Schöne neue Welt - Alexander Osang - E-Book

Schöne neue Welt E-Book

Alexander Osang

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Beschreibung

»Ich lebe seit acht Monaten in New York. Es war ein alter Traum, und als ich das Angebot bekam, konnte ich einfach nicht Nein sagen. Aber ich habe fast ein Jahr gebraucht, um wirklich loszufahren. Ich traute mich nicht weg.
Ein Freund von mir, der in den letzten fünf Jahren in Bonn lebte, zog schließlich in meine Wohnung. Er sah mich bei der Schlüsselübergabe etwas mitleidig an: New York? Jetzt? Ich schien in die Provinz zu ziehen.
In New York redeten dann viele Deutsche mit Ehrfurcht von Berlin. Sie haben offensichtlich Angst, etwas zu verpassen. Die Deutschen in New York fragen sich, ob sie in der falschen Stadt leben. Viele Deutsche gingen nach New York, weil es die schärfste Stadt der Welt war. Weil man es hier schaffen kann, nur hier, wirklich. Und weil es heißt, die Stadt treibe einen an wie keine andere. Aber wieso sollen sie die aberwitzigen New Yorker Mieten bezahlen, wenn man sich jetzt von Berlin viel besser antreiben lassen kann.
Berlin ist eine Vision. Eine Folie für Träume. Das macht es New York vielleicht ein bißchen ähnlich.«

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Seitenzahl: 174

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Alexander Osang

Schöne neue Welt

50 Kolumnen aus Berlin und New York

Für Mascha und Ferdinand

Die hier abgedruckte Texte erschienen zwischen Herbst 1999 und Juni 2001 als Kolumnen im Magazin der Berliner Zeitung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Mai 2018entspricht der 2. Druckauflage vom Mai 2002© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected]: KahaneDesign, Berlin,unter Verwendung eines Gemäldes von OL

eISBN 978-3-86284-420-3

Inhalt

Die Dinge des Lebens

Aliens

Vom Winde verweht

The Player

Männer

Das Boot

Spur der Steine

Fenster zum Hof

Manche mögen’s heiß

Himmel über der Wüste

Kaltblütig

White Men Can’t Jump

Das kalte Herz

Auf der Flucht

Mephisto

Angst über der Stadt

Halbblut

Ich und er

Weiße Wölfe

Eissturm

Reporter des Satans

Wilde Kreaturen

Und täglich grüßt das Murmeltier

Braveheart

Gullivers Reisen

Havanna

The Game

Schlangenei

Der Name der Rose

Das Auge

Der Sandmann

The Beach

Helden wie wir

Das Apartment

Weißer Jäger, schwarzes Herz

Das Rußlandhaus

Die Olsenbande fährt nach Jütland

Twister

Das Schweigen der Lämmer

Die letzte Vorstellung

Hair

Mister President

Wild at heart

König der Fischer

Die Nadel

Dead Man Walking

Jurassic Park

Fame

Natural Born Killers

Im Namen des Vaters

Jene Jahre in Hollywood

Über den Autor

Die Dinge des Lebens

Ich sitze in meiner leeren Berliner Wohnung und muß entscheiden, was in Deutschland bleibt und was mich nach Amerika begleitet. Die Packer warten. Braucht man den Großen Aral Europaatlas in New York? Ich hätte ihn hier gelassen, aber meine Frau hat ihn erst mal eingepackt. Ich könnte ihn heimlich wieder auspacken, traue mich aber nicht.

Vor meinem Fenster wird die britische Botschaft fertig. Fünf Jahre lang hat uns der Baustellenlärm gequält, und jetzt, wo sie endlich fertig sind, ziehen wir weg. Ein Freund von uns übernimmt die Wohnung, er ist nach einigen Jahren in die Stadt zurückgekehrt. Immer wenn ich ihn sehe, denke ich, daß er schlau ist und ich doof. Alle ziehen nach Berlin. Braucht man Erich Schmitts Tierparkskizzen in New York? Brauche ich das Buch überhaupt? Habe ich es jemals gebraucht? Ich weiß nicht.

