Tamara Danz - Alexander Osang - E-Book

Tamara Danz E-Book

Alexander Osang

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Beschreibung

Tamara Danz, die früh verstorbene Rock-Sängerin der Gruppe »Silly«, ist bis heute eine Legende. Zu ihrem zehnten Todestag 2006 wurde in Berlin eine Straße nach ihr benannt.
Alexander Osang, der das letzte Interview mit ihr führte, ist der Frage nachgegangen, wer Tamara Danz eigentlich war und was sie in den Köpfen ihrer Freunde und Feinde hinterlassen hat. Er sprach mit Liebhabern und Rivalinnen, mit Managern und Politikern, mit Kollegen und Ärzten. Entstanden ist ein facettenreiches Porträt, das zugleich Auskunft gibt über menschliches Verhalten in einer Zeit schwieriger Umbrüche.
Originaltexte von Tamara Danz, ein umfassender Lebenslauf und eine Discografie ihrer Band »Silly« komplettieren den Band.

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Seitenzahl: 327

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Alexander Osang

Tamara Danz · Legenden

Alexander Osang

Tamara Danz

Legenden

1. Auflage als E-Book, Juli 2016

(entspricht der 4. Druckauflage von 2008, die auch zahlreiche Fotos von Ute Mahler und anderen Fotografen enthielt)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Internet: www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: KahaneDesign Berlin

unter Verwendung eines Fotos von Ute Mahler

ISBN: 978-3-86284-345-9

Inhalt

Ein später Traum

Gib mir Asyl. Hier im Paradies.

Ein letztes Interview

Verschiedene Welten

Totensonntag bei Erich Danz

Zwei ungleiche Mädchen

Monika Richter hat ihre Freundin Tamara Danz lange beneidet. Um ihre Eltern, ihre Unabhängigkeit und ihre hohen, weißen Stiefel

»Venus«

Der Gitarrist Uwe Kropinski war Tamaras erste große Liebe

Der kleinste gemeinsame Nenner

Wolfgang Lippert konnte Tamara Danz einen Sommer lang begeistern

»Eine kulturpolitische Herausforderung«

René Büttner holte Tamara Danz zum Oktoberklub und betreute sie als AMIGA-Chefredakteur

Familie Silly

Mathias Schramm wollte aus Tamara Danz eine Tina Turner des Ostens machen

Harte Zeiten

Der Schlagzeuger Herbert Junck über das Ende einer Idylle

Ostbräute

Die Sängerin Angelika Weiz war die beste Freundin von Tamara Danz

Der Onkel aus Amerika

Jim Rakete hat in den achtziger Jahren versucht, Silly für den Westmarkt ein anderes Image zu geben

