Angela Merkel - Porträts und Interviews aus dem SPIEGEL - Alexander Osang - E-Book

Angela Merkel - Porträts und Interviews aus dem SPIEGEL E-Book

Alexander Osang

4,5

Beschreibung

"Wer das Geheimnis der Angela Merkel ergründen will, wer begreifen will, warum eine Frau aus dem Osten zur Integrationsfigur einer erzwestlichen Partei werden kann, muss mit ihr von Krisensitzung zu Krisensitzung ziehen und dorthin gehen, wo sie herkommt", schrieb Alexander Osang in seiner mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichneten Reportage "Das eiserne Mädchen". SPIEGEL-Kollegen wie Alexander Osang, Jürgen Leinemann, Dirk Kurbjuweit, Matthias Geyer und zuletzt Nikolaus Blome haben genau das im Laufe der Jahre getan. So zeichnet die SPIEGEL-Berichterstattung der vergangenen 25 Jahre ein politisch präzises und psychologisch einfühlsames Bild vom Weg des einstigen "Mädchens" Merkel bis an die Spitze der deutschen und europäischen Politik.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort
„Besser sein als alle anderen“
Hartmut Palmer über Helmut Kohls Neuentdeckung Angela Merkel
„Ich muß härter werden“
Jürgen Leinemann über die stellvertretende CDU-Vorsitzende Angela Merkel
„Das eiserne Mädchen“
Alexander Osang über eine Frau aus dem Osten, die zur Integrationsfigur der CDU wurde
„Die Linien sind nicht schwarz-weiß“
SPIEGEL-Gespräch mit CDU-Chefin Merkel über Fußball, Politik und die christlichen Grundlagen ihrer Partei
„Entscheidungen allein treffen“
SPIEGEL-Gespräch mit der CDU-Vorsitzenden Merkel über ihre Karriere und die Einsamkeit von Frauen in Führungsämtern
„Merkels Hirn“
Ein Ortstermin von Matthias Geyer zum 50. Geburtstag der CDU-Vorsitzenden
„Die letzten Trümmerfrauen“
Alexander Osang über die Schulklasse von Angela Merkel - und was aus ihren Klassenkameraden geworden ist
„Ich bin nicht ängstlich“
SPIEGEL-Gespräch mit der designierten Kanzlerin über die Aufgaben einer Großen Koalition
„Die Mechanik der Macht“
Matthias Geyer und Dirk Kurbjuweit über Angela Merkels Weg ins Kanzleramt
„Ich habe Antworten“
SPIEGEL-Gespräch mit der Bundeskanzlerin über Ziele und Methoden ihrer Politik
„In der Ich-Mühle“
Dirk Kurbjuweit über Angela Merkels erstes Jahr im Kanzleramt
„Die deutsche Queen“
Alexander Osang über die Welt der Angela Merkel
„Sieg gegen Gespenster“
Ralf Neukirch über Angela Merkels Bundestagswahlkampf 2009
„Die Schläferin“
Alexander Osang über die ostdeutsche Physikerin Merkel, die nach der Wende zur Politikerin wurde
„Glänzend in Physik, mäßig in der Ideologie“
SPIEGEL ONLINE über Angela Merkels Promotionsnoten
„Angela ,Teflon' Merkel“
Wie US-Diplomaten in ihren geheimen Depeschen die Kanzlerin schildern
„Die halbe Kanzlerin“
Dirk Kurbjuweit über das 'Gemüt' der Angela Merkel
„Die Entfremdung“
René Pfister über Angela Merkels Bundestagswahlkampf 2013
„Alles schläft, Mutti wacht“
Christiane Hoffmann über den 'weiblichen' Führungsstil der Kanzlerin
„Die große Anführerin“
Angela Merkels schwierige Suche nach einem Koalitionspartner nach der Bundestagswahl 2013
„Die Mutti aller Fragen“
Eine Bestandsaufnahme von Nikolaus Blome zum 60. Geburtstag der Kanzlerin
Impressum
Vorwort
„Wer das Geheimnis der Angela Merkel ergründen will, wer begreifen will, warum eine Frau aus dem Osten zur Integrationsfigur einer erzwestlichen Partei werden kann, muss mit ihr von Krisensitzung zu Krisensitzung ziehen und dorthin gehen, wo sie herkommt“, schrieb Alexander Osang in seiner mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichneten Reportage Das eiserne Mädchen. 
SPIEGEL-Kollegen wie Alexander Osang, Jürgen Leinemann, Dirk Kurbjuweit, Matthias Geyer oder zuletzt Nikolaus Blome haben genau das getan. So entstand im Laufe der Jahre ein politisch präzises und psychologisch einfühlsames Bild vom Weg des einstigen „Mädchens“ Merkel bis an die Spitze der deutschen und europäischen Politik.  
Aus  Anlass ihres 60. Geburtstages am 17. Juli 2014 legt dieses E-Book eine Auswahl der besten Stücke aus knapp 25 Jahren SPIEGEL-Berichterstattung über Angela Merkel vor.
SPIEGEL 38/1991

„Besser sein als alle anderen“

SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über Helmut Kohls Neuentdeckung Angela Merkel
Angela Merkel steht leicht verlegen vor dem Hubschrauber, der eigens für sie in Berlin-Tegel gelandet ist. Vor einer Stunde hat sie ihren schweren Koffer noch selbst ins Flugzeug getragen. Nun steigt die Ministerin Angela Merkel, 37, eskortiert von drei Offizieren, in den Helikopter - und der entschwindet mit ihr.
Sie liebt solche Auftritte nicht. Viel lieber wäre ihr, sie würde gerade jetzt nicht erkannt. Es ist ja auch peinlich, vor den Augen und auf Kosten der mitreisenden Steuerzahler so sichtbar privilegiert zu werden.
Andererseits aber ist es eben praktisch bei den vielen Terminen, die sie jetzt hat. Wie sollte es denn sonst gehen, wo doch alle sie sehen und sprechen wollen, weil sie so bekannt und irgendwie bedeutend geworden ist?
Eine Wohnung in Bonn, eine im Wahlkreis Stralsund und eine mit dem Lebensgefährten Joachim Sauer in Ost-Berlin - da sitzt sie dauernd zwischen den Stühlen und auf den Koffern. Sie ist eben noch nicht abgebrüht genug, das Jet-set-Gehabe der politischen Klasse normal zu finden.
Deshalb wirkt sie neben ihrem neuen Förderer Helmut Kohl, der sie mit seinem Wohlwollen fast erdrückt, immer noch deplaziert - wie die arme Verwandte vom Lande.
Kohl hat große Dinge mit ihr vor. Vize-Vorsitzende der CDU soll die Frauen- und Jugendministerin werden, einzige Stellvertreterin Kohls an der Spitze der CDU, Nachfolgerin des tief gestürzten Lothar de Maizière. Nun hat der Kanzler sie mit auf seine USA-Reise genommen, eine hohe Auszeichnung, wie man bei Hofe weiß.
Nach Kalifornien durfte sie ihn begleiten, zum Privatbesuch beim alten Ronald Reagan, und sie war dabei, als sich das Pfälzer Gesamtkunstwerk von der Universität Berkeley ehren ließ.
In Washington wird der Kanzler sie in die Gesellschaft einführen, beim Besuch im Weißen Haus dem amerikanischen Präsidenten George Bush vorstellen - Kohls Neue.
Noch warnt sie ihr Instinkt, nicht abzuheben. Noch haben sie die Schalmeien-Klänge nicht eingelullt. Noch findet sie es eher unheimlich als amüsant, daß sie von der grauen Maus zur grauen Eminenz befördert werden soll.
Vor einem Jahr war sie - damals stellvertretende Regierungssprecherin in der Regierung de Maizière - in Bonn gänzlich unbekannt. Ein paar Berliner Journalisten schätzten sie als zuverlässige Informantin. Und Günther Krause, der Chefunterhändler beim Vereinigungs-Vertrag, hatte sie als Vertraute gewonnen.