Ich lebe jetzt seit fünf Wochen in New York. Ich bin nur nochmal nach Berlin zurückgekehrt, um meine Wohnung leerzuräumen. Als ich ankam, war es dunkel, und als ich am nächsten Morgen Schrippen holen ging, begegnete mir Günter Schabowski. Er war der erste Bekannte, den ich traf. Irgendwie hatte ich mit Schabowski am wenigsten gerechnet. Ich weiß ja nicht, wie sich die Dinge zuletzt entwickelten, aber für einen Moment dachte ich, er sei auf Freigang. Ein Außenschläfer auf dem Weg zurück ins Gefängnis, in Eile, wie der Pianist in Bahnhof für zwei.

In der Berliner Zeitung fand ich heute auf einer halben Seite das vorletzte Magazin der New York Times zusammengefaßt, das seit zwei Wochen auf meinem New-Yorker Klo liegt. Die Times-Journalisten packen eine Zeitkapsel für die Menschen im Jahr 2999. Was halten sie wohl von unseren Dingen?

Sehr interessant, aber manche Fragen stellen sich schon jetzt. Brauche ich meine Erika-Schreibmaschine in New York? Es ist eine Reiseschreibmaschine. Ich habe sie zur Jugendweihe geschenkt bekommen und seit mindestens neun Jahren nicht mehr benutzt.

Der nächste, den ich hier sah, war Markus Wolf. Er stand vor dem Lafayette, er sah aus wie jemand, der dort einkauft. Drei PDS-Kaffeetassen aus meinem Besitz befinden sich auf der Reise nach New York. Sogenannte Kaffeepötte, die ich von einem Freund geschenkt bekam. Einer der Möbelpacker sagt, daß er neulich allein 180 große Kisten mit Nippes einpackte. Puppen und Porzellan für die Gattin eines Bundeswehrgenerals. Ich möchte nicht wissen, was er über uns erzählt. Wir haben eine Sandmannpuppe mit Spieluhr und die Marx-Bände eingepackt, die wir bisher noch nicht weggeworfen hatten.

Ich stand nur fünf Minuten an unserer Bushaltestelle. Zuerst lief der Grüne Werner Schulz an mir vorbei, ein fiebriger Blick. Dann kam Nooke von der CDU. Dick, zufrieden, guter Mantel. Von hinten sah Nooke aus, als säße er seit fünfzehn Jahren im Bundestag. Aus der anderen Richtung näherte sich Sabine Bergmann-Pohl, die so verbittert aussah, als hätte sie aus Bayern in dieses schreckliche Berlin ziehen müssen.

Sabine Bergmann-Pohl, großer Gott, vor fünf Tagen stand ich auf der Premierenparty von Milos Formans neuem Film Man on the Moon neben Courtney Love. Ich habe sie sogar kurz berührt. Ganz kurz nur, aber immerhin. Sie sah umwerfend aus. Es war im Roseland Ballroom, auf den Tischen brannten rote Lampen, Danny De Vito war da, Milos Forman und auch Michael Stipe von R.E.M., die am Soundtrack schrieben. Seinfeld ging früher, Chevy Chase blieb, am Ausgang gab es eine Tasche mit kleinen Sachen und dem Man on the Moon-Soundtrack.

Ich habe die große Videosammelbox Chronik der Wende nach New York mitgenommen. Ich besitze sie bereits seit mehreren Jahren, habe sie aber noch nie angeguckt, weil ich keine Muße für lange Interviews mit Revolutionspfarrern habe. Ich weiß nicht mal genau, ob ich sie in New York abspielen kann. Aber sie ist mit dabei. Ich nehme mir ja vor, ein Weltbürger zu werden. Aber es ist nicht einfach.

Am Ausgang des Roseland Ballrooms habe ich mir gleich zwei Soundtracktaschen eingesackt. Ich weiß noch nicht, ob ich sie wieder zurück nach Berlin mitnehme.

Aliens

Man könnte auch sagen, daß mich Hertha BSC aus der Stadt trieb. Die Mannschaft selbst kann nichts dafür. Es sind die anderen. Sie erwarten, daß ich so bin wie sie. Sie sind überall.