Ritchies Welt

Rüdiger Barton war über sechs Jahre an der Seite von Tamara Danz

»Gott ist gemein«

Gregor Gysi, Tamara Danz und die Schwäche für Politik

Berliner Tag

Ein Sonnabend zwischen Klingbeils Villa und Castorfs Prater

Kranke Nachbarn

Professor Wolfram Wermke war Tamaras Freund und Arzt

»Finalbetreuung«

Zwei junge Ärztinnen begleiteten Tamara Danz bis zu ihrem Tod

Markt, Männer und Moral

Ein Fernsehabend mit Uwe Hassbecker und Ritchie Barton

Der letzte Mann

Kurz vor ihrem Tod heiratete Tamara Danz ihren Freund Uwe Hassbecker

Jenseits von Eden

Manfred Stolpe versucht sich an Tamara Danz zu erinnern

Es sollte ein Spielraum bleiben

Die Rostocker Bildhauer Susanne und Joachim Jastram schlagen Tamaras Grabstein

Lucy in the sky

Schwarzer Kater

Anhang

Tamara Danz: Ein rollender Stein setzt kein Moos an

Die »Gammler«-Jahre

Tamara Danz: »Ich möchte alles versucht haben«

Der Ausreiseantrag

Tamara Danz: Ein Höchstmaß an Freiheit

Das stürmische Jahr 89

Lebensdaten Tamara Danz

Stationen der Gruppe Silly

Angaben zum Autor

Ein später Traum

Es war noch kühl in Kanada. Aber der Himmel war hellblau, die Baumspitzen bewegten sich kaum, es waren nur wenige Autos unterwegs, es war morgens, und der Expressway 55 lag hell, weit und unbefleckt vor uns ausgerollt. Es sah nach einem Tag aus, der uns mit Amerika versöhnen könnte. Und den hatten wir auch nötig.

Gestern abend hatten wir den Nordosten von New York State stundenlang nach einem brauchbaren Motel abgesucht. Wir hatten ein paar verqualmte, sündhaft teure Kaschemmen inspiziert, hinter deren Tresen verwegene Gestalten mit Alkoholfahnen und krank aussehenden Hunden lauerten. Wir waren weitergefahren, durch eine windige, kalte Einöde, die kein Ende hatte. So lange, bis wir uns zu den Kaschemmen zurückgesehnt hatten, weil in ihnen wenigstens Betten standen. Irgendwann hatten wir nördlich eines Kaffs mit dem Namen Plattsburgh ein teures, aber sauberes »Super-8«-Motel gefunden. Der Pool war winzig gewesen, aber auf dem Parkplatz standen ein paar Bänke. Wir hatten zwei Zimmer genommen und im nächsten Supermarkt Dosenbier und Sandwiches gekauft. Als wir zurückkamen, war es dunkel, und die Bänke auf unserem Parkplatz wurden von Tausenden Moskitos umschwirrt. Wir hatten das Bier auf unseren Zimmern getrunken. Anschließend war ich raus auf den Parkplatz gegangen und hatte zwischen den aggressiven Moskitos eine hastige Zigarette geraucht.

In der Nacht träumte ich, daß Tamara Danz versucht hatte, mich anzurufen. Wegen des Interviews, das wir gerade geführt hatten. Ich hatte es ihr zum Autorisieren gebracht, aber sie hatte es nicht lesen können, weil sie zu erschöpft war. Jetzt hatte sie es gelesen. Sie hatte versucht, mich anzurufen. Immer wieder. Sie wollte noch mal über bestimmte Dinge reden. Sie wollte Sachen geraderücken. Erklären. Aber sie hatte mich nicht erreicht. Ich war ja weit weg. In Amerika.

Sie war immer schwächer geworden. Und dann war sie gestorben. Am Morgen hatten wir den dünnen Motelkaffee aus Styroporbechern geschlürft und dazu ein paar trockene, klebrige und eingeschweißte Doughnuts gegessen. Die kanadischen Grenzbeamten hatten mit starkem französischem Akzent eigenartige Fragen gestellt, uns aber schließlich in ihr Land gelassen.

Nun rollten wir auf einen sonnigen Parkplatz zu, der sich etwa fünf Meilen hinter der Grenze befand. Auf dem Parkplatz stand eine dieser praktischen Informationsbaracken, in denen man sich mit kostenlosem Kartenmaterial und Prospekten eindecken kann. Amerika hatte ja auch seine guten Seiten.

Vor den Toiletten der Baracke hingen zwei Telefone, die VISA-Karten akzeptierten. In Berlin war jetzt Nachmittag.

Ich könnte eigentlich mal in der Redaktion meiner Zeitung anrufen. Ich könnte fragen, ob Tamara Danz inzwischen das Gespräch autorisiert hat, das wir vor ein paar Wochen geführt hatten. Ich könnte, aber ich mußte nicht. Ich wollte auch gar nicht. Ich wollte es nicht wissen. Ich hatte ja Urlaub. Niemand zwang mich.

Ich schob die VISA-Karte in den Automaten und tippte die lange Nummer ein.

