Scherben der Hoffnung - Nalini Singh - E-Book

Scherben der Hoffnung E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Mit pochendem Schädel und seiner mentalen Kräfte beraubt, erwacht der Pfeilgardist Aden in einer finsteren Zelle. Allein der Versuch, mit dem Medialnet Kontakt aufzunehmen, verursacht unerträgliche Schmerzen. Seine Entführer haben auch Zaira in ihre Gewalt gebracht, eine seiner erfahrensten Kommandantinnen und die Frau, der sich Aden seit seiner Kindheit am meisten verbunden fühlt. Gemeinsam gelingt den beiden die Flucht, doch sie finden sich verletzt und orientierungslos in einer unwirtlichen Landschaft fernab der Zivilisation wieder. Auch wenn Zairas Kräfte schwinden, kommt Aufgeben für Aden nicht in Frage. Denn seine Feinde haben es nicht nur auf ihn, sondern auf die Vernichtung der gesamten Pfeilgarde abgesehen, und als deren Anführer ist er fest entschlossen, diejenigen zu retten, die unter seinem Schutz stehen ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Rauch & Spiegel

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Alphabetisches Personenverzeichnis

Die Autorin

Die Romane von Nalini Singh bei LYX

Impressum

Nalini Singh

Scherben der Hoffnung

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Für die Rettung des Medialnets haben die Pfeilgardisten alles riskiert. In letzter Sekunde ist es ihnen gelungen, den Zusammenhang zwischen der tödlichen Seuche und dem Fehlen der Empathen aufzudecken und in einer gefährlichen Aktion die bisher gemiedene Unterkategorie der Medialen so im Netz zu integrieren, dass Schlimmeres verhindert werden konnte. Doch weiterhin steht die Zukunft der Medialen auf Messers Schneide. Ein zwielichtiger Gegner hat es auf die Pfeilgardisten abgesehen, um die fragile Balance sowohl im Medialnet als auch zwischen den Gattungen zu zerstören. Aden, der Anführer der Pfeilgarde, ist fest entschlossen, diejenigen zu retten, die unter seinem Schutz stehen. Dazu muss er aber zunächst aus der finsteren Zelle entkommen, in der er und Zaira gefangen gehalten werden. Nachdem ihnen die Flucht aus dem geheimnisvollen Gefängnis gelingt, finden sie sich in einer unwirtlichen Landschaft fernab der Zivilisation wieder. Erst als sie auf Spuren einer Gestaltwandlerkatze stoßen, schöpfen sie Hoffnung, denn die schwer verletzte Zaira benötigt dringend medizinische Hilfe. Und auch Adens Schusswunde erschwert das Vorankommen erheblich. Doch Aufgeben kommt für Aden nicht in Frage …

Rauch & Spiegel

Es ist das Jahr 2082, der Frühling steht in voller Blüte.

Vier Monate sind vergangen seit dem Fall von Silentium, jenem Programm, welches das Volk der Medialen zu einem Leben in emotionaler Kälte verpflichtete. Ob Telepath oder TK-Medialer, ob schwach oder stark, ein jeder hat nun das Recht zu fühlen, zu lieben und zu hassen, zu lachen und zu weinen. Für viele ist dieses Zulassen von Empfindungen berauschend, wohingegen andere darin eine tödliche Bedrohung sehen.

Denn Silentium war nicht ohne Grund eingeführt worden.

Die zehnjährige Debatte, die der Einführung vorausgegangen war, war nicht ohne Grund hitzig und spannungsgeladen gewesen.

Nicht ohne Grund entschieden sich dann Millionen von Medialen für ein Wegkonditionieren aller Gefühle in der nachfolgenden Generation.

Ebenso geschah es nicht ohne Grund, dass sie alle positiven wie negativen Empfindungen aufgaben.

Dieser Grund bestand in den Anfällen von Gewalt und Geistesstörung, die ihrer Gattung eigen waren. Bei Medialen war das Risiko sehr hoch, kriminellem Irrsinn zu verfallen oder das Leben einer geliebten Person in einem Moment unkontrollierbaren Zorns auszulöschen. Das Volk der Medialen stand unter einem Fluch.

Im Jahr 1979 war Silentium ein Lichtstrahl der Hoffnung gewesen. Mehr noch – die einzige Hoffnung für eine verzweifelte Gemeinschaft, die kurz davorstand, von Wellen der Gewalt vernichtet zu werden. Sie ignorierte die Trübheiten in diesem Lichtstrahl, das dunkle Flackern darin, die Gerüchte, dass Silentium nichts anderes sei als Rauch und Spiegel. Angetrieben von der Liebe zu ihren Kindern, die sie zu einem emotionslosen Dasein verdammten, akzeptierten die Medialen die strengen Richtlinien des Programms und klammerten sich an die Hoffnung, die ihre Anführer ihnen machten.

Heute hat sich der Rauch verzogen, die Spiegel sind zerbrochen.

Aber die Finsternis tief im Herzen der medialen Gattung ist immer noch eine grausame Tatsache, die nicht ignoriert werden darf. Was geschieht mit den Mördern und den Wahnsinnigen in dieser neuen Welt? Was mit den Gebrochenen?

Sie existieren noch immer.

Sie töten noch immer.

1

Aden erwachte auf einem kalten, harten Fußboden. Sein Schädel pochte. Ein anderer Mann hätte vermutlich geächzt oder gestöhnt, doch sein Training war ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass seine einzige Reaktion darin bestand, die Lider einen winzigen Spaltbreit zu heben und die Augen erst ganz zu öffnen, als ihm klar wurde, dass er von Dunkelheit umgeben war. Doch er war nicht allein. Er vernahm leise, unregelmäßige Atemzüge. Als versuchte jemand, sich ganz still zu verhalten, und schaffte es nicht ganz, aus Gründen, die er nicht kannte.

Ohne sich vom Fleck zu rühren, scannte er seine Umgebung telepathisch, dann unterdrückte er einen Aufschrei, bevor dieser seine Stimmbänder erreichte. Der Schmerz war derart brutal, dass ihm alles vor den Augen verschwamm. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen konzentrierte er seine ganze Willenskraft darauf, seine Atmung und seinen Körper unter Kontrolle zu halten, bevor er einen zweiten Versuch unternahm, Kontakt zum Medialnet herzustellen, jenem weitverzweigten Netzwerk, das sämtliche Medialen weltweit, mit Ausnahme der Abtrünnigen, miteinander verband. Wenn es ihm gelang, darauf zuzugreifen, konnte er die Pfeilgarde von seiner Gefangennahme unterrichten.

Die Pein war unerträglich, er hätte fast das Bewusstsein verloren.

Sobald er sich wieder gefangen hatte und nur noch weiße Flecken vor seinen Augen tanzten, fasste er sich an den Hinterkopf, wo der Schmerz zu entspringen schien. Er erwartete, blutig verkrustetes Haar zu ertasten, das auf einen Schädelbruch hinwies. Stattdessen entdeckte er über der Stelle, wo sich das Kleinhirn und der darunterliegende Hirnstamm befanden, eine Beule. Nein, keine Beule, sondern eine Narbe, die er zuvor nicht gehabt hatte. Sie war sehr berührungsempfindlich.

Doch das war nicht die einzige Auffälligkeit. Seine trockene Kehle und die steifen Gliedmaßen verrieten ihm, dass er stundenlang ohne Besinnung gewesen sein musste. Zeit genug für die Pfeilgarde, sein Fehlen zu bemerken und ihn zu lokalisieren. Vasic hätte dazu imstande sein müssen. Offenbar war es nicht einmal dem besten Teleporter im Medialnet gelungen, sein Gesicht als Portschlüssel zu benutzen, um ihn aufzuspüren.

Sonst bereitete es Vasic nur dann Probleme zu jemandem zu teleportieren, wenn derjenige komplexe Schilde errichtet hatte, die speziell dazu entworfen waren, Teleporter mit der Fähigkeit, nicht nur an Orte, sondern auch zu Personen zu gelangen, abzuwehren, oder wenn das betreffende Individuum seine eigene Identität nicht kannte – wie zum Beispiel ein Medialer, dessen Verstand gebrochen war.

Adens Verstand war unversehrt, aber was immer man mittels der kaum verheilten Inzision mit seinem Hirn angestellt hatte, es war ein massiver Eingriff in seine geistige Struktur gewesen, anders konnte er sich Vasics Abwesenheit nicht erklären. Er kannte keine chirurgische Technik – oder Technologie –, die das ohne eine vollständige Gehirnwäsche bewirken konnte, andererseits hielt er sich auch nicht für allwissend.

Er führte eine mentale Bestandsaufnahme seines Körpers und der Gegenstände durch, die er bei sich getragen hatte. Seine Waffen waren verschwunden, dasselbe galt für seinen Gürtel und seine Stiefel. Wer immer hinter dieser Sache steckte, er war gründlich gewesen.

Sich an den flachen Atemzügen der anderen Person orientierend, kroch er lautlos auf sie zu. Sie hatte sich bisher nicht bewegt, und die Unregelmäßigkeit, mit der sie Luft holte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie verletzt war. Da sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, die nur von dem schmalen Lichtstreifen durchbrochen wurde, der unter der Tür hindurchkam, entdeckte er, dass die Person in der Ecke des fensterlosen Raums lag, als wäre sie achtlos dorthingeworfen worden. Die Gestalt war zu klein und anders proportioniert als ein Mann. Es musste ein Kind oder eine Frau sein.

Dann sah er die runden Hüften, die zarte Kinnlinie. Es war eine Frau. Sie roch nach Blut. Er strich ihr die samtweichen, dunklen Locken aus dem Gesicht, als sie kraftvoll sein Handgelenk packte. »Eine Bewegung, und ich reiß dir die Kehle heraus.«

»Zaira«, sagte er in dem gleichen Flüsterton, den sie benutzt hatte. »Ich bin’s.«

»Aden.« Sie ließ ihn los. »Ich bin verletzt.«

»Wie sehr?«

»Ich wurde angeschossen.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf die feuchte Stelle über ihrem Magen. Ihr dünnes Oberteil, das eigentlich kugelsicher hätte sein sollen, war blutdurchtränkt, und von ihrem leichten Körperpanzer fehlte jede Spur. »Die Kugel ist links durch meinen Bauch gedrungen.«

Aden hatte zwar keine Instrumente, aber als ausgebildeter Truppenarzt besaß er zumindest medizinische Kenntnisse. »Hast du irgendeine Lichtquelle bei dir?« Mit ein wenig Glück hatten ihre Kidnapper etwas übersehen.

»Nein. Keinerlei Werkzeuge oder Waffen. Sie haben mir sogar meine Stiefel abgenommen.«

Er robbte so nahe an Zaira heran, dass er unter normalen Umständen ihre Distanzzone verletzt hätte. Doch sie protestierte nicht einmal, als er ihr das eng anliegende, langärmlige schwarze Shirt nach oben schob. Ihre Haut fühlte sich klamm an, und der Verband, den er ertastete, war unfachmännisch angelegt; es sickerte noch immer Blut hindurch. »Ich muss deinen Kopf untersuchen.«

»Das kannst du dir sparen. Sie haben ihn geöffnet, um etwas in meinem Gehirn zu manipulieren. Mein Geist ist gelähmt. Jeder Versuch, auf meine mentalen Fähigkeiten zuzugreifen, löst extreme Schmerzen aus.« Sie atmete flach. »Daraus, dass noch kein Rettungsteam hier ist, schließe ich, dass es dir genauso geht.«

»Ja.« Aden untersuchte ihren Kopf auf weitere Blutungen hin, dabei entdeckte er eine grob geschlossene Schnittwunde, nahezu identisch mit seiner eigenen. Ihre mysteriösen Entführer verfügten über eine solch fortschrittliche Technologie, dass sie durch einen Eingriff ins Gehirn die geistigen Fähigkeiten ausschalten konnten, und überließen Zaira trotzdem ihren Verletzungen und Schmerzen? »Sie wollen, dass du schwach bist.«

»Das denke ich auch.« Ihre nächsten geflüsterten Worte hörte er nur, weil er sich so nahe zu ihr hinunterbeugte, dass er ihren warmen Atemhauch spürte. »Ich wusste anfangs nicht, dass sie dich auch erwischt haben, aber jetzt glaube ich, dass sie mich benutzen wollen, um dich zu brechen. Vorhin ist einer hereingekommen und sagte zu einem anderen: »Er wird reden, andernfalls foltern wir sie.«

»Pfeilgardisten sind nicht so leicht zu brechen.«

»Du bist nicht vollständig in Silentium, Aden. Das warst du nie.« Wieder rang sie nach Luft. »Jeder in der Garde weiß das – jetzt hat es jemand Externes herausgefunden.«

Aden beschloss, sie später zu korrigieren, was sein Silentium betraf. »Geh sparsam mit deiner Kraft um. Ich muss auf dich zählen können, wenn wir fliehen.« Nicht »falls«. Sie würden auf jeden Fall fliehen.

»Beschaff mir eine Waffe, dann gebe ich dir Rückendeckung. Ich bin geschwächt und würde dich nur aufhalten. Ohne mich wirst du leichter entkommen.« Zaira sagte das ganz sachlich, als ginge es nicht um ihren sicheren Tod.

Aden senkte den Kopf, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten und sie seine Augen so klar sehen konnte wie er die pechschwarze Dunkelheit in ihren. »Ich lasse meine Leute nicht im Stich.« Er wusste, was es bedeutete, im Stich gelassen zu werden, und obwohl es aus hehren Gründen geschehen war, hatte es ihn tief geprägt. »Wir bleiben zusammen.«

»Du verhältst dich irrational.«

Diesen Vorwurf hatte er schon unzählige Male von ihr gehört. Allerdings nicht etwa, weil ihr eigenes Silentium makellos gewesen wäre.

In Wahrheit hatte Zaira Silentium nie gebraucht. Was ihr in ihrer Kindheit angetan worden war, hatte dazu geführt, dass sie sich tief in ihre Psyche zurückgezogen und ihre Gefühle hinter einen dicken Panzer gedrängt hatte, um zu überleben. An ihrer Stelle waren ein eiserner Wille und kalter Pragmatismus erwachsen. Silentium hatte ihr immer nur als Instrument gedient, um sich einen zivilisierten Anschein zu geben.

Ohne das Programm war sie ein wildes, skrupelloses Geschöpf, das schon vor langer Zeit gelernt hatte, dem Überleben oberste Priorität einzuräumen.

Es machte sie zu einer perfekten Soldatin.

Manch einer würde sagen, dass es sie zugleich zu einer Psychopathin machte, doch das stimmte nicht. Im Gegensatz zu einer solchen war Zaira in der Lage, die ganze Bandbreite an Emotionen zu fühlen. Obwohl diese dauerhaft in Ketten gelegt waren, verliehen sie ihr nichtsdestoweniger ein Gewissen und zudem die Befähigung zu unverbrüchlicher Loyalität. Denn Zairas ausgeprägter Überlebensinstinkt reduzierte sich nicht zwangsläufig auf ihr eigenes Überleben. Bereits vor drei Jahren hatte sie sich bei einem Einsatz in einen Aden geltenden Kugelhagel geworfen und Verletzungen davongetragen, die beinahe tödlich gewesen waren. Er würde nicht zulassen, dass sie sich ein weiteres Mal für ihn opferte.

»Du hättest mich schon vor langer Zeit als Anführer stürzen sollen«, sagte er, während er den Verband anhob, um sich ein Bild von der Wunde zu machen. »Meine Unvernunft, wenn es um die Truppe geht, wird voraussichtlich ewig währen.«

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber ich bringe für Politik nicht viel Geduld auf.«

Ungeachtet ihrer kühlen Worte wusste Aden, dass Zaira jeden in die Knie zwingen würde, der ihm die Führungsposition streitig machen wollte. Um ihre Loyalität zu verlieren, hätte er sich etwas derart Schreckliches zuschulden kommen lassen müssen, dass es sein Vorstellungsvermögen überstieg. »Wie wurdest du angeschossen?«, fragte er und verdrängte die Erinnerung daran, wie nahe sie dem Tod das letzte Mal gewesen war. »Wie viele Treffer?«

»Einer. Sie griffen mich an, als ich mich ein Stück von der Basis in Venedig entfernt hatte. Fünf Männer. Ich rief telepathisch um Hilfe, aber niemand schaffte es rechtzeitig zu mir.«

»Wie viele konntest du töten?«

»Drei. Der vierte wurde verletzt. Der fünfte wäre ebenfalls tot, hätte er nicht diesen Schuss abgegeben.«

Fünf Männer gegen diese zierliche Frau, und doch hätte sie sie fast alle besiegt. Sie war gefährlich und klug und zählte aus gutem Grund zu Adens Topleuten. Ihre Atmung wurde stockender, als er die Wundränder befühlte. »Es muss sich um eine neue Art von Projektil handeln, eigens dazu gedacht, unsere Schutzkleidung zu durchdringen.« Es klang, als spreche sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ist dieses Oberteil aus dem neuen Material gefertigt, das Krycheks Firma entwickelt hat?« Die dünne, stoffähnliche Innovation war dem Vernehmen nach ebenso wirksam wie ein weit schwererer Körperschutz.

»Nein. Ich hatte mich auf der Liste als nicht dringlich eingestuft – die Fronteinsatzkräfte brauchen es dringender.«

Aden tastete mit den Fingerkuppen verschiedene Bereiche ihres Bauches ab, dabei fragte er sie, wo es wehtat und wo nicht, bis er auf eine nicht bandagierte Wunde an ihrer Seite stieß. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Verletzung an deinem Bauch die Austrittsstelle ist«, erklärte er, nachdem er die Stelle, so gut es ging, untersucht hatte. »Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Kugel vor dem Austritt in deinem Körper gegen etwas geprallt ist.« Und dabei Organverletzungen hervorgerufen hatte, die er ohne einen Scanner nicht näher identifizieren konnte. »Hustest du Blut?«

»Nein.«

»Das ist gut.« Ihr Leib war auch nicht geschwollen oder hart. »Falls du eine innere Blutung hast, ist sie noch nicht sehr ernst.« Nachdem Aden den Verband wieder angebracht und Zairas Oberteil heruntergezogen hatte, schälte er sich aus seiner Lederjacke und half ihr hinein. Sie war ihr zu groß, daher rollte er die Ärmel hoch, damit ihre Hände im Fall eines Kampfes nicht behindert waren.

Anschließend entledigte er sich seines T-Shirts und riss es entzwei, um es als Kompresse für die Wunde an ihrer Seite zu benutzen. Bei seiner Uniformjacke wäre das unmöglich gewesen, sie bestand aus einem reißfesten Material. Daher war es ein Glück, dass er, mit Ausnahme seiner Drillichhose, zivile Kleidung trug. Er knotete mehrere Stoffbahnen zusammen und wickelte sie um Zairas Taille, um den Verband zu fixieren. Er würde zumindest etwas Druck bewirken und helfen, die Blutung zu stillen. »Zu fest?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich werde versuchen, die Blutung zu stoppen.« Seine m-medialen Fähigkeiten reichten aus, um bestimmte Wunden zu versiegeln, doch er konnte nicht in einen Körper hineinsehen, um eine Verletzung zu beurteilen.

»Nein«, sagte Zaira, als er die Hände auf ihren Bauch legen wollte. »Das kostet Energie. Heb sie dir auf. Wir werden sie brauchen, um von hier zu entkommen.«

Es behagte ihm nicht, sie weiter leiden zu lassen, doch sie hatte recht. Er war Feldchirurg und Truppenarzt, gerade weil seine Fähigkeiten als M-Medialer begrenzt waren. Mit ausreichender Rückendeckung konnten sie nützlich sein, doch in einer Kampfsituation wurden sie zur Belastung. Es war vernünftiger, auf sein medizinisches Geschick zu vertrauen. »Sag mir Bescheid, wenn du meinst, du verlierst das Bewusstsein«, bat er sie, als ihm ein alarmierender Gedanke kam. »Ich muss erst einmal feststellen, ob meine m-medialen Fähigkeiten überhaupt noch intakt sind.« Nicht nur das Heilen des Verstandes, auch das des Körpers erforderte geistige Energie.

Der Schmerz fuhr ihm wie ein heißer Speer in den Rücken, und seine Sicht verschwamm für endlos lang erscheinende Sekunden.

»Und, sind sie es?«, fragte Zaira sanft.

»Nein.« Ihre gesamten mentalen Kräfte waren ihrem Zugriff entzogen.

Aden zog das Oberteil über die behelfsmäßige Bandage, dann legte er den Mund so nah an Zairas Ohr, dass ihn eine ihrer Locken an der Nase kitzelte. »Wie lange kannst du durchhalten?« Er wusste, dass sie trotz der Schwere ihrer Verwundung nicht so geschwächt war, wie sie sich den Anschein gab.

»Sieben Minuten bei voller Leistung, allerdings wurde meine Belastbarkeit durch die Wunde und den Blutverlust um die Hälfte gemindert.«

Damit war sie noch immer hundertmal tödlicher als die meisten Individuen auf dem Planeten. »Wir warten auf unsere Chance. Auf mein Zeichen.«

»Verstanden«, bestätigte sie, als an der Tür ein Geräusch zu hören war.

Aden ließ Zaira auf dem Boden liegen, wo sie weiter die geschwächte Schwerverletzte mimte, und stand auf. Das wenige Licht, das hereinfiel, verriet ihm mehrere Dinge gleichzeitig.

Die Zelle hatte keine weiteren Zugänge und war aus hartem Kunstbeton erbaut.

Davor befand sich ein Korridor, aber es waren keine maschinellen Geräusche zu hören, nicht einmal das ferne Brummen von technischen Geräten oder Verkehr.

Entweder waren sie fern jeder Zivilisation, oder der Kunstbeton war gut isoliert.

Der muskulöse Mann im Türrahmen trug Tarnkleidung und schwarze Kampfstiefel. Seine Haltung deutete auf einen Geheimagenten hin … einen Pfeilgardisten.

Aden ignorierte das maskierte Gesicht und konzentrierte sich auf die Größe, das Gewicht, die Muskulatur, glich die Daten mit denen in seinem mentalen Archiv ab. Keine Übereinstimmung. Zaira und er waren von innen verraten worden, doch dieser Mann war ein hochrangiger Soldat. Sehr wahrscheinlich von einer Spezialeinheit.

Er trug eine Waffe.

Das war seine Schwachstelle. Er glaubte, sie mache ihn unverwundbar.

Er richtete sie auf Aden. »Setzen«, befahl er.

Aden hatte den verbeulten Metallstuhl in der Mitte der Zelle im selben Moment registriert wie den Kunstbeton und seine Tauglichkeit als Waffe eingeschätzt. Noch immer seine Optionen abwägend, ging er zu dem Stuhl und setzte sich darauf. Dabei bemerkte er einen zweiten Mann vor der Tür, dessen Schatten auf die gegenüberliegende Wand fiel. »Falls Sie beabsichtigen, mich einem Verhör zu unterziehen, sollten Sie wissen, dass Pfeilgardisten darin geschult sind, eher zu sterben, als ihr Schweigen zu brechen.«

»Oh, Sie werden sprechen. Ich habe sehr viel Zeit, und jeder hat einen wunden Punkt.« Kalt gesprochene Worte. »Meines Wissens gelten Pfeilgardisten als unerschütterlich loyal. Und diese hier – bedeutet Ihnen etwas.« Er ging zu Zaira und versetzte ihr einen Tritt.

2

Sie stöhnte, aber Aden wusste, es diente nur dem Effekt. Was nicht hieß, dass die Attacke nicht wehgetan hatte. Aber Zaira würde unter keinen Umständen im Beisein anderer einen Schmerzenslaut ausstoßen – es sei denn, sie versprach sich davon einen Vorteil.

Aden prägte sich die Stelle ein, die der Stiefel des Mannes getroffen hatte, um sie zu untersuchen, sobald sie sich befreit hatten und der Mann tot war. Und das würde mit Sicherheit passieren. »Alle meine Leute bedeuten mir etwas.«

Ihr Peiniger stand noch immer neben Zaira. »Aber diese Frau besuchen Sie jede Woche.«

Zaira brauchte diese Aufsicht. Nicht, weil sie keine gute Kommandantin gewesen wäre, sondern aufgrund ihrer psychologischen Verfassung. Sie war unabhängig und stark und besaß ein Gewissen, gleichzeitig war sie auf eine Weise beschädigt, die dazu führen konnte, dass sie bestimmte Entscheidungen traf, die sich nicht rückgängig machen ließen. Darum sorgte Aden dafür, dass er ihr zu Feedback-Gesprächen zur Verfügung stand.

Jedenfalls redete er sich das ein.

»Haben Sie vor, sie zu foltern, um mich zu brechen?«, fragte er, während er den zweiten Mann taxierte, der nun im Türrahmen stand. Er war genauso ein Profi wie der andere und ließ Aden keine Sekunde aus den Augen. Wenn auch nicht Profi genug, denn Aden war nicht die einzige Gefahr in dieser Zelle.

»Richtig geraten«, bestätigte der Kidnapper. »Sind Pfeilgardisten auch darauf trainiert, sexueller Folter standzuhalten?«

Aden fühlte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er lockerte sie mit äußerster Willenskraft und beobachtete aus dem Augenwinkel weiter die Wache in der Tür. »Schmerz ist Schmerz«, entgegnete er. »Uns wurden in der Kindheit mehr Körperteile gebrochen, verbrannt, zertrümmert und in anderer Weise versehrt, als Sie sich vorstellen können. Während eines Anti-Verhör-Trainings riss man mir einen Fingernagel nach dem anderen heraus, dann stach man mir mit einem glühenden Eisen ein Auge aus.«

Die Ärzte hatten das Auge und die anderen Verletzungen geheilt, doch er war tagelang entsetzlichen Schmerzen ausgesetzt und halb blind gewesen. Die nächste Trainingseinheit hatte dazu gedient, psychologische Schwachstellen ans Tageslicht zu bringen. Aden war nicht zerbrochen. Er war damals zehn Jahre alt gewesen.

Der Mann trat ein weiteres Mal nach Zaira. »Wir werden ja sehen, ob ein Schmerz wie der andere ist. Zunächst werde ich Sie zwingen, dabei zuzusehen, wie sie von meinen menschlichen Kameraden sexuellen Torturen unterzogen wird, anschließend werde ich sie bitten, dasselbe mit Ihnen zu tun. Am Ende werden Sie uns alles sagen.«

Aden musste das Motiv für diese Entführung erfahren, gleichzeitig hatte er bereits entschieden, dass beide Männer sterben würden. Es war die effizienteste Methode, um das Gelingen einer Flucht zu gewährleisten. »Nur zwei Wachen für zwei Pfeilgardisten? Ein Fehler.«

»Es gibt für Sie kein Entkommen, außerdem haben wir Waffen, während Ihre Sinne durch die Implantate, die die Ärzte eingepflanzt haben, gelähmt sind.« Es folgte ein derart heftiger telepathischer Schlag, dass Aden die Ohren klingelten.

Dafür konnte er die geistigen Kräfte des Mannes nun akkurat einschätzen.

»Hart und plump«, sagte er auf Arabisch, jener Sprache, in der Zaira mit ihren Eltern kommuniziert hatte, bevor sie sie am Ende mit einem rostigen Metallrohr erschlug. »Er ist nicht stark genug, um uns mit seinem Geist zu töten.«

Trotz ihrer flachen Atemzüge bewegte sie sich blitzschnell und ließ die Beine wie die Klingen einer Schere zuschnappen, um den Mann zu Fall zu bringen, der so dumm gewesen war, sich neben sie zu stellen. Als er mit brutaler Wucht auf dem Boden aufschlug, hatte Aden bereits den Stuhl gepackt und schleuderte ihn auf den zweiten Kerl, der um sich schießend hereingestürzt kam. Der Stuhl traf ihn so hart an der Brust, dass er taumelte.

»Aden!« Zaira stieß die Waffe mit einem Tritt zu ihm, die sie dem Mann abgenommen hatte, den sie gerade mit den Schenkeln erdrosselte.

Er schnappte sie sich, zielte und feuerte mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung und traf den zweiten Angreifer mitten in die Stirn.

»Cris wäre stolz auf dich«, rief Zaira, dann keuchte sie vor Schmerz.

Aden erschoss den anderen Kerl, von dem er annahm, dass er Zaira auf der geistigen Ebene attackiert hatte. Doch dass er außerdem die Hand in ihre Wunde gerammt und weiteren Schaden angerichtet hatte, realisierte er erst, als er Zaira auf die Beine hochzog und die Nässe an ihrer Seite bemerkte, zusammen mit dem Eisengeruch, der plötzlich die Luft schwängerte. »Ich bin okay«, behauptete sie, obwohl ihr Zittern auf das Gegenteil hinwies.

Weil er wusste, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, ließ Aden sie für einen Moment allein – sie schwankte, konnte sich aber auf den Beinen halten – und nahm den Toten die Skimasken ab. Die Gesichter sagten ihm nichts, aber zumindest kannte er sie jetzt.

»Der da ist ein Mensch«, ächzte Zaira, mit Blick auf den zweiten Wachmann. »Dafür sprechen die nicht vorhandene mentale Komponente seines Angriffs sowie die menschlichen Kameraden, mit denen der andere geprahlt hat.«

»Das denke ich auch.« Aden befreite den zweiten Gegner von seiner blutbesudelten Tarnjacke und zog sie sich an, dann nahm er ihm seine Messer und Schusswaffen ab und schnallte sie sich und Zaira um. Ihr Vorteil war, dass kein anderer Wächter den Kampf gehört haben konnte – die Pistolen waren mit einem Schalldämpfer versehen, und sie hatten die ganze Zeit beide leise miteinander gesprochen.

Zaira schob ihn von sich, als er ihr den Arm um die Taille legen wollte, um sie beim Laufen zu stützen. »Nicht. Wir werden es nur schaffen, wenn du beide Hände frei hast. Ich bleibe dicht hinter dir.«

Aden wusste, dass sie das keineswegs vorhatte, doch er gab vor, ihr zu glauben. »Dann los.« Er hielt an der Tür nach Überwachungsgeräten Ausschau, entdeckte aber keine. Diese Leute betrieben keinen technischen Aufwand, was andererseits auch ein Schutz vor Entdeckung sein konnte. Was nicht in ein Netzwerk eingespeist wurde, konnte auch nicht gehackt werden.

Es gefiel ihm nicht, einen Korridor entlangzugehen, von dem er nicht wusste, was ihn hinter der nächsten Biegung erwartete, aber es gab keine Alternative. Sie bewegten sich leise und bedächtig vorwärts, doch als er um die Ecke spähte, wurde er von einer Wache bemerkt. Der Mann wollte gerade Alarm schlagen, als Aden ihn mit einer Kugel zur Strecke brachte. Er brach lautlos zusammen, doch sein Finger lag auf dem Abzug, und eine Salve von Schüssen löste sich und traf auf ein kleines Stahlgitter vor einer Lüftungsöffnung. Die schrillen, metallischen Geräusche hallten von den Wänden wider.

Eine Sekunde darauf hörte Aden, wie eine Tür aufgestoßen wurde und Schritte herannahten. Er vergewisserte sich, dass Zaira direkt hinter ihm war, als er zu dem Toten hastete und ihn hochzerrte, um ihn als Schutzschild gegen die Kugeln und Laserstrahlen zu benutzen, die die Luft durchsiebten. Ein eiskalter Wind wehte durch den Gang, als weitere Wachen von außerhalb des Gebäudes hereinströmten.

Wenige Augenblicke später fiel die Tür ins Schloss.

Zaira unternahm keinen Versuch, vor ihn zu gelangen; sie wusste so gut wie er, dass er sie lebend brauchte. Um keine Munition zu verschwenden, gab Aden einen gezielten Schuss nach dem anderen ab und konnte zwei der Männer eliminieren, bevor sie ihn ins Visier nahmen. Zaira hielt unterdessen die anderen in Schach, sodass sie ihre Köpfe nicht um die Ecke des Seitenkorridors stecken konnten, wo sie Zuflucht genommen hatten.

Die geistigen Attacken, die das Geschützfeuer begleiteten, waren planlos und nicht so heftig, wie man es bei der Anzahl der Männer, die er gesehen hatte, erwartet hätte. Trotz der Unerklärbarkeit einer solchen Allianz deutete auch dies darauf hin, dass einige der Wachen Menschen sein mussten. »Zur Tür!«, rief er Zaira zu und wies ihr mit dem Arm den Weg dorthin.

Der Ausgang befand sich fast in gerader Linie von ihrer derzeitigen Position.

Unter massivem Beschuss hielten sie weiter auf die Tür zu und ließen die Kugeln von dem Leichnam abfangen. Aden wartete fast bis zur Abzweigung des Korridors, ehe er den Toten auf seine ehemaligen Kumpane schleuderte. Darauf waren sie nicht gefasst, sie hatten seine Kraft unterschätzt – ein Fehler, der vielen unterlief – und reagierten für einen Moment überrascht.

Das war alles, was er brauchte.

Er sprintete los.

Wie erwartet, blieb Zaira hinter ihm und hielt die Feinde mit Schüssen auf Abstand, damit Aden entkommen konnte. Als er aus der Tür stürzte, fand er sich in trister Dunkelheit wieder, der Himmel über ihm war sternenlos und mit schweren Wolken behangen, die jeden Moment aufzubrechen drohten. Blitze entluden sich in der Ferne, doch das war das einzige, flüchtige Licht.

Keine Geräusche von Fahrzeugen.

Keine Hochhäuser.

Kein Hinweis auf eine Straße.

Nichts als Bäume, so weit das Auge reichte … und hinter ihm eine große Schießerei.

Zaira sah, dass Aden es zur Tür schaffte, und verspürte eine Befriedigung, die nicht ganz den Regeln von Silentium entsprach. Aden spielte eine wichtige Rolle; er war die Zukunft eines jeden Pfeilgardisten und derer, die es noch werden würden. Sie war eine hochrangige Offizierin, nützlich und erfahren, unter den gegebenen Umständen jedoch ersetzbar. Verglichen mit Adens Leben besaß ihres wenig Wert – es diente lediglich dazu, das seine zu schützen.

Das hatte sie getan. Sie hatte ihren Zweck erfüllt.

Ihre Seite brannte, ihr Schädel hämmerte, als sie zu Boden glitt, ohne das Feuer einzustellen. Als ihr schließlich die Kugeln ausgingen, ließ sie die Waffe fallen, um ihren Gegnern zu zeigen, dass sie keine Bedrohung mehr darstellte. Wenn sie sich nahe genug an sie heranwagen sollten, würde sie wenigstens einen mit dem Messer ausschalten können.

Bedauerlicherweise schienen die Wachen ihre Lektion gelernt zu haben. Zwar kamen sie aus ihrer Ecke heraus, doch blieben sie auf Abstand und zielten weiterhin auf sie. »Folgt dem Mann«, wies ein bärtiger Wächter zwei seiner drei Kollegen an. »Er wird auf diesem Gelände nicht weit kommen. Wir brauchen ihn lebend.«

Die beiden mit Tarnanzügen bekleideten Männer setzten sich in Bewegung.

»Wenn Sie mich auch lebend brauchen«, ließ Zaira sich vernehmen, »sollten Sie einen Arzt holen.« Sie fürchtete den Tod nicht, hatte das nie getan. Doch sie hätte gern gesehen, in welche Zukunft Aden die Truppe führte. Sie war eine Mörderin, die nie einen Funken Reue wegen ihrer Verbrechen gefühlt hatte. Es war unmöglich, dass sie den Mantel von Silentium jemals ablegte, ohne erneut zu dieser kaltblütigen Killerin zu werden, aber sie hatte gehofft, vielleicht vom Rand aus zusehen zu können.

Vasics und Ivys Hochzeit hatte ihr vor Augen geführt, dass es für viele ihrer Gefährten eine Hoffnung gab – die Hoffnung auf ein Dasein jenseits der reglementierten Existenz der Pfeilgardisten. Zaira und die ihren konnten ein Bollwerk gegen die Dunkelheit bilden und den anderen somit die Freiheit schenken, ein echtes Leben zu führen. Es war kein Opfer, nicht solange am Ende etwas von diesem Leben auch auf Zaira und ihre Mitstreiter abfärbte.

Sie war seit Ivys und Vasics Heirat mehr als ein Mal bei ihnen zu Hause eingeladen gewesen, hatte für ihren neugierigen Hund kleine Stöcke geworfen und Ivy geholfen, ein Rankgerüst zu reparieren, das die Frauen für irgendwelche Beerenfrüchte benutzten. Normale Dinge, die Zaira für eine begrenzte Zeit das Gefühl gegeben hatten, ebenfalls normal zu sein.

Und Aden … sie hätte sich gern davon überzeugt, dass er es schaffte.

»Holt den Erste-Hilfe-Kasten«, befahl der Bärtige, ohne die Augen von ihr abzuwenden. »Lasst euch ein Update geben, und sagt dem Team im Hubschrauber, dass wir die Situation …«

Eine blutrote Blume erblühte auf seiner Stirn, dann sackte er einen Sekundenbruchteil vor dem anderen Wachmann in sich zusammen.

Zaira sah auf und entdeckte Aden im Türrahmen. »Du bist zurückgekommen.« Noch nie war jemand aus einem nicht nachvollziehbaren Grund zurückgekehrt, um sie zu holen. Niemand außer Aden. Und dies war nicht das erste Mal. »Das war dumm.«

»Nicht aus meiner Warte«, konterte er und trat zu ihr, um ihre Wunde zu untersuchen. »Du brauchst medizinische Hilfe.«

»Sie sagten, dass es hier irgendwo einen Notfallkasten gibt.« Zaira nahm die Waffe, die er ihr in die Hand drückte, und versuchte bei Besinnung zu bleiben, als er verschwand. Vier Minuten später kehrte er mit einer kleinen Metallbox zurück.

»Dieser Bunker ist gut gesichert – ich habe die Lage sondiert«, erklärte er, bevor er den Kasten öffnete und den Inhalt in Augenschein nahm. »Das Kommunikationssystem ist mit einem Sprachcode geschützt.«

Was bedeutete, dass sie es nicht benutzen konnten. Ein solcher Code konnte zwar geknackt werden, doch das erforderte Zeit und ein spezifisches technisches Geschick. »Ich glaube, es ist Verstärkung in einem Hubschrauber auf dem Weg hierher.«

Aden nickte bestätigend, ohne in seinem Tun innezuhalten. »Dieser Erste-Hilfe-Kasten ist nicht modern genug, um deine Schusswunde fachgerecht zu behandeln, aber zumindest die Blutung müsste ich in den Griff bekommen.« Er nahm einen Handscanner heraus und versuchte ihn einzuschalten. »Defekt. Wasserschaden.« Er warf ihn beiseite und brachte einen Einweg-Laser zum Vorschein.

Zaira biss auf den Gürtel, den Aden einer der toten Wachen abgenommen hatte, und versuchte, ihren Schmerz zu unterdrücken, wie es alle Medialen lernten, aber ihr Geist gehorchte ihr nicht. Aden blickte auf, als sie zusammenzuckte. »Wirkt sich das, was in unseren Köpfen ist, störend aus?«

Sie nickte, dabei forderte sie ihn mit den Augen auf weiterzumachen.

Die Zähne fest zusammengebissen, gehorchte er. Wieso nur redete Aden sich so beharrlich ein, in Silentium zu sein? Er hatte Gefühle, das war schon immer so gewesen. Es war das größte offene Geheimnis innerhalb der Pfeilgarde. Und gleichzeitig der Grund, warum sie alle wild entschlossen für ihn kämpften – und mit ihm. Weil Aden seine Leute nicht im Stich ließ. Er hatte Zaira nicht im Stich gelassen.

Auch wenn niemand sonst sich etwas aus den Pfeilgardisten machte oder um sie trauerte, wenn sie starben, Aden tat es.

Sie wusste, dass Marjorie Kai, die Frau, der Aden seine halb koreanische Abstammung verdankte, seine Fähigkeit zu fühlen als schweren Makel erachtete. Marjorie war eine Pfeilgardistin längst vergangener Zeit. Sie hatte geholfen, die Rebellion anzufachen, und ihr ihren Sohn schon als kleines Kind geopfert.

Sein Vater – halb Navajo, halb Japaner – würde sich ihrer Einstellung mit den Worten anschließen: Stärke bedeutet Kontrolle. Kontrolle bedeutet Macht.

Zaira hatte Naoshi Ayze das in den vergangenen fünf, sechs Jahren mindestens hundertmal sagen hören. Marjorie und Naoshi hatten sich in Venedig niedergelassen, nachdem sie vor zwei Dekaden bei einer Explosion auf dem Meer »gestorben« waren; ohne sie würde die Niederlassung nicht existieren. Die Pfeilgarde stand tief in ihrer Schuld, aber Zaira war inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass die beiden Gardisten den Sohn, den sie erschaffen und zu einem Geschöpf der Rebellion modelliert hatten, längst nicht mehr verstanden.

Aden war stärker und besser als alle beide, und er folgte seinem eigenen Weg.

Er legte den verbrauchten Laser weg, nahm einen anderen aus dem Kasten und setzte seine Arbeit fort. Es tat weh, doch das kam von dem Laserstrahl; der tiefe Schmerz der Schussverletzung klang allmählich ab.

»Ich denke, die schlimmste Blutung ist gestillt«, sagte er. Er versorgte die Eintritts- wie auch die Austrittswunde mit sterilem Verbandsmull und nötigte ihr zwei Nährstoffdrinks aus dem Erste-Hilfe-Kasten auf. Sobald Zaira sie geleert hatte, gab er ihr einen Energieriegel. »Das wird dich bei Kräften halten und vor einer Ohnmacht schützen.«

Während sie widerwillig den geschmacksneutralen Riegel kaute, machte Aden sich auf die Suche nach ihren Stiefeln. »Ich habe sie«, verkündete er wenige Minuten später. »Die Socken lagen auf dem Boden, aber sie sind trocken.«

Er hatte außerdem einen tarngrünen Rucksack aufgetrieben, den er, nachdem er ihre Schuhe und Strümpfe herausgenommen hatte, mit sämtlichem verfügbaren Essen, dem verbliebenen medizinischen Material und der technischen Ausrüstung, die ihnen theoretisch nützlich sein konnte, füllte. »Wir befinden uns in einem bergigen und dicht bewaldeten Terrain mit schlechter Sicht aufgrund der vielen Wolken und der Tatsache, dass es mitten in der Nacht ist«, informierte er sie. »Es scheint sich ein Sturm zusammenzubrauen. Entkleide die Wachen, und zieh dir so viele warme Sachen wie möglich über. Such dir anstelle meiner Jacke eine regenfeste.«

Mit ungewohnt schwerfälligen Bewegungen ging Zaira zu dem Wachmann, den ein Kopfschuss niedergestreckt hatte. Er lag flach auf dem Gesicht, seine Kleidung war fast ohne Blutflecken.

»Hier.« Aden warf ihr aus einer kleinen Metalltruhe, die er hinter der Ecke hervorgezogen hatte, einen olivgrünen Pullover zu. »Sieht so aus, als sei dies ihre Ersatzkleidung.« Er legte seine dünne Jacke ab und zog sich ebenfalls einen olivgrünen Pulli über die nackte Haut, den seine breiten Schultern mühelos ausfüllten, während der ihre ihr viel zu groß war.

Zaira schlüpfte wieder in Adens Lederjacke, über die ohne Probleme noch eine robustere, regenfeste Jacke gepasst hätte. »Hast du irgendwo Schlafsäcke gesehen?«

»Nein. In einem kleinen Raum den Korridor hinunter stehen Pritschen.« Er überlegte kurz. »Ich glaube, ich habe dort eine Jacke gesehen, in der du nicht ertrinkst.«

Zaira begab sich in das Zimmer, während Aden die letzten Vorräte und zusätzliche Munition in den Rucksack packte. Die schwere Kapuzenjacke, die an einem Wandhaken hing, musste dem schmächtigen Aufpasser gehört haben, der Adens Verfolgung aufgenommen hatte. Sie war ihr trotzdem zu groß, aber sie würde damit zurechtkommen. Zaira entdeckte eine weitere dicke, wasserabweisende Jacke, die zusammengeknüllt in der Ecke lag. Sie hob sie auf und schüttelte sie aus, dann suchte sie weiter, bis sie ein Paar Handschuhe gefunden hatte.

Aden war gerade fertig mit Packen, als sie zurückkam. Er bedankte sich mit einem Nicken für die Kleidungsstücke, zurrte die Schnallen des Rucksacks fest und zog die Jacke über. Ihre Sinne gerieten in Alarmbereitschaft, als er gerade den Reißverschluss schloss. »Lass uns verschwinden. Ich höre einen Hubschrauber.«

Aden erhob keine Einwände, beide wussten, dass ihr Gehör schärfer war als seines – eine genetische Eigenart, die ihr bei gefährlichen Einsätzen häufig einen gewissen Vorteil verschaffte. Ihr Vater hatte dieses genetische Erbe einmal einem Gestaltwandler-Vorfahren aus ferner Vergangenheit zugeschrieben. Zaira wusste nicht, ob etwas Wahres daran war, aber sie schätzte die Nützlichkeit dieser Eigenschaft.

Aden schulterte den Rucksack und führte sie nach draußen, wo die Leichen der Wachen lagen, die auf ihn angesetzt worden waren. Ihre Augen starrten in den finsteren Nachthimmel, ihre Gesichter waren bar jeder Farbe. Ohne sie zu beachten, zogen Zaira und Aden sich auf direktem Weg in den Schutz der dunkelgrünen, mit hellen Birken durchmischten Tannen zurück, die sich in alle Richtungen erstreckten. Im Moment war das Sammeln von Informationen nicht so wichtig wie das Überleben.

3

Der Boden, über den sie liefen, war uneben und steinig, die Luft, die Zaira einatmete, kalt, doch sie stach nicht wie ein Messer. Natürlich traf das nur zu, weil sie sich gerade mit einem Energieriegel und den Vitamindrinks gestärkt hatte. Die wahre Prüfung stand ihr in ein oder zwei Stunden bevor, wenn sich der Wundschmerz zurückmeldete. »Der Hubschrauber wird gleich landen.« Sie konnte die Düsen hören, die ihn zu einem Hochgeschwindigkeitstransportmittel machten. »In der Nähe muss eine Lichtung sein.«

»Vermutlich sogar eine natürliche. Um im Fall fremden Überflugs keinen Argwohn zu erregen«, erwiderte Aden, während er sich umsah.

Laute Rufe erschallten kurze Zeit später, doch das Gelände mochte sich zwar gut als Gefangenenlager eignen, für eine Suchaktion war es aufgrund der dichten Bewaldung aber mehr als ungünstig. Vor allem, wenn man Pfeilgardisten jagte. Wäre einer dieser Pfeilgardisten nicht derart schwer verletzt gewesen, dass er mehr eine Bürde war.

»Ich halte dich auf«, sagte Zaira, ihre Atmung war zu hektisch und angestrengt für jemanden mit ihrem Training und Durchhaltevermögen.

Adens Antwort bestand darin, auf etwas zu deuten, das sie vage als fließendes Wasser identifizieren konnte. Ein Fluss. Sie begriff, wandte sich in die angegebene Richtung, und schlitterte den mit blühenden Sträuchern bedeckten Abhang hinab, wobei sie bewusst eine sichtbare Fährte hinterließ. Aden tat dasselbe. Mit etwas Glück würden ihre Verfolger glauben, dass sie beide in den Fluss gestürzt waren.

Sie bewegten sich in gerader Linie auf ihn zu, dann wühlten sie am Ufer das Erdreich auf, um die Illusion zu verstärken, dass der Fluss sie mitgerissen hatte.

»Wenn wir hineinfallen«, sagte sie, »sind wir tot.« Das Wasser toste wie ein Sturzbach, als wäre es durch heftigen Regen am oberen Flusslauf angeschwollen. Nicht einmal der geübteste Schwimmer hätte ihm trotzen können, ohne gegen die Felsen oder die Bäume, die in ihn hineingestürzt waren, geschmettert zu werden. Wenn nicht schon vorher vor eisiger Kälte das Herz versagt hätte.

»Sieh mal, dort.« Aden zeigte auf die Trittsteine, die ihr in der Dunkelheit entgangen waren. Was sie ihm an feinem Gehör voraushatte, machte er durch seine scharfe Nachtsicht wett. Sie waren ein exzellentes Team, wann immer sich die seltene Gelegenheit zu einem gemeinsamen Einsatz bot.

»Wenn wir auf die andere Seite gelangen, haben wir eine weit größere Überlebenschance. Damit werden sie nicht rechnen.«

»Das kann ich aber nicht schaffen.« Zaira wusste, dass ihr Gleichgewichtssinn beeinträchtigt, ihr Körper geschwächt war. Sie brachte derzeit nicht die physischen Voraussetzungen mit, um diese »Brücke« aus Steinen zu überqueren, die dazu noch mit einer dünnen und zweifellos rutschigen grünen Moosschicht überzogen waren. »Schlag du diesen Weg ein, und ich führe sie nach links.«

Aden nahm den Rucksack ab und gab ihn ihr. »Schnall ihn dir um.« Als sie widersprechen wollte, sagte er: »Diesmal bitte keine Diskussion, Zaira.«

»Ich diskutiere nur, wenn du im Irrtum bist.« Gegen jede bessere Einsicht schulterte sie den Rucksack, weil die Zeit gegen sie war. »Du brauchst die Vorräte, denn ich halte nicht mehr lange durch.«

Er wandte ihr den Rücken zu. »Spring rauf.«

»Aden, das ist eine schlechte Entscheidung. Wir werden beide ertrinken.« Die Geräusche ihrer Verfolger wurden lauter. »Geh du allein. Ich werde sie ablenken.«

Er sah über seine Schulter, der Blick seiner warmen braunen Augen war so fest, dass es sich anfühlte, als würde sie von einem schweren Gewicht dort festgehalten, wo sie stand. »Entweder wir gehen beide, oder keiner geht. Entscheide dich.«

»Ich werde deinen Führungsanspruch anfechten, sobald wir hier heraus sind«, drohte sie, bevor sie auf seinen Rücken kletterte, ihm die Beine um die Hüften schlang und die Arme unter seinen hindurchschob, um sich an seinen Schultern festzuhalten.

Sie wusste, dass sie relativ leicht war und nur etwa die Hälfte von Aden wog, doch der Rucksack erhöhte die Last, während er auf Steinen, die nicht unbedingt als Tritte gedacht waren, in finsterer Nacht einen Fluss überquerte. Um ihn nicht aus der Balance zu bringen, konzentrierte sie sich darauf, möglichst entspannt zu sein. Sie atmete die kühle Luft ein und sann über die zahlreichen Möglichkeiten nach, jene zu bestrafen, die sie und Aden in ihre Gewalt gebracht hatten.

Die Wachen waren reine Befehlsempfänger gewesen. Der Drahtzieher war jemand anders.

Aden trat auf den ersten Stein, und sie fühlte, wie er die Muskeln anspannte, um das Gleichgewicht zu halten. Ein zweiter Schritt. Dann ein dritter.

Das Wasser schäumte um die Felsen, während der Fluss mit lautem Getöse an ihnen vorbeirauschte.

Aden schwankte, und sie hielt sich an ihm fest, obwohl ihr Instinkt ihr riet loszulassen, damit er eine größere Überlebenschance hatte. Aber sie kannte Aden. Er würde ihr wieder zu Hilfe kommen. Er würde die idiotische, irrationale, nicht Silentium entsprechende Entscheidung treffen, in diesen reißenden Strom zu springen, und ihr zu Hilfe kommen. Darum würde sie so lange wie möglich bei ihm bleiben, bis es keine andere Option mehr gab und selbst er das einsah.

Nur war sie sich nicht sicher, ob das jemals der Fall wäre.

In dieser Hinsicht war er wirklich ein schlechter Führer – doch genau darum waren ihm die Gardisten so treu ergeben. Sie alle waren Verstoßene in dieser Welt, in ihren Familien. Niemand sonst sorgte sich um ihr Wohlergehen. Silentium hin oder her, es war wichtig, dass Aden diese Rolle übernahm. Vielleicht offenbarte dies einen Defekt tief im Herzen des Programms, oder es war schlichtweg ein Zeichen dafür, dass selbst die Pfeilgardisten eine Seele besaßen.

Auf halbem Weg über den Fluss vernahm sie Rufe, die darauf hindeuteten, dass ihre Verfolger auf die Böschung zusteuerten, die sie und Aden hinabgerutscht waren. »Ich schätze, in zwei Minuten werden sie uns sehen.«

Er antwortete nicht, trotzdem wusste sie, dass er sie gehört hatte.

Nach weiteren vier Steinen erschien das andere Ufer schon näher, als Adens Fuß plötzlich abrutschte. Zaira hätte losgelassen und ihr Glück im Wasser versucht, aber er schloss die Hand um ihren Knöchel. Wortloser Ausdruck dafür, zusammenzubleiben. Wie irrational, dachte sie abermals, als er seine Balance wiederfand und einen Sturz gerade noch abwendete.

Noch zwei Steine.

Die Geräusche waren nun ganz nah, und Lichtkegel zuckten über die Böschung, als sie sich nach hinten umsah.

Aden glitt aus und stürzte auf die Knie … zum Glück am Ufer. Er ließ sich zur Seite fallen, um dafür zu sorgen, dass Zaira neben ihm, anstatt rücklings im Wasser landete. Sie stützte sich auf den Händen auf und spähte zu der Anhöhe hinauf. »Wir müssen uns im Wald verstecken.«

Sie schafften es mit knapper Not. Der Helikopter kreiste über ihnen und suchte das Areal mit Scheinwerfern ab. Sie legten sich flach auf den Boden und häuften Laub auf ihre Körper, um ihre Gestalten unkenntlich zu machen, dann warteten sie.

Zaira hauchte in ihre Hände. Die Handschuhe, die sie in der Jackentasche entdeckt hatte, waren zu groß, aber warm. Sie konnte Aden nicht atmen hören, und für einen Augenblick blieb ihr fast das Herz stehen. Allein, flüsterte das unterentwickelte, mörderische Kind, das sich im dunkelsten Winkel ihres Geists versteckte. Allein. Sie verscheuchte es. Er war einfach nur still, mehr nicht. Aden konnte stiller sein als jeder andere Gardist, den sie kannte, stiller noch als der fähigste Attentäter. Zaira hatte ihn einmal gefragt, wie er das gelernt hatte. Sie würde seine Antwort niemals vergessen.

Als ich Kind war, wiesen meine Eltern mich an, unsichtbar zu sein. So unsichtbar, dass niemals jemand eine Bedrohung in mir sehen und mich schnell vergessen würde.

Zaira begriff nicht, wie irgendjemandem die reine, ungebändigte Kraft, die Aden innewohnte, hatte entgehen können, doch genau das war geschehen. Ming LeBon, ihr ehemaliger Befehlshaber, hatte Aden kaum Beachtung geschenkt, bis er eines Tages erkennen musste, dass dieser nun die Zügel in der Hand hielt und er entmachtet worden war. Nie wieder würde Ming die Pfeilgardisten als sein persönliches Todeskommando missbrauchen, sie benutzen und anschließend liquidieren wie räudige Hunde.

Sie gehörten jetzt zu Aden. Und würden ihm bis ins Fegefeuer folgen.

In diesem Moment glitt der Suchscheinwerfer über sie und bohrte sich in die feuchte, nach Erde und Moder riechende Decke, unter der sie sich verbarg. Der Lichtstrahl verweilte nicht. Die Geräusche des Hubschraubers entfernten sich, als er die Suche stromabwärts fortsetzte und auch die Stimmen ihrer Verfolger, die zu Fuß unterwegs waren, in diese Richtung entschwanden.

»Ich glaube, sie sind weg«, bemerkte sie schließlich.

»Wir müssen trotzdem wachsam bleiben.« Mit äußerster Vorsicht kamen sie aus ihrer Bauchlage hoch, dann griff Aden nach dem Rucksack, den Zaira im Unterholz versteckt hatte, und betrachtete die vereinzelten Sterne, die sich hinter einem schmalen Riss in den Wolken zeigten. »Wir sind in der nördlichen Hemisphäre.«

Nachdem dort Frühling war, mussten sie sich entweder in großer Höhe oder in einer der generell kalten Gegenden wie Alaska befinden. »Kannst du den Ort genauer bestimmen?«

»Nein, aber das hier vielleicht.« Er nahm ein kleines Instrument aus dem Rucksack, dann hielt er inne, ohne es anzuschalten. »Es könnte ein Peilsender darin sein, der dem Suchtrupp unsere Position verrät.«

»Verwende es nicht«, warnte Zaira ihn. »Das Risiko überwiegt den Nutzen. Tatsächlich solltest du alle Geräte zurücklassen. Womöglich haben sie noch nicht daran gedacht, aber falls sie mit Sendern ausgestattet sind, könnten sie sie aus der Ferne aktivieren.«

Aden brachte die ganze Technik, die sie so weit getragen hatten, ans Flussufer und warf sie ins Wasser. »Wie gut kennst du dich mit Astronomie aus?«

»Nicht besonders gut. Mir stand ja stets das Medialnet als Bezugssystem zur Verfügung.« Unbegrenzte Datenmengen flossen durch das geistige Netzwerk. »Und nach meiner Abkehr konnte ich telepathisch Kontakt zu anderen aufnehmen, um eine Position zu lokalisieren.« Zaira hatte sich fünf Jahre und acht Monate tot gestellt, um gebrochenen und verbrauchten Pfeilgardisten, deren Hinrichtungsbefehle Ming unterzeichnet hatte, einen sicheren Hafen zu bieten, doch jetzt brauchte das Netz sie lebend und als Teil davon. Ein Großteil der Truppe in Venedig hatte sich zusammen mit ihr wieder ins Medialnet eingespeist, nachdem ihnen keine Gefahr mehr von Mings Killern und medizinischen Helfershelfern drohte.

Es war eine merkwürdige Heimkehr gewesen, nachdem die ehemals tiefschwarze, kahle Weite des Netzes nun von einem filigranen Muster goldener Linien durchzogen war, erschaffen von den Empathen, deren Präsenz das Volk der Medialen vor einer tödlichen Seuche schützte. Binnen eines Wimpernschlags hatte sich ihre Welt von einem kleinen, eingeschränkten Netzwerk, bei dem sie sich immer wieder ins Bewusstsein rufen musste, dass es kein Käfig war, in etwas Unendliches, Grenzenloses verwandelt.

Sie hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Jahren wieder Luft zu bekommen.

Infolge ihres Beitrags zum Schutz der E-Kategorie, der Hand in Hand damit einhergegangen war, Umgang mit ihnen zu haben, und der daraus resultierenden Wechselwirkung, hatte sich ihr eine dieser zarten goldenen Linien entgegengestreckt, und Zaira hatte trotz ihrer instinktiven Abwehrreaktion zugelassen, dass sie sich mit ihr verband. Sie verspürte nicht das Bedürfnis, dem Wahnsinn zu verfallen und Schaum vor dem Mund zu haben als Folge der Infektion, die beinahe das Netz zerstört hätte, bevor die Empathen das Wabenmuster erschaffen hatten.

Sich diese Wabenstruktur als einen schützenden Panzer vorzustellen half ihr dabei, sie zu akzeptieren. Das Wissen, dass der Empath am anderen Ende über keinerlei Überlebensfertigkeiten verfügte, trug sein Übriges dazu bei. Zaira lief eher Gefahr, bei lebendigem Leib von Blatthornkäfern gefressen zu werden, als einen Angriff von einem E-Medialen befürchten zu müssen, dessen Gabe mit dafür sorgte, das schützende Netz zu stützen.

»Sag es mir, wenn dich die Kraft verlässt.« Aden schulterte wieder den Rucksack. »Im Dunkeln können wir sowieso keine weite Strecke zurücklegen, schon gar nicht ohne Orientierungspunkt.«

Zaira wusste, dass sie, wäre sie unverletzt, immer weitermarschiert wären. »Ich bin dafür, dass wir mehr Abstand zwischen uns und unsere Verfolger bringen.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, umgeben von Bäumen, deren Unterholz aus dichtem Gestrüpp bestand – unter dem sich scharfkantige Steine verbargen, denen sie auszuweichen versuchten –, sodass sie zwangsläufig eine Spur hinterließen. Aden blieb schließlich als Erster stehen. »Sieh nur.«

Zaira folgte der Richtung seines Arms, dabei kniff sie die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Ist das eine Höhle?« Es war mehr ein schartiger Spalt in der Felswand, aber als sie sich hindurchzwängten, stellten sie fest, dass er groß genug für sie beide war. Doch kaum waren sie im Inneren, schüttelten sie beide gleichzeitig den Kopf und zogen sich wieder zurück. Dieses Loch bot Schutz, gleichzeitig konnte es aber auch zu einer Falle werden.

Stattdessen bauten sie sich angesichts des immer dunkler bewölkten Himmels schließlich einen zeltartigen Unterschlupf an der Wurzel eines Mammutbaums, für den sie Äste von einer nahe stehenden Tanne brachen. Zaira aß die Energieriegel, die Aden ihr reichte, dabei vergewisserte sie sich, dass er seine Ration ebenfalls verzehrte und einen der Nährstoffdrinks aus dem Erste-Hilfe-Kasten zur Hälfte leerte.

»Tot oder unterkühlt nützt du mir nichts«, kommentierte sie, als er ihn ihr zurückgeben wollte. »Trink aus.«

Aden füllte die Flasche an einem nahen Bach mit Wasser, verstaute sie wieder im Rucksack und legte sich neben Zaira. Dicht aneinandergeschmiegt in ihrem engen Versteck, das sie extra so konzipiert hatten, um für größtmögliche Wärme zu sorgen, fragte sie: »Wie haben sie dich erwischt?« Aden war ebenso erfahren wie sie, und obwohl in einem Zweikampf von ihr mehr Gefahr ausging, war er der bessere Taktiker. Niemand hätte imstande sein dürfen, ihn zu überlisten.

»Es war ein Blitzangriff. Vier Männer attackierten mich auf einer Straße in der Stadt, als ich für einen Moment den Augen der Öffentlichkeit entzogen war. Sie waren mit Betäubungspistolen bewaffnet. Einer hat mich ins Gesicht getroffen.«

Was den größer werdenden Bluterguss an seinem rechten Jochbein erklärte. »Sie hatten vor deinen Fähigkeiten mehr Respekt als vor meinen.«

»Das ist es, was dich so gefährlich macht. Die Leute sehen in dir zuerst die Frau und erst an zweiter Stelle die Soldatin.«

»Früher empfand ich meine Figur als Nachteil, bis mir klar wurde, welche Wirkung sie auf Männer hat.« Mit ihren knapp eins sechzig war sie relativ klein und trotz ihrer stählernen Kraft eher kurvenbetont als schmal. »Jetzt benutzte ich sie als Tarnung.« Sie war das weiche, nicht bedrohliche Futteral einer rasiermesserscharfen Klinge, die einem ohne Zögern den Hals durchschneiden konnte.

»Das ist gut.« Aden fühlte ihre Stirn. »Deine Temperatur ist leicht erhöht. Ruh dich aus.«

Zaira war erschöpft von dem Dauerschmerz in ihren inneren Organen. Sie musste zu Kräften kommen, um Aden unterstützen zu können, daher willigte sie ohne Widerrede ein. »Wirst du die erste Wache übernehmen?«

Als er nickte, schloss sie die Augen und überließ sich dem Schlaf. Denn Aden war der Einzige auf dem ganzen Planeten, von dem sie wusste, dass er ihr niemals ein Leid zufügen würde. Er war zu irrational, um aus ihrer Sicht vernünftig zu sein.

4

»Ist das erwiesen? Die Pfeilgardisten sind entwischt?« Das war das Letzte, was die Organisation brauchen konnte.

»Sie werden nicht weit kommen«, entgegnete der Mann mit den grobschlächtigen Zügen, der den Reinigungstrupp befehligte. »Dem Bericht zufolge, den wir erhielten, bevor alles den Bach runterging, ist zumindest die Frau schwer verletzt. Wir fanden eine blutdurchtränkte Bandage. Sie wird bald sterben und uns die Mühe ersparen, sie zur Strecke zu bringen.«

»Pfeilgardisten besitzen keinen Kameradschaftsgeist.« Diese Elitetruppe von Auftragskillern setzte sich aus hochintelligenten, erstklassig ausgebildeten Bestien zusammen, die alles tun würden, um eine Mission erfolgreich zum Abschluss zu bringen – oder eine Gefangennahme zu überleben. Die Frage, ob sie einen verwundeten Gefährten zurücklassen würden, stellte sich nicht. »Die Bergung ihres Leichnams hat keine Priorität.« Zaira Neve war nun nicht mehr von Nutzen. »Konzentriert euch auf Aden Kai.«

Der Menschenmann auf dem Monitor kaute seinen Tabak, auf den er so versessen war, dann spuckte er das gelbbraun Durchkaute in einem ekelerregenden Strahl aus. »Nun, er wird ebenfalls nicht lange überleben. Eine massive Sturmfront wird in Kürze auf die Berge treffen, und es gibt für ihn kein Entkommen.«

Das zumindest entsprach der größten Wahrscheinlichkeit. Die Gruppe hatte sich nicht zuletzt wegen seiner Unzugänglichkeit für den Standort entschieden. »Suchen Sie weiter nach ihm.« Der einzige sichere Beweis für den Tod eines Pfeilgardisten war sein Leichnam.

»Das werde ich, doch ich muss wissen, ob ich berechtigt bin, ihn gegebenenfalls zu liquidieren.«

»Ja, aber nur, wenn Sie ihn nicht lebend ergreifen können.« Einmal gebrochen, konnte Aden Kai spionagetechnisch von unschätzbarem Wert sein. »Greifen Sie nicht auf die Notfalllösung zurück. Noch nicht.«

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten«, antwortete das tabakkauende menschliche Wesen, »aber ich habe die strikte Anweisung, bei dieser Art von Entscheidung nur Befehle von der gesamten Gruppe entgegenzunehmen, niemals von Ihnen allein.«

Es blieb keine Zeit für ein Gruppentreffen, aber er hatte recht. Diese wegweisende und brillante Organisation funktionierte nur auf der Basis, dass jedes Mitglied gleichgestellt war. Diese Ebenbürtigkeit war eine sorgfältig ausgeklügelte Illusion, doch der Glaube daran war für ihr angestrebtes Ziel unerlässlich. »Die anderen werden Sie innerhalb der nächsten fünf Minuten kontaktieren.«

Es würde keine Uneinigkeit geben, nicht in diesem Punkt. Wenn es die Entscheidung zwischen einem lebenden, nach Rache dürstenden Pfeilgardisten und einem toten zu treffen galt, stand das Ergebnis fest. Sollte Aden Kai zu einem Problem werden, würde die Organisation mit dem Datenverlust leben, die Pläne entsprechend ändern und sich der Situation anpassen.

Anpassung war der Schlüssel zum Erfolg.

5

Zairas Atemzüge verrieten Aden, dass sie in einen tiefen Schlaf gefallen war. Als er nach etwa einer Stunde ihre Haut befühlte, war sie nicht mehr ganz so klamm. Obwohl sie in einer kühlen Region waren und der Wind immer beißender wurde, hatten sie warme Kleidung und genügend Essen, um einen weiteren Tag zu überstehen. Danach würde es schwierig werden, und Zaira war infolge des Blutverlusts schon jetzt bedenklich schwach.

Er vergewisserte sich, dass die Kapuze ihrer Jacke ihren Kopf bedeckte, dann schmiegte er sich eng an sie, um ihr Wärme zu spenden. Sein Geist war wachsam, doch man hatte ihn in Ketten gelegt, die genauer zu prüfen er sich strikt untersagte. Es widersprach seinem Instinkt, aber er durfte nicht riskieren, einen Schaden anzurichten, der ihn schwächen konnte – seine medizinischen Kenntnisse sagten ihm, dass die wie auch immer gearteten Implantate in ihren Köpfen instabil waren.

Eine derart fortschrittliche Technologie konnte im Untergrund entwickelt worden sein, aber die Pfeilgarde operierte im Dunkel, sie arbeitete in eben diesem Untergrund. Sie hätten Hinweise bekommen, wenn dies ein Langzeitprojekt gewesen wäre. Nein, er hatte vielmehr den Verdacht, dass dieses Implantat eine teuflische Kombination aus dem Implantat des Menschenbundes war, mit dem er sich gegen geistige Übergriffe schützte, und Ashaya Aleines Implantat zur Erschaffung eines kollektiven Gehirns, welches sie entwickelt hatte, als sie unter der Kontrolle des Rats stand.

Ihre Forschung war zerstört worden, größtenteils von Aleine selbst, doch es war möglich, dass jemand, bevor sie den roten Knopf gedrückt hatte, einen Prototyp herausschmuggeln oder sich gründlich Einblick in ihre Arbeit verschaffen konnte, um sie anschließend zu rekonstruieren, mit dem Implantat des Menschenbunds zu koppeln und damit diesen geistigen Lähmungseffekt zu erzielen.

Sollte seine Hypothese zutreffen, konnten die Implantate in seinem und in Zairas Kopf nicht von derselben Perfektion sein wie die Originale. Aden hatte allen Grund zu der Annahme, dass Ashaya Aleine auch dem Menschenbund dabei geholfen hatte, sein Implantat zu entwickeln. Sie besaß eine Genialität, die ihresgleichen suchte, und arbeitete mit ihrer gelegentlich psychotischen, aber durch und durch brillanten Zwillingsschwester zusammen. Es war eine Herausforderung für jedes Labor auf der Welt, noch einmal ein solches Team mit diesen kombinierten Fähigkeiten zu finden.

Es bestand die winzige Chance, dass er sich täuschte und es sich um eine eigenständige Kreation handelte, aber wenn er recht behielt, verfügten diese Implantate – genau wie die Originale des Menschenbunds – über einen ferngesteuerten Selbstzerstörungsmechanismus. Dementsprechend waren ihre Kidnapper in der Lage, sie aus großer Distanz töten. Sollte das zutreffen, war er vermutlich nur noch am Leben, weil sie geheime Informationen aus ihm herauspressen wollten.

Zaira hingegen …

Er setzte sich auf und betrachtete sie. Man hatte sie nur deshalb entführt, weil man sie für eine Schwachstelle in seinem Panzer hielt. Das hatte ihr bisher das Leben gerettet, aber es würde nicht von Dauer sein. Möglicherweise gingen ihre Entführer davon aus, dass sie bereits tot war, doch wenn sie keinen Leichnam fanden, würden sie vermutlich zur Sicherheit den Fernzünder betätigen. Sie würde in Sekundenschnelle sterben, es sei denn, sie wäre außer Reichweite. Dasselbe galt für ihn. Sie wollten ihn lebend, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt.

Niemand war so dumm, einen Pfeilgardisten zu verletzen und ihn anschließend freizulassen, damit er Vergeltung üben konnte.

»Zaira.«

Sie erwachte schnell und lautlos, wie es sich für ein Mitglied der Truppe gehörte. »Ja?«

»Wir müssen weiter.« Aden erläuterte ihr den Grund, während sie sich aufrichtete; ein geringfügiges Stocken ihres Atems war das einzige Indiz, dass sie Schmerzen litt.

Erst eine Stunde später, als sie gerade ein weites, baumloses Feld überquerten, das nur von knöchelhohen Stauden oder Gräsern, an denen kleine weiße Blüten wuchsen, überwuchert war, stellte er fest, dass mit Zaira etwas nicht stimmte. »Wie fühlst du dich?«

Sie blieb stehen und sah ihn an. »Ich habe große Schmerzen, und mir ist ein wenig schwindlig.« Ihr Atem ging schwer, und um ihre weichen Lippen zogen sich weiße Linien. »Ich werde nicht mehr viel länger durchhalten.«

Aden wusste, was sie ihm damit sagen wollte: Er sollte tun, was die Pflicht eines Pfeilgardisten war, und die rationale Entscheidung treffen, sie zurückzulassen. Er hob ihr Kinn an und erwiderte: »So sind wir heute nicht mehr. Wir sind mehr als eine Armee von Attentätern, darauf programmiert, zu töten und zu sterben. Wir geben die Schwachen und Verletzen nicht auf. Und wir lassen die unsrigen niemals zurück.« Das, beschloss er in diesem Moment, würde das neue Motto der Truppe sein und bereits jedem Auszubildenden der Pfeilgarde eingeimpft werden. Kein Pfeilgardist ist ersetzbar. Kein Pfeilgardist darf zurückgelassen werden.

Zaira hielt seinem Blick lange stand, dabei warfen ihre dichten Wimpern Schatten über ihre samtschwarzen Augen. »Du hast dich verändert«, stellte sie fest. »Du warst nie in Silentium, aber du hast zusätzlich eine Wandlung durchgemacht.«

Aden widersprach nicht, denn sie hatte recht. Das Band zwischen Vasic und Ivy zu berühren hatte ihn auf einer fundamentalen Ebene transformiert. Sein Kollege bei der Pfeilgarde, der zugleich sein bester Freund war, hatte ihm erlaubt, durch seine Schilde zu gelangen und die von schimmernder Energie durchdrungenen, lichtdurchlässigen und dennoch unzerstörbaren Fäden zu sehen, die Vasic an seine Empathin banden. Er hatte ihm gestattet, einen der Fäden anzufassen und die kraftvollen Gefühle zu spüren, die ihn und Ivy wie in einem kunstvollen, sehr persönlichen Wandteppich verknüpften.

Aden wusste nicht, ob es daran lag, dass Vasic ihn so nahe an sich herangelassen hatte oder weil er wie ein Bruder für ihn war, jedenfalls hatte er bei der Berührung ihres Bandes heftige Gefühle verspürt, die gleichermaßen schmerzhaft und wundervoll gewesen waren. Eine Messerklinge, die durch seine Muskeln und Knochen, durch sein Herz schnitt, bis er blutete. »Vasic hat mich durch seine Schilde gelassen«, erklärte er Zaira. »Nach seiner Bindung.«

Sie erstarrte. »Wie war es?«, flüsterte sie.

»Ich kann es nicht beschreiben.« Ein schlummernder Teil von ihm war durch den Kontakt erwacht und sehnte sich seither nach diesem Zugehörigkeitsgefühl, das er bei Vasic wahrgenommen hatte. Als wüsste Vasic, dass Ivy immer an seiner Seite wäre, was immer auch passierte, selbst wenn die Welt unterging. Aden wünschte sich das auch für sich. Nicht sofort, solange ihn noch so viele seiner Leute als ihren Führer brauchten, alleinstehend und stark, doch irgendwann in der Zukunft wollte er eine solche intime und vollkommene Verbindung mit jemandem eingehen. »Doch auch vor dieser Erfahrung hätte ich dich nicht zurückgelassen. Das weißt du.«

»Du musst weitergehen.« Zaira verschloss ihm den Mund mit ihrer Hand, als er widersprechen wollte. »Hör mir zu. Wenn du es tust, besteht die Chance, dass du jemanden findest, der uns hilft. Wir werden es nicht halb so weit schaffen, wenn ich dich behindere.«

Sobald sie die Hand wegnahm, schlang er den Arm um ihre Hüfte und setzte sich mit ihr in Bewegung. Sie ließ es widerwillig geschehen. »Aden.«

»Glaubst du wirklich, ich würde ohne dich weitergehen, in dem Wissen, dass ich dich damit zu einem einsamen Tod in dieser bitterkalten Nacht verurteile?«