Vor ein paar Tagen saß ich mit einigen von ihnen an meinem Wohnzimmertisch und mußte erklären, was gegen Hertha spricht. »Sie haben doch Ostler«, sagte ein Freund. »Tretschok, Herzog, Wosz, Thom.« Er sah mich an, als seien die meinetwegen eingestellt worden. Damit ich endlich Ruhe gebe und mitmache. Ich erzählte von Kunstprodukt und Kalkül, bis mich alle am Tisch ansahen, als wolle ich die Mauer wiederhaben. Dabei mag ich nur Hertha BSC nicht. Und je mehr Leute den Verein mögen, um so schwerer fällt mir das. Jeder Zugezogene, der zwei Minuten in der Stadt ist, wird Hertha-Fan. Es ist wie in Die Körperfresser. Wer einschläft, wird zum Hertha-Fan. Jeder, der Chefredakteur einer großen Berliner Zeitung werden will, muß unterschreiben, daß er Hertha-Fan ist. Der Sudetenflüchtling Franz-Josef Wagner von der B.Z. mußte mit seinem eigenen Blut unterschreiben, obwohl er Tennis viel mehr liebt als Fußball. Aber es ging auch gar nicht mehr um Fußball. Hertha BSC hatte früher Spieler wie Ete Beer hervorgebracht, ein Verein wie Günther Pfitzmann. Plötzlich sollte es so was sein wie die Love-parade.

Vor anderthalb Wochen schlug ich eine Karte für das Spiel gegen Mailand aus. Am nächsten Tag las ich, daß sich so was wie die Herbstrevolution zugetragen hatte. Und ich war wieder nicht dabei. So ging das nicht weiter. Kurz bevor ich nach New York fuhr, holte ich mir eine Karte für das Spiel gegen Galatasaray Istanbul.

Es war ein schöner Abend. Der Mond leuchtete korrekt über der Anlage, es gab nur alkoholfreies Bier, neben mir saß ein älterer Herr auf einem Hertha-Sitzkissen. »Heute machen wir den Sack zu«, sagte er zu mir. Ich lachte ein Genau-heute-machen-wir-den-Sack-zu-Lachen und hoffte, daß sie verlieren. Vor dem Spiel tanzte der flauschige Hertha-Bär zusammen mit einer türkischen Bauchtänzerin in der Fankurve, wo die Fanklubs Deutsche Eiche und Sturmfront Nauen gerade ihre Fahnen ausrollten. Irgendwo stand Joschka Fischer neben dem türkischen Außenminister, dem er gerade einen Panzer verkauft hatte. Die Abendluft war voller Mißverständnisse.

Nachdem Rekdal das 1:0 für Hertha erzielt hatte, klatschte ich artig. Vor mir saß ein Türke zwischen seinen beiden Berliner Kumpels, die in die Luft sprangen, als das Tor fiel. Er sprang mit, wenn auch nur halb hoch. Ich fühlte mit ihm. Ich klatschte und dachte Scheißescheißescheiße. Ich gab nicht auf, ich lächelte meinen Nachbarn an, tippte in der Halbzeitpause ein 3:0 für Hertha. Ich schien wie sie zu sein. Aber dann schoß Galatasaray das 1:1, und ich begriff, daß ich es nicht schaffe. Ich schnellte vom Sitz, in der Luft traf ich den Türken aus der Reihe vor mir. Wir sprangen noch drei Mal an diesem Abend in die Luft. Es war keine richtige Herbstrevolution, aber sehr gut. Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Am Ausgang wartete mein Freund mit einer neuen Argumentation. »Dir kann es ja egal sein. Aber jetzt kriegen wir in Berlin keinen europäischen Spitzenfußball mehr zu sehen. Schade.« Mein Freund sagt, er will nur guten Fußball sehen. Das ist natürlich Unsinn. Er jubelt mit den anderen und ist sich selbst unheimlich.