Ich dachte an meinen Traum.

»Hallo«, sagte ich in das Klicken, das bei den Amerika-Telefongesprächen unsere ersten Worte schluckt.

»Alex?« fragte mein Kollege.

»Ja.«

»Wo bist du?«

Ich erklärte ihm in ein paar Sätzen unsere Reiseroute, dann redeten wir übers Wetter, bis ich möglichst beiläufig fragte, was ich wissen wollte.

»Hat Tamara das Interview autorisiert?«

»Nein«, sagte er. »Sie ist vor drei Tagen gestorben.«

Auch er hatte so beiläufig wie möglich sein wollen. Weil er aber in diesen Dingen keine Erfahrung hatte, war er zu weit gegangen, und es hatte beinahe fröhlich geklungen. Er hatte die Nachricht fast gesungen.

»Oh, Scheiße«, sagte ich.

»Ja«, sagte er.

Und weil einen Moment lang nicht klar war, ob sich das auf das nun nicht mehr zu autorisierende Interview bezog, sagte er noch: »Aber wir haben euer Gespräch gestern gedruckt. Hassbecker und Barton waren hier, haben es gelesen und genehmigt.«

Wir redeten noch ein bißchen darüber, in welchem Teil der Zeitung es gestanden hatte, in welcher Länge, mit welchen Fotos, wo es gekürzt werden mußte und welche Reaktionen es ausgelöst hatte. Zeitungszeugs. Ich war dankbar dafür, weil es mich vom eigentlichen Fakt, dem Tod von Tamara Danz, ablenkte. Und auch von der Tatsache, daß sie nicht in der Nacht gestorben war, in der ich es geträumt hatte. Sondern in einer Nacht, in der ich, soweit ich mich erinnerte, vorzüglich geschlafen hatte. Ich hatte zu spät von ihrem Tod geträumt.

»Hat sie noch was zu dem Gespräch gesagt?« fragte ich zum Schluß.

»Nee«, sagte mein Kollege. »Soweit ich weiß, hat sie es nicht mehr lesen können.«

Bevor ich auflegte, sagte mir mein Kollege noch, wann und wo die Beerdigung stattfinden würde.

Draußen in der Sonne saßen meine Frau und mein Sohn zusammen mit meinem Freund, dessen Frau und Tochter auf einem Stückchen Rasen vor dem Touristeninformationshäuschen der Provinz Quebec. Hundert Meter weiter surrten die Autos über die Interstate. Von Norden nach Süden. Und umgekehrt. Erst jetzt merkte ich, daß ich weiche Knie hatte. Es würde doch kein schöner Tag werden.

Ich sagte ihnen schnell, daß Tamara gestorben ist.

»Wann?«

»Vor drei Tagen.«

»An Krebs, ja?«

»Ich denke ja.«

»Naja, hat sie es wenigstens hinter sich.«

Wie sollten sie auch reagieren? Sie hatten nie mit Tamara zu tun gehabt. Aber was hatte ich eigentlich mit ihr zu tun gehabt?

Ich setzte mich zu den anderen auf das kleine Rasenstück, wir tauschten die ohnmächtigen Floskeln der Überlebenden aus, während vor meinen Augen Bilder einer kurzen Beziehung abliefen.

Zu DDR-Zeiten war ich nie ein großer Silly-Fan gewesen. Ich hatte nur einmal ein Konzert der Band besucht, ich besaß keine Platte. Ich fand die Gruppe in ihren frühen Jahren, als sie sich noch Familie Silly nannte, albern. So albern wie die langen Ringelstrümpfe der Sängerin und den Partyerfolg »Ich bin der letzte Kunde«. Sie versuchten es mit Funk, sie versuchten es mit Klamauk, und anschließend versuchten sie es mit anspruchsvollen Texten.

Wahrscheinlich glaubte ich ihnen nicht.