Nun ist sie plötzlich zum „Hoffnungsträger“ (Hamburger Abendblatt) und „Wunschkind“ (Die Zeit) aufgestiegen und wird in den Medien verklärt - als sei der von Wahlschlappen und inneren Krisen gebeutelten CDU über Nacht die heilige Johanna erschienen.
Eine Atempause des Kanzlers genügte, um die neue Personalie in Umlauf zu setzen. Die CDU, so Helmut Kohl nach dem Abgang de Maizières, verfüge über genügend Männer, die an dessen Stelle treten könnten - „und Frauen“, hat er hinzugefügt. Auch das ist Bonn: Seitdem wird die Frauenministerin Merkel mit Lobeshymnen überschüttet.
„Unverdorben“ findet die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt den Import aus dem Osten - eben anders als die anderen in Bonn. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hält sie „für eine hervorragende Kandidatin“. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Heiner Geißler macht sich für sie stark. Innenminister Wolfgang Schäuble empfiehlt sie als Parteivize.
Angela Merkel weiß sehr wohl, was gerade mit ihr gespielt wird. Deshalb hat sie sich entschlossen, zunächst einmal eisern zu schweigen.
Es geht ihr nicht anders als der SPD-Landesvorsitzenden Gisela Schröter aus Thüringen, die von SPD-Chef Björn Engholm gerade ins Präsidium der Partei gehievt wurde.
Auch sie liest in der Zeitung, daß sie „andere Sensibilitäten“ habe und der Partei neue Impulse geben soll. Auch sie paßt ins Machtkalkül der Parteistrategen an der Spitze: Sie stieg nicht auf, weil sie auffallend tüchtig ist. Man wählte sie, weil sie die neue Doppelquote erfüllte: erstens Frau und zweitens aus dem Osten.
Daß die Genossin Schröter aus der gleichen Bürgergruppierung kam, in der Angela Merkel ihre Laufbahn begann, ist Zufall. Beide starteten im Demokratischen Aufbruch, aber beider Wege trennten sich früh. Gisela Schröter gehörte zu denen, die eine Zeitlang glaubten, daß eine eigenständige, selbstbewußte und freie DDR nach dem Fall der Mauer entstehen könne.
Sie war damit, paradox genug, dem gelernten DDR-Bürger de Maizière, der „seelisch und geistig immer ein DDR-Bürger“ bleiben wollte, näher als dessen Sprecherin Angela Merkel.
Die nämlich hat sich nie als DDR-Bürgerin akzeptiert. Sie ist in Hamburg geboren und hat es ihrem Vater oft angekreidet, daß der so altmodisch und protestantisch-pflichtbewußt gewesen war, noch 1954, ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni, wieder „rüberzugehen“. Er fühlte sich der brandenburgischen Kirche verpflichtet, die ihn zum Studium in die Hansestadt delegiert hatte. Die Mutter, eine Danzigerin, war dagegen.
In diesem Zwiespalt wuchs Angela Merkel auf. Die Kreisstadt Templin in der Uckermark wurde ihre Heimat, die DDR aber nie ihr Staat.
Immer waren die Augen und Ohren nach Westen gerichtet. Heiß und heftig wurde in dem Pfarrhaus über alle politischen Streitfragen geredet, die in den sechziger und siebziger Jahren die Bundesrepublik bewegten, jede Debatte des Bundestags im Radio verfolgt.
Seit ihrem achten Lebensjahr kannte Angela Merkel die Namen aller Minister. Die kann sie heute noch aufzählen. Das ferne, unerreichbare Bonn war ihr so geläufig wie anderen Kindern Grimms Märchen oder die Sagen des Klassischen Altertums.
Daß sie nicht ihren Lieblingsberuf erlernen durfte, hat sie dem SED-Staat nicht verziehen. Dolmetscherin wäre sie gern geworden. Russisch sprach sie so fließend, daß sie sogar einen Schulwettbewerb („Russisch-Olympiade“) gewann.
In Mathematik war sie gut. Nur mit der Physik kam sie nicht zurecht - Grund genug, fand sie, genau dieses Fach zu studieren. Die DDR brauchte Physiker. Angela Merkel konnte auch ohne Mitgliedschaft in der SED ihr Studium beginnen.
Ehrgeizig war sie - auch da. „Besser sein als alle anderen“, diesen Anspruch hatte die Mutter den Kindern eingebleut. Gerade weil die Pfarrerfamilie mit der SED und ihrem Staat nichts im Sinn hatte, sollte sie durch Leistung unangreifbar sein.
Angela Merkel schrieb eine Doktorarbeit über die „Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten von Elementarreaktionen am Beispiel einfacher Kohlenwasserstoffe“ und fand dabei, wie sie heute unterkühlt mitteilt, „sogar etwas Kleines heraus“, was andere noch nicht wußten.
„Rackern für einen Staat, den man ablehnt?“ Sie hat sich diese Frage oft gestellt und - angeblich schon damals - mit der Feststellung beantwortet, sie müsse jetzt rackern und den Anschluß an die internationale Wissenschaft halten, um eines Tages, wenn es denn zur Einheit komme, nicht abgehängt zu werden.
Logisch, daß sie dann, als der Tag in greifbarer Nähe war, bei denen stand, die den schnellen Anschluß wollten.
Auch ihr Weg zu Krauses und Kohls CDU erklärt sich zwingend aus ihrer Biographie: Sie wollte die DDR nicht mehr, sie hatte sie nie gewollt. Dennoch hatte sie, anders als Krause, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober ein wehmütiges Gefühl im Bauch - weil ein Lebensabschnitt zu Ende ging.
Kein Wunder, daß Angela Merkel in der Blockflöten-CDU nur wenige Freunde besaß. Als sie sich entschied, in den Bundestag zu gehen, blitzte sie in Brandenburg und Thüringen erst einmal ab: „zu links“, hieß es. Dabei war sie nie „links“ im herkömmlichen Sinn. Aber sie kam mit den „Blockis“ aus der Honecker-Zeit einfach nicht zurecht. Niemals wäre sie Mitglied in der alten Ost-CDU geworden.
Das hängt ihr auch heute nach. Seit sie in dem von Generalsekretär Volker Rühe entfachten Streit Position für die Erneuerer bezog, ist sie den alten CDU-Funktionären im Osten suspekt. Gar nicht glücklich scheint der Landesverband Brandenburg über die Absicht des Kanzlers zu sein, die Frauenministerin zu seiner Stellvertreterin zu machen. Sogar ihr einstiger Förderer Krause geht auf Distanz: „Es muß kein Ossi sein.“
„Eine Kopfgeburt“, tönt es aus Berlin und Umgebung. Viel zuwenig bekannt sei die Frau im Lande, viel zuwenig entspreche sie dem normalen Typ des CDU-Mitglieds „drüben“ - solche Komplimente hört sie gern.
Ernster freilich nimmt sie die Einwände jener Frauen, die sich in der Abtreibungsfrage von der Frauenministerin im Stich gelassen fühlen.
„Bitter enttäuscht“ ist die Vorsitzende der SPD-Frauen, Inge Wettig-Danielmeier, daß Angela Merkel jetzt plötzlich Zugeständnisse an die Konservativen gemacht hat. „Man hat den Eindruck, daß ihr die Karriere wichtiger ist als ihre Überzeugungen.“
Nicht nein sagen zu können hat der gescheiterte CDU-Vize Lothar de Maizière als seinen größten Fehler bekannt. Es könnte auch Angela Merkels größtes Problem werden. 
SPIEGEL 1/1994

„Ich muß härter werden“

SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über die stellvertretende CDU-Vorsitzende Angela Merkel
Niemand scheint sie wahrzunehmen. Unauffällig, aber zielsicher strebt die Frau durch den vollbesetzten Volksparksaal im mecklenburgischen Städtchen Tessin. Dunkles Kostüm, gestreifte Bluse, harter Pagenhaarschnitt.
Langsam, fast widerwillig rappelt sich vor ihr einer der Honoratioren hoch, Christoph Brandt, der Kreistagspräsident der heimischen Union. Eine Weile tuschelt er mit der Angekommenen, dann quäkt er mißmutig durchs Mikrofon, daß der CDU-Kreisparteitag „unsere Landesvorsitzende“ begrüße, „Frau Minister Angela Merkel“.