Wir gingen in eine Charlottenburger Kneipe, wo weitere Hertha-Fans litten. Ich schaute nachdenklich, denn natürlich nahmen sie an, ich sei wie sie. Alle denken das. Innerlich jubelte ich. Am nächsten Morgen fragte mich meine Frau, wie es war. Ich wollte nicht euphorisch klingen und murmelte leise »Hertha hat 4:1 verloren«. »Na ist doch gut«, sagte sie halbherzig. Sie will mich trösten. Aber ich glaube, sie ist schon bei den anderen.

Je weiter ich wegfahre, desto mehr werde ich als Hertha-Fan gelten. Ich werde mir einen Hertha-Duftbaum in meinen Jeep hängen. Nachts aber, wenn alle schlafen, werde ich blauweiße Wimpel verbrennen und die Asche in den Novemberwind streuen. Ich werde einsam sein. Ich werde trinken. Vielleicht ändere ich meinen Namen.

Später hörte ich im Autoradio, daß Rex Gildo in derselben Nacht gestorben war. Es ging mir näher, als ich dachte.

Vom Winde verweht

Vor ein paar Tagen saß ich auf einer Bühne in Atlanta, um über die deutsche Einheit zu berichten. Es war 8.30 Uhr in Georgia. Die Bühne befand sich im fensterlosen Saal eines Kongreßzentrums. Der Saal sah aus, als könne man ihn in fünfundzwanzig Minuten komplett demontieren, verpacken und auf den Laster schmeißen. In vier Stunden würde das gesamte Kongreßzentrum reisefertig sein, in fünf Tagen könnte man Atlanta abtransportieren. Eine komische Stadt.

»Sie haben Glück mit dem Zimmer, Sie sehen auf den Park«, sagte die Dame an der Hotelrezeption. Als ich die Vorhänge aufzog, sah ich eine Betonfläche mit hohen Laternen. Eine Art Aufmarschplatz, auch sonst erinnert Atlanta an Pjöngjang, das ja auch mal Olympiastadt werden wollte. Nachts werden in den leeren Bürotürmen die Lampen eingeschaltet, um Leben vorzutäuschen. Die Frage ist, wem man etwas vormachen will.

Als ich eines Abends kurz nach zehn Uhr meinen Hotelkomplex verließ, dachte ich, sie drehen dort draußen den zweiten Teil von 12 monkeys. Es war schwarz und schwül und still. Kein Mensch war zu sehen. Ich schlüpfte schnell in meinen Hotelkomplex zurück, unter dessen Glaskuppel auch die CNN-Zentrale Zuflucht fand. Es gibt hier Kinosäle, Tiefgaragen, Springbrunnen, Taco Bell und Balkone, die im Haus hängen, freischwebende Wohnzimmer sozusagen. Menschen in kurzen Hosen sitzen dort und genießen den Abend im Gebäude. Sie sehen keinen Himmel, aber sie kriegen auch keinen Sonnenbrand. Sie haben Airconditioning auf dem Balkon, was im Süden durchaus von Vorteil sein kann. Am Freitagnachmittag traf ich Ted Turner in einem der gläsernen Fahrstühle. Ted Turner hat vor kurzem Jane Fonda und CNN verloren, ich hätte ihn am Freitagnachmittag beim Fliegenfischen in Montana vermutet. Aber wahrscheinlich konnte man auch das hier irgendwo tun. Es gab keinen Grund, den Komplex zu verlassen, es sei denn man wollte eine rauchen. Aber für Raucher ist Atlanta sowieso nichts.

Die Bühne war mit rotem Stoff bespannt und neben mir stand ein leerer Stuhl. Dort würde gleich Peter Schneider Platz nehmen, ein Berliner Schriftsteller, der hier den Westen repräsentierte. Ich sollte über »Identität und Mentalität der Ostdeutschen« reden. Erst zusammen waren wir Deutschland. Der Titel der Veranstaltung hieß »Zehn Jahre danach: Wann fällt die Mauer in den Köpfen?«, es war jetzt 8.40 Uhr, und Deutschland war immer noch nicht komplett.