Ich traute der Sängerin nicht. Sie spielte mir was vor. Tamara Danz sah manchmal arrogant aus, manchmal vulgär und oft kalt. Ihr Schreien und ihr Wimmern paßten nicht zu diesem Gesicht. Sie schien es für ihre Lieder von irgendwoher abzurufen wie aus einem Tonarchiv. Sie wirkte künstlich. Puppenhaft. Alles an der Band wirkte auf mich künstlich und kühl. Das Lachen der Sängerin, die bunte, schreiende Garderobe, die flirrende Musik, die immer zweitrangig schien. Vor allem aber die lakonischen, kalten Texte, die gesellschaftliche und persönliche Verhältnisse zerschnitten, zerlegten, sezierten. Eine Lyrik aus dem Labor.

Sie traf sicher den Kern, aber sie traf mich nicht in den Bauch. Ich hatte nie Lust zu tanzen, wenn ich einen Silly-Song hörte.

Komischerweise besuchte ich nach der Wende ausgerechnet Tamara Danz, um herauszufinden, was aus dem Ost-Rock geworden war. Wahrscheinlich, weil sie inzwischen ein Exempel war, mehr als eine Rocklady.

Das lag daran, daß sie schneller, schnoddriger und unverbindlicher war als die meisten von uns. Sie schien immer schon dazusein. Sie hatte vor der Wende unkonventionelle Sachen gesagt und gesungen. Sie hatte in der Wendezeit Resolutionen ausgearbeitet und verlesen. Sie hatte nach der Wende als eine der ersten vor einer schnellen Vereinigung gewarnt. Immer schien es aus dem Bauch zu kommen. Tamara Danz verfügte über einen guten politischen Instinkt.

So hielt sie sich in der Nachwendezeit mehr in Talkshows auf als auf der Bühne. Sie stand immer für irgend etwas. Sie war Frau, Ostlerin, Musikerin, Berlinerin, Revolutionärin, und sie hatte hochstehende gefärbte Haare. Sie war der ideale Talkshow-Gast. Sie war die Folie. Sie war das Beispiel. Sie war so, wie der Westen sich den aufmüpfigen Osten vorstellen wollte. Und sie war, wie der Osten sich selbst gern gesehen hätte.

Sie kritisierte die ostdeutschen Politiker und wirkte, als hätte sie auch keine Probleme damit, Helmut Kohl ins Gemächt zu treten.

Sie kannte den Osten, sie war ihm immer ein Stück voraus. In der Nachwendezeit holte er sie ein. Sie hat es nicht gemerkt. Ihr politischer Instinkt hatte sie verlassen.

Als ich im Herbst 1991 zum erstenmal vor Tamara Danz’ Tür stand, wußte ich das noch nicht. Ich merkte nur, daß ich Angst vor ihr hatte. Angst vor ihrer Unberechenbarkeit. Angst vor ihrer Lautheit. Angst vor ihren Launen. Angst davor, nicht ernstgenommen zu werden. Angst davor, daß sie mich lächerlich machte. Ich hatte Angst vor ihrem öffentlichen Bild in meinem Kopf.

Wir verbrachten einen angenehmen Nachmittag in ihrer Wohnung am Gendarmenmarkt. Wir tranken Bier, rauchten, hörten neue Silly-Songs, und Tamara Danz gewährte mir ein paar kurze Blicke hinter ihre Fassade. Als wir über Kinder sprachen und über die Schwierigkeiten eines Rockmusikers, alt zu werden. Am Abend wußte ich immer noch nicht, wer sie war, hatte aber zumindest den Eindruck, daß Tamara Danz die Arrogante, die Vulgäre, die Kalte wirklich nur spielte.

Ich wußte nicht, warum. Vielleicht hatte sie Angst.

In jedem Fall war sie mir nähergekommen.