Die nickt knapp, lächelt geschäftsmäßig in den spärlichen Beifall hinein. „Gemeinsamkeit finden“, verlangt das Spruchband über ihr.
Auf dem CDU-Kreisparteitag wird ihr Vorgänger, der geschaßte Bonner Verkehrsminister Günther Krause, bei seiner Ankunft geradezu überschüttet mit Applaus und Aufmerksamkeit: „Wie schön, daß du Zeit gefunden hast“, schallt es ihm entgegen, „komm doch ins Präsidium.“
Angela Merkel, 39, die ein feines Gespür hat für Signale der Macht, nimmt das eher belustigt zur Kenntnis. Sie weiß, daß sie hier „Angela, die Sanfte“ genannt wird. Daß sie das nicht ist, beginnen die Unionsherren an der Ostsee inzwischen zu ahnen.
Zunächst hatten es die zerstrittenen Provinzgockel im Landtag und in den Kreisen von Mecklenburg-Vorpommern für eine prachtvolle Idee gehalten, daß ausgerechnet eine Frau dem Machtmacker Krause nachfolgen sollte. Die könnte mal ein bißchen Harmoniesoße über den Laden kippen. „Als ich denen dann sagte: ,So nicht, meine Herren'', da warn se baff.“
Klar, daß sie nicht Krause ist, „bei weitem nicht“. Die Ministerin grinst pfiffig, sie muß die sturen Fischköppe eben anders kirre kriegen. Also drückt sie ihnen den Baden-Württemberger Klaus Preschle, 33, als Generalsekretär auf, ihren Statthalter sozusagen, und spart nicht mit herbem öffentlichen Tadel an Postengezänk und persönlichen Eitelkeiten. „Seither lebe ich politisch gefährlich“, sagt sie. Aber ist denn Politik etwa ein Beamtenjob bei ''ner Versicherungsgesellschaft? Risiko muß sein.
Das klingt weder leichtfertig noch provozierend. Ihre Sicherheit und die Selbstverständlichkeit ihres Auftritts verblüffen. Diese Frau weiß auch ohne Beifallsstürme, daß sie die steilste politische Karriere gemacht hat, die es in Nachkriegsdeutschland je gegeben hat.
In gut drei Jahren mauserte sie sich von einer blassen Helferin des Demokratischen Aufbruchs in Berlin zur Ministerin in Bonn, zur Stellvertreterin des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl und zur Landesvorsitzenden in Mecklenburg-Vorpommern. Im Superwahljahr 1994 soll vor allem sie im Osten die abbröckelnde Unionsfront halten.
Blaß ist die schmucklose Physikerin freilich immer noch. Daß ihr die zu diesem Aufstieg gehörende Aura des Erfolges völlig abgeht, irritiert im mediengeilen Bonn manchen. „Sie hat alle Insignien einer blendenden Erscheinung“, findet die FDP-Abgeordnete Uta Würfel, „aber sie macht einfach keinen Gebrauch davon.“
Das ist schwer zu verstehen und noch schwerer zu verzeihen. Angela Merkel liebt keine Selbstdarstellung, auf eine „Politik vordergründiger Wirkung“ glaubt sie verzichten zu können. Ohnehin sei bei ihr alles viel zu schnell gegangen und habe zu hoch hinauf geführt, findet sie. „Da fehlt der solide Unterbau. Ich sitze auf hoher Plattform mit wackligen Stützen.“
Mit großer Selbstverständlichkeit ist sie ihre politische Laufbahn nach der Wende angegangen. Lehrerin wäre sie gern geworden für Russisch und Physik; in der DDR mußte sie, aus christlichem Haus stammend, in die Forschung ausweichen. Heute sagt sie: „Es hat mich immer gereizt, wie man eine Gesellschaft in eine bestimmte Richtung drängen kann.“
So wie Ludwig Erhard. In den DDR-Zeiten heimlich, öffentlich nach der Wende beim Demokratischen Aufbruch, und in der Kohl-Partei tritt sie wie eine Art heilige Johanna der sozialen Marktwirtschaft auf. Sie verficht sie mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich von der Geschmeidigkeit anderer Wendegewinnler beträchtlich unterscheidet.
Daß ihr die Union heute als die verläßlichste Verfechterin Erhardscher Politik erscheint, hat ihren Widerwillen gegen die „Blockflöten“ aus dem Osten neutralisiert und ihr das „Mittun“ erleichtert.
Tatsächlich, bekennt sie heute, „war die Ost-CDU früher für mich eine schlimme Partei“. Inzwischen sei sie selbst „weitherziger“ geworden, urteile milder: „Ich habe gelernt, daß diese Partei für viele auch ein Hort war.“
Fasziniert von Bonn war sie lange. Immer schon ist die Pastorentochter aus Templin stolz darauf gewesen, in Hamburg zur Welt gekommen zu sein. Zur überzeugten DDR-Bürgerin, sagt sie, habe sie sich nie entwickelt, obwohl sie schon als Kind aufzusagen wußte, wer im Politbüro saß.
Politik war ihr Ding. Als Fünfjährige hielt Angela ihrer Großmutter darüber Vorträge. Mit acht Jahren wußte sie alle Namen des christ-liberalen Bonner Kabinetts auswendig, von Adenauer bis Wuermeling. Die wichtigsten Bundestagsdebatten verfolgte sie am Radio. „Die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten habe ich heimlich in der Schule auf dem Klo gehört.“
Nein, Angela Merkel verdankt ihre Karriere keineswegs der „Doppelquote Ossi und Frau“. Diese ebenso ehrgeizige wie disziplinierte Dame ist eine politische Naturbegabung. Instinktsicher wittert sie Spannungen und geheime Untiefen. Die Machtmechanismen in Partei, Regierung und Parlament sind ihr inzwischen vertraut. Sie kann sich wehren. Sie hat Geduld. „Und“, sagt sie, „ich bin Realist.“
Von ungefähr kommen diese politischen Talente natürlich nicht. Im Hause Merkel wurde immer politisiert, vor allem der Vater engagierte sich heftig. In der DDR sympathisierte er mit dem Sozialismus, heute gehört er zum Neuen Forum. Der Bruder, Physiker wie seine älteste Schwester, ist Mitglied beim Bündnis 90/Grüne. Nur die jüngere Schwester, von Beruf Krankenschwester, ist politisch nicht aktiv.
Während der DDR-Zeit bemühte sich die Mutter zwar nach Kräften, die hitzigen Debatten zu dämpfen, Politik vom Küchentisch fernzuhalten. Auch sie ist heute aktiv, als SPD-Stadtverordnete in Templin. Einen leichten politischen Stand kann die Ministerin bei ihren Besuchen zu Hause nicht haben. Aber darüber redet sie nicht.
Sie sagt überhaupt nicht viel, was sie kenntlich machen könnte, zumindest im Westen nicht. Lange wird es nicht mehr dauern, bis ihre Sprache tatsächlich jenen „Gediegenheitsgrad“ erreicht hat, der - wie sie spottet - in Bonn von jedem verlangt wird, der professionell wirken will. Zunehmend hat sie kesse Charakterisierungen durch unverbindliche Floskeln ersetzt. Nur noch gelegentlich blitzt Selbstironie auf, nur noch selten wird etwas von ihrer melancholisch eingefärbten Kiebigkeit sichtbar.
Angewidert von den Fragen der „Wessi-Fritzen“ verbirgt sich die verletzliche Politikerin hinter ihrem Mißtrauen. Sie zieht sich in ihren Argwohn zurück wie in ein Gehäuse. Auf emotionale Situationen reagiert sie extrem sachlich. Nichts fürchtet die Naturwissenschaftlerin mehr als Situationen, die sie nicht bis zum Ende überblicken kann. Sie plant alles.