Vielleicht wartete Schneider auf einen Fahrstuhl. Er wohnte im zwei Meilen entfernten Westin-Hotel, dem höchsten Gebäude der Stadt. Er hatte gestern abend erzählt, daß es dort zu wenig Fahrstühle gebe. Der Diskussionsleiter bat mich anzufangen. Aber ich wollte nicht ohne den Westen beginnen. Jede Geste zählt hier im Süden. Schneider war vom Winde verweht. Mir fiel die kleine Scout Finch ein, die in Wer die Nachtigall stört als verkleideter Schinken durch einen dunklen Wald irrt. So fühlte ich mich dort oben. Ein Ostler in Georgia. Ein Schinken im Wald.

Das akademische Viertel lief ab, Schneider war immer noch nicht da. Der Saal wurde unruhig. Ich spürte die Verantwortung. Ich war hier Deutschland. Ich war Columbus. Ich hätte ihnen sagen können, daß die Ostler, die nach dem Mauerbau geboren wurden, in Trikots der deutschen Nationalmannschaft von 1974 rumlaufen müssen, und die älteren mit Konrad-Adenauer-Masken. Die Versuchung war groß. Aber es ging nicht. Es hing zu viel von mir ab.

Ich fing an. Vor zehn Jahren hatte ich für meine Zeitung noch über den Fackelzug der FDJ berichtet, jetzt trug ich die deutsche Fahne nach Atlanta. Eine echtes Südstaatendrama. Der Westen kam nicht mehr. Peter Schneider hat später erzählt, er habe sich in der Zeit geirrt. Besser kann man es nicht sagen. Es hat ein bißchen gedauert, aber ich habe Walter Ulbricht jetzt verstanden.

Man kann sie überholen, ohne sie einzuholen.

The Player

Die Politik wird auch immer amerikanischer. Am Tag der deutschen Einheit sangen Peter Maffay und Herbert Dreilich zum erstenmal gemeinsam Über sieben Brücken mußt du geh’n. Im anschließenden Interview mit einem dieser Boulevardmagazine, die bizz, buzz oder bazz heißen, wirkte Maffay, der durch den Schlagertitel Du beziehungsweise das Tabaluga-Lied bekannt ist, so stolz, als habe er damit den letzten Stein aus der Mauer gebrochen. Ein historisches Duett. In dem Moment, als der durchtrainierte westdeutsche Maffay auf die Bühne stürmte, um den ostdeutschen Karat-Sänger Dreilich, der gerade von einem Schlaganfall genesen ist, zu umarmen, war eine gewisse, wenn auch eher unfreiwillige Symbolik im Spiel. Eine Minute lang hielt Peter Maffay ihn fest, man wußte nicht, ob Herbert Dreilich nach der Umarmung zu Boden sinken würde. Aber dann ließ Maffay von ihm ab, Dreilich lebte, und im Finale betrat neben den Prinzen aus Leipzig und den Scorpions aus Hannover, die so was wie altgewordene Prinzen in Lederhosen sind, auch Gerhard Schröder die Bühne.

Schröder wirkte unsicher. Gerade war er noch Staatsmann bei Chirac. Ausfallschritt, durchgedrückter Rükken, verschränkte Arme, Kinn in den Himmel. Jetzt war er Popstar. Aber wie macht der Popstar? Schröder konnte sich ja schlecht in den Schritt greifen wie Michael Jackson. Oder ins Publikum spucken wie Roger Chapman. Er entschied sich für Queen. Die Victory-Vs. We are the Champions. Dann ging er auf Klaus Meine, Sänger bei den Scorpions, zu und hob ihn ein bißchen an. Zwanzig Zentimeter etwa. Meine ist klein, leicht, stammt aus Hannover und sang einst die Hymne Wind of change. Die bizzbuzz-Stimme sagte aus dem Off: »So schön kann deutsche Einheit sein.«

Wie schön? Schön wie ein Hannoveraner im Anzug, der einen Hannoveraner mit Mütze anhebt? Als Schröder gefragt wurde, was er tat, nachdem er erfuhr, daß er die Wahl gewonnen hat, sagte er: »Ich habe meine Frau geküßt.« Macht er zu Hause, in seiner symbolträchtigen 70-Quadratmeterwohnung, die mich an die Er-ist-einganz-normaler-Mensch-geblieben-Neubauwohnung von Hans Modrow erinnert, auch dieses Victoryzeichen? Oder die bittende, magenkranke Geste? Die Hände ineinandergelegt, Handflächen nach oben, der Blick den Tränen nah, die Knie federnd? Schatz, es ist später geworden? Keine Ahnung.

Ich weiß nur, daß ich auf symbolische Gesten warte, wenn ich heute Bill Clinton sehe. Einen bedauernden Ausdruck, der gleichzeitig Hoffnung gibt. Eine forsche, aber doch nachdenkliche Geste. Eine Handbewegung, die nicht so tut, als sei alles wie früher, aber auch nicht so, als breche die Welt zusammen. Ein entschuldigendes Auge für Hillary, ein verächtliches für Starr, ein beruhigendes für die Kleinanleger. Als gelegentlicher Tankstellentoilettenbenutzer ahne ich, wie schwierig das ist.

Es ist schon keine besonders angenehme Sache, in einer gut besuchten Tankstelle um einen Toilettenschlüssel zu bitten. Es sollte beiläufig klingen. Nicht zu laut, nicht zu leise, schon gar nicht drängend. Dann wird es richtig schwierig, denn die Erdölkonzerne hängen sperrige Gegenstände an ihre Toilettenschlüssel. Holzklötze, Stahlkonstruktionen und – sehr gern – Plastikölflaschen. Angeblich beschweren sie ihre Toilettenschlüssel, damit man sie nicht »versehentlich« einsteckt. Aber besitzt ein Toilettenschlüssel, an dem eine Stahlkonstruktion hängt, nicht gerade Sammlerwert? Es ist zu befürchten, daß man Toilettenschlüssel bald an einer Handschelle trägt. Nach dem Toilettengang wird man vom Personal befreit. Oder sie führen einen Schlüssel ein, der uns auch akustisch daran erinnert, daß man ihn nicht mitnimmt. Einen singenden Toilettenschlüssel. So würde auch der letzte Tankstellenkunde von unseren Absichten erfahren. Es ist ja schon jetzt nicht leicht. Nicht nur die Toilettenschlüssel wachsen, auch die Verkaufsräume tun es. Die Strecken, die man mit dem großen Kloschüssel zurücklegt, werden immer länger und bunter. Sie ähneln Supermärkten. Als laufe man mit heruntergelassenen Hosen durch die Kaufhalle. Und dazu lächelt man, die Schlüssel schwingend. Lakonisch. Keine große Sache. So fühlt sich Bill Clinton ständig.

Die Welt wird amerikanischer. Schröder ahnt, was auf ihn zukommt. Kohl konnte noch schlechte Laune haben. Er nicht mehr.

Männer

Vor kurzem saß ich im Saal »Liberty« eines Kongreßzentrums in Atlanta, um dem Vortrag »The Formation of a GDR ›Schlager Public‹« zu hören. Das klang vielversprechend. Leider fiel der Vortrag aus, statt dessen sprach Joy Calicio von der Duke University aus North Carolina über »German Nationaloper and Hanns Eisler: Johann Faustus«.

Für einige der zwanzig Zuhörer war das vielleicht kein gravierender Unterschied, für mich schon. Da aber nur wenige Leute im Raum waren, traute ich mich nicht zu verschwinden. Glücklicherweise, muß man sagen. Mitten in ihrem Vortrag forderte Joy Calicio uns nämlich auf, das Lied Wenn ich ein Vöglein wär zu singen. Sie verteilte Textblätter und stimmte an. Ich sang mit zwanzig Amerikanern im Saal »Liberty« in Georgia ein deutsches Volkslied mit diversen Umlauten. Das war die Reise wert.

Am vorigen Sonntag erlebte ich in Berlin das genaue Gegenteil. Ich schaltete den Fernseher ein, da saß Bill Gates neben Sabine Christiansen. Gates lächelte. Er wirkte, als sei er unter Drogen ins ARD-Studio verschleppt worden. Bertelsmannchef Middelhoff war auch da. Er guckte, als wolle er gern den bösen Deutschen im nächsten James-Bond-Film spielen. Das war klassisches Machtverhalten, aber was wollte Bill Gates mit seinem Dauergrinsen ausdrücken?

Es gibt ja jetzt einen vielbesprochenen Bildband, für den deutsche Persönlichkeiten zwischen 1991 und 1998 jährlich fotografiert wurden, um zu zeigen, wie die Macht sie verändert hat. Aber alles, was man sieht, ist, wie Essen und Trinken Joschka Fischer veränderten. 1995 platzte Fischer kurz nach dem Fototermin, 1996 sitzt ein Frosch im Dreiteiler auf seinem Stuhl. Gerhard Schröder streckt uns jedes Jahr sein gewaltiges Kinn entgegen, weil er findet, daß er damit am besten aussieht. Wie Sherman McCoy. Der Master of the Universe.

Ich wurde von der Fotografin nicht angesprochen, ob ich mitmachen will, aber wenn, dann hätte ich auf jedem Foto so ausgesehen, als käme ich gerade von einer Wurzelbehandlung. Weil ich vor nunmehr zwanzig Jahren gern Udo Lindenberg gewesen wäre, stülpe ich automatisch die Lippen nach vorn, wenn ich eine spiegelnde Fläche entdecke. Gern in Fahrstühlen, aber auch im Busfenster. Im 57er hat mir mal eine Frau ihren Platz angeboten, weil sie wohl dachte, ich erleide gerade einen Schlaganfall. Dabei war ich nur Udo. Männer sind so verletzlich. Aber: Männer haben Haarausfall. Das ist die Stärke des Fotobuches.

Es dokumentiert einen hoffnungslosen Kampf. Was Frank Schirrmacher von der FAZ unternimmt, um seiner beginnenden Glatze entgegenzuarbeiten, ist atemberaubend. Von Jahr zu Jahr schiebt er die verbleibende Haarmenge in neue Zusammenhänge. Arnold Vaatz durchlebt die Etappen Verzweiflung, Ablehnung, Annahme. Erst wird zugekämmt, dann kurz geschnitten, dann wieder zugekämmt, verwurschtelt, hier und da gescheitelt, dann wieder abrasiert. Ganz erstaunlich ist Friedbert Pflüger von der CDU. 1993 scheint sein Haarausfall ein kritisches Stadium zu erreichen, aber dann werden es wieder mehr Haare. 1998 sind es so viele wie 1991. Pflüger taugt für die Vorher-nachher-Kleinanzeigen. Man wünschte sich, die Fotos als Daumenkino. Man könnte Schirrmachers Frisur tanzen lassen, Pflügers Haare wüchsen unter unserem Daumen wie das Gras in den Zeitraffernaturfilmen.

Bill Gates bewegte sich immer noch nicht. Er grinste. Manchmal erzählte er was vom Vertrauen in den Markt. Zu »Kontrolle« fiel ihm sofort »Kommunismus« ein. Manchmal blendete die Regie Middelhoff ein, wenn Gates redete. Middelhoff nickte. Zwei Mal nannte er Gates »Bill«. Gates nannte ihn nie Thomas, obwohl sich Middelhoff das noch mehr wünschte als eine Rolle im nächsten Bond.

Stoiber repräsentierte in der Runde die Politik, neben den Männern der Wirtschaft wirkte er so lustig wie Fredl Fesl, der einst gesungen hatte: »Mir san mir und I bin I – dös is die bayerische Philosophie«. Auch Stoibers zuckerwatteartige Frisur erzählte mehr als Gates’ Nackenbürzel. Bürzel! Ich sah mir Gates’ grinsenden Mund genauer an. Das war doch ein Schnabel! Seine Angst vorm Kommunismus war die Angst vor den drei Panzerknackern. Marx, Engels, Lenin..

Bill Gates ist Dagobert Duck.

Das Boot