Ich kaufte mir die Silly-Platten – alle bis auf die erste, die wirklich bescheuert ist –, und ich mochte sie. Sie trafen mich immer noch nicht ins Herz, aber ich fühlte, daß sie wahr waren. Und ich fühlte, wie Tamara Danz mit ihrer Stimme diese Wahrheiten suchte. In Liedern wie »Über ihr taute das Eis« oder »So ’ne kleine Frau« fand sie sie auch.

Ich habe danach noch ein paarmal mit Tamara telefoniert, ein paarmal haben wir uns zufällig getroffen. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich sie sah. Einmal rief sie mich von ihrer Freundin Angelika Weiz aus an, um mir zwei Sätze über Gerhard Gundermann zu erzählen, der gerade als IM enttarnt worden war, und vier über den Fisch, den sie gerade kochten. Im Hintergrund hörte man Angelika Weiz lachen. 1994, in der Nacht nach der Bundestagswahl, hat sie mir morgens um vier im Restaurant des Karl-Liebknecht-Hauses, wo ich seit Stunden Skat spielte, den Nacken massiert. Das letztemal sah ich sie auf einer Veranstaltung mit dem ehemaligen ORB-Starmoderator Bertram im Deutschen Historischen Museum. Das war im Sommer 1995, und Tamara hatte den Krebs schon im Leib. Ein paar Tage später erfuhr sie es auch.

Mich erreichte diese Nachricht erst ein halbes Jahr danach. Ein Freund erzählte es mir beim dritten oder vierten Bier in der Kneipe. Ich habe es nicht ernstgenommen. Es gab viele Sorten von Krebs, und Tamara war noch so jung. Beim fünften Bier waren wir wahrscheinlich schon wieder beim Fußball. Dann kam die Platte »Paradies«, und ich begriff plötzlich, daß es ernst war.

Tamara Danz hat mir später versichert, die Texte für die Lieder auf dieser Platte geschrieben zu haben, lange bevor sie die Krebsnachricht erhielt. Das schien ihr sehr wichtig zu sein, und ich glaubte es ihr. Aber letztlich machte das keinen Unterschied. »Paradies« war ihre Abschiedsplatte. Ich habe gespürt, daß Tamara sterben wird, als ich die Platte zum erstenmal hörte. Und es war das erstemal, daß sie Texte sang, die wirklich zu ihr paßten. Die aus ihr kamen. Es waren vielleicht die schlichtesten Lieder, die sie seit Jahren gesungen hatte. Aber es waren auch die ehrlichsten. Das Klinische, Kühle war weg.

»Paradies« war die erste Silly-Platte, die mich in den Bauch traf.

Es war an einem schönen Frühlingssonnabend, ich fuhr zum Wochenendeinkauf, und im CD-Player meines Autoradios liefen »Asyl im Paradies«, »Wo bist Du«, »Instandbesetzt« und »Flut«. Alles Abschiedslieder. Abschied von Männern. Abschied vom Leben. Ich fuhr einen großen Bogen zu meiner Kaufhalle, und als ich da war, fuhr ich noch einen Bogen und dann noch einen. Die Sonne schien durch meine noch winterdreckigen Autofenster, und ich habe geheult wie ein Schloßhund.

Vielleicht lag es daran, daß der Kontrast so groß war. Die Welt erwachte, und Tamara Danz schlief ein. Ich fuhr einkaufen, sie bekam Morphium. Ich durfte das Waschpulver und das Klopapier nicht vergessen, sie ordnete ihr Leben für die Zeit nach dem Tod. Vielleicht lag es auch nur daran, daß alles so gut paßte, die Musik und das Leben. Wer weiß.

Auf jeden Fall habe ich nur zweimal so sehr um Tamara Danz getrauert. Einmal lange nach ihrem Tod. Und einmal an diesem Sonnabendmittag. Es war nur ein Moment, der so lange dauerte wie eine CD.

Ein paar Wochen später tat mir ein Kollege den Gefallen, einen Gedanken auszusprechen, den ich nicht mehr aus dem Kopf bekam.

»Du müßtest ein Interview mit Tamara machen«, schlug er vor.

Ich zierte mich ein bißchen, aber es war genau das, was ich wollte. Ein Gespräch über Leben und Tod. Keiner von uns beiden hat gesagt: »Wir machen ein letztes Interview mit Tamara.« Aber ich glaube, wir haben es beide gedacht. Es gab sonst keinen Grund, sie für die Zeitung zu interviewen. Im Gegenteil, sie war schwerkrank, man hätte sie in Ruhe lassen sollen. Ich habe es gemerkt, als ich die Nummer wählte. Ich hatte wieder Angst. Diesmal nicht vor ihr. Vor mir. Ich hatte keinen Anlaß. Auch Tamara hat das gewußt. Aber sie hat mich dankenswerterweise erst ganz am Ende unseres letzten Gespräches darauf hingewiesen.

»Wozu machen wir dit eigentlich?« hat sie gefragt. Und ich hatte keine Antwort.

Es war ihr Wunsch, daß wir nur am Telefon miteinander sprechen. Und auch darüber bin ich heute froh, jetzt, da ich weiß, in welchem körperlichen Zustand sie sich befand, damals im Juni, als wir miteinander redeten. Für mich war sie die ganz normale Tamara. Witzig, schnoddrig und stur. Ich hatte nur ihre Stimme, und wenn die schwach wurde, haben wir aufgehört. Wir haben immer abends geredet, wenn es kühler war. Manchmal ging es auch gar nicht. Dann schlief sie, als ich anrief, oder ihr fehlte die Kraft zum Reden.

Wir haben dreimal eine Stunde lang miteinander gesprochen. Es sind Gespräche über Leben und Tod geworden, obwohl der Tod gar nicht vorkommt. Wir sind um ihn herumgetanzt. Wir wußten, daß er immer da ist, aber wir sind ihm ausgewichen. Tamara hat mir erzählt, daß sie nicht abgemagert sei oder etwa weiße Haare bekommen habe. Sie könne nur nicht richtig laufen. Ich habe ihr geglaubt, obwohl ich von ihrer Freundin wußte, daß Tamara total abgemagert war und ihr Haar fast weiß. Es klingt ein bißchen seltsam, aber genauso war es.

Manche Leser haben mir hinterher vorgeworfen, die Interviews seien banal gewesen. Das kann schon sein. Aber ich denke, sie entsprachen unseren Möglichkeiten. Ich habe ihr am Schluß versprochen, daß sie wieder gesund wird. Und ich war in diesem Moment wirklich davon überzeugt.

Zwei Wochen vor meinem Urlaub habe ich die drei Interviews zu einem Gespräch gekürzt und sie zum Gendarmenmarkt gebracht, damit Tamara sie lesen kann. Ihr Freund und Kollege Ritchie Barton, der sie in diesen letzten Wochen gemeinsam mit ihrem Mann Uwe Hassbecker betreute, hat sie mir abgenommen. Wir haben uns kurz in den »Französischen Hof« gesetzt, ein eigenartiges Restaurant im Erdgeschoß des Hauses, in dem Tamara wohnte. Das Ende der DDR war hier zu besichtigen. Ein ohnmächtiger, letzter Versuch, mit dem Westen mitzuhalten. Ein lächerlicher und trauriger Platz. Das Restaurant war leer, Ritchie Barton blaß und nervös. Er erzählte, daß Tamara im Augenblick nicht lesen könne. Es gäbe eine kleine vorübergehende Komplikation. In drei, vier Tagen sei sie vorbei. Tamara habe so was schon mal gehabt.

Nach fünf Tagen war es nicht vorbei, auch nicht nach zehn Tagen, dann fuhr ich in den Urlaub. Am Abend vor dem Abflug telefonierte ich noch mal mit Tamaras Ehemann Uwe Hassbecker. »