Wird sie nicht auch, wie alle Ossis, „oft beäugt wie ein Tier aus dem Zoo“? Findet sie sich nicht immer gleich abgestempelt und in Klischeefächer einsortiert? „Die Schubladen passen alle nicht, in die ich gesteckt werde“, klagt sie, „ich bin aber immer schon drin, wenn ich den Mund aufmache.“
Es ist eine wunderliche Kommode, die so zustande kommt. Die Urteile über Angela Merkel schwanken extrem - von „mausgrau“ und „bieder“ über „schlagfertig“, „blitzgescheit“ und „selbstbewußt“ bis zu „überheblich“ und „herzlos“. Daß sie unterschätzt wird, hält sie für einen beträchtlichen politischen Gewinn. Daß ihre glatte Undeutlichkeit viele abstößt, unterschätzt sie.
Ist sie ein noch verpuppter Polit-Schmetterling? Die brave Tochter des Papa Kohl? Hat sie keinen Mumm? Oder keine Ahnung? Ist sie nichts als eine typische Ossi-Anpasserin, die im Strom der Macht mitschwimmt?
Angela Merkel sähe sich, wie böse Bonner höhnen, durch solche Fragen eher bestätigt als entlarvt. Allenfalls Irritationen über ihre Ossi-Rolle würde sie einräumen - denn das verblüfft sie selbst, daß sie, die sich nie als DDR-Bürgerin fühlte, inzwischen „wie ein echter Ost-Heini“ empfindet.
Wiederholt sich heute hüben, was ihr damals drüben widerfuhr? „Ich habe ein sehr schizophrenes Leben geführt“, erzählt sie: „Ich war Teil des Staates DDR - und lebte zugleich in permanenter Auflehnung dagegen.“
Manchmal klingt Angela Merkel jetzt, als sei sie wiederum in Auflehnung. Besonders verbittert reagiert sie auf die Art, wie ihr sächsischer Parteifreund Steffen Heitmann als Präsidentschaftskandidat erst gehandelt und dann abserviert wurde.
Sie habe bei der Wende gehofft, sagt Angela Merkel, daß in einer Demokratie anständig gestritten werde, über Ziele, Personen und Methoden von Politik. Nun erlebt sie Befremden und Gelächter, wenn sie im Westen sagt: „Ich habe mich so gefreut auf den Streit.“
An einer neuen Kandidaten-Diskussion will sie sich jedenfalls nicht mehr beteiligen: „Weil diese Republik so ist, wie sie ist.“ Das klingt ziemlich endgültig.
In allen Bonner Parteien, von der PDS bis zur Union, hört sich Ossi-Resignation heute ähnlich an. Ist sie überfordert mit ihrem politischen Doppelleben am Rhein und an der Ostsee? Wirkt ihre Identität deshalb so verwackelt?
Angela Merkel macht keinen Hehl daraus, wie sehr sie „fast körperlich“ leide an den Spannungen, denen sie bei ihrem Hin und Her zwischen zwei Welten ausgesetzt ist. So stark ihre Rückbindung an die Heimat im Osten ist, so heftig ist auch der Wandertrieb, den der neue Beruf fördert. Wo ist ihre Heimat? Im Bonner Ministerium? Bei ihrem Lebensgefährten, dem Chemiker Joachim Sauer, in Berlin? Im Wahlkreis auf Rügen? Bei den Eltern in der Uckermark? „Nester“ hat sie, kein Zuhause.
Immer zerren die unterschiedlichen Lebensgeschwindigkeiten an ihr - langsam ist das Tempo im Osten, obwohl viele Probleme drängender erscheinen und der Wunsch nach Veränderung auch. Im Westen dagegen, wo sonst alles zack, zack geht, haben alle Veränderungen, die sich aus der Vereinigung ergeben, offenkundig viel Zeit.
Gründe genug für ein verwischtes Persönlichkeitsbild, erklären sie nicht doch nur unzulänglich das Phänomen einer Frau, die voller Energie steckt und doch kaum Ausstrahlung hat? Sollte da nicht eine persönliche Problematik hinzukommen?
Die Damen der Frauen-Union von Mecklenburg-Vorpommern horchen auf, als ihnen ihre Ministerin nach allerlei vagen Appellen zum Wahlengagement zuruft: „Frauen müssen streitbar sein.“ Es sei Zeit, daß die Unionsherren endlich begriffen, „daß wir Frauen auch unbequem sein können, ja, im Interesse der Partei und ihrer Wahlchancen auch unbequem sein müssen“.
Habt doch Verständnis, werte Herren - ach je. Was als flammender Aufruf anhebt, verkleckert im Flehen um die Zustimmung der Männer. Nein, als Frauenministerin erscheint Angela Merkel alles andere als eine Idealbesetzung.
Die manchmal fast knabenhaft wirkende Ministerin wehrt sich dagegen, „mit klischeehaften Erwartungen an Weiblichkeit konfrontiert zu werden“. Wenn Angela Merkel Zeitung liest, dann schlägt sie zuerst die Wirtschaftsseiten auf, vertieft sich dann in Berichte über die Forschung und wendet sich der Politik zu. Erst am Ende kommen Frauenthemen dran, unter „Sonstiges“ sozusagen.
Am liebsten beweist sie sich in männlichen Kontexten. In der Union vermißt sie die weibliche Solidarität, auch bei Rita Süssmuth und den anderen CDU-Schwestern. Die Ministerin, die auch für Jugend zuständig ist, kann mit Skins und Punks eben besser reden als mit ihresgleichen. Sie ist stolz darauf, vor körperlichen Bedrohungen gewalttätiger Rechtsradikaler nicht zurückzuweichen. Und sie ist noch stolzer auf ihre naturwissenschaftliche Logik: „In Bonn mußten einige erkennen, daß nicht nur die Juristen denken können in dieser Welt.“
Zu sein wie die Männer, nur besser - dieses Karrieremuster der Angela Merkel ist nicht erst in der Politik entstanden. Den Auftrag „Du mußt besser sein als alle anderen“ erhielt sie von ihrer Mutter. Das Modell, das sich zum Nacheifern anbot, war der Vater. Den hieß es zu überbieten, ohne ihn zu kränken.
Vater Merkel, der Anfang der fünfziger Jahre in Hamburg studiert hatte und dort lebte, war freiwillig auf eine Pfarrstelle zurück in die heimische Mark Brandenburg gegangen. Die Tochter hat ihn dafür lebenslang kritisiert. Sie setzte ein idealisiertes Kapitalismus-Modell gegen seine Utopie eines idealistischen Sozialismus.
Je näher der Vater dann in der Spätzeit der DDR an alternative Gruppierungen geriet, desto entschiedener distanzierte sich die Tochter von allen basisdemokratischen Experimenten. „Ich bin ein bürgerlicher Mensch“, sagt sie. „Es war einfach nicht mein Lebensstil, nächtelang zu diskutieren in verräucherten Buden. Ich bin da konservativ.“
An politischen „Vätern“, denen sie nach außen loyal folgt, ohne ihnen in vertraulichen Gesprächen ihre inhaltlichen Abweichungen und Vorbehalte zu verbergen, ist im kurzen politischen Leben der Angela Merkel kein Mangel. Sie hat diese Männer bisher nicht nur alle überlebt, sie ist auch über sie hinausgewachsen - über den Rechtsanwalt und Stasi-Spitzel Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch, wie über ihre CDU-Chefs aus der Volkskammerzeit, Lothar de Maizière und Günther Krause.
Und Helmut Kohl? Es ist in Bonn ein offenes Geheimnis, daß der Bundeskanzler an „dem Mädchen“, wie er besitzergreifend zu sagen pflegt, ein Wohlgefallen hat. Helmut Kohl lobt ihre politische Treue, achtet ihren Fleiß und die Zähigkeit, mit der sie mangelnde Härte auszugleichen sucht, schätzt ihren Machtinstinkt, ihren historischen Sinn und ihr Gespür für Atmosphäre.
Vor allem behagt dem Kanzler, daß sie ihn so rückhaltlos bewundert. Mag sie ihm auch unter vier Augen widersprechen - ein Patriarch wie Kohl spürt, daß sie selbst da in seinem Sog mittreibt, wo sie gegen ihn anzuschwimmen meint.
Angela Merkel reagiert mit Empörung auf den Verdacht, des Kanzlers „brave Tochter“ zu sein. Der Anpasservorwurf laufe ihr nach, solange sie im Amt ist. Gewiß, sie könne gut mit ihm reden, bekennt sie. Sie mag seinen Humor, staunt erstaunlicherweise, „daß er den Bezug zum normalen Leben nicht verloren hat“ und bewundert, „wie er die Welt über Menschen wahrnimmt“.
