Gilde der Jäger - Engelskrieger - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelskrieger E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Als ein abgetrennter Kopf mit einer Tätowierung auf der Wange gefunden wird, nimmt die Jägerin Honor die Ermittlungen auf. Dabei begegnet ihr der verführerische Vampir Dmitri, der die rechte Hand eines Erzengels ist. Dmitris gefährliche Sinnlichkeit weckt ungeahnte Gefühle in Honor. Doch dann wird sie von den Schrecken ihrer Vergangenheit eingeholt ...

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Inhalt

Titel

Danksagung

Vor Isis

1

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Impressum

NALINI SINGH

GILDE DER JÄGER

Engelskrieger

Roman

Ins Deutsche übertragen von Cornelia Röser

Dieses Buch zu schreiben,

war eine wundervolle Reise, nicht zuletzt wegen

der großartigen Menschen, die mich dabei begleitet haben. Vielen Dank jedem einzelnen von euch!

Vor Isis

»Papa! Papa!«

»Uff, Mischa!« Er fing seinen Sohn auf, als der aufgeregte kleine Junge den verwilderten Pfad hinuntergerannt kam, hielt ihn auf dem Arm – der von der Arbeit auf den Feldern braun, voller Narben und muskulös war – und sagte: »Womit hat Mama dich denn gefüttert?«

Ein glucksendes Lachen seines Sohnes in dem sicheren Wissen, dass sein Vater ihn nicht fallen lassen würde. »Hast du mir was Süßes mitgebracht?«

»Ich habe auf dem Nachhauseweg Hunger bekommen«, neckte er ihn. »Ich fürchte, ich habe es selbst gegessen.«

Mischas Stirn legte sich in Falten, seine dunklen Augen blickten aufmerksam … und dann lachte er wieder, ein unbändiges, tiefes Lachen für einen solch kleinen Jungen. »Papa!« Er durchsuchte die Hemdtaschen seines Vaters und stieß ein triumphierendes Gebrüll aus, als er das kleine, eingewickelte Päckchen fand.

Über die Freude seines Sohnes lächelnd, sah er auf und erblickte sie in der Tür. Seine Gemahlin. Mit ihrer neugeborenen Tochter auf dem Arm. Beinahe schmerzhaft zog sich sein Herz zusammen. Manchmal hatte er das Gefühl, sich dafür schämen zu müssen, seine Frau und seine Kinder so sehr zu lieben, dass die wenigen Tage, an denen er auf die Märkte der Umgebung musste, zu einer Qual wurden … aber dann wieder fand er seine Liebe genau richtig.

Wenn andere Männer sich über ihre Ehefrauen beschwerten, lächelte er nur und dachte an die Frau mit den schräg stehenden Augen und dem großen Mund, die auf ihn wartete. Ingrid mochte ihren Mund nicht, sie wollte einen kleinen Amorbogen wie die Nachbarsfrau auf der anderen Seite der Felder, aber er liebte ihr Lächeln, liebte den schiefen Vorderzahn und die Art, wie sie zu lispeln begann, wenn er sie überredete, zu viel von dem weißen Feuer zu trinken, das der Sohn dieser Nachbarin braute.

Jetzt stellte er seine Tasche vor der Tür ab und legte die Hand an ihre Wange. »Sei gegrüßt, meine Gemahlin!«

»Du hast mir gefehlt, Dmitri.«

1

Auf dem Betonpier hockend, der nur vom matten gelben Licht einer flackernden Straßenlaterne beleuchtet wurde, griff Dmitri in das feuchte Haar des toten Mannes, um den abgetrennten Kopf zu sich umzudrehen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, Handschuhe anzuziehen. Elena hätte diesen Verstoß gegen die ordnungsgemäße forensische Vorgehensweise sicher nicht gebilligt, dachte er, doch die Jägerin war zurzeit in Japan und würde die nächsten drei Tage nicht in die Stadt zurückkehren.

Der Kopf des Opfers war mit groben Schnitten von seinem Körper – den man bisher noch nicht gefunden hatte – abgetrennt worden, die Waffe war vermutlich eine Art kleine Axt. Keine saubere Arbeit, aber erfolgreich. Die Haut, die zu Lebzeiten entweder rosa oder weiß gewesen zu sein schien, war aufgedunsen und vom Wasser aufgeweicht, doch der Fluss hatte noch nicht genug Zeit gehabt, sie zu Schleim zu zersetzen.

»Ich hatte gehofft«, sagte er zu dem blau geflügelten Engel, der auf der anderen Seite des grausigen Fundes stand, »wir würden ein paar ruhige Wochen vor uns haben.« Das Wiederauftauchen des weiblichen Erzengels Caliane, der über tausend Jahre lang für tot gehalten worden war, hatte sowohl die Welt der Engel als auch die der Vampire erschüttert. Selbst die Sterblichen spürten etwas, doch sie wussten nichts von den tiefgreifenden Veränderungen im Machtgefüge des Kaders der Zehn, jener Erzengel, die die Welt regierten.

Denn Caliane war nicht einfach nur alt, sie war eine Uralte.

»Ruhe würde dich langweilen«, sagte Illium, der ein dünnes Silbermesser spielerisch zwischen seinen Fingern kreisen ließ. Er war am Vortag vor Raphael und Elena aus Japan zurückgekehrt, und man sah ihm nichts mehr davon an, dass er entführt worden und in einem Kampf unter Erzengeln zwischen die Fronten geraten war.

Dmitri spürte, wie sich seine Mundwinkel hoben. Der Engel mit den silberbehauchten blauen Flügeln und den goldenen Augen hatte leider recht. Der Langeweile, die so viele der Unsterblichen befiel, war Dmitri aus dem einfachen Grund noch nicht erlegen, weil er niemals zum Stillstand kam. Sicher würde manch einer sagen, er tendiere zum anderen Extrem – in der Gesellschaft derer, die nur für die maßlose Freude an Blut und Schmerzen lebten, waren alle anderen Empfindungen abgestumpft.

Der Gedanke hätte ihn beunruhigen müssen. Dass das nicht der Fall war …das beunruhigte ihn. Doch sein unaufhaltsamer Abstieg in die verführerische rubinrote Dunkelheit hatte nichts mit der aktuellen Situation zu tun. »Er hat Ansätze von Reißzähnen.« Die kleinen, unfertigen Vorderzähne wirkten fast durchsichtig. »Aber er ist keiner von uns.« Dmitri kannte den Namen und das Aussehen jedes Vampirs, der in und um New York lebte. »Und er passt auch auf keine der Beschreibungen von den Erschaffenen, die im weiteren Umkreis vermisst werden.«

Illium balancierte sein Messer auf der Fingerspitze, der gelbe Schein der Straßenbeleuchtung wurde darauf in einem überraschenden Lichtfunken reflektiert, bevor der Engel es wieder durch seine Finger kreisen ließ. »Er könnte jemand anderem gehören und versucht haben, seinem Vertrag zu entkommen, und dadurch in Schwierigkeiten geraten sein.«

Da es immer Idioten gab, die versuchten, sich vor ihrem Teil der Abmachung zu drücken – hundert Jahre im Dienst der Engel im Tausch gegen das Geschenk der Beinahe-Unsterblichkeit – war das sehr wahrscheinlich. Doch warum ein Vampir ausgerechnet nach New York kommen sollte, wo ein Erzengel lebte und eine mächtige Gilde von Jägern diejenigen einfing, die sich zum Davonlaufen entschlossen, war unerklärlich.

»Familienbande«, sagte Illium, als hätte er Dmitris Gedanken gelesen. »Junge Vampire neigen dazu, mit ihren sterblichen Wurzeln in Verbindung zu bleiben.«

Dmitri dachte an die eingestürzte, ausgebrannte Ruine eines Hauses, die er Tag für Tag und Nacht für Nacht besucht hatte, bis so viele Jahre vergangen waren, dass nichts mehr auf den kleinen Hof hindeutete, der dort einst gestanden hatte. Nur das Land war geblieben, bedeckt mit einem Blumenteppich, und es war Dmitris Land, würde es immer sein. »Wir arbeiten schon zu lange zusammen, Glockenblümchen«, sagte er. Seine Gedanken weilten in jener windgepeitschten Ebene, wo er einst mit einer lachenden Frau in seinen Armen getanzt hatte, während ein Junge mit strahlenden Augen in die Hände klatschte.

»Das sage ich auch immer«, gab Illium zurück. »Aber Raphael weigert sich, dich rauszuwerfen.« Das silberne Messer blitzte schneller und schneller. »Was hältst du von der Tinte?«

Dmitri erhob sich und drehte den Kopf des Mannes auf die andere Seite. Die Tätowierung oben auf dem linken Wangenknochen des toten Mannes – schwarze Zeichen, die an Buchstaben des kyrillischen Alphabets erinnerten, verwoben mit drei sanft geschwungenen Sätzen in einer Schrift, die Aramäisch sein konnte – war sowohl komplex als auch ungewöhnlich … und doch wollte irgendetwas daran Dmitri nicht mehr aus dem Sinn gehen.

Er hatte das oder etwas Ähnliches schon einmal gesehen, aber er lebte schon seit fast einem Jahrtausend, und die Erinnerung war schwächer als ein Schatten. »Das müsste seine Identifikation erleichtern.« Das Licht glitzerte auf diesen kleinen Reißzähnen. Und dann fiel ihm auf, was er auf den ersten Blick übersehen hatte. »Wenn seine Zähne noch nicht ausgewachsen sind, dürfte er noch gar nicht hier draußen sein.«

In den ersten paar Monaten nach ihrer Erschaffung waren Vampire kriechende Geschöpfe, kaum mehr als Tiere, während sich das Gift, das die Sterblichen in Vampire wandelte, durch ihre Zellen arbeitete. Viele entschieden sich dafür, die Umwandlung bis auf einige notwendige Phasen des Wachseins in einem künstlichen Koma zu durchlaufen. Dmitri hatte die Monate nach seiner brutalen Wandlung in Eisenketten an einen kalten Steinfußboden gefesselt verbracht. Er erinnerte sich an kaum etwas aus dieser Zeit, bis auf den eisigen Boden unter seinem nackten Körper, die mitleidlosen Fesseln an seinem Hals, seinen Hand- und Fußgelenken.

Doch was danach gekommen war, als er als Beinahe-Unsterblicher erwacht war … das würde er niemals vergessen. Nicht einmal, wenn er zehntausend Jahre leben würde.

Wildes Blau in seinem Blickfeld, das flackernde Gelb ließ die glimmenden Silberfäden in Illiums Federn wie poliertes Zinn erscheinen. »Die Gilde hat Datenbanken«, sagte der Engel, legte die Flügel zusammen und steckte im gleichen Moment das Messer weg.

»Ja.« Dmitri hatte Mittel und Wege, selbst ohne die Kooperation der Gilde auf diese Datenbanken zuzugreifen, und hatte das bei früheren Gelegenheiten auch schon getan. Doch in diesem Fall schien es ein klügerer Zug zu sein, die Gilde hinzuzuziehen, damit sie ihn bei ähnlichen Vorfällen benachrichtigen konnten – denn seine von fast tausend Jahren des blutigen Überlebens geschärften Instinkte sagten ihm, dass er diese Sache selbst erledigen musste, anstatt sie an die Gilde zu übergeben. »Wo ist die Tüte?«

Illium zauberte einen schwarzen Müllsack hervor und hob eine Augenbraue. »Dachte ich mir doch, dass Elena dir in der Zwischenzeit etwas beigebracht hat.«

Unerwartet ernst sah ihn der Engel aus seinen goldenen Augen unter schwarzen Wimpern an, die ebenso wie seine Haare blaue Spitzen hatten. »Glaubst du, ich werde wieder fallen, Dmitri?« In seiner Stimme schwang Erinnerung und das Flüstern von Schmerz mit. »Meine Flügel verlieren?«

Die Frage überraschte Dmitri nicht. Illium gehörte nicht zuletzt wegen seines messerscharfen Verstandes zu Raphaels Sieben, den Engeln und Vampiren, die ihr Leben dem Erzengel verschrieben hatten. Jetzt fing er dessen außergewöhnlichen Blick auf. »Du siehst sie an, wie kein Mann eine Frau ansehen sollte, die zu einem Erzengel gehört.« Illium hatte eine Schwäche für Sterbliche, und obwohl Elena jetzt ein Engel war, hatte sie ein verwundbares, menschliches Herz und war in ihrer Denkweise sterblich geblieben.

Der blau geflügelte Engel schwieg, während Dmitri den abgetrennten Kopf in den Plastiksack steckte. Es gab hier keine weiteren Beweise zu sichern – der Kopf war auf dem Hudson getrieben, und Illium hatte ihn entdeckt und geborgen, als er über den Fluss geflogen war, kurz bevor die Nacht die letzten Sonnenstrahlen verschluckte. Er hätte von überall her kommen können.

»Sie fasziniert mich«, gab Illium schließlich zu. »Aber sie gehört dem Sire, und ich würde diese Beziehung mit meinem Leben beschützen.« Still, leidenschaftlich, absolut.

Dmitri hätte es dabei bewenden lassen können, doch hier ging es um mehr als nur eine gefährliche Anziehung. »Ich mache mir nicht um einen Betrug Sorgen, sondern um dich.«

Ein launischer Wind wehte Illium das Haar ins Gesicht, bevor er sich wieder legte. »In Amanat« – er sprach von der jüngst auferstandenen verlorenen Stadt – »sagte Elena, sie brauche mich, damit ich sie vor dir beschütze.« Ein mattes Lächeln. »Es war als Scherz gemeint, aber es schadet ihr nicht, jemanden an ihrer Seite zu wissen.«

Dmitri ging nicht auf Illiums Beurteilung seiner eigenen Gefühle gegenüber der Gildenjägerin ein, die Raphaels erwählte Gemahlin war. »Bist du sicher, dass sie ihm bei Lijuans Angriff das Leben gerettet hat?« Illiums Bericht kam ihm nicht ganz plausibel vor, und doch hatte Raphael selbst einiges davon bestätigt, als der Erzengel kurz nach Calianes Wiedererwachen mit Dmitri in Verbindung getreten war.

»Die Wahrheit kennt nur Raphael, aber ich weiß, was ich gesehen habe.« Illiums Züge wirkten angespannt bei dieser Erinnerung. »Er lag im Sterben, und dann lebte er wieder – und die Flamme in seinen Händen loderte in den Farben der Morgendämmerung.«

Die gleichen zarten Töne, die einen Teil von Elenas Flügeln färbten.

Dmitri blieb misstrauisch. Elena war die Schwächste unter den Engeln, ihr sterbliches Herz war nicht annähernd stark genug, um in der Welt der Erzengel überleben zu können. »Sie ist zu einer dauerhaften Schwachstelle in seiner Abwehr geworden.« Als Raphaels Stellvertreter würde Dmitri so jemanden niemals gutheißen, doch er hatte geschworen, sie zu beschützen, und er würde sich an diesen Schwur halten bis zum bitteren Ende, koste es, was es wolle.

»Gab es denn niemals eine Frau für dich, die eine solche Schwachstelle war?« Eine von Illiums Federn fiel zu Boden, doch sie wurde über das Wasser davongetragen, bevor sie auf dem erbarmungslosen Beton aufkommen konnte. »In all den Jahren, die ich dich kenne, hattest du nie eine Geliebte, mit der du es wirklich ernst gemeint hast.«

»Ich werde nach dir Ausschau halten, Dmitri.«

Während Dmitri seit fast tausend Jahren lebte, war Illium kaum älter als fünfhundert. Er wusste nichts von dem, was sich davor zugetragen hatte – das wusste allein Raphael. »Das stimmt«, sagte Dmitri, und er sprach diese Lüge mit jahrhundertelanger Übung aus. »Schwachheiten bringen einen Mann um.«

Als sie den feuerroten Ferrari erreichten, auf den Illium versessen war, den er wegen seiner Flügel jedoch nicht fahren konnte, stieß der Engel hörbar seinen Atem aus und sagte: »Verliere deine Menschlichkeit nicht, Dmitri. Sie ist es, die dich ausmacht.« Er breitete seine unmöglich schönen Flügel aus und erhob sich mit einer Anmut und Kraft in die Luft, die von dem kündete, was eines Tages aus ihm werden mochte.

Der Engel flog in den sternenbesetzten Himmel Manhattans, einer Stadt, die langsam zum dunklen Herzschlag der Nacht erwachte, bis er nur noch ein dahingleitender Schatten vor dem glitzernden Schwarz war. Während Dmitri ihm nachsah, verzog sich sein Mund zu einem grimmigen Lächeln. »Ich habe meine Menschlichkeit schon vor langer Zeit verloren, Glockenblümchen.«

In den unterirdischen Tiefen unter dem Hauptgebäude der Gilde-Akademie starrte Honor auf einen illuminierten Text aus dem vierzehnten Jahrhundert, der von einem legendären Jäger und Entdecker namens Amadeus Berg handelte, als ihr Handy klingelte. Aufgeschreckt durch den plötzlichen Lärm, nahm sie es vom Tisch, wo sie es neben ihrem Schlüssel abgelegt hatte. »Sara?«, sagte sie, da sie die auf dem Display aufleuchtenden Zahlen als die Handynummer der Gildedirektorin erkannt hatte.

»Honor.« Forsch. Gradlinig. Sara. »Wo bist du?«

»Abteilung für seltene Bücher in der Akademiebibliothek.«

Mit ihrer schwachen Beleuchtung und der präzise eingehaltenen Raumtemperatur aus Rücksicht auf das Alter der hier aufbewahrten Bücher war diese Abteilung eine Zufluchtsstätte für sie geworden, ein Ort, an den sich nur wenige wagten.

»Gut. Du bist nicht zu weit weg.« Das Rascheln von Papier. »Der Turm hat unseren Rat angefordert, und du bist besonders gut qualifiziert. Wenn du …«

Sie hörte die restlichen Worte der Direktorin nicht mehr, weil ihr das Blut in einem donnernden Sturm durch die Ohren rauschte und ihr Gesicht so heiß wurde, dass sie glaubte, ihre Haut würde sich unter der Verbrennung ablösen und ihr bloßes Fleisch unter Schmerzen der Luft aussetzen. »Sara«, platzte sie heraus, ihre Hände umklammerten die Tischkante. Unter ihrer Haut, die früher leicht sonnengebräunt gewesen, nun aber matt und teigig war, traten die Knöchel weiß hervor. »Du weißt, dass ich das nicht kann.« Ihr Entsetzen war größer als jeder erbärmliche Rest von Stolz, der noch in ihr steckte.

»Doch, du kannst es.« Saras Ton war freundlich, aber bestimmt. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich für immer in der Akademie vergräbst.«

Sie zerquetschte fast das Telefon in ihrer Hand, ihr Herz raste so schnell und unregelmäßig, dass es schmerzte. »Und wenn ich vergraben sein möchte?«, fragte sie. Ihre Streitlust entsprang derselben Angst, die ihr Schweißperlen über den Rücken jagte.

»Dann muss ich Ernst machen und dich daran erinnern, dass du noch immer als aktive Jägerin unter Vertrag stehst.«

Honors Knie gaben nach, und sie sank auf einen Stuhl. Die Gilde war das einzige Zuhause, das sie je gehabt hatte, ihre Jägerkollegen waren ihre Familie. »Ich bin eine Ausbilderin.« Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, aus dieser Sache herauszukommen.

»Nein, das bist du nicht.« Der sanfte Ton machte die Anklage nicht geringfügiger. »In den Monaten, seit du hier bist, hast du nicht einen Kurs unterrichtet.«

»Ich werde …«

»Honor.« Ein einziges, endgültiges Wort.

Sie ballte die Hand auf dem Tisch zur Faust und starrte blicklos auf die eindringlichen Blautöne und das leidenschaftliche Rot des illuminierten Manuskripts, das sie mit einem erschreckenden Mangel an Vorsicht auf das polierte Holz des Tisches hatte fallen lassen. »Sag mir, worum es geht!«

Sara atmete hörbar aus. »Ein Teil von mir möchte dich in Watte packen und sicher und warm an einem Ort verwahren, an dem dir nichts geschehen kann«, sagte sie mit einer Heftigkeit, die ihr großes Herz unter der harten Schale verriet, »aber der andere Teil weiß, dass ich damit dazu beitragen würde, dich zu verkrüppeln. Und ich weigere mich, das zu tun.«

Honor wand sich. Nicht, weil die Worte grob waren, sondern weil sie der Wahrheit entsprachen. Sie war nicht ganz sie selbst und war es auch in den letzten Monaten nicht gewesen. »Ich weiß nicht, ob noch genug von mir übrig ist, das sich zusammenkratzen lässt, Sara.« Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie nicht doch noch in diesem dreckigen Kellerloch steckte, das mit Blut, Schweiß und … anderen Körperflüssigkeiten befleckt gewesen war, ob ihr jetziges Leben nicht nur eine Illusion war, die ihrem zersplitterten Geist entsprang.

Dann antwortete Sara, und ihre rasiermesserscharfen Worte bestätigten auf willkommene Weise, dass dies die Wirklichkeit war. Denn wenn sie sich in eine Fantasie geträumt hätte, um der brutalen Realität zu entfliehen, hätte sie sich die Gildedirektorin mit Sicherheit nicht so unnachgiebig geträumt, nicht wahr?

»Ransom und Ashwini haben nicht ihr Leben riskiert, als sie dich rausgeholt haben, damit du dich einfach so umdrehst und aufgibst.« Die Erinnerung an die Hände, die ihre Fesseln gelöst hatten, an die Arme, die sie ans schmerzende Licht hinausgetragen hatten. »Sammle die Einzelteile auf und flick dich wieder zusammen!«

Inzwischen herrschte in Honors Magen ein wild brodelndes Durcheinander, ihre Hand krampfte sich immer wieder zwanghaft zusammen. »Ist das die Stelle, an der ich salutieren und ›Ja, Sir‹ sagen soll?« Es lag keine Bissigkeit in ihrer Stimme, denn sie erinnerte sich daran, dass, wann immer sie im Krankenhaus aufgewacht war, Sara mit ihrer grimmigen, beschützenden Miene an ihrem Bett gesessen hatte.

»Nein«, gab die Direktorin zurück. »Du wirst vielmehr deinen Hintern in ein Taxi schwingen. Es ist erst halb neun, also dürftest du keine Schwierigkeiten haben, eins zu bekommen.«

Kälte kroch ihr den Rücken hinauf, Schweiß schimmerte auf ihrer Oberlippe. »Ist es ein Engel, den ich treffen werde?« Bitte, sag ja!, flehte sie in stummer Verzweiflung. Bitte!

»Nein, du triffst dich mit Dmitri.«

Das Bild eines Mannes, dessen Haut die Farbe von dunklem Honig hatte und dessen Gesicht auf grausame Weise schön war. »Er ist ein Vampir.« Es kam als fast lautloses Wispern heraus. Der Vampir in dieser Stadt, zum Teufel, in diesem Land.

Lange sagte Sara nichts. Als sie sprach, stellte sie eine einfache Frage, die schmerzte: »Bist du glücklich, Honor?«

Glücklich? Sie wusste nicht mehr, was Glück war. Vielleicht hatte sie es nie gewusst, auch wenn sie glaubte, etwas darüber erfahren zu haben, als sie die biologischen Kinder der Pflegefamilien beobachtet hatte, in denen sie untergekommen war, nachdem sie mit fünf das Waisenhaus verlassen hatte. Nun … »Ich existiere.«

»Reicht das?«

Mühsam streckte sie ihre Finger, betrachtete die Halbmonde, die sie in ihre Handflächen geprägt hatte, rot und wütend. Die Gilde hatte eine psychologische Betreuung bezahlt und würde sie auch weiterhin bezahlen, solange sie sie brauchte. Zu drei Sitzungen war Honor gegangen, bevor sie erkannt hatte, dass sie niemals mit der liebenswerten, geduldigen Frau sprechen würde, die an den Umgang mit Jägern gewöhnt war.

Stattdessen versuchte sie wach zu bleiben, versuchte, sich nicht zu erinnern.

Reißzähne gruben sich in ihre Brüste, in die Innenseiten ihrer Schenkel, in ihren Hals; erregte Körper rieben sich an ihr, während sie wimmerte und flehte.

Anfangs war sie stark gewesen, entschlossen, zu überleben und diese Tiere in Stücke zu hacken.

Aber sie hatten sie zwei Monate lang in ihrem Besitz.

In zwei Monaten kann man einer Jägerin, einer Frau, eine Menge antun.

»Honor?« In Saras Stimme lag Besorgnis. »Hör mal, ich werde jemand anders einsetzen. Ich hätte dich nicht so bald so sehr unter Druck setzen dürfen.«

Eine Gnadenfrist. Doch wie es schien, hatte sie letzten Endes doch noch einen Funken Stolz in sich – denn sie bemerkte, dass ihr Mund sich öffnete und ohne ihr bewusstes Zutun die Worte sprach: »Ich mache mich in zehn Minuten auf den Weg.«

Erst nachdem sie aufgelegt hatte, wurde sie gewahr, dass sie irgendwann im Laufe des Gesprächs nach einem Stift gegriffen und immer wieder Dmitris Namen kreuz und quer auf den Notizblock geschrieben hatte, den sie für ihre Aufzeichnungen verwendete. Ihre Finger verkrampften sich, der Stift fiel zu Boden.

Es ging wieder los.

2

Der lichtdurchflutete Turm dominierte die Skyline von Manhattan. Das Gebäude, von dem aus Raphael über sein Territorium herrschte, durchbohrte die Wolkendecke. Nachdem Honor den Taxifahrer bezahlt hatte, schulterte sie ihre Laptoptasche und blickte nach oben. Ein Engel nach dem anderen setzte zur Landung an, andere flogen los, ihre Flügel zeichneten sich vor dem mit Diamanten übersäten Nachthimmel ab. Sie konnte nichts weiter erkennen als die unvergessliche Schönheit ihrer Konturen, doch aus der Nähe betrachtet waren sie ebenso unmenschlich wie atemberaubend – obwohl es in der Gilde hieß, man habe keine Unmenschlichkeit gesehen, solange man nicht Raphael Auge in Auge gegenübergestanden habe.

Da ihnen aufgrund ihrer grundverschiedenen Begabungen stets unterschiedliche Aufgaben zugewiesen worden waren, hatte Honor Elena nur wenig kennengelernt und konnte sich nicht vorstellen, wie diese Jägerin damit umging, einen Erzengel als Liebhaber zu haben. In diesem Augenblick allerdings hätte sie es natürlich viel lieber mit Raphael aufgenommen als mit dem Mann, dem sie hier begegnen sollte … dem Mann, der zugleich ein Albtraum und eine dunkle, verführerische Fantasie war.

Sie zwang sich, den Blick vom Himmel abzuwenden, der die Illusion eines Auswegs vermittelte, biss die Zähne zusammen und richtete die Augen starr geradeaus. Dann folgte sie dem Weg zum Eingang des Turms, wo ein Vampir in einem messerscharf geschnittenen schwarzen Anzug und mit breiter Sonnenbrille Wache stand. Als sie vor ihm stehen blieb, wurde ihre Kehle trocken, ihr Innerstes zog sich zusammen, und für einen Augenblick füllten schwarze Flecken ihr Blickfeld aus.

Nein. Nein. Sie würde nicht vor einem Vampir in Ohnmacht fallen.

Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass ihr die Tränen in die Augen traten, zog den Träger der Laptoptasche zurecht und blickte in diese Sonnenbrille, in der sie die Spiegelung ihres Gesichts sah. »Ich habe einen Termin bei Dmitri.« Ihre Stimme war matt, doch sie zitterte nicht, und das allein war schon ein Sieg.

Der Vampir streckte den Arm aus, um mit starker Hand die Tür zu öffnen. »Folgen Sie mir!«

Sie hatte gewusst, dass sie von dem Moment an, in dem sie den Sicherheitsbereich des Turms betrat, von Beinahe-Unsterblichen umgeben sein würde, doch solange sie sie nicht hatte sehen können, war es leichter gewesen, sich das Gegenteil vorzumachen. Diese Möglichkeit bestand nun nicht mehr. Der Mann vor ihr, dessen Schultern in einem perfekt sitzenden Jackett steckten und dessen zimtfarbene Haut auf den indischen Subkontinent hindeutete, war nur derjenige, der ihr am nächsten war. Andere standen in den Ecken des Foyers, das mit goldgeädertem grauem Marmor ausgekleidet war – wachsame, geschmeidige Raubtiere. Und dann war da diese hübsche Frau, die trotz der späten Stunde am Empfang saß.

Die Empfangsdame lächelte Honor an, ihre mandelförmigen braunen Augen hießen sie willkommen. Honor versuchte zurückzulächeln, denn der rationale Teil in ihr wusste, dass nicht alle Vampire gleich waren, doch ihr Gesicht fühlte sich wie festgefroren an. Anstatt es zu erzwingen, konzentrierte sie sich darauf, nicht die Fassung zu verlieren.

»Sie ist nicht ansprechbar. Katatonisch.«

»Prognose?«

»Unmöglich einzuschätzen. Ich weiß, ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber ein Teil von mir glaubt, dass sie tot besser dran wäre.«

Während Honor wach gelegen und vergeblich versucht hatte, gegen das widerwärtige Entsetzen anzukämpfen, das sie in ihren Träumen heimsuchte, hatte sie oft gedacht, der gesichtslose Arzt habe recht gehabt.

Doch an diesem Abend löste die Erinnerung ein anderes Gefühl aus.

Wut.

Ein stumpfes, pochendes Etwas, das sie völlig überraschte.

Ich lebe. Ich habe es geschafft, verdammt! Niemand hat das Recht, mir das zu nehmen.

Die Verwunderung über ihren eigenen Zorn war so groß, dass sie ihr über die Fahrt im Aufzug hinweghalf – gefangen in einem kleinen Käfig, zusammen mit einem Vampir in einen Armani-Anzug und umgeben von einer Aura unterdrückter Macht, die ihr sagte, dass er kein normaler Wachmann war.

Sie hielt den Atem an, als die Türen sich öffneten, um sie in den Flur mit seinen dicken schwarzen Teppichen und den schimmernden Wänden in derselben Mitternachtsfarbe zu entlassen. Dieser Ort barg ein erotisches Pulsieren, das dicht unter der Oberfläche summte – die Rosen in ihren Kristallvasen auf kleinen, eleganten Tischen in sattem Schwarz hoben sich verschwenderisch und blutrot vor der Mitternacht ab. Der Teppich war so üppig, dass er kaum noch zweckdienlich war, und in der Wandfarbe schimmerten Goldsplitter.

Das Kunstwerk an der Wand, ein Wutausbruch in Rot, zog sie mit seiner unbarmherzigen Wildheit an.

Sinnlich.

Wunderschön.

Gefährlich.

»Hier entlang.«

Sie wusste, dass die Art, wie ihr das Blut durch die Adern rauschte, im Beisein von Erschaffenen gefährlich war. Sie folgte dem Mann mit zwei Schritten Abstand – damit sie rechtzeitig ausweichen konnte, wenn er sich umdrehte und sich auf ihre Kehle stürzte. Ihre Waffe trug sie in einem Schulterholster, verborgen unter dem verblassten grauen Stoff ihres Lieblingssweatshirts, ihr Messer steckte offen in einer Scheide an ihrem Oberschenkel, doch sie hatte zwei weitere gut versteckt um ihre Arme geschnallt. Es würde nicht reichen, nicht gegen einen Vampir, der über zweihundert Jahre alt sein musste, wie Instinkt und Erfahrung ihr sagten, aber zumindest würde sie nicht kampflos untergehen.

Er blieb vor einer offenen Tür stehen und bat sie mit einer Geste einzutreten, bevor er sich wieder zum Aufzug umwandte. Sie machte einen Schritt hinein – und erstarrte.

Dmitri stand hinter einem schweren Glastisch, in seinem Rücken glitzerte die Skyline von Manhattan. Er hatte den Kopf geneigt, und Strähnen seines seidig schwarzen Haares fielen ihm sanft in die Stirn, während er ein Blatt Papier überflog, das er in der Hand hielt. Vorher …vorher… war sie von diesem Vampir fasziniert gewesen, obwohl sie ihn nur aus der Ferne oder im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte sogar ein Scrapbook über seine Aktivitäten angelegt – bis sie angefangen hatte, sich wie eine geistig gestörte Stalkerin zu fühlen, und das ganze Ding verbrannt hatte.

Es hatte sie nicht von diesem seltsamen, irrationalen Drang befreien können, nichts hatte das vermocht, bis auf den dunklen, schmutzigen Keller und das Grauen. Das hatte alles betäubt. Doch jetzt fragte sie sich, ob sie nicht schon immer ein bisschen irre gewesen war, so besessen war sie von diesem Fremden, dem man eine Vorliebe für sinnliche Grausamkeit nachsagte, für Lust, die mit Schmerzen durchsetzt war.

Dann hob er den Blick.

Und sie hörte auf zu atmen.

Dmitri sah die Frau in der Tür in einem Kaleidoskop von Bildern. Weiches, ebenholzfarbenes Haar, das im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurde, aber eine wilde Lockenpracht verhieß. Unvergessliche Augen – Augen, die nicht vergessen konnten – in tiefstem Grün, deren äußere Winkel leicht nach oben zeigten. Ihre blassbraune Haut würde sich im Sonnenlicht zu Honig färben. »Sie sind auf Hawaii geboren?«, fragte er. Eine ungewöhnliche Frage an eine Jägerin, die zu einer Beratung erschienen war.

Sie blinzelte, und für einen Moment verschwanden ihre Augen, die von fernen Wäldern und verborgenen Edelsteinen erzählten, hinter langen Wimpern. »Nein. In einer Stadt mitten im Nirgendwo, weit weg vom Meer.«

Er umrundete seinen Schreibtisch aus Glas und Stahl und ging auf sie zu. Ganz kurz glaubte er, sie würde zurückweichen und in den Flur hinausstolpern, doch dann straffte sie sich und blieb stehen. Er spürte die Angst – scharf und sauer –, die hinter ihren Augen dahinjagte, dennoch drängte er sich an ihr vorbei, um die Tür zu schließen.

Er konnte nicht zulassen, dass sie wieder ging.

Als er zurücktrat, um sie noch einmal anzusehen, hatte sie die Aufwallung von Angst energisch bekämpft, doch ihr Atem ging stoßweise, und ihr Blick huschte davon, wenn er versuchte, ihn einzufangen. »Wie heißen Sie?«

»Honor.«

Honor. Er kostete den Namen und beschloss, dass er passte. »Geborene Jägerin?«

Ein Kopfschütteln.

Das überraschte ihn nicht. Wahrscheinlich hatte Elena die Gildedirektorin vor seiner Fähigkeit gewarnt. Er konnte alle Jägerinnen, die mit der bluthundartigen Gabe geboren wurden, die Witterung von Vampiren aufzunehmen, mit den Ranken seines exquisiten Duftes anlocken und verführen. Sara würde ihm wohl kaum frische Beute schicken. Aber diese Frau, diese Honor … er wollte seine sinnlichen Duftranken auf sie wirken lassen, bis sie errötete und willenlos wurde und sich der unverkennbare Moschusduft ihrer Erregung auf seine Sinne legte.

Instinktiv vergewisserte er sich, dass sie ihn nicht anlog – er sandte einen betörenden Hauch von Champagner und flüssigem Verlangen aus, Gold, Orchideen im Mondlicht und in Schokolade getauchte Beeren auf der Haut einer Frau. Honor schüttelte leicht den Kopf, eine kaum wahrnehmbare Bewegung, die sich auf ihrer gerunzelten Stirn widerspiegelte.

Also nicht stark genug, als dass sie sich selbst als geborene Jägerin erkannt hätte oder von der Gilde als solche anerkannt worden wäre, aber doch so stark, dass sie eine leichte Empfänglichkeit für die Duftverführung aufwies. Diese Entdeckung überraschte ihn nicht, da er im Laufe der Jahrhunderte, seit er diese Fähigkeit entwickelt hatte, schon einigen ihrer Art begegnet war. Die Gilde schien sie förmlich anzuziehen, selbst wenn sie nur die leisesten Anzeichen der Jäger-Blutlinie trugen. Das bedeutete allerdings, dass er Honor nicht so leicht würde verführen können, wie es ihm bei einer wahren geborenen Jägerin möglich gewesen wäre … aber wenn es um Sex ging, war Duft nicht die einzige Waffe in seinem Arsenal.

Als er seinen Blick erneut über sie wandern ließ, registrierte er den rasenden Puls an ihrem Hals; was jedoch seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Haut, die diese Stelle bedeckte. »Wer auch immer es war, dem Sie gestattet haben, von sich zu trinken«, sagte er in einem sanften Raunen, in dem, wie er sehr wohl wusste, ein zärtlicher Hauch von Gefahr lag, »war nicht besonders geschickt.« Ihre Narben zeugten von einem Vampir, der ihre Haut aufgerissen und verwüstet hatte.

Ihre Hand krampfte sich um den Träger ihrer Laptoptasche, die sie von der Schulter genommen hatte. »Das geht Sie nichts an.«

Dass sie trotz der Angst, die roh und blutig in ihr wogte, den Mumm gehabt hatte, ihm das zu sagen, ließ ihn überrascht eine Augenbraue hochziehen. »Doch, das tut es.« Er hatte schon so manch schöne Frau im Bett gehabt, einige hatten vor Lust geschluchzt, andere aufgrund seiner sinnlichen Verderbtheit, die sie lehren sollte, ihn niemals wieder herauszufordern. Honor war nicht schön. Sie hatte zu viel Angst in sich. Dmitri mochte vielleicht ein bisschen Schmerz im Bett, aber in den meisten Fällen zog er es vor, dass seine Partnerinnen auch Freude daran hatten.

Diese gebrochene Jägerin, deren Furcht beißend in der Luft hing, würde bei der ersten Berührung seiner Lippen anfangen zu zittern und in Stücke zerspringen. Und dennoch wollte er über diese blasse Haut streichen, die eigentlich von der Sonne vergoldet sein sollte, wollte die üppigen Kurven ihrer Lippen nachfahren, die lange Linie ihres Halses … der Drang war so stark, dass er ihn als Mahnung empfand. Als er das letzte Mal zugelassen hatte, dass sein Schwanz statt seines Kopfes die Kontrolle übernahm, wäre er fast das Meuchelmörder-Schoßtier eines Erzengels geworden.

Er wandte sich um, trat hinter seinen großen, eleganten Schreibtisch und hob einen Müllsack vom Boden auf. »Ich gehe davon aus, dass Sie einige Erfahrung mit Tätowierungen haben?«

Ihre Stirn kräuselte sich. Verwirrung wischte die weitaus unangenehmere Emotion beiseite, die er zuvor wahrgenommen hatte. »Nein. Meine Spezialitäten sind alte Sprachen und Geschichte.«

Klug von der Gildedirektorin. »Dann sagen Sie mir bitte alles, was Sie über diese Tinte wissen.« Dieses Mal trug er Handschuhe, als er den Kopf herausnahm und auf der Tüte absetzte. Der Stumpf klebte mit einem schmatzenden Geräusch am Plastik fest.

Die Jägerin stolperte zurück, ihre Augen auf das grausame Beweisstück der Gewalttat fixiert. Mit einem Ruck richtete sie den Blick wieder auf ihn, und er las eine grimmige Wut in ihrem Gesicht. Ein Gesicht, das sich als so ausdrucksstark erwies, dass er sich fragte, ob sie jemals in ihrem Leben eine Partie Poker gewonnen hatte. »Finden Sie das lustig?«

»Nein.« Die Wahrheit. »Es erschien mir sinnlos, ihn in die Kühlung zu legen, da Sie schon unterwegs waren.«

Was er sagte, war so unmenschlich, dass Honor einige Zeit brauchte, um wieder einen Gedanken fassen zu können. Um sich klarzumachen, dass seine dunkle, maskuline Schönheit und seine moderne Sprechweise nichts daran änderten, dass ihr kein Mensch gegenüberstand. Nicht einmal annähernd. »Wie alt sind Sie?« Die Spekulationen in den Medien reichten von vier- bis sechshundert Jahren, doch in diesem Augenblick wusste sie plötzlich, dass sie falschlagen. Völlig falsch.

Ein schwaches Lächeln, bei dem sich ihre Nackenhärchen aufstellten. »Alt genug, um Ihnen Angst zu machen.«

Ja. Sie war von Vampiren gefangen gehalten worden, die sie nur verletzen wollten, selbst jetzt trug sie noch die Spuren dieses Missbrauchs, aber sie hatte noch nie jemanden getroffen, der ihr Blut durch seine bloße Anwesenheit gefrieren ließ. Doch obwohl er als gewaltiger Mistkerl bekannt war, erbarmungslos wie eine blanke Klinge, kam Dmitri in der Menschenwelt gut zurecht. Was bedeutete, dass er die tödliche Wahrheit verbergen konnte, wenn er es wollte, doch hier war er so, wie er unter dem zivilisierten Schwarz seines Anzugs wirkte – ein Mann, der einen abgetrennten Kopf mit der gleichen Miene betrachtete, mit der er eine Bowlingkugel ansehen würde.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf legte sie ihre Laptoptasche, da es auf dieser Seite keine Stühle gab, auf die Glasplatte des Tisches und zwang sich dazu, sich tiefer über den abgeschlagenen Kopf zu beugen. »Er hat im Wasser gelegen?« Die Haut war aufgeweicht und matschig, weiß und schrumpelig wie eine obszöne Erinnerung an fröhliche Stunden in einer Badewanne.

»Hudson.«

»Er muss von einem richtigen gerichtsmedizinischen Team untersucht werden«, murmelte sie, während sie versuchte, die Tätowierung vollständig zu erkennen. »Ich brauche eine Laborausrüstung, um …«

Die behandschuhten Hände in ihrem Blickfeld schoben den Kopf zurück in den Müllsack. »Kommen Sie mit, kleines Karnickel.«

Hitze brannte in ihren Eingeweiden, versengte ihr Blut und überflutete ihr Gesicht, doch sie griff nach ihrer Laptoptasche und folgte ihm. Sein Rücken war fest und stark, sein Haar glänzte im Licht in einem satten, samtigen Schwarz. Als sie nicht zu ihm aufschloss, um neben ihm zu gehen, warf er ihr über die Schulter einen amüsierten Blick zu – doch das Lachen reichte nicht bis zu seinen wachsamen Augen, die von längst vergangenen Zeiten flüsterten. »Oh, eine altmodische Frau!«

»Was?« Es kostete sie ihre gesamte Konzentration zu atmen, ihr Körper stand kurz vor einer Überdosis Adrenalin.

»Sie halten es offenbar für richtig, drei Schritte hinter einem Mann zu gehen.«

Fast unwiderstehlich war die Versuchung, nach ihrem Messer zu greifen. Oder vielleicht nach der Pistole.

Mit einem Lächeln, als hätte er ihre Gedanken gelesen, ging er zu einem Aufzug – einem anderen als dem, in dem sie hinaufgefahren war – und legte, nachdem er einen Handschuh abgestreift hatte, die Hand auf den Scanner. Das Feld leuchtete eine Sekunde lang grün auf, dann öffneten sich die Türen, und er winkte sie hindurch. Sie weigerte sich einzutreten. Vermutlich war er so alt, dass sie nicht den Hauch einer Chance gegen ihn hatte, wenn er auf sie losging – doch Logik kam nicht gegen den Instinkt an, der wusste, dass Monster einen leichter verwunden konnten, wenn man sie nicht kommen sah.

»Und jetzt wollte ich höflich sein«, sagte er gedehnt, trat in das Stahlgehäuse und wartete, bis sie eingetreten war, bevor er auf der Schaltfläche an der Seite etwas eingab.

Der Aufzug fiel mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe, bei der ihr der Magen in die Kehle sprang, doch das bereitete ihr keine Angst. Es war die Kreatur, die sich mit ihr im Aufzug befand, vor der sie Angst hatte. »Hören Sie auf damit«, sagte sie, als er sie weiterhin aus diesen tiefdunkelbraunen Augen anstarrte. Ja, früher hatte er eine Faszination auf sie ausgeübt, aber nur aus der Ferne.

Aus der Nähe besehen war ihr deutlich bewusst, dass es gefährlich war, mit ihm allein zu sein. Er war imstande, dachte sie, sie mit nichts als seiner exquisiten, seidenen Stimme in Stücke zu reißen, nur zu seinem Vergnügen … bevor er wirklich anfing, ihr wehzutun.

»Ihr Freund«, sagte er halblaut, als sein Blick wieder zu ihrem Hals hinabwanderte, »hat Sie offensichtlich nicht so vorsichtig behandelt, wie er sollte.«

Ein hysterisches Lachen drohte aus ihr hervorzubrechen, doch sie unterdrückte es mit eisernem Willen. Ihre Angst musste er geschmeckt haben, aber mehr wollte sie nicht von sich preisgeben. »Haben Sie selbst noch nie Spuren hinterlassen, Dmitri?«

Er lehnte sich an die Wand. »Alle Spuren, die ich zurücklasse, sind vollkommen beabsichtigt.« Ein sinnlicher Tonfall, provozierende Worte, doch in seinem Blick lag etwas Hartes, während er unverwandt auf die übel zugerichtete Stelle an ihrem Hals starrte.

Die Narbe war nicht so schlimm – sie sah aus, als hätte ein Vampir beim Trinken einfach ein wenig die Kontrolle verloren. Das war gegen Ende gewesen. Zu Beginn hatten sie versucht, sie so wenig wie möglich zu beschädigen, damit sie ihnen weiterhin Vergnügen bereiten konnte. Am schrecklichsten waren die anderen, die »zivilisierten« Vampire gewesen, die beim Trinken fast schon zart zu Werke gegangen waren, ihre Brüste und ihre Schenkel gestreichelt hatten, während sie nackt gewesen war und man ihr die Augen verbunden hatte. Und sie waren noch immer da draußen.

Ein Schwall kühlerer Luft, die Türen öffneten sich.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, selbst als ihre Erinnerungen sie fortzureißen drohten, trat sie neben ihm hinaus. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Glaswände zu beiden Seiten, hinter denen sich Büros und Computer befanden … und Labore auf dem neusten Stand der Technik. »Ich wusste gar nicht, dass es das alles hier unten gibt.«

Dmitri ging ihr voran in ein Labor. »Neu eingerichtet. Verlieren Sie kein Wort darüber, sonst muss ich Ihnen einen Besuch abstatten, mitten in einer ruhigen Nacht, wenn Sie hübsch zusammengerollt in Ihrem Bett liegen.«

Bei dieser beinahe lässigen Bemerkung verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. »Tratschen gehört nicht zu meinen Gewohnheiten.«

»Hier.« Er setzte den Müllsack mitsamt Inhalt auf einem Stahltisch ab. Die Entsetzlichkeit seines Tuns hätte die sexuelle Verlockung, die ihn wie eine zweite Haut umgab – wenn man Sex mit einem Hauch von Blut und Schmerzen mochte –, im Keim ersticken müssen. Doch das war nicht der Fall. Er blieb kultiviert und sexy und ziemlich genau das Wesen, das sie zu keiner Tages- oder Nachtzeit in ihrem Schlafzimmer haben wollte.

Seine Lippen – die untere war gerade voll genug, um Frauen zu sündigen Fantasien zu verleiten – kräuselten sich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Brauchen Sie Hilfe beim Abziehen der Haut?«

3

»Nein.« Vorhin hatte sie so stark reagiert, weil sie über seine Gefühllosigkeit entsetzt gewesen war, doch sie hatte kein Problem damit, sich alleine mit dem grausigen Fund zu beschäftigen. »Ich werde versuchen, den Umständen entsprechend möglichst gute Fotos zu machen, und hauptsächlich mit diesen arbeiten. Aber ich möchte mir die Tätowierung unter dem Mikroskop ansehen, um mich zu vergewissern, dass ich keine feinen Details übersehe.«

Etwas unbefangener holte sie die flache Digitalkamera aus dem Seitenfach ihrer Laptoptasche. »Ein Pathologe sollte den Kopf untersuchen, bevor wir erwägen, die Haut abzuziehen.« Sie schaltete die Kamera mit einem Klicken ein. »Hat sich jemand in den Tattoo-Läden umgehört?« Wenn sie Glück hatten, gab es vielleicht ein Foto der Tätowierung in unversehrtem Zustand, das sie als Arbeitsgrundlage benutzen konnte.

»Ja.« Er zog sich einen frischen Handschuh über, dann nahm er den Kopf aus dem Sack und zog die Haut über dem Wangenknochen des Mannes glatt, damit Honor eine Reihe Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln aufnehmen konnte. »Das müsste fürs Erste genügen.« Während er den Kopf auf ein Tablett legte und den Müllsack entsorgte, klappte sie ihren Laptop auf und übertrug die Fotos auf die Festplatte.

Sie registrierte, dass Dmitri den Kopf in der Kühlung verstaute, die Handschuhe abstreifte und sich die Hände wusch. Wachsam registrierte ihr Körper jede seiner Bewegungen. Deshalb war das Gefühl, das er auslöste, als er von ihr unbemerkt neben ihrem Stuhl auftauchte, so überwältigend, so teuflisch, dass Teile ihres Bewusstseins sich einfach abschalteten. Und als er ihr Haar im Nacken anhob, um die sensible Haut an ihrem Hals zu berühren, da …

Lärm. Ein schepperndes metallisches Krachen. Worte.

Das Nächste, was sie wusste, war, dass sie einige Schritte von Dmitri entfernt stand. Ein hoher Hocker aus gehämmertem Stahl lag umgekippt zwischen ihnen auf dem Boden. Eine blutige Linie zog sich über Dmitris Wange, doch seine Augen fixierten die Tür hinter ihr. »Raus!«

Erst als sich die Tür schloss, erkannte sie, dass jemand versucht hatte einzugreifen. Schweiß ließ ihre Handflächen feucht werden und bildete Perlen auf ihrem Rücken. Erinnere dich!, ermahnte sie sich selbst. Erinnere dich! Doch die Zeit war fort, ein schwarzer Fleck, getränkt in Panik, die einen scheußlichen Geschmack auf ihrer Zunge hinterlassen hatte. »Ich habe dich angegriffen.«

Er hob die Hand und strich sich mit einem Finger über die Wange. Als er ihn wieder wegzog, war er mit dunkelroter Feuchtigkeit benetzt. »Wie es scheint, habe ich etwas an mir, das Frauen reizt, ihre Messer zu benutzen.«

Oh Gott! Sie sah an sich hinunter und stellte fest, dass sie in ihrer Hand eine Klinge hielt, deren Spitze feucht war. »Ich nehme nicht an, dass Sie eine Entschuldigung akzeptieren werden.« Die Worte kamen ruhig, sie war vom Schock wie betäubt.

Dmitri ließ die Hände in die Taschen gleiten und sagte: »Nein. Aber Sie können später für Ihr Vergehen bezahlen. Jetzt brauche ich Ihre Informationen hierzu.«

»Ich möchte einige Texte aus der Bibliothek der Akademie hinzuziehen.« Sie zwang ihr Hirn, wieder in die Gänge zu kommen, obwohl ihre Hand sich nicht von dem Messer lösen wollte, das sie offenbar aus der Scheide an ihrem Schenkel gezogen hatte.

»Gut. Aber denken Sie daran, kleines Karnickel! Kein Wort zu niemandem!« Er trat so nahe an sie heran, dass seine dunkle Hitze sie wie eine stumme Drohung berührte und sie froh über das Messer in ihrer Hand war. »Ich bin kein netter Kerl, wenn ich wütend bin.«

Sie wich nicht zurück, ein armseliger Versuch, die Demütigung des Angriffs auszulöschen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie überhaupt nie ein netter Kerl sind.«

Seine Antwort war ein laszives Lächeln, in dem das Wispern von seidenen Laken, erotischem Flüstern und schweißfeuchter Haut lagen. Die unverhohlene Absicht dahinter ließ ihr Herz heftig gegen ihre Rippen hämmern. »Nein«, sagte sie mit rauer Stimme.

»Eine Herausforderung.« Er berührte sie nicht, und doch fühlte sie sich von dichtem Pelz liebkost, weich und üppig und unmissverständlich erotisch. »Angenommen.«

Dmitri machte den Anruf eine Stunde später, nachdem er sich in der Zwischenzeit um eine andere Sache hatte kümmern müssen. »Hallo, Sara«, sagte er, als die Gildedirektorin ans Telefon ging.

»Dmitri.« Eine kühle Begrüßung. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mir sagen, warum die Jägerin, die Sie mir geschickt haben, mir gerade das Gesicht aufgeschlitzt hat.« Die Wunde war bereits verheilt, doch sie gab einen perfekten Eröffnungszug ab.

Sara sog hörbar die Luft ein. »Wenn Sie ihr etwas angetan haben, schwöre ich bei Gott, dass ich meine Armbrust holen und Sie an die Wand des Scheißturms spießen werde.«

Dmitri mochte Sara. »Während wir reden, wird sie gerade nach Hause gefahren.« Die Blutschuld bestand zwischen ihm und Honor, und sie würde zwischen ihnen beglichen werden. »Ich habe ihr einen menschlichen Fahrer zugewiesen.«

Sara murmelte etwas vor sich hin. »Sie ist die Beste für diese Aufgabe.«

Er blickte hinaus auf die diamanthelle Skyline von Manhattan. »Wer war das mit ihrem Hals?« Kälte brannte in seinen Adern, eine teuflische Reaktion auf die Narben einer Frau, die er nicht kannte und die nur eine weitere Bettgespielin für ihn sein würde, solange es ihm gefiel. Denn obwohl ihr Widerstand ihn verblüffte und eine interessante Abwechslung bieten würde, zweifelte er nicht daran, dass sie schließlich in seinem Bett landen würde – und sie würde es mit Freuden tun.

Dann antwortete Sara, und die Kälte wurde zu Eis. »Die gleichen Tiere, die sie zwei Monate lang angekettet in einem Keller gefangen gehalten haben.« Eine brutale Zusammenfassung. »Sie war kaum noch am Leben, als wir sie fanden. Sie haben ihre kranken Spiele mit ihr immer weitergetrieben, obwohl drei ihrer Rippen gebrochen waren, sie blutete und Fieber hatte, von den Wunden, die sich …« Sara brach ab, ihre Wut schimmerte wie eine blanke, scharfe Klinge, aber Dmitri hatte genug gehört.

Er erinnerte sich an den Vorfall. Die Gilde hatte Verstärkung vom Turm angefordert und sie sofort bekommen. Da er jedoch mit dem Wiederaufbau Manhattans beschäftigt gewesen war, das im Kampf zwischen Uram und Raphael schwere Schäden davongetragen hatte – und, was noch wichtiger war, sich darauf konzentrieren musste, Raphaels Herrschaftsgebiet zu halten, während dieser die meiste Zeit an der Zufluchtsstätte verbracht und darauf gewartet hatte, dass seine schlafende Gemahlin erwachte – hatte er diese Untersuchung nicht selbst geleitet. Das würde sich nun ändern. »Status der Angreifer?«

»Ransom und Ashwini haben zwei der vier getötet, die sie am Tatort vorgefunden haben. Die anderen beiden wurden dem Turm übergeben, aber das waren allenfalls angeheuerte Schläger mit der Befugnis zu …« Ein mühsamer Atemzug. »Diejenigen, die dahintersteckten, waren klüger. Sie haben keine forensischen Hinweise hinterlassen, und Honors Augen waren die ganze Zeit verbunden. Wir werden sie kriegen.« Eisige Worte. »Das tun wir immer.«

Damit beendete Dmitri das Telefonat und blickte hinaus auf die Stadt, die noch lange keinen Schlaf finden würde. Honors Angreifer würden allesamt sterben. Das hatte nie zur Diskussion gestanden. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es ihm nun, da er ihr Messer auf seiner Haut gespürt und die schreiende Tiefe ihrer Angst geschmeckt hatte, außerordentliches Vergnügen bereiten würde, ihnen persönlich die lebenswichtigen Organe aus dem Leib zu schneiden, bevor er sie in irgendeinem Loch zum Heilen zurückließ … um dann wieder von vorne anzufangen.

Sein Gewissen hatte mit der Vorstellung solch sadistischer Foltermethoden keinerlei Probleme.

»Du hättest nicht so stur sein sollen, Dmitri.« Eine schlanke weibliche Hand strich über seinen nackten Körper, bis dicht über seinen schlaffen Schwanz.

Wut erblühte in diesen Augen, deren Farbe ein heller, falscher Bronzeton war.

Sie griff nach seinen Eiern und quetschte sie so fest, dass er fast ohnmächtig wurde. Seine Muskeln spannten sich gegen die Ketten, die seinen nackten Körper aufrecht und mit ausgestreckten Gliedern in der Mitte eines kalten, dunklen Raums am Fuße des Bergfrieds festhielten. In dieser Haltung war ihr jeder Teil seines Körpers ausgeliefert – ihr und denen, die ihre Befehle ausführten.

Dunkle Flecken lauerten an den Rändern seines Gesichtsfeldes, als sie ihn küsste und ihre Fingernägel in sein Kinn grub. Die Flügel auf ihrem Rücken spreizten sich, weiß wie Schnee, bis auf den Schwall schimmernden Scharlachrots auf ihren Handschwingen. »Du wirst mich lieben.«

Der erste Hieb kam eine Sekunde darauf, während sie ihn noch immer küsste. Als sie die Bestrafung unterbrach, war sein Rücken Hackfleisch und der reife, dicke Geruch von Blut lag in der Luft.

Ein Piepsen.

Er wandte sich um und brach diese Erinnerung ab, die seit hunderten und aberhunderten von Jahren nicht mehr an die Oberfläche gekommen war, dann nahm er den internen Anruf entgegen: »Ja?«

»Sir, Sie wollten informiert werden, wenn Holly Chang ihr Verhaltensmuster ändert.«

Vierzig Minuten später stand Dmitri vor dem kleinen Vorstadthaus in New Jersey, in dem Holly Chang mit ihrem Freund David lebte. Von ihren Nachbarn durch einen großzügigen Garten und hohe Zäune abgeschirmt – nichts, was sie sich hätte leisten können, wenn der Turm nicht eingeschritten wäre und ihren Umzug aus einem Apartmentblock, in dem sie zu vielen Sterblichen gefährlich nahe gewesen war, gefordert hätte.

Die Menschenfrau war gerade dreiundzwanzig geworden, als ein verrückter Erzengel sie auf offener Straße entführt hatte. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Freunde abgeschlachtet wurden, wie ihnen Körperteile abgetrennt wurden, bevor sie wie in einem makabren Laubsäge-Puzzle wieder zusammengesetzt wurden. Als Elena sie aufgespürt hatte, war sie nackt und über und über mit ihrem rostroten Blut bedeckt gewesen.

Holly hatte das Grauen überlebt, aber sie war danach nicht mehr dieselbe gewesen wie vorher. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ihre geistige Gesundheit infrage stand, hatte Uram sie entweder von seinem Blut trinken lassen oder ihr absichtlich etwas von dem Gift injiziert, das der Treibstoff für seinen mörderischen Amoklauf gewesen war. Sie wussten es nicht mit Sicherheit, denn Hollys Erinnerungen an diese Ereignisse waren bis zur Unbrauchbarkeit in den Nebel der blendenden Angst gehüllt, die sie, auch nachdem sie gefunden worden war, noch für Tage hatte verstummen lassen. Das Einzige, was sie wussten, war, dass diese junge Frau sich … veränderte.

»Bleiben Sie am Tor«, sagte er zu dem Vampir, der ihn angerufen hatte, bevor er aus den Schatten hinaustrat und die Auffahrt zum Haus hinaufging, das nur von dem flackernden Licht des Fernsehers im Wohnzimmer erhellt wurde.

Holly, eine zierliche und schwächlich wirkende Person, öffnete die Tür, noch bevor er richtig dort war. Blut befleckte ihr langärmliges weißes Hemd und umrandete ihren Mund. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und verschmierte das Blut. »Bist du gekommen, um das Chaos zu beseitigen, Dmitri?« In ihren wütenden, schräg stehenden Augen las er das deutliche Wissen darum, dass es ihr Tod sein würde, wenn sie den Kampf gegen das verlor, was Uram ihr angetan hatte – was immer es sein mochte. »Es war ein Nachbarskind. Hat süß geschmeckt.«

»Unvorsichtig von dir, so nahe bei dir zu Hause zu jagen.« Er packte sie am linken Handgelenk, und bevor sie ihn daran hindern konnte, hatte er den Ärmel ihres Hemdes hochgeschoben. Ein Verband war fest um ihren Oberarm gewickelt. »Ich bin ein Vampir, Holly«, sagte er halblaut und streckte die Hand aus, um mit dem Daumen einen verschmierten Blutstropfen von ihrem Mundwinkel zu wischen. »Ich erkenne es, wenn das Blut an dir dein eigenes ist.«

Sie zischte ihn an, zog ihren Arm weg und stakste zurück ins Haus. Er folgte ihr hinein und schloss die Tür hinter sich. Er war schon oft hier gewesen und kannte die Anordnung der Zimmer, doch anstatt ihr in die Küche zu folgen, wo sie sich, wie er hören konnte, das Blut abwusch, schaltete er den Fernseher aus und vergewisserte sich, dass sie allein im Haus waren.

Als er schließlich in die Küche kam, die jetzt von einer hellen Glühbirne erleuchtet wurde, sah er, dass Holly sich den Mund an einem Geschirrtuch abwischte, jedoch noch immer das blutbefleckte Hemd trug. »Tod durch Dmitri«, sagte er, als er sich mit einer Lässigkeit, die niemanden, der ihn kannte, überzeugt hätte, an den Türrahmen lehnte. »War das deine Absicht?«

Ein wütender Blick aus diesen ehemals hellbraunen Augen, die jetzt jedoch von einem Ring aus lebhaftem Grün umgeben waren, der tiefer in die Iris hineinwuchs. Der gleiche leuchtende Ton wie Urams Augen … aber nicht so dunkel wie die der Jägerin, die an diesem Abend mit dem Messer auf ihn losgegangen war. In Honors Blick hatte das Mysterium verbotener Tiefen und quälender Geheimnisse gelegen, sein Flüstern in der Tiefe der Nacht. In Hollys Augen hingegen standen nur reißende Wut und überwältigender Selbsthass.

»Ist das nicht deine Aufgabe?«, fragte sie. »Mich hinzurichten, wenn sich herausstellt, dass ich ein Monster bin?«

»Wir sind alle Monster, Holly.« Er verschränkte die Arme und sah zu, wie sie in der kleinen Küche auf und ab ging. »Die Frage ist nur, wie weit wir gehen.«

Hin und her. Hin und her. Ruppig fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar, zitterte krampfartig. Und noch einmal. »David hat mich verlassen«, platzte sie endlich heraus. »Er konnte es nicht ertragen, mich fünf Nächte hintereinander dabei zu erwischen, wie ich wach lag und ihn mit glühenden Augen anstarrte.« Ein glucksendes Lachen konnte den furchtbaren Schmerz nicht verbergen, von dem er wusste, dass er einen Sprung in ihrem Herzen hinterlassen hatte. »Ich habe nicht in sein Gesicht gesehen.«

»Hast du getrunken?« Holly benötigte eine bestimmte Menge Blut, und Dmitri sorgte dafür, dass sie entsprechend versorgt wurde.

Statt einer Antwort trat sie so fest gegen den Kühlschrank, dass sie eine Delle in der polierten weißen Oberfläche hinterließ. »Totes Blut! Wer will das schon? Ich denke, ich werde mich über einen hübschen, zarten Hals hermachen, sobald ich diesen beschissenen Aufpassern entkommen kann.«

Dmitri machte einen Schritt auf sie zu und ergriff ihre Hände, damit sie aufhörte umherzulaufen. Dann hob er sein Handgelenk an ihren Mund. »Trink!« Sein Blut war kräftig und würde all ihre Bedürfnisse stillen.

Er hatte gewusst, dass sie sich zurückziehen würde. Sie sank zu Boden, kauerte sich in einer Küchenecke zusammen, um sich zu verstecken; die Arme fest um die Knie geschlungen und den Kopf gesenkt, wiegte sie ihren Körper hin und her. Denn trotz ihrer Worte wollte Holly keinen menschlichen Spender anrühren, wollte nicht glauben, dass sie sich auf so grundlegender Ebene verändert hatte. Sie wollte das Mädchen sein, das sie vor Uram gewesen war – das Mädchen, das sich gerade eine heiß begehrte Stelle in einem Modehaus gesichert hatte, das Stoffe und Design liebte und fröhlich mit ihren Freundinnen ins Kino ging, um sich einen Spätfilm anzusehen.

Keine dieser Freundinnen hatte es geschafft.

Er holte einen der Blutbeutel, die er regelmäßig liefern ließ, aus dem Kühlschrank und goss den Inhalt in ein Glas, bevor er neben ihr in die Hocke ging. Er schob einen Vorhang aus glänzenden schwarzen Haaren beiseite, die im Augenblick von zuckerwattefarbenen Strähnen durchzogen waren, und sagte: »Trink!« Weiter war nichts nötig – Holly wusste, dass er nicht gehen würde, bis das Glas leer war.

Fremdartige, hasserfüllte Augen. »Ich möchte dich töten. Jedes Mal, wenn du durch diese Tür kommst, möchte ich eine Machete nehmen und dir den Kopf abschlagen.« Sie trank das Blut in großen Zügen und schleuderte das leere Glas so heftig auf den Boden, dass es an einer Seite sprang.

Mit einem Taschentuch wischte er ihr den Mund ab, dann warf er es in den Müll und stand auf, um sich ihr gegenüber an eine Schranktür zu lehnen. »Heute hat mir eine Frau das Gesicht aufgeschlitzt«, erzählte er ihr. »Nicht mit einer Machete, sondern mit einem Wurfmesser.«

Hollys Blick flog suchend über seine unversehrte Haut. »Quatsch.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es auf meine Halsschlagader abgesehen hatte, aber ich war zu schnell.« Und Honor hatte sich viel anmutiger bewegt, als er es ihr vor dieser kleinen Demonstration zugetraut hätte. Die Frau war in irgendeiner Kampfkunst ausgebildet, und zwar bis zu einem hohen Niveau, das bedeutete, dass sie kein hilfloses Opfer war. Und doch hatte man sie zu einem gemacht.

»Zu schade, dass sie nicht getroffen hat«, murmelte Holly … und dann stellte sie die Frage, die schon seit dem Augenblick in der Luft lag, als er das Haus betreten hatte. »Warum lässt du mich nicht sterben, Dmitri?« Ihre Worte waren ein Flehen.

Er war sich nicht sicher, warum er sie nicht in dem Moment getötet hatte, als sie die ersten Anzeichen der todbringenden Veränderungen gezeigt hatte, deshalb antwortete er ihr nicht. Stattdessen ging er wieder in die Hocke und hob ihr Kinn, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Wenn es zu einer Hinrichtung kommen sollte, Holly«, sagte er halblaut, »wirst du mich nicht kommen sehen.« Kurz und schnell würde es ablaufen – sie sollte nicht in Angst ertrinken, wenn ihre letzte Nacht anbrach.

»Sie ist voll Angst gestorben, Dmitri. Hättest du mir nur gegeben, worum ich dich bat, wäre sie jetzt noch am Leben.« Ein Seufzen, elegante Finger streiften seine Wangen, während er verzweifelt in den Handschellen hing, die sich in seine Haut eingekerbt hatten. »Möchtest du, dass Mischa dasselbe passiert?«

»Nenn mich nicht so!« Schroff durchbrach Hollys Stimme die vernichtende Erinnerung aus den qualvollen Anfangstagen seiner Existenz. »Holly ist in diesem Lagerhaus gestorben. Herausgekommen ist irgendetwas anderes.«

Es war ein Versuch, sich selbst auszulöschen, und das würde er nicht zulassen – doch es würde nicht schaden, wenn er ihr gestattete, einen Trennstrich zwischen ihrer Vergangenheit und der Gegenwart zu ziehen. Vielleicht fing sie dann endlich an, dieses neue Leben zu leben. »Wie soll ich dich stattdessen nennen?«

»Wie wäre es mit Uram?« Eine bittere Frage. »Er braucht den Namen schließlich nicht mehr.«

»Nein.« Er würde ihr nicht gestatten, sich selbst zu quälen, indem sie diesen Namen wie ein giftgetränktes Hemd trug. »Versuch es noch mal!«

Sie stieß ihm die Faust in die Rippen, doch ihre Wut war von Schmerz durchdrungen, und er wusste, dass sie nicht mit ihm darüber streiten würde. »Sorrow«, flüsterte sie nach einer langen Stille. »Nenn mich Sorrow!«

Es war kein hübscher Name. Kummer. Doch er würde ihr diese Entscheidung überlassen, nachdem ihr so viele genommen worden waren. »Sorrow also.« Er beugte sich vor und drückte die Lippen auf ihre Stirn, ihr Pony fühlte sich an seinem Mund wie Lamellen aus Seide an, ihre Glieder unter seinen Händen zart, zerbrechlich und so verwundbar.

In diesem Augenblick wusste er, warum er sie noch nicht getötet hatte. Ungeachtet ihres Alters war sie für ihn noch ein Kind. Ein gefährliches Kind, aber trotzdem ein Kind, das verängstigt war und sich solche Mühe gab, es nicht zu zeigen. Und der Mord an einem Kind … hinterließ eine Narbe auf der Seele eines Mannes, die niemals, niemals wieder verschwinden würde.

4

Als sie nach Mitternacht wieder in der Gilde-Akademie war, stellte Honor ihre Laptoptasche auf dem kleinen Tisch ab, der in ihrer Unterkunft zwischen Schrank und Bett eingequetscht stand. Der größte Platz des Zimmers wurde vom Bett eingenommen. Das Zimmer war ausreichend, mehr nicht – die meisten Jäger benutzten diese Quartiere, wenn sie eine kurze, intensive Ausbildungseinheit an der Akademie absolvierten. Honor lebte hier seit dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

Es lag nicht daran, dass sie sich nichts Besseres hätte leisten können. Bei den Honoraren, die die Jäger aufgrund der äußerst riskanten Natur ihrer Arbeit bekamen, und durch die Tatsache, dass sie nicht viel Freizeit hatte, in der sie das Geld hätte ausgeben können, hatte sie vor ihrer Verschleppung einen beträchtlichen Notgroschen angelegt. Während ihrer Genesungszeit hatte sie nichts davon angerührt, da die Gilde die medizinischen Kosten für all ihre Jäger übernahm. Tatsächlich hätte sie in ein Penthouse ziehen können, wenn sie gewollt hätte.

Es schien ihr nur nicht der Mühe wert auszuziehen.

Doch heute Abend empfand sie das Zimmer plötzlich wie einen Käfig. Wie hatte sie nur so abgestumpft sein können, dass sie dessen Klaustrophobie hervorrufende Abmessungen nicht bemerkt hatte? Als sie das Ausmaß ihrer Apathie begriffen hatte, war es wie eine Ohrfeige, die ihren Kopf dröhnen ließ – doch nicht stark genug, um ihre heftige Reaktion auf die Wände um sie herum zu dämpfen.

Sie begann zu schwitzen, riss sich das Sweatshirt vom Leib und ließ es aufs Bett fallen, doch davon wurde ihr auch nicht kühler.

Wasser.

Wenige Minuten nachdem ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen war, trug sie einen schwarz glänzenden einteiligen Badeanzug und darüber einen Frottee-Bademantel. Die Nachteulen, denen sie auf ihrem Weg zum Swimmingpool der Akademie begegnete, hielten nur kurz an, um hallo zu sagen, bevor sie weiter ihrer Wege gingen – und so glitt sie schon kurz darauf in das still vor ihr liegende blaue Wasser, das ihr Frieden versprach.

Schwimmen. Schwimmen. Luft holen. Schwimmen. Schwimmen. Luft holen.

Der Rhythmus war besser als Meditation. Sie brauchte zehn Bahnen, danach war sie ruhig. Doch sobald sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, befiel sie wieder das Gefühl, ersticken zu müssen – jetzt, da ihr seine winzigen Ausmaße aufgefallen waren, konnte sie den Gedanken daran nicht mehr verdrängen. Auf keinen Fall würde sie Schlaf finden, selbst wenn sie sich zwang, ins Bett zu gehen. Ihre Albträume – bösartige, reißende Dinger – waren auch so schon schlimm genug, ohne zusätzliche klaustrophobische Ängste.

Sie hatte am Pool geduscht, jetzt zog sie sich frische Kleidung an und griff nach ihrem Laptop.

Zu dieser Nachtzeit war die Bibliothek ruhig, aber nicht ausgestorben. Es waren zwei Ausbilder da, die an ihren Forschungsarbeiten saßen, und eine Jägerin, die aussah, als käme sie von einem bewegten Auftrag.

Ein einziger Blick auf das glänzende, dunkle Haar, die abgetragenen Stiefel, und Honors Mundwinkel hoben sich in freudiger Überraschung. »Ashwini?«

Die große, langbeinige Jägerin legte das Buch weg, in das sie geblickt hatte, und drehte sich zu ihr um. Ein Lächeln erhellte mit einem Mal ihr Gesicht, machte es atemberaubend statt einfach nur schön. Sie stieß einen Laut der Überraschung aus und umrundete den Bibliothekstisch, um Honor fest in die Arme zu schließen. Keine Spur war mehr von dem Messerkampf zu sehen, in dem sie erst vor Kurzem schwer verwundet worden war.

Lachend erwiderte Honor die Umarmung –