachmittagsunterricht ausfallen zu lassen.«

Ein paar Meter vor der Tür, vor der ein Polizist in Uniform mit ausdrucksloser Miene Position bezogen hatte, blieb sie stehen.

»Lieutenant, das ist eine furchtbare Tragödie für uns alle und vor allem für die Kinder. Craig…« Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich kurz ab. »Er war jung, intelligent und enthusiastisch. Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich, und…« Wieder brach sie ab und hob eine Hand, während sie um Fassung rang. »Mir ist klar, dass es Routine ist, dass die Polizei in einen solchen Fall miteinbezogen wird. Aber trotzdem hoffe ich, dass Ihre Arbeit möglichst schnell erledigt ist und dass wir mit dem… dem Abtransport des Leichnams warten können, bis der letzte Schüler das Gebäude verlassen hat.«

Sie richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Ich verstehe einfach nicht, wie der junge Mann plötzlich so krank werden konnte. Weshalb ist er heute überhaupt gekommen, wenn ihm unwohl war? Seine Frau– er ist erst seit ein paar Monaten verheiratet– ich habe sie noch nicht über die Sache informiert. Ich war mir nicht sicher…«

»Das überlassen Sie am besten uns. Und jetzt lassen Sie uns bitte kurz allein.«

»Ja. Ja, natürlich.«

»Peabody, schalten Sie den Rekorder an«, sagte Eve zu ihrer Partnerin, nickte dem Polizisten zu, der einen Schritt zur Seite trat, öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen.

Sie war eine große, schlanke Frau mit kurzem, braunem Haar und braunen Augen, die noch nicht einmal die allerkleinste Regung zeigten, als sie sich in dem Raum umsah. Mit fließenden Bewegungen zog sie eine Dose Versiegelungsspray aus dem Untersuchungsbeutel, den sie bei sich trug, und sprühte ihre Hände und die Stiefel ein.

In fast einem Dutzend Jahren bei der Polizei hatte sie bereits erheblich Schlimmeres gesehen als den verlorenen Geschichtslehrer, der in seinem eigenen Erbrochenen und seinen eigenen Ausscheidungen bäuchlings auf dem Boden lag.

Eve gab Ort und Zeit in den Rekorder ein. »Die alarmierten Sanitäter waren um vierzehn Uhr sechzehn da und haben das als Craig Foster identifizierte Opfer um vierzehn Uhr neunzehn für tot erklärt.«

»Zum Glück haben die Sanis den Leichnam nicht bewegt«, bemerkte Peabody. »Armer Hund.«

»Weshalb hat er sein Mittagessen hier an seinem Schreibtisch zu sich genommen? An einem Ort wie diesem gibt’s doch sicher eine Cafeteria für die Angestellten oder so.« Eve stand noch immer auf der Türschwelle und legte ihren Kopf ein wenig schräg. »Auf dem Boden liegen eine große Thermosflasche und ein umgeworfener Stuhl.«

»Sieht mehr nach einem Anfall aus als nach einem Kampf.« Peabody schob sich mit leicht quietschenden Airboots an der Wand des Raums entlang, rüttelte an den Fenstern, kommentierte »Abgeschlossen«, beugte sich ein wenig vor und sah sich den Schreibtisch und den Toten von der anderen Seite an.

Auch wenn ihr Körper so wie der von Arnette Mosebly leicht gedrungen war, wäre sie doch niemals statuenhaft. Sie hatte ihre dunklen Haare etwas wachsen lassen und die Spitzen– was Eve nie verstehen würde– kess nach außen gefönt.

»Er hat während des Essens gearbeitet«, bemerkte sie. »Hat wahrscheinlich entweder die nächste Stunde vorbereitet oder Arbeiten korrigiert. Vielleicht hat er ja auf irgendwas, was er gegessen hat, allergisch reagiert.«

»Auf jeden Fall.« Eve trat vor den Leichnam und hockte sich vor ihn hin. Sie würde noch seine Fingerabdrücke abnehmen, den genauen Todeszeitpunkt bestimmen und all das andere Zeug. Erst einmal sah sie sich den Toten aber einfach an.

Das Weiß von seinen Augen wurde von geplatzten Äderchen durchzogen, die wie Spinnenbeine aussahen, Schaum und Reste von Erbrochenem klebten an seinem halb offenen Mund. »Er hat versucht, zur Tür zu kriechen, als ihm schlecht geworden ist«, murmelte sie. »Identifizieren Sie ihn und überprüfen Sie den Todeszeitpunkt, Peabody.«

Eve stand wieder auf, machte einen vorsichtigen Bogen um die Pfützen, die der Ärmste auf dem Boden hinterlassen hatte, hob den schwarzen Thermosbecher auf und schnupperte daran.

»Glauben Sie, jemand hat den armen Kerl vergiftet?«, fragte Peabody.

»Ich rieche heiße Schokolade. Und noch etwas anderes.« Eve tütete den Becher ein. »Die Farbe des Erbrochenen, die Hinweise auf einen Krampf und große Schmerzen. Ja, ich denke an Gift. Aber genau wissen wir es natürlich erst nach der Obduktion. Wir brauchen die Erlaubnis seiner nächsten Angehörigen, seine Krankenakte einzusehen. Arbeiten Sie weiter hier. Ich werde noch mal mit Mosebly sprechen und knöpfe mir danach die Zeugen vor.«

Arnette Mosebly stapfte, einen kleinen Handcomputer in der Hand, unruhig vor dem Zimmer auf und ab.

»Ms Mosebly? Ich muss Sie bitten, niemanden zu kontaktieren und mit niemandem zu sprechen.«

»Oh… ich … Ich habe nur…« Sie drehte den Computer so, dass Eve den Minibildschirm sah. »Ein Wortspiel. Etwas, um mich abzulenken. Lieutenant, ich mache mir Sorgen um Lissette. Craigs Frau. Jemand muss es ihr sagen.«

»Das werden wir. Aber erst mal würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten, möglichst an einem ungestörten Ort. Und dann muss ich mit den Schülerinnen sprechen, die den Toten gefunden haben.«

»Rayleen Straffo und Melodie Branch. Der Beamte, der als Erster kam, meinte, sie dürften das Gebäude nicht verlassen und auch nicht zusammen warten.« Ihre plötzlich schmalen Lippen drückten überdeutlich aus, was sie davon hielt. »Diese Mädchen sind traumatisiert, Lieutenant. Sie waren vollkommen hysterisch, wie man es von Kindern unter derartigen Umständen nicht anders erwarten kann. Ich habe Rayleen zu unserem Psychologen und Melodie zu unserer Krankenschwester geschickt. Inzwischen dürften die Eltern der beiden bei ihnen sein.«

»Sie haben ihre Eltern angerufen?«

»Sie haben Ihre Vorschriften, Lieutenant, und ich habe meine.« Sie bedachte Eve mit dem herablassenden Nicken, das man sicher bei der Ausbildung zur Schulleiterin beigebracht bekam. »Mir geht es in erster Linie um die Gesundheit und die Sicherheit von meinen Schülerinnen. Diese Mädchen sind gerade mal zehn Jahre alt und haben dieses Szenario gesehen.« Sie nickte in Richtung der Tür, hinter der der tote Lehrer lag. »Gott weiß, was für einen emotionalen Schaden das bei ihnen angerichtet hat.«

»Craig Foster fühlt sich ebenfalls bestimmt nicht allzu wohl.«

»Ich muss alles Erforderliche tun, um meine Schülerinnen zu beschützen. Meine Schule…«

»Momentan ist dies nicht Ihre Schule, sondern ein Ort, an dem ein Verbrechen geschehen ist.«

»Ein Verbrechen?« Die Rektorin wurde kreidebleich. »Was wollen Sie damit sagen? Was für ein Verbrechen?«

»Das werde ich noch herausfinden. Ich möchte, dass Sie mir die beiden Zeuginnen nacheinander bringen. Wahrscheinlich ist Ihr Büro der beste Ort für die Vernehmungen. Während des Gesprächs ist ein Elternteil oder Betreuer pro Kind erlaubt.«

»Also gut, dann … Kommen Sie mit.«

»Officer?« Eve blickte über ihre Schulter auf den Polizisten, der noch immer vor der Tür des Klassenzimmers Wache stand. »Sagen Sie Detective Peabody, dass ich ins Büro der Schulleiterin gehe.«

Obwohl seine Mundwinkel unmerklich zuckten, nickte er. »Zu Befehl, Madam.«

Es war etwas völlig anderes, merkte Eve, wenn man plötzlich die Chefin war und nicht das arme Wesen auf dem heißen Stuhl. Nicht, dass sie während ihrer Schulzeit allzu große Probleme mit der Disziplin gehabt hätte, erinnerte sie sich. Sie hatte größtenteils versucht, möglichst unsichtbar zu sein, alles einfach irgendwie zu überstehen und den Knast, als den sie die Schule angesehen hatte, an dem Tag zu verlassen, an dem es ihr von Rechts wegen gestattet war.

Nur, dass ihr das nicht immer gelungen war. Ihre vorlaute Art und ihre negative Einstellung zum Unterricht hatten ihr des Öfteren einen Besuch beim Rektor eingebracht.

Sie hatte Dankbarkeit empfinden sollen, weil ihr als Mündel des Staats nicht nur ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, sondern auch noch eine Ausbildung zuteil geworden war. Hatte Dankbarkeit empfinden sollen für die Kleider, die sie trug, auch wenn keines davon jemals neu gewesen war. Hatte danach streben sollen, sich beständig zu verbessern, was nicht gerade leicht gewesen war, denn sie hatte nicht genau gewusst, woher sie kam, das hieß, welches ihre Ausgangsposition gewesen war.

Woran sie sich vor allem erinnerte, waren die selbstgefälligen Vorträge und das enttäuschte Stirnrunzeln der Lehrer, die sie deutlich hatten spüren lassen, dass jemand wie sie ein Niemand war.

Und die endlose, alles durchdringende, tödliche Langeweile während beinahe des gesamten Unterrichts.

Natürlich hatte sie keine schicke Privatschule mit hochmodernem Lehrmaterial, blitzsauberen Klassenzimmern, hübschen Uniformen sowie einem Lehrer-Schüler-Schlüssel von eins zu sechs besucht.

Sie würde ihren nächsten Gehaltsscheck darauf verwetten, dass es in der Sarah Child Akademie keine Faustkämpfe in den Fluren und keine selbstgebastelten Sprengsätze in den Schließfächern gab.

Heute allerdings gab es zumindest einen Mord.

Während sie in Moseblys mit echten Grünpflanzen und einem hübschen Teegeschirr ausnehmend behaglichem Büro auf das erste Mädchen wartete, ging sie kurz die Personalien des Opfers durch.

Craig Foster, sechsundzwanzig Jahre. Keine Vorstrafen. Beide Eltern lebten noch und waren noch miteinander verheiratet. Sie lebten in New Jersey, wo der Sohn geboren und aufgewachsen war. Dann war er mit einem Teilstipendium an die Columbia-Universität gegangen, hatte dort sein Lehrerexamen gemacht und war dort, da er noch seinen Master in Geschichte hatte machen wollen, noch immer immatrikuliert.

Im Juli letzten Jahres hatte er Lissette Bolviar geehelicht.

Auf dem Foto sah er frisch und eifrig aus. Ein hübscher junger Mann mit einem klaren Teint in der Farbe gerösteter Kastanien, mit seelenvollen dunklen Augen sowie dunklem, an den Seiten und im Nacken kurz geschorenem und oben auf dem Kopf hochgebürstetem Haar.

Auch seine Schuhe waren echt modern, erinnerte sie sich. Schwarz-silberne, knöchelhohe geschnürte Gelboots. Nicht gerade billig, dachte sie. Wohingegen seine schmutzig braune Sportjacke an den Aufschlägen schon ziemlich abgewetzt gewesen war. Er trug eine anständige Uhr– sicher eine Kopie des Originals– und am Ringfinger der linken Hand blitzte ein goldener Ring.

Sie nahm an, wenn Peabody mit ihrer Arbeit fertig wäre, würde sie ihr sagen, dass in seinen Taschen nur ein bisschen Klimpergeld gewesen war.

Eilig schrieb sie sich ein paar Stichworte auf.

Woher war die heiße Schokolade gekommen?

Wer hatte Zugriff auf den Thermosbecher gehabt?

Hatte Craig den Raum vielleicht mit jemandem geteilt?

Wer hatte das Opfer wann zum letzten Mal lebend gesehen, und wer hatte den Leichnam entdeckt?

Gab es irgendwelche Versicherungspolicen, vielleicht eine Lebensversicherung? Wenn ja, wer bekäme dann das Geld?

Als die Tür geöffnet wurde, sah sie auf.

»Lieutenant?« Als Mosebly den Raum betrat, lag ihre Hand auf der Schulter eines dünnen, jungen Mädchens mit milchig weißer Haut, Sommersprossen und dazu passendem langem, zu einem glatten Zopf gekämmtem, karottenrotem Haar.

Zitternd stand die Kleine in ihrem marineblauen Blazer und der makellosen Khakihose da.

»Melodie, dies ist Lieutenant Dallas von der Polizei. Sie muss mit dir sprechen. Lieutenant Dallas, dies ist Melodies Mutter, Angela Miles-Branch.«

Die Kleine hatte Haar und Haut von ihrer Mom geerbt, bemerkte Eve. Und Mom sah nicht weniger erschüttert aus als sie.

»Lieutenant, ich frage mich, ob dieses Gespräch vielleicht bis morgen warten kann. Ich würde Melodie jetzt gerne erst mal mit nach Hause nehmen.« Ihre Hand lag wie ein Schraubstock um die Hand von ihrem Kind. »Meine Tochter fühlt sich nicht wohl. Was ja wohl verständlich ist.«

»Es ist für uns alle leichter, wenn wir dieses Gespräch jetzt gleich führen. Es wird bestimmt nicht lange dauern. Wenn Sie uns entschuldigen würden, Ms Mosebly…«

»Ich denke, als Vertreterin der Schule und des Kindes bleibe ich am besten hier.«

»Wir brauchen niemanden von der Schule, und als Vertreterin des Kindes ist die Mutter da. Lassen Sie uns also bitte allein.«

Moseblys Blick verriet, dass sie mit diesem Vorschlag alles andere als einverstanden war, doch sie presste die Lippen aufeinander und verließ den Raum.

»Warum setzt du dich nicht, Melodie?«

Aus jedem ihrer großen blauen Augen quoll eine fette Träne. »Ja, Ma’am. Mom?«

»Ich bin hier.« Ohne ihre Tochter loszulassen, nahm Angela neben der Kleinen Platz. »Diese Sache hat sie furchtbar mitgenommen.«

»Das verstehe ich. Melodie, ich werde unsere Unterhaltung aufnehmen.«

Wieder kullerten zwei Tränen über Melodies Gesicht, und Eve fragte sich, warum in aller Welt sie nicht den Tatort übernommen hatte und Peabody hier bei dem Mädchen saß.

»Warum erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«, fragte sie.

»Wir sind in Mr Fosters Klasse gegangen– hm, Rayleen und ich. Wir haben erst mal angeklopft, weil die Tür geschlossen war. Aber Mr Foster hat nichts dagegen, wenn man mit ihm sprechen muss.«

»Und ihr musstet mit Mr Foster sprechen.«

»Über das Projekt. Ray und ich sind dabei Partnerinnen. Wir erstellen einen Multimedia-Bericht über die Freiheitsurkunde. Er muss in drei Wochen fertig sein und ist unser zweites großes Projekt in diesem Schuljahr. Er macht fünfundzwanzig Prozent der Note aus. Wir wollten, dass sich Mr Foster unseren Entwurf ansieht. Er hat nichts dagegen, wenn man ihm vor oder nach der Stunde Fragen stellt.«

»Okay. Wo wart ihr, bevor ihr zu Mr Fosters Klasse gegangen seid?«

»In unserer Lerngruppe. Ms Hallywell hat Ray und mir erlaubt, die Gruppe ein paar Minuten früher zu verlassen, um mit Mr Foster zu sprechen. Ich habe einen Erlaubnisschein.«

Sie wollte ihn aus ihrer Tasche ziehen, Eve aber wehrte ab.

»Schon gut. Ihr seid also in das Klassenzimmer gegangen…«

»Wir wollten es. Wir haben miteinander geredet und dabei die Tür aufgemacht. Es hat fürchterlich gerochen. Ich habe zu Ray gesagt: ›Meine Güte, hier stinkt’s aber.‹« Wieder brachen sich die Tränen Bahn. »Es tut mir leid, das ist mir einfach rausgerutscht.«

»Schon gut. Was ist dann passiert?«

»Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn auf dem Boden liegen sehen, und, oh, überall war Erbrochenes und so. Ray hat geschrien. Oder vielleicht auch ich. Oder wahrscheinlich wir beide. Dann sind wir wieder rausgerannt, Mr Dawson kam den Flur runtergelaufen und hat uns gefragt, was los ist. Er hat uns gesagt, dass wir stehen bleiben sollen, und ist in den Raum gegangen. Ich habe gesehen, dass er reingegangen ist. Dann kam er ganz schnell wieder raus und hat so gemacht.«

Sie presste ihre freie Hand vor ihren Mund. »Ich glaube, dann hat er sein Handy aufgeklappt und Ms Mosebly angerufen. Als Ms Mosebly kam, hat sie die Krankenschwester gerufen. Und dann kam Schwester Brennan und hat uns mit in das Krankenzimmer genommen. Sie ist bei uns geblieben, bis Mr Kolfax kam und Ray mitgenommen hat. Ich bin bei Schwester Brennan geblieben, bis meine Mom gekommen ist.«

»Hast du sonst noch jemanden gesehen, der in Mr Fosters Klassenzimmer gegangen oder dort herausgekommen ist?«

»Nein, Ma’am.«

»Hast du auf dem Weg von deiner Lerngruppe zu seinem Klassenzimmer irgendwen gesehen?«

»Hm. Tut mir leid. Hm. Mr Bixley kam von der Jungentoilette, und außerdem ist uns Mr Dawson im Flur entgegengekommen. Wir haben ihm unseren Erlaubnisschein gezeigt. Ich glaube, das war alles, aber ich habe auch nicht weiter darauf geachtet, ob da sonst noch jemand war.«

»Woher habt ihr gewusst, wo ihr Mr Foster finden würdet?«

»Oh, er ist montags vor der fünften Stunde immer in seiner Klasse. Er isst Montagmittag immer dort. Und in der letzten Viertelstunde erlaubt er den Schülern, zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben. Man darf auch schon vorher zu ihm gehen, wenn es wirklich wichtig ist. Er ist so nett. Mom.«

»Ich weiß, Baby. Lieutenant, bitte…«

»Gleich haben wir’s geschafft. Melodie, hast du oder Rayleen Mr Foster oder irgendetwas in der Klasse angefasst?«

»Oh, nein, nein, Ma’am. Wir sind einfach weggerannt. Es war schrecklich, und wir sind weggerannt.«

»Okay. Melodie, falls du dich sonst noch an irgendwas erinnerst, irgendeine Kleinigkeit, musst du mir das bitte sagen.«

Die Kleine erhob sich von ihrem Platz und sah Eve mit großen Augen an. »Lieutenant Dallas? Ma’am?«

»Ja?«

»Rayleen hat gesagt… als wir im Krankenzimmer waren, hat Rayleen gesagt, dass sie Mr Foster in einem großen schwarzen Sack aus der Schule tragen müssen. Müssen Sie das wirklich? Müssen Sie das wirklich tun?«

»Oh, Melodie.« Angela zog das Kind an ihre Brust und hielt es fest.

»Wir kümmern uns jetzt um Mr Foster«, antwortete Eve. »Es ist mein Job, jetzt für ihn da zu sein, und das bin ich auch. Dadurch, dass du mit mir sprichst, hilfst du mir, meinen Job zu machen und für Mr Foster da zu sein.«

»Wirklich?« Melodie schniefte und stieß einen leisen Seufzer aus. »Danke. Ich möchte jetzt nach Hause. Darf ich jetzt nach Hause gehen?«

Eve sah in ihre tränennassen Augen, nickte stumm und wandte sich der Mutter zu. »Wir werden uns bestimmt noch mal bei Ihnen melden. Aber schon mal vielen Dank für das Gespräch.«

»Diese Sache hat die Mädchen furchtbar mitgenommen. Es ist wirklich schwer für sie. Komm, Schätzchen. Wir gehen jetzt nach Hause.«

Angela legte einen Arm um die Schultern ihrer Tochter und geleitete sie aus dem Raum.

Auch Eve stieß sich vom Schreibtisch ab, folgte den beiden an die Tür und sah, dass Mosebly bereits auf die beiden zugelaufen kam.

»Ms Mosebly? Ich hätte da noch ein paar Fragen.«

»Ich bringe Mrs Miles-Branch und Melodie nur noch schnell hinaus.«

»Die beiden finden den Weg doch sicher auch allein. Kommen Sie also bitte kurz in Ihr Büro.«

Eve ersparte sich die Mühe, sich zu setzen, und lehnte sich stattdessen einfach an den Schreibtisch.

Mit an den Seiten geballten Fäusten kam Mosebly hereingestapft.

»Lieutenant Dallas, auch wenn ich durchaus verstehe, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen, entsetzt mich Ihre herablassende, arrogante Art.«

»Okay. Hat Mr Foster gewohnheitsmäßig sein eigenes Essen und seine eigenen Getränke mit hierher gebracht?«

»Ich… ich glaube, ja. Oder zumindest meistens. Selbstverständlich haben wir eine von einer Ernährungsberaterin zertifizierte Cafeteria und auch staatlich kontrollierte Verkaufsautomaten im Haus. Aber viele unserer Angestellten bringen zumindest ab und zu lieber ihre eigenen Sachen mit.«

»Hat er oft allein an seinem Pult gegessen?«

Mosebly massierte sich die Stirn. »Soweit ich weiß, hat er sein Mittagessen an zwei, drei Tagen pro Woche in seinem Klassenzimmer eingenommen. Ein Lehrer kann seine Arbeit nicht im Rahmen der normalen Schulstunden erledigen. Er muss den Unterricht planen, Arbeiten korrigieren, Lektüre und Laborversuche vorbereiten und so weiter und so fort. Außerdem hat Craig sich wie die meisten anderen Lehrer auch parallel zu seiner Arbeit hier beruflich fortgebildet, was ebenfalls mit einigem Aufwand verbunden ist. Deshalb hat er oft in seinen Pausen an seinem Pult gegessen und während des Essens gearbeitet. Er war sehr pflichtbewusst.«

Der in ihr angestaute Zorn schien sich zu legen und mit rauer Stimme fügte sie hinzu: »Er war jung und idealistisch. Er hat seinen Beruf geliebt, Lieutenant Dallas, das war nicht zu übersehen.«

»Hatte er irgendwelche Probleme mit Kolleginnen oder Kollegen?«

»Davon ist mir nichts bekannt. Er war ein freundlicher und umgänglicher junger Mann. Ich bin sowohl persönlich als auch beruflich der Ansicht, dass er ein großer Gewinn für unsere Schule war.«

»Gab es in letzter Zeit irgendwelche Entlassungen?«

»Nein. Hier bei Sarah Child haben wir eine sehr geringe Fluktuation. Craig war seit zwei Jahren hier. Er hat die Lücke geschlossen, die durch die Pensionierung eines unserer Lehrer nach fünfzig Jahren im Schuldienst, davon achtundzwanzig hier bei uns, entstanden war.«

»Wie steht es mit Ihnen? Wie lange sind Sie selbst schon hier?«

»Ich bin seit drei Jahren Rektorin. Insgesamt jedoch habe ich inzwischen fünfundzwanzig Jahre sowohl als Lehrkraft als auch in der Verwaltung an Schulen zugebracht.«

»Wann haben Sie Mr Foster zum letzten Mal gesehen?«

»Heute Morgen, aber nur ganz kurz.« Mosebly trat vor einen kleinen Kühlschrank und nahm eine Wasserflasche heraus. »Er kam wie meistens etwas früher, um noch den Fitnessraum zu nutzen. Die Benutzung der Geräte und des Pools steht allen Angestellten frei. Craig hat diese Möglichkeit an den meisten Vormittagen noch vor Unterrichtsbeginn genutzt.«

Seufzend schenkte sie sich etwas von dem Wasser in ein Glas. »Möchten Sie auch etwas, Lieutenant?«

»Danke.« Eve schüttelte den Kopf.

»Ich war selber heute Morgen schwimmen und habe den Poolbereich gerade verlassen, als er hereingekommen ist. Wir haben uns gegrüßt, über den Verkehr gejammert, und dann bin ich gegangen. Ich war ziemlich in Eile, hörte aber noch, wie er ins Wasser sprang.« Sie hob ihr Glas an ihren Mund. »Als ich die Tür des Umkleideraums geöffnet habe, habe ich es gehört. Oh, Gott.«

»Wann genau war das?«

»Gegen sieben Uhr dreißig. Um acht hatte ich eine Telefon-Konferenz, und weil ich zu lange im Pool geblieben war, war ich etwas spät dran. Ich war wütend auf mich selbst und habe deshalb kaum mit Craig gesprochen.«

»Wo hat er sein Mittagessen aufbewahrt?«

»Nun, ich nehme an, in seinem Klassenzimmer. Vielleicht auch im Pausenraum, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich je gesehen hätte, dass er etwas dort in den Kühlschrank gelegt oder herausgenommen hat.«

»Ist das Klassenzimmer für gewöhnlich abgesperrt?«

»Nein. Natürlich ist die Schule gut gesichert, aber die einzelnen Klassenräume stehen immer offen. Es gibt keinen Grund sie abzuschließen, da das Miteinander hier bei Sarah Child auf Vertrauen und Verantwortung basiert.«

»In Ordnung. Sie können mir die zweite Zeugin schicken. Rayleen Straffo.«

Jetzt nickte Mosebly nicht mehr majestätisch, sondern eher resigniert. »Was ist mit den anderen Schülern? Und dem Personal?«

»Wir werden noch mit den Angestellten sprechen müssen, bevor irgendjemand das Gebäude verlässt. Die Schüler können Sie nach Hause schicken, aber drucken Sie mir bitte noch eine Namens- und Adressenliste aus.«

»Okay.«

Als sie wieder alleine war, zog Eve ihr Handy aus der Tasche und rief Peabody an. »Und, wie sieht es aus?«

»Der Leichnam wird gerade abtransportiert. Der Pathologe geht ebenfalls von einer Vergiftung aus, obwohl natürlich erst die Autopsie ergeben wird, ob es tatsächlich so war. Die Spurensicherung ist inzwischen auch da. Es sieht aus, als hätte das Opfer kurz vor Eintreten des Todes noch an seinem Computer gearbeitet und dort irgendeinen Test für seine nächste Stunde vorbereitet.«

»Das wäre ein mögliches Motiv«, erklärte Eve bierernst.

»Ich habe Tests immer gehasst und hege ernste Zweifel, ob sie überhaupt verfassungsmäßig sind. Ich habe mir die Kiste angesehen und entdeckt, dass das Opfer um zwölf Uhr sechs eine E-Mail an [email protected] gesendet hat. Außer dieser Mail und einem kurzen Antwortschreiben war dort für heute nichts.«

»Die Frau heißt Lissette. Was stand in der Mail?«

»Es war nur eine kurze Mitteilung an seinen Schatz, in der er ihm angeboten hat, etwas zum Abendessen mitzubringen, wenn er von der Arbeit kommt. Die Antwort war ebenfalls sehr liebevoll verfasst, kam um vierzehn Uhr achtundvierzig an, wurde aber nicht mehr aufgemacht.«

»Okay. Ich warte gerade auf die zweite Zeugin und schicke Ihnen dafür die Rektorin. Bringen Sie sie irgendwo unter, ja? Und dann beginnen Sie mit der Befragung der Angestellten und stellen vor allem fest, wo wer von ihnen heute war. Ich übernehme auch ein paar der Leute, wenn ich mit der Kleinen fertig bin. Ach ja, und finden Sie heraus, ob die Ehefrau zu Hause oder bei der Arbeit ist. Wir benachrichtigen sie, wenn wir hier fertig sind.«

»Der Spaß hört einfach nie auf.«

Eve steckte ihr Handy wieder ein, und im selben Augenblick kam Mosebly, abermals die Hand auf der Schulter eines kleinen Mädchens, durch die Tür.

Diese Kleine war blond und hielt ihre dichte Lockenpracht mit einem veilchenblauen Reif in Schach. Der Reif hatte die Farbe ihrer Augen, die, auch wenn sie momentan rot und verquollen waren, ein Gesicht beherrschten, das mit seiner kleinen Stupsnase und dem zitternden, rosigen Schmollmund wie das einer kleinen Madame aussah.

Sie trug dieselbe Uniform wie Melodie, hatte jedoch noch einen kleinen goldenen Stern am Aufschlag ihres Blazers festgemacht.

»Rayleen, das hier ist Lieutenant Dallas. Lieutenant, Rayleen ist mit ihrem Vater, Oliver Straffo, hier. Falls Sie mich brauchen, warte ich draußen vor der Tür.«

»Setz dich, Rayleen.«

»Lieutenant.« Oliver hielt die Hand der Tochter fest. Seine Stimme war so klar und durchdringend wie die von einem guten Schauspieler. Er war groß und blond wie seine Tochter, sah Eve jedoch aus kalten, stahlgrauen Augen an.

Sie waren sich bereits des Öfteren begegnet. Vor Gericht.

Er war einer der besten, teuersten und angesehensten Strafverteidiger von ganz New York.

Was für ein Scheiß.

2

»Ich erlaube dieses Gespräch um diese Zeit an diesem Ort«, setzte er an, »weil ich der Ansicht bin, dass es im Interesse des emotionalen Wohlergehens meiner Tochter ist. Wenn mir allerdings der Ton oder der Inhalt des Gesprächs missfällt, werde ich es umgehend beenden und meine Tochter mit nach Hause nehmen. Ist das klar?«

»Sicher. Eigentlich wollte ich gerade die Daumenschrauben rausholen, aber dummerweise weiß ich gerade nicht, wo ich sie gelassen habe. Setzen Sie sich doch. Rayleen, du musst mir bitte erzählen, was passiert ist.«

Rayleen sah ihren Vater an, und als er zustimmend nickte, setzte sie sich neben ihn auf einen Stuhl und nahm eine geradezu bewundernswerte, kerzengerade Haltung ein. »Ich habe Mr Foster gefunden. Melodie war mit mir zusammen. Es war schrecklich.«

»Erzähl mir bitte, wie du ihn gefunden hast. Weshalb du überhaupt um diese Zeit zu seinem Klassenzimmer gegangen bist.«

»Ja, Ma’am.« Sie atmete tief ein, als wappne sie sich für ein Referat. »Ich war in meiner Lerngrupe, aber ich wollte mit Mr Foster über das Projekt sprechen, an dem ich mit Melodie zusammen arbeite. Die Note macht ein Viertel unserer Gesamtnote in amerikanischer Geschichte aus, deshalb wollte ich es so gut wie möglich machen. Ich bin die Beste meines Jahrgangs, und dies ist eins der wichtigsten Projekte dieses Halbjahres.«

»Okay, du hast also die Lerngruppe verlassen, um zu Mr Foster zu gehen.«

»Ja, Ma’am. Ms Hallywell hat uns einen Erlaubnisschein gegeben, damit wir etwas früher zu Mr Foster gehen können. Er isst montags immer in seinem Klassenzimmer und hat den Schülern erlaubt, in der letzten Viertelstunde zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen, falls es etwas Wichtiges gibt.«

»Um wie viel Uhr genau habt ihr die Lerngruppe verlassen?«

»Ich habe den Erlaubnisschein. Darauf ist die Zeit vermerkt.« Wieder sah sie ihren Vater an und zog, als er nickte, das Papier hervor. »Melodie hat auch einen. Das verlangt die Schulordnung. Auf dem Schein steht zwölf Uhr siebenundvierzig.«

Eve machte sich eine gedankliche Notiz, selbst den Weg zu gehen, um zu sehen, wie lange es dauerte, bis man zu Fosters Klasse kam. »Und ihr seid direkt von der Lerngruppe zu dem Klassenzimmer gegangen.«

»Oh ja, Ma’am. Wenn man sich im Flur rumtreibt, ist das ein Verstoß gegen die Schulordnung, und drei Verstöße innerhalb von dreißig Tagen führen zu einem Verlust bestimmter Privilegien.« Der Ton, in dem sie sprach, erinnerte Eve daran, dass Rayleen zu der Art von Kindern zu gehören schien, der sie während ihrer eigenen Schulzeit möglichst aus dem Weg gegangen war. »Ich habe noch nie gegen die Schulordnung verstoßen.«

»Schön für dich. Wie lange habt ihr für den Weg von der Lerngruppe zu Mr Fosters Klassenzimmer gebraucht?«

»Oh, höchstens ein paar Minuten. Vielleicht drei. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wir sind direkt dorthin gegangen. Unterwegs haben wir über das Projekt gesprochen und ein paar Ideen ausgetauscht. Die Tür war geschlossen, deshalb haben wir erst angeklopft und sie dann aufgemacht. Es hat schlecht gerochen. Ich glaube, nach Erbrochenem. Melodie hat etwas über den Geruch gesagt und…« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich habe gelacht. Es tut mir wirklich leid. Ich habe nicht gewusst, dass ihm etwas passiert war, Daddy, ich habe es nicht gewusst.«

»Schon gut, Ray. Natürlich hast du es nicht gewusst.«

»Dann haben wir ihn gesehen. Er lag auf dem Boden und war…« Sie bekam einen leichten Schluckauf und krabbelte von ihrem Stuhl in den Schoß von ihrem Dad.

»Jetzt ist alles gut, Baby. Jetzt ist alles gut.« Während er seiner Tochter sanft über die Haare strich, bedachte er Eve mit einem durchdringenden Blick. »Lieutenant.«

»Sie wissen, dass ich das Gespräch zu Ende bringen muss. Sie wissen, dass es wichtig ist, dass sie mir so schnell wie möglich alle Einzelheiten nennt.«

»Mehr weiß ich nicht.« Ihre Stimme klang gedämpft, da ihr Gesicht an der Brust des Vaters vergraben war. »Wir sind einfach weggerannt. Und dann war da Mr Dawson und meinte, wir sollten bleiben, wo wir sind. Ich glaube, ich habe mich hingesetzt. Ich habe mich auf den Fußboden gesetzt, wir haben geweint, und dann kam Mr Dawson wieder. Seine Hände haben gezittert, als er sein Handy aus der Tasche gezogen und Ms Mosebly angerufen hat.«

»Hast du sonst noch irgendwen gesehen, der in das Klassenzimmer gegangen oder dort herausgekommen ist?«

»Ms Mosebly ist an die Tür getreten, dann hat sie die Schulschwester gerufen, und sie haben uns– Melodie und mich– ins Krankenzimmer gebracht.«

»Hast du auf dem Weg zu Mr Fosters Klassenzimmer irgendwen gesehen?«

»Ich glaube, ja, ich glaube, Mr Bixley kam von der Jungentoilette. Er hatte seinen Werkzeugkasten in der Hand, weil eins der Waschbecken verstopft gewesen war. Das war, bevor uns Mr Dawson entgegenkam und sich unsere Erlaubnisscheine angesehen hat. Ich bin als Erste reingegangen, ich war als Erste in dem Raum. Ich war die Erste, die ihn gesehen hat.«

Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie stieß mit erstickter Stimme aus: »Ich kann einfach nicht verstehen, dass Mr Foster tot sein soll. Ich kann es einfach nicht verstehen. Er war mein absoluter Lieblingslehrer.«

Ihre Schultern bebten, und sie klammerte sich abermals an ihrem Vater fest.

»Mehr können Sie nicht von ihr verlangen«, stellte Oliver mit ruhiger Stimme fest. »Ich werde sie jetzt nach Hause bringen.«

»Falls ihr noch irgendetwas einfällt…«

»…werde ich Sie kontaktieren.«

Damit stand er auf, nahm seine Tochter auf den Arm und trug sie aus dem Raum.

Eve fing mit Eric Dawson an. Er war Mitte fünfzig und unterrichtete seit fünfzehn Jahren Naturwissenschaften an der Akademie. Er hatte einen leichten Bauch, den er– wie das leicht gespannte Hemd verriet– zu leugnen versuchte. Sein sandfarbenes Haar wies in Höhe der Schläfen ein paar graue Strähnen auf, und die Tränensäcke unter den hellbraunen Augen wiesen auf eine gewisse Erschöpfung hin.

»Ich bin nicht reingegangen«, meinte er. »Höchstens ein, zwei Schritte, weiter nicht. Ich konnte sehen… jeder konnte sehen, dass Craig nicht mehr am Leben war. Ich war verärgert, weil die Mädchen so geschrien hatten. Ich dachte, sie hätten eine Spinne oder etwas ähnlich Idiotisches gesehen.« Er machte eine Pause und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. »Aber gleichzeitig war mir klar, dass nicht mal dumme kleine Mädchen so hysterisch werden, wenn sie eine Spinne sehen.«

»Haben Sie außer den beiden Mädchen sonst noch jemanden gesehen?«

»Ich kam gerade aus dem Lehrerzimmer, wo ich mit Dave Kolfax und Reed Williams zusammen gewesen war. Wir hatten gemeinsam Mittag gegessen, wie wir es hin und wieder tun. Und beim Rausgehen habe ich noch Leanne Howard gesehen, die gerade in die Pause ging. Ich selber wollte ins Chemielabor, um ein Experiment für die nächste Stunde vorzubereiten.«

»Wann haben Sie Mr Foster zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Oh, Gott. Gott. Im Lehrerzimmer heute Morgen vor Beginn des Unterrichts. Ich habe einen Kaffee getrunken, und er hat sich eine Dose Pepsi aus dem Automaten geholt. Er hat keinen Kaffee getrunken. Ich habe ihn deshalb immer aufgezogen. Wir haben uns über einen Schüler unterhalten, den wir beide haben– Bradley Curtis. Seine Eltern lassen sich gerade scheiden, und seine Noten sacken deshalb ziemlich ab. Wir sind übereingekommen, dass es an der Zeit für ein Gespräch mit seinen Eltern und dem Psychologen ist. Dann, ah, dann kam Reed herein. Ja, um sich einen Kaffee zu holen. Als ich den Raum verließ, haben sich die beiden über irgendeinen Action-Film unterhalten, den sie beide vor Kurzem gesehen hatten. Ich habe Foster nicht noch mal gesehen, bis…«

»Wie kamen Sie beide miteinander aus?«

»Ich und Craig? Ich fand ihn wirklich nett. Ja, ich fand ihn wirklich nett. Ich war, nun, ich war nicht ganz überzeugt, als er letztes Jahr an unsere Schule kam. Er war so jung– der jüngste Lehrer im Kollegium. Aber einen gewissen Mangel an Erfahrung hat er durch seinen Eifer und seinen Enthusiasmus wettgemacht. Die Schüler lagen ihm wirklich sehr am Herzen. Er muss krank gewesen sein und hat es nicht gewusst. Er muss einfach krank gewesen sein. Aber auf diese Art zu sterben… Einfach unvorstellbar.«

Dieselben Gefühle äußerten auch alle anderen Mitglieder des Lehrkörpers, mit denen Eve sich unterhielt. Als Letzter kam Reed Williams, Englischlehrer, dran.

Er hatte keinen Bauch, bemerkte Eve. Wie sein straffer, muskulöser Körper zeigte, nutzte er das Fitnessangebot der Schule. Die goldenen Spitzen seines vollen, dunkelbraunen Haars sahen wie Sonnenstrahlen aus. Sein kantiges Kinn unter dem straffen Mund wies ein tiefes Grübchen auf, und seine durchdringenden, flaschengrünen Augen wurden von zwei schweren, dunklen Wimpernkränzen eingerahmt.

Er war achtunddreißig Jahre alt, unverheiratet und hatte für den Anzug, den er trug, wahrscheinlich ein halbes Monatsgehalt auf den Tisch gelegt.

»Ich habe ihn heute Morgen im Fitnessraum gesehen. Als ich reinkam, machte er gerade ein paar Rumpfbeugen. Ich unterhalte mich nicht gern, wenn ich trainiere, deshalb habe ich ihm nur kurz zugenickt. Ich würde sagen, wir waren vielleicht zwanzig Minuten zusammen dort. Dann ist er gegangen und hat mir zugewinkt. Meistens hat er nach dem Training noch ein paar Runden im Pool gedreht. Ich schätze, ich war noch circa zehn Minuten dort. Dann habe ich kurz geduscht und mich angezogen. Danach habe ich Craig noch mal im Lehrerzimmer gesehen, zusammen mit Eric. Eric Dawson.«

»Hatte Mr Foster irgendwas dabei?«

»Dabei? Nein, er hatte nur eine Dose Pepsi in der Hand. Wir haben uns ein paar Minuten über Filme unterhalten, und dann haben wir uns auf den Weg in unsere jeweiligen Klassenzimmer gemacht. Ich habe ihn noch mal getroffen, als ich auf der Toilette war.« Williams verzog den Mund zu einem leichten Lächeln und das Grübchen, das sich dabei in der linken Wange zeigte, passte gut zu der Vertiefung in der Mitte seines Kinns. »Wir haben nur kurz hallo gesagt. Ich schätze, das war gegen elf. Oder eher gesagt, kurz vor. Der Unterricht beginnt Punkt elf, und ich war nicht zu spät.«

»Wie sind Sie mit ihm ausgekommen?«

»Gut. Wir kamen prima miteinander klar.«

»Sie habe beide gerne Action-Filme gesehen. Hatten Sie auch privat Kontakt?«

»Hin und wieder, sicher. Letztes Jahr war ich auf seiner Hochzeit– wie die meisten anderen Kollegen auch. Und ab und zu haben wir ein Bier zusammen getrunken.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir waren keine wirklich engen Freunde, aber kamen gut zurecht. Ich würde sagen, Mirri hat ihn von uns allen am besten gekannt.«

»Mirri?«

»Hallywell. Sie unterrichtet Englisch und leitet die Theatergruppe. Die beiden haben sich auch privat des Öfteren gesehen.«

»Sie waren also gut miteinander bekannt.«

»Oh ja.« Abermals verzog er seinen Mund zu einem Lächeln, das jedoch etwas gehässig war. »Sie haben sich immer mittwochabends getroffen. Haben zusammen gelernt….«

Nachdem die ersten Gespräche abgeschlossen waren, rief Eve noch einmal Peaobdy an. »Bixley«, sagte sie.

»Hernando M., der Hausmeister. Er hat sich um ein Problem mit einem der Abflüsse auf der Jungentoilette beschäftigt, die ein Stück unterhalb von Fosters Klassenzimmer liegt. Er ist an den beiden Zeuginnen und an Dawson vorbeigekommen, als er die Toilette wieder verlassen hat.«

»Kommt Ihnen irgendetwas komisch an ihm vor?«

»Nein. Er ist Ende sechzig und seit zwölf Jahren hier angestellt. Seine beiden Enkel besuchen die Akademie, denn für sie als Verwandte eines Angestellten sind die Gebühren nicht so hoch. Erscheint mir wie ein grundsolider Typ.«

»Hallywell.«

»Mirri C. Ich habe bis vor einer Viertelstunde mit ihr gesprochen. Englischlehrerin und Leiterin der Theatergruppe. Ich wollte gerade die letzte Person auf meiner Liste aufrufen. Stimmt etwas nicht mit Hallywell? Ich hatte auch bei ihr kein komisches Gefühl.«

»Trotzdem würde ich gerne noch einmal selber mit ihr sprechen. Falls sie also noch im Haus ist, schicken Sie sie mir. Und wenn Sie mit den Gesprächen fertig sind, suchen Sie mich, ja?«

»Sie war ganz schön fertig– Hallywell. Vielleicht fangen Sie mit Ihrer Suche auf den Toiletten an. Ich würde nämlich sagen, dass sie sich erst mal ein bisschen sammeln muss, bevor sie das Haus verlassen kann.«

Eve befolgte ihren Rat, und da Hallywell von Peabody im Lehrerzimmer vernommen worden war, sah sie auf der Toilette nach, die dem Raum am nächsten lag. Man brauchte eine Schlüsselkarte, um die Tür zu öffnen, weshalb Eve ihren Generalschlüssel aus ihrer Tasche zog.

Sie betrat den Raum und stieß auf eine Frau, die schluchzend vor den Waschbecken auf dem gefliesten Boden saß.

»Mirri Hallywell.«

»Ja. Ja.« Sie unterdrückte einen neuerlichen Schluchzer, schniefte leise und fuhr sich mit einem Taschentuch durch das vom Weinen fleckige Gesicht. Sie hatte hellblaue, momentan verquollene Augen, dunkles, radikal zu einem kurzen Cäsarenschnitt gekürztes Haar, unter dem man kleine Silberreifen an den Ohren baumeln sah.

»Es tut mir leid. Sind Sie von der Polizei? Ich habe bereits mit einem Detective gesprochen.«

»Mit meiner Partnerin. Ich bin Lieutenant Dallas. Ich muss Ihnen noch ein paar zusätzliche Fragen stellen.«

»Oh Gott, oh Gott. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Eve ging vor ihr in die Hocke. »Es ist schwer, wenn plötzlich ein Kollege stirbt.«

»Es ist einfach grauenhaft. Wir waren nicht nur Kollegen, sondern Freunde. Gute Freunde. All das kann einfach nicht sein.«

»Wie gut waren Sie miteinander befreundet?«

Mirri ließ den Kopf nach hinten fallen. »Wie können Sie so etwas auch nur andeuten? Wie können Sie so etwas denken? Von jemandem wie Craig, der nicht mehr selber für sich sprechen kann.«

»Jetzt spreche ich für ihn.«

»Wenn Sie für ihn sprechen wollen, sollten Sie zumindest wissen, dass er seine Frau geliebt hat. Dass sie sich geliebt haben. Ich habe die beiden um das, was sie miteinander hatten, regelrecht beneidet. Ich bin auch mit ihr befreundet. Ich bin ihre Freundin, und ich habe keine Ahnung, wie ich ihr in dieser fürchterlichen Sache helfen soll.«

»Sie und Craig haben sich jede Woche außerhalb der Schule gesehen.«

»Wir haben uns immer mittwochs getroffen und zusammen gelernt.« Ihre Augen blitzten auf. »Um Gottes willen, ist das alles, worum es Leuten wie Ihnen geht?«

»Wenn es unschuldige Treffen waren, warum regen Sie sich dann so auf?«

»Weil er tot ist. Er ist tot.«

Hallywell atmete zitternd ein. »Wir wollten beide noch den Master machen. Deshalb sind wir zusammen in die Bibliothek oder in ein Café gegangen, haben ein paar Stunden zusammen gelernt und manchmal noch ein Bier getrunken, wenn es gut gelaufen ist. Wir gehen– ich meine, oh Gott, wir hätten morgen zusammen ins Kino gehen wollen. Craig und Lissy und der Typ, mit dem sie mich verkuppelt haben. Ich hasse es, wenn andere mich verkuppeln wollen, aber sie haben mich letzten Monat dazu überredet, mich mit diesem Mann zu treffen, und bisher läuft es wirklich gut. Deshalb wollten wir zu viert ausgehen.«

»Mirri, falls zwischen Ihnen und Craig etwas gelaufen ist, ist dies der richtige Zeitpunkt, um es mir zu sagen.«

»Da gibt es nichts zu sagen. Ich bin nicht so verzweifelt, dass ich auf dem Territorium einer Freundin wildern würde.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ich wollte Lissy anrufen, bin hierhergekommen und wollte sie anrufen, obwohl es hieß, dass man niemanden kontaktieren soll. Ich dachte, das wäre ich ihr schuldig, dachte, dass sie es von einer Freundin hören muss. Aber ich konnte es einfach nicht tun.«

Mirri presste ihr Gesicht auf ihre angezogenen Knie. »Ich habe es einfach nicht über mich gebracht. Ich wusste nicht, was ich ihr hätte sagen sollen, wie ich es ihr hätte sagen sollen, hatte schlicht nicht den Mut dazu.«

»Es ist unsere Aufgabe, es ihr zu sagen.«

»Was können Sie ihr sagen?«, wollte Mirri wissen. »Was können Sie in einem solchen Fall zu einem Menschen sagen? Sie geht davon aus, dass er zu Hause ist, wenn sie heute Abend von der Arbeit kommt. Doch er wird nicht zu Hause sein. Weder heute Abend noch überhaupt jemals. Was können Sie ihr also sagen?«

Dann stieß sie einen Seufzer aus und rappelte sich auf. »Es ist nicht Ihre Schuld. Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, es wäre Ihre Schuld und ich könnte schreien und toben und Sie anbrüllen. Würden Sie Lissy sagen… würden Sie ihr bitte einfach sagen, wie leid es mir tut und dass ich… da bin… falls ich irgendetwas tun, falls ich ihr auf irgendeine Weise helfen kann?«

Lissette Foster war Redaktionsassistentin bei einem kleinen, in Midtown gelegenen Verlag. Laut Personenüberprüfung war sie vierundzwanzig Jahre alt, auf Martinique geboren, und hatte– wie ihr Mann– an der Columbia-Universität studiert. Einzig schwarzer Fleck in ihrem Lebenslauf war ein Verfahren wegen Alkoholkonsums, als sie neunzehn gewesen war. Dafür hatte sie ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit absolviert und seither nie wieder gefehlt.

Ihre Mutter lebte nach wie vor auf Martinique. Wo der Vater lebte, war anscheinend nicht bekannt.

»Also«, fuhr Peabody fort. »Da wir gerade von Inseln sprechen, wie war überhaupt Ihr Urlaub?«

»Gut.« Eine Woche voller Sonne, Sand und Sex. Was konnte besser sein? »Sieht aus, als ob der Schnee tatsächlich liegen bleiben würde.«

»Ja, laut Wettervorhersage sollen es bis zu zehn Zentimeter werden. Glauben Sie ernsthaft, die Ehefrau hätte etwas damit zu tun?«

»Sie steht erst mal ganz oben auf der Liste. Das tun Ehepartner immer.«

»Ja, aber auch frisch Vermählte? Ich weiß, es heißt, das erste Jahr wäre nicht leicht, weil man sich erst einmal daran gewöhnen muss, aber Gift? Das ist heimtückisch und distanziert. Wenn ein Ehepartner auf den anderen wütend ist, endet das meistens blutiger, weil er die direkte Auseinandersetzung sucht.«

»Meistens, aber nicht immer«, antwortete Eve. »Wenn das Gift in seinem Essen war, müssen wir uns fragen, woher dieses Essen kam. Die Kollegen haben uns erzählt, er hätte sich sein Essen immer von zu Hause mitgebracht. Dort hätte seine Ehefrau den leichtesten Zugriff darauf gehabt. Ebenso haben die Kollegen uns erzählt, dass das Opfer die Tasche mit seinem Essen immer in seinem Klassenzimmer stehen hatte. Einem nicht abgesperrten Raum. Er ist zeitig in der Schule angekommen, hat sein Zeug in seiner Klasse abgestellt und sich auf den Weg in den Fitnessraum gemacht. Also hätte jeder in der Schule, der sein Essen hätte panschen wollen, ein leichtes Spiel gehabt.«

»Und was für ein Motiv könnte es für einen Giftmord geben?«

»Außer dem Test? Das kann ich noch nicht sagen. Übrigens ist die Zeugin, Rayleen Straffo, die Frucht von Oliver Straffos Lenden.«

»Oh, Scheiße. Echt? Hat sie zwei Hörner und einen Schwanz?«

»Falls ja, hat sie sie gut versteckt.« Eve trommelte mit ihren Fingern auf das Lenkrad und dachte über Straffo nach. »Er könnte in dieser Angelegenheit die Daddy-Karte spielen und bekäme damit sicher jede Menge Sendezeit. Könnte öffentlich verkünden, wie empört, besorgt und so er ist.«

»Das würde diesem Ekel ähnlich sehen. Aber Sie sind ja diese Woche in Nadines neuer Sendung. Da können Sie den Schwachsinn geraderücken, den der Kerl vielleicht erzählt.«

»Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Freundschaften sind einfach eine dämliche Erfindung. Sie kosten einen immer was.«

»Wie sentimental und weichherzig Sie sind.«

»Ja, das liebe ich ebenfalls an mir.« Wegen des fortgesetzten Schneefalls und des Wahnsinns der New Yorker Autofahrer stellte Eve ihr Fahrzeug auf einem zwei Blocks von der Adresse entfernten öffentlichen Parkplatz ab und erklärte ihrer Partnerin: »Bei dem verdammten Schnee versuche ich am besten gar nicht erst, eine Lücke am Straßenrand zu finden.«

»Ein bisschen Bewegung tut mir sicher gut. Ich habe während der Feiertage pausenlos gegessen, und ich gehe davon aus, dass McNab zum Valentinstag irgendwas mit Schokolade springen lassen wird, deshalb nehme ich am besten erst mal etwas ab. Was werden Sie Roarke schenken?«

»Wozu?«

»Zum Valentinstag.«

»Ich habe doch erst vor fünf Minuten das Zeug für Weihnachten besorgt.« Eve stieg aus dem Wagen, erinnerte sich an den Schal, der in ihrer Manteltasche steckte, zog ihn kurzerhand heraus und schlang ihn sich um den Hals.

»Das ist zwei Monate her. Und vor allem ist der Valentinstag extra für Liebende gemacht. Sie müssen ihm eine schmalzige Karte schreiben, und dazu brauchen Sie noch ein sentimentales Geschenk. Ich habe schon was für McNab. Einen sprechenden Bilderrahmen, auf dem unsere Namen stehen. Ich habe den Schnappschuss, den sein Vater an Weihnachten von uns gemacht hat, reingesteckt, dann kann er den Rahmen auf seinen Schreibtisch stellen und das Foto immer sehen. Roarke würde sich ganz sicher auch über etwas in der Richtung freuen.«

»Roarke weiß, wie wir aussehen.« Ein Minicoupé wollte an einer roten Ampel halten, geriet dabei ins Schleudern und erntete die Flüche und Beschimpfungen der Fußgänger, an denen es vorbei über den Gehweg schoss.

Eve liebte diese Stadt.

»Apropos Fotos, ich habe ein neues Bild von Belle. Haben Sie sie seit Ihrer Rückkehr schon gesehen?«

»Nein. Verlangt sie schon Bauchnabelpiercings und Tätowierungen?«

»Also bitte. Sie ist einfach unglaublich süß. Sie hat Leonardos Augen, Mavis’ Mund und…«

»Gott steh uns bei, wenn sie auch den Modesinn der beiden erbt.«

»Jedes Mal, wenn ich sie auf den Arm nehme, lächelt sie mich an.« Peabodys braune Augen schmolzen über ihrem Schal und unter ihrer Mütze, und begeistert fügte sie hinzu: »Die Leute sagen, das ist Quatsch, aber sie lächelt mich tatsächlich an. Sie ist schon so groß geworden und…«

Während Peabody von Mavis’ neugeborener Tochter schwärmte, lauschte Eve der Musik New Yorks. Dem durchdringenden Hupen, dem Rumoren der Werbeflieger über ihrem Kopf, den lautstarken Streitereien, hektischen Gesprächen, der Litanei von Beschwerden, die es ständig wegen irgendwelcher Dinge gab.

»Also, was werden Sie ihr mitbringen?«

»Was? Was soll ich mitbringen? Wohin?«

»Ein Geschenk für Belle, wenn Sie sie das nächste Mal besuchen.«

ENDE DER LESEPROBE