„Ein Ergebenheitsverhältnis“ möchte sie ihre Beziehung zu Kohl gleichwohl nicht genannt wissen.
Doch kriegt sie, wenn es darauf ankommt, in geheimen Gesprächen offenbar auch kein Nein zustande. Schon ehe sie in Schwerin ihren härtesten Job übernahm, rutschten ihr bei öffentlichen Auftritten manches Mal vor Erschöpfung die Augen weg. Konnte sie sich nicht verweigern, als ihr Kohl auch noch die Bürde des Landesvorsitzes in der verrotteten CDU zwischen Schwerin und Greifswald aufnötigte? Der Kanzler wußte wohl, was er ihr zumutete. Er sagte es auch. „Jetzt wird das Mädchen erstmals halbwegs mit dem Ernst des Lebens konfrontiert.“
Hätte sie sich verweigern sollen? „Solche Haltung würde ich verachten“, versichert Angela Merkel und guckt so trotzig wie eine Kleistsche Prinzessin von Homburg. „So bin ich nicht. Das gehört nicht zu meinem Verständnis von Politik und Leben. Ich lasse mich in den Dienst nehmen.“
Ehrenvoll, gewiß. Aber kann sie sich bei soviel unerschütterlicher Loyalität eigentlich wundern, daß Eigenständigkeit und Widerspruch öffentlich kaum wahrgenommen werden? Daß sie als politischer Nickesel des Kanzlers gilt? Gleichberechtigungsgesetz, Aufbau der Jugendhilfestruktur im Osten, die Kinderschutzkampagne - ihre eigene Erfolgsbilanz klingt blutleer und bürokratisch. Gegen die Enttäuschung, mit der viele Frauen auf ihren Kompromiß zum Paragraphen 218 reagiert haben, wiegen Angela Merkels Ergebnisse leicht.
„Ich muß härter werden“, redet sie sich ein, „sonst läuft gar nichts.“ Aber die Härte, die nötig wäre, offen gegen väterliche Autoritäten aufzumucken und aus hierarchisch-patriarchalischen Strukturen auszubrechen, die meint sie nicht.
Als Angela Merkel im September im Hafen von Saßnitz aus dem Kutter „Sternhai“ des Fischers Fritz Peters klettert, ist sie zutiefst deprimiert. Nicht nur die wirtschaftlich schwierige Lage der Fischer bedrückt sie, sondern auch die ungeschickte Politik ihrer eigenen Partei.
Solche wie Peters, der sich bitter beklagt, daß ihm im Namen der freien Wirtschaft unentwegt bürokratische Knüppel zwischen die Beine geworfen würden - solche unternehmungslustigen Typen „sind doch eigentlich die Leute, die wir wollen“.
Sie redet sich in Rage. Von wegen Ossi-Mentalität: „Der Peters setzt sich auf so ''ne Rostnudel und fährt unter Lebensgefahr Tag für Tag seine Geschäfte ein.“ Und die Union läßt ihn im Stich. Ist es da ein Wunder, daß Wähler und Mitglieder in hellen Scharen der CDU weglaufen?
Knapp drei Monate später, nach den jüngsten Kommunalwahlen im Osten, sagt die Ministerin: „Ich weigere mich, das Brandenburg-Ergebnis als Kohl-Niederlage zu werten.“
Ihre Abwehr klingt aggressiv. Sie sei das ewige Gerede über seinen politischen Untergang leid. Der Bundeskanzler sei schon viel nervöser und schwächer gewesen als jetzt. „Solange ich dabei bin, die ganze angespannte Legislaturperiode lang, erlebe ich doch eine Situation, wo alles dauernd am Ende ist.“
Trotz? Nein, sie wird sich im Superwahljahr nicht kritisch absetzen vom Kanzler der blühenden Landschaften und seinen Fehlern. Im Gegenteil, sie wird, wie ihr väterlicher Chef, die „verbonzte“, „verkrustete“ und „verfettete Republik“ verantwortlich machen für alle Schwierigkeiten diesseits und jenseits der Elbe, den ganzen „Freizeitpark“ Bundesrepublik Deutschland.
Diese Kohl-Formeln, die angeblich das ganze Land meinen, lassen sich im Osten trefflich gegen die Wessis deuten, ohne es ausdrücklich zu sagen.
Nicht, daß Angela Dorothea Merkel sich Siegeschancen versprechen könnte von solcher Strategie. Aber so ist sie eben, loyal. Und es mag ja auch reichen, um ihren mächtigsten politischen Vater zu überleben. 
SPIEGELreporter 3/2000

Das eiserne Mädchen

Wer das Geheimnis der Angela Merkel ergründen will, wer begreifen will, warum eine Frau aus dem Osten zur Integrationsfigur einer erzwestlichen Partei werden kann, muss mit ihr von Krisensitzung zu Krisensitzung ziehen und dorthin gehen, wo sie herkommt. Von Alexander Osang
Manchmal muss sie noch mal zurück in diese Stadt, die so gut passt zu Kohls Ehrenwort, zu Weyrauchs verrostetem Garagentor, zu Leisler Kieps Einstecktuch, zu Kanthers Frisur, noch mal zurück in dieses Bonner Konrad-Adenauer-Haus, wo man einen dieser Siebziger-Jahre-Sexfilme drehen könnte, ohne ein einziges Möbelstück zu verrücken. Nach der Pressekonferenz will sie schnell weg, schnell nach Berlin, der Rückflug ist ausgebucht, alle sind in der Maschine, nur sie steht noch im Warteraum und telefoniert. Sie weiß, in einer Stunde, in Berlin, kann alles anders sein. Sie hört, dass Kohl heute abend im Fernsehen spricht. Sie schaltet ihr Handy ab und sagt leise: „Er schlägt zurück. Heute schlägt er zurück.“
Am Abend sieht Angela Merkel Helmut Kohl im Fernsehen. Sie ist zu Besuch bei Freunden und fragt, ob die was dagegen haben. Nein, denn Kohl gucken gehört inzwischen dazu. Es ist spannend. Kohl marschiert in das ZDF-Studio wie ein General. Thomas Bellut vom ZDF knallt die Hacken zusammen. Er fragt nach Angela Merkel.
Er sei nicht hierher gekommen, um über Angela Merkel zu reden, sagt Kohl. Und dann redet er. Wie ein betrogener Liebhaber. Oder ein enttäuschter Vater.
Die Tür öffnet sich am Rande von Templin, es ist die Tür des letzten Hauses in einer kurzen Sackgasse. Horst Kasner ist überraschend groß und überraschend aufrecht für einen 74-jährigen Pfarrer. Er trägt ein graues Cordjeans-Hemd, hat breite Schultern, aber sein linkes Auge ist trübe. Als ich anbiete, die Schuhe auszuziehen, lacht er. Man erkennt jetzt die Tochter in seinen Zügen. Auch die Art, wie er die Arme schwingt, vorfreudig irgendwie, könnte sie von ihm geerbt haben. Die Frage ist, worauf er sich freut.
„Nee, nee behalten Se mal Ihre Schuhe an“, sagt Kasner. „Manche bringen sogar ihre Hausschuhe mit. In der Plastetüte. Das ist so eine Sitte bei den Leuten hier.“ Er läuft in ein helles Wohnzimmer. Der Fußboden ist aus Holz, und hinter den großen Fenstern sieht man einen speckig glänzenden, uckermärkischen Acker. Der Himmel ist milchfarben.
Es stehen zwei Stühle bereit. Der Stuhl des Pfarrers thront mitten im Raum, und irgendwie sieht der eher aus wie der Fragerstuhl. Er ist höher. Manche sagen, Kasner sei die graue Eminenz der brandenburgischen Kirche. Er redet über Berlin-Pankow, wo er aufwuchs, über Heidelberg, wo er von 1948 bis 1952 Theologie studierte. Ihm war immer klar, dass er in den Osten zurückgehen müsse. „Wir wollten nicht bei den Fleischtöpfen Ägyptens herumhängen. So haben wir das damals genannt. Wir wurden doch im Osten gebraucht.“ Er spricht davon, wie er sich in den Jahren vor dem Mauerbau die Geldscheinbündel, mit denen ihn die West-Berliner Kirche unterstützte, in die Hosentaschen stopfte und sie in den Osten schmuggelte; zweimal in der Woche manchmal, um in Templin ein kirchliches Seminar aufzubauen. Er lacht, aber man weiß nicht, ob er es auf heute bezieht oder weil er sich einfach gern daran erinnert.
In seinem Rücken streckt sich ein mächtiges Regal, das zum großen Teil mit den bekannten, blassen Büchern der DDR-Verlage gefüllt ist. Am anderen Ende des Raumes steht eine Schrankwand aus Hellerau. Es ist ein klares Zimmer, neu, aber nicht angepasst. Es hat die deutsche Einheit gut überstanden.
Kasners Frau stammt aus dem Westen und zahlte einen hohen Preis dafür, dass Kasner nicht an den Fleischtöpfen Ägyptens leben wollte. Sie hätte in der DDR gern unterrichtet, was sie studiert hatte, Englisch und Latein. Aber man ließ sie nicht. Ihre Tochter Angela gebar sie noch in Hamburg und brachte das drei Monate alte Kind in einem Korb mit in die DDR. Sie wohnten kurze Zeit in Quitzow und zogen von dort nach Templin, eine Kreisstadt in der Uckermark. Das Mädchen wollte nicht laufen. Sie saß immer nur im Laufgitter herum. Sie redete früh, aber sie lief nicht. Ihre Eltern mussten es lange mit ihr üben. Erst mit fünf Jahren lernte sie zum Beispiel, einen Berg herunterzugehen.
Sie hat noch zwei Minuten. Warum es gerade zwei sind, ist so unklar wie das, was sie antreibt. „Zwei Minuten“, murmelt sie und taxiert die Vorhalle, die überall sein könnte. Diesmal ist sie in Grimmen, wo der 7. Kreisparteitag der CDU Nordvorpommern stattfindet. Es riecht nach Erbsensuppe und nach Zigaretten.
Der Mann mit dem verzückten Blick und der Busfahrer-Frisur kommt Angela Merkel bekannt vor, die Frau mit den kalten Augen hat ein Mikrofon. Der Mann hat ihr mal ein Glas Honig geschenkt, die Frau ist von CNN. Eine Journalistin aus Amerika und ein Imker aus Grimmen. Drei Fragen und ein Dank. Dann muss sie weg. Zwei Minuten. Es regnet immer noch. Klackklackklack machen die Schuhe irgendeiner Frau aus dem Schwanz von Presse und Lokalpolitikern, den sie seit Wochen hinter sich her schleppt. Merkels Schuhe machen keine Geräusche, sie sind flach und weich, und man kann gut in ihnen laufen.
Der Fotograf mit dem langen Teleobjektiv fotografiert für den „Stern“, weiß sie. Die Reporterinnen der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Berliner Zeitung“ laufen hinter ihr. Die Redaktionen schicken ihr jetzt Frauen nach, weil sie das Phänomen erklärt haben wollen. Das Phänomen Merkel. Was macht die da? Verstehen Frauen nicht besser, was Frauen fühlen? Vielleicht ist das so, aber es hat seinen Preis. In den Gesprächen mit der Fotografin und Buchautorin Herlinde Koelbl muss sie so lange über Pflaumenkuchen reden, bis man eine Gänsehaut bekommt. Sie spricht mit „Gala“ über Kochen und Markenkleidung, die „Zeit“ befragt Psychologen zum Thema Vatermord, und in der Talkshow von N3 diskutiert sie mit zwei Zeitgeistkolumnisten der „Süddeutschen Zeitung“ über die Farbe ihrer Jacke.
Am besten würden sie natürlich ostdeutsche Reporterinnen verstehen, aber die haben meistens keine Ahnung von der Politik, glaubt man in den Redaktionen. So denken sie wirklich, die Jungs in den klein karierten Jacketts mit ihren wichtigen Kontakten in die Polit-Szene. Genau genommen ist das Angela Merkels Glück, weil sie so immer ein Stück Welt für sich behält. Zwischen Bonn und Berlin, Männern und Frauen, Osten und Westen.
Sie kann in eins ihrer Verstecke springen, warten, überleben.
Einmal hat sie mit dem PDS-Bundesgeschäftsführer Bartsch russisch geredet, kurz bevor die „Bonner Runde“ auf Sendung ging. Sie mag die kleinen Geheimnisse, und manchmal steht das in ihren Augen, wenn man ihr eine Frage stellt. Dann zögert sie mit der Antwort, schaut wissend und sagt dann irgendetwas Harmloses.
„Drei Fragen“, sagt sie zu der CNN-Journalistin und reibt sich die Handflächen aneinander, als friere sie. Sie guckt nicht freundlich, aber mit dem schief gelegten Kopf, der zumindest Aufmerksamkeit signalisieren soll. CNN bringt ihr nichts, das ZDF ist jetzt wichtig und die „FAZ“. Der Scheitel rutscht ihr vor den Mund.
Sie hat irgendetwas gesagt. O-Töne. Die Antworten kann man vergessen. Es sind vier Minuten vorbei, die einem vorgekommen sind wie zwei.
„Ich habe noch nicht gekostet, aber ich habe mich sehr gefreut“, sagt sie zu dem Imker mit der Busfahrer-Frisur. Sie schlägt den Mantelkragen hoch und hüpft durch die Pfützen unter den nassen, schlaffen „CDU - mitten im Leben“-Fahnen zu ihrem Auto. Sie gibt einem oft das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Sie nimmt das Leben mit.
Der Imker bewegt sich nicht, er schaut, als sei er von einer Wunderheilerin berührt worden. Sein Blick leuchtet warm, und der Mann scheint sogar ein wenig zu schweben. Egon Spychalski ist 62 Jahre alt, hat früher im Außendienst beim VEB Erdgas Grimmen gearbeitet und ist seit 1975 in der CDU. Er war immer schon Hobby-Imker, den VEB Erdgas Grimmen allerdings gibt es nicht mehr, Spychalski ist Rentner.
„Sie wollen sicher wegen den Koffergeschichten fragen“, sagt er, als sei er durch die Berührung Angela Merkels zu einem Insider der Spendenaffäre geworden.
„Ich hab dazu 'nen Standpunkt. Sagt Ihnen der Name Schalck-Golodkowski was? Ja? Na sehn Sie. So viele Zufälle gibt's gar nicht. Da steckt die KoKo dahinter.“
Welche Zufälle?
„Wir hatten hier ja mal ein Waffenlager in der Nähe von Rostock, Schreiber hat auch Waffengeschäfte gemacht. Da muss man nur eins und eins zusammenzählen. Wir hier im Untergrund wissen ja manchmal mehr als die da oben. Man sollte die Stasi oder was die Vergangenheit war, nicht unterschätzen.“
Was ist das für Honig, den er Frau Merkel schenkte?
„Oh, das ist, äh, nur Honig“, sagt Spychalski und sein Blick wird fiebrig. „Bitte verstehen Sie das nicht falsch jetzt. Das war 'ne private Sache, also nicht offiziell. Das war nebenher, 'ne Probe, ja, 'ne Probe. Nicht, dass hier noch ein Skandal aufgedeckt wird. Also, das ist ja keine Spende. Das ist intern. Das hätte sie nicht verdient, sie hat es schon so schwer genug.“ Spychalskis Blick fleht jetzt, irgendwas läuft schief.
Jeder der Redner auf dem Parteitag nimmt Bezug auf Helmut Kohl. Jeder ist kompetent, jeder ist betroffen. Das Wort Koffer hat seine Unschuld verloren. Das Wort Spende auch. Ein alter Mann ruft vom Pult, Helmut Kohl sei gottlos geworden, weil das Geld nicht gesegnet gewesen sei. Alle klären auf, alle sind verdächtig. Meldungen, die kein Mensch mehr versteht, die aber irgendwie verdächtig klingen, irren durch die Radionachrichten. Viele Ostler denken jetzt an die Wendezeit. An die Stasi und die Politiker, die starben wie die Fliegen. „Ich habe eine Dummheit gemacht“ klingt doch genauso wie: „Ich habe keinem geschadet.“ Und „ich entschuldige mich“ klingt wie: „Ich liebe euch doch alle.“
Hobby-Imker Spychalski kämpft verzweifelt um seine Landesvorsitzende. Er lobt Angela Merkel, er traue ihr den Parteivorsitz zu, sie könne noch zuhören, aber bis zum Schluss wird ihn das Gefühl nicht verlassen, er habe sie ans Messer geliefert. Mit seiner Honigspende. So wie Wolfgang Schnur damals, der ihr nicht gesagt hat, dass er bei der Stasi war, und dann Helmut Kohl, der ihr nichts vom Schwarzgeld verriet, und zuletzt Wolfgang Schäuble, der nicht sagte, dass er Geld von Schreiber bekommen hatte. Sie haben immer nur an den Honig gedacht, nie an sie.
Natürlich könnte man jetzt Günther Krause zu Wort kommen lassen, der sich bitter beklagt, wie karrieregeil Angela Merkel ist. Krause war der erste Bundesminister aus dem Osten, er war ihr Vorgänger als Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern und hat damals ziemlich viel Mist gebaut. „Sie ist eine nette junge Frau, die dir sofort in den Hintern tritt, wenn du dich umdrehst. Mit Helmut Kohl hat sie es so gemacht. Der nächste: Wolfgang Schäuble“, sagt Krause. Mehr wolle er zu „Frau Merkel“ aber nicht sagen, und dann redet er noch 20 Minuten fiese Sachen, aber das kennt man ja alles, und so könnte man auch Charly Horn zu Wort kommen lassen, ihren Klassenlehrer, den kennt nämlich kaum jemand.
Allerdings will Charly Horn nicht reden. Er steht in einer Kochschürze in der Tür seiner Templiner Neubauwohnung, sein Gesicht ist verschwollen, und als er den Namen Angela Merkel hört, schwillt es, soweit das möglich ist, noch mehr zu. „Kein Wort zu der Merkel“, sagt er. „Es gab da einen Vorfall in der 12. Klasse, zu dem ich mich nicht äußern werde.“
Charly Horn war ihr Klassenlehrer an der Erweiterten Oberschule „Hermann Matern“, kein schlechter Kerl, aber auch nicht besonders engagiert. Weil er es verpennte, wollte die Klasse nicht am jährlichen Kulturwettstreit der Schule teilnehmen. Sie wollten Horn damit bestrafen, aber so liefen die Dinge damals nicht. Wer nicht für die Sache war, war gegen sie. Und wer ein Kulturprogramm ausfallen ließ, gefährdete schnell den Weltfrieden. Kasner redete seiner Tochter ins Gewissen, denn sie hatte inzwischen etwas zu verlieren. Und er auch. Es war kurz vorm Abitur, sie war Pfarrerskind, sie hatte eine Studienzulassung für Physik, er wollte das Leben retten, das er für sie geplant hatte.
„Angela war eigentlich sehr harmoniesüchtig“, erzählt ihr Vater. „Das war die einzige pubertäre Aufwallung, die mir im Gedächtnis geblieben ist. Ich hab sie in letzter Sekunde überredet, doch ein Kulturprogramm zu machen. Sie hatte keine Funktion, aber sie war schon sehr wichtig in ihrer Klasse. Sie haben sich alle bei uns getroffen und in drei Stunden ein Kulturprogramm aus dem Boden gestampft.“
Ein paar Morgenstern-Gedichte und eine kleine Rede, in der sie verkündeten, dass sie ihr gesammeltes Solidaritätsgeld für die Frelimo, die antikolonialistische Befreiungsbewegung Mosambiks, spendeten. Das führten sie dann auf. Das Blöde war, dass kein Lehrer Christian Morgenstern kannte. Und im Gedicht „Mopsenleben“ kommt ja eine Mauer vor, auf der der Mops sitzt. Bei Mauer dachten die gleich an eine politische Provokation. Sie haben zu Hause nachgeschlagen und herausgefunden, dass Morgenstern ein Bürgerlicher war. Da fügte sich natürlich ein Bild. Erschwerend kam hinzu, dass die Frelimo weitgehend unbekannt war; damals wurde für Vietnam gespendet. Jemand sagte, dass dies eine kirchliche Organisation sei. Damit hatten sie den Schuldigen. Die Pfarrerstochter.
Unglücklicherweise saß die Frau des Kreisschulrates mit im Publikum. Es wurde ein richtiger Skandal. Charly Horn schob alles auf seine Klasse. Die Schüler wurden verhört, aber die Eltern wehrten sich. In einer Elternversammlung standen plötzlich alle auf und gingen. „Ich habe bis zum Herbst '89 nie wieder eine solche Zivilcourage erlebt“, sagt Merkels Vater. „Aber im Bezirk waren sie wild entschlossen, die Schüler zu bestrafen. Ich hatte einen Informanten, der mir sagte, ich müsse mich diesmal an höhere Stellen wenden.“
Kasner wandte sich an Bischof Albrecht Schönherr. Der sprach den Fall beim Sekretär für Kirchenfragen im Zentralkomitee der SED an. Offenbar herrschte dort eine kirchenfreundliche Stimmung, vielleicht hing es auch mit der Frelimo zusammen, genau wusste man das ja nie. Jedenfalls wurden nicht die Schüler bestraft, sondern ihre Ankläger. Der erste, der strafversetzt wurde, war Charly Horn. Später wurde der Direktor der Schule ausgetauscht und dann der Schulrat.
Horn war, so kann man es sehen, der erste Mann, der Angela Merkel verriet.
Sie scheint die Krise zu genießen. Als sie im letzten Jahr die Niederlagen der SPD in den Landtagswahlkämpfen kommentierte, wirkte Angela Merkel oft lustlos. Jetzt geht's ihr wieder besser, die Dinge fließen. Im Dezember griff sie Kohl in einem „FAZ“-Artikel an, ihren Ziehvater, von dem sie sich längst gelöst hatte. Bereits auf dem CDU-Parteitag nach der verlorenen Bundestagswahl monierte sie das Wahlkampfmotto „Sicherheit statt Risiko“. Kohl blinzelte damals schwach, er hatte noch Tränen in den Augen von seiner Verabschiedung. Er war auf dem Weg in die Geschichtsbücher, ein großer deutscher Kanzler. Unverletzlich. Aber diesmal drang es zu ihm durch, auch weil ihr „FAZ“-Artikel zwei Tage vor Heiligabend erschien. So denkt er, und das weiß sie. Ein kleiner Mut, aber zur richtigen Zeit: Sie hatte Schäuble nicht gefragt, weil sie wusste, dass er ihr den Artikel verboten hätte. Und sie wusste schon, dass er schwach war und vorsichtig sein musste - wegen seiner Treffen mit Schreiber.
Je schlimmer die Vorwürfe an die anderen wurden, desto unschuldiger schien sie zu sein. Wo immer sie in den vergangenen Wochen für die CDU auftrat, wurde sie gefeiert. Machen Sie was, halten Sie durch. Manchmal allerdings scheint es, als liebten die Leute sie bloß dafür, dass sie sich in den Talkshows nicht verspricht. Als sähen die Menschen ihr bei der Schulaufführung zu und hofften, dass sie den Text nicht vergisst.
Auf Kurt Biedenkopfs Geburtstagsparty in Dresden waren sie und der Kinderliedersänger Rolf Zuckowski die begehrtesten Gäste. Kurt Biedenkopf wünschte sich ein Foto mit ihr. Rita Süssmuth suchte ihre Nähe. Monika Diepgen wollte sie einfach nur umarmen. Während der pompösen Feier in der Dresdner Semperoper saß sie neben Richard von Weizsäcker in der zweiten Reihe der Königsloge und plauderte. Schäuble saß am Rand, vor sich hin stierend, kaum noch am Leben. Sie wirkte unabhängig, über den Dingen stehend, lächelnd. Ein Teil des Ganzen und dann doch nicht. Als sie mit Rita Süssmuth zusammenstand, sah es aus, als gäbe Angela Merkel ihr eine Audienz. Man musste damit rechnen, dass sich Rita Süssmuth gleich ein Autogramm wünschte. Der ewig grinsende thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel wirkte neben ihr wie ein durchgedrehter Alter.
Aber als Kurt Biedenkopf einen Moment allein vor dem Kessel mit sächsischer Kartoffelsuppe stand, sprang sie auf und schnappte ihn sich. Der Einzige, der hier wichtig war.
Sie weiß, dass sie sich nicht ausruhen darf. Der „FAZ“-Artikel gegen Kohl wirkt harmlos, wenn man ihn heute liest, denn der große, dicke Feind liegt längst am Boden, ihr verdorren die Worte im Mund. Von Tag zu Tag werden sie bedeutungsloser, leichter. Helmut Kohl interessiert schon niemanden mehr. Der Druck aber lässt nicht nach. Und sie muss reden, reden, reden. Immer wieder vor die Kamerawände treten.
Kasner hat versucht, den Druck von seinen Kindern fern zu halten, sagt er. Nur in der ersten Klasse, als die anderen sofort in die Pionierorganisation eintraten, ließ er sie warten. „Ich wollte ihnen zeigen, dass man nicht alles mitmachen muss. Aber wir hatten uns ganz bewusst für diesen Schritt entschieden, in die DDR zu gehen. Wir wollten den Druck nicht an unsere Kinder weiterleiten. Wir wollten ihnen eine Chance in diesem Land geben.“ Alle drei Kinder gingen zu den Pionieren und später in die FDJ.
Kirchenkinder mussten trotzdem besser sein als alle anderen. Angela gewann zwei DDR-Russisch-Olympiaden und war in der Förderklasse für Mathematik. Sie war beliebt bei ihren Mitschülern und auch bei den Lehrern. Zumindest sieht das heute so aus.
In einer Templiner Villa, die den Namen „Frohsinn“ trägt, wohnen zwei ihrer Lehrer. Oben Beeskow, der Mathematik an der Grundschule unterrichtete. Ein Christ, der es zu DDR-Zeiten schwer hatte. Unten Gabriel, ein ehemaliger Schuldirektor. Auch ein Mathematiklehrer, aber ein Kommunist. Sie sind beide 60 und leben hier zusammen wie Don Camillo und Peppone. Gabriel hat das „Neue Deutschland“ abonniert. Beeskow ist der Fraktionsvorsitzende der CDU in der Stadtverordnetenversammlung von Templin. Gabriel ist Invalidenrentner, er sitzt im Rollstuhl, sein Körper wird von einer unheilbaren Muskelschwächekrankheit zerstört. Er kann vor keiner Klasse mehr stehen. Beeskow ist nach der Wende Direktor der Schule geworden. Gabriel hat die Villa zu DDR-Zeiten von Beeskows Schwiegereltern gekauft. Ganz legal. Für 15000 Ostmark, heute dürfte sie etwa 30-mal so viel wert sein. West. Beeskow hat die historische Schlacht gewonnen und eine andere verloren. Er ist Direktor, und er ist Mieter beim Kommunisten.
Sie belauern sich gegenseitig.
„Wir respektieren uns“, sagt Beeskow.
„Wir respektieren uns“, sagt Gabriel.
Es gibt keine Gewinner, aber Angela Merkel mögen sie beide.
„Ein aufgeschlossenes, aufgewecktes und hoch intelligentes Mädchen“, sagt Gabriel, der Kommunist.
„Frisch, durchsetzungsfähig, gescheit“, sagt Beeskow, der Christdemokrat.
Die Augen leuchten, wenn sie von ihr sprechen. Sie sind stolz, ihre Lehrer gewesen zu sein. Man fragt sich, wer mehr Einfluss auf sie hatte.
Niemand unter den erfolgreichen Ostpolitikern hat sich dem westlichen System so ausgesetzt wie Angela Merkel.
Wolfgang Thierse will immer alles richtig machen. Nachdem er der CDU eine 41-Millionen-Mark-Rückzahlung aufgedonnert hatte, posierte er auch noch mit der Taschenbuchausgabe des Grundgesetzes. Er ist der Onkel Tom des Ostens. Gregor Gysi muss nicht so viele Rücksichten nehmen. Christine Bergmann hat kaum Einfluss. Aber Angela Merkel muss sich in der vielleicht westlichsten Partei der Bundesrepublik durchsetzen. Die Partei der rheinischen Katholiken. Der Klüngel. Der Intrigen. Sie hasst den Karneval und den Stallgeruch, sie ist eine brandenburgische Protestantin, Naturwissenschaftlerin. Sie wurde einmal geschieden und ist kinderlos, sie ist so etwas wie das Gegenteil eines Katholiken.
Sie ist in der Diaspora, aber wie der gehorsame Thierse und der gerissene Gysi kann auch sie nicht raus aus ihrer Haut. Sie will mitmachen. Also hat sie sich einen Landesverband genommen, wie die Bonner ihr geraten haben, um Hausmacht zu bekommen, wie sie das nennen. Allerdings war nur noch einer zu haben, in dem der Karneval keine besonders große Rolle spielt. Mecklenburg-Vorpommern. Die Menschen dort halten es auch mal vier Stunden ohne ein Wort aus. Dafür halten Vorurteile ein Leben lang. Auf einem Empfang im Stralsunder Rathaus sagte eine CDU-Abgeordnete zu Angela Merkel: „Ich war zu DDR-Zeiten Buchhalterin bei der Baustoffversorgung. Bei uns war so was wie in Hessen ausgeschlossen. In der DDR herrschte noch Recht und Ordnung.“ Angela Merkel trank schnell einen großen Schluck Bier.
Die Parteikrise hat vielen ehemaligen Ost-CDUlern ein neues, eigenes Selbstbewusstsein gegeben. Sie fühlen sich nicht mehr nur als Anhängsel der Westpartei, sie haben eigene Qualitäten. Sie haben nichts gewusst. Angela Merkel ist die Schirmherrin dieser Bewegung.
Sie kann sich auf niemanden verlassen, auch nicht auf die, die es gut mit ihr meinen. Förster Manfred Bönke, der in Hohenwalde lebt, wo Merkel mit ihrem Mann ein Wochenendhaus besitzt, ist CDU-Mitglied und stolz auf sie. So stolz, dass er gern den Platz zeigt, wo sie mit dem Bundeswehrhubschrauber im Naturschutzgebiet landete. So wichtig ist sie geworden, seine Angela Merkel.
Ein paar Tage später ist er damit in der Fernsehsendung „Monitor“. Ein Flugskandal, noch einer. Das hat der Förster Bönke nicht gewollt.
„Templin war irgendwann langweilig“, sagt Angela Merkel.
Es gab keine Theater, es gab die Schülergaststätte, die rauchenden Mädchen im „Cafe am Markt“, die auf ihren Prinzen warteten. Am Wochenende fuhren sie die Tanzsäle ab. Sie nicht, sagt Roland Saeger, der mit ihr zur Schule ging. „Als Mädchen war sie eher ein guter Kumpel.“ Harald Löschke sagt: „Angela gehörte damals schon zur CDU. Zum Club der Ungeküssten.“ Sie sammelte Kunstpostkarten, sagt sie. Kunstpostkarten.
Alles stand still in Templin, man kann heute noch fühlen, wie es damals war. Die Häuser sehen hübscher aus, aber die Pionierbrücke heißt immer noch Pionierbrücke, und die Mädchen warten immer noch. Sie haben jetzt Handys, das ist der Unterschied. Die Handys liegen vor ihnen auf den Tischen des Cafe am Markt, die Mädchen rauchen und warten, dass es klingelt.
Angela Merkel hat nie Ostkleidung getragen. Sie wollte nur weg aus Templin. Sie mochte Leipzig. Leipzig war sicher die beste Stadt, die die DDR zu bieten hatte. In einem letzten Templiner Reflex heiratete sie dort den schweigsamen Merkel, nicht weil sie ihn liebte, sondern weil alle heirateten. Die Provinzmädchen waren immer als erste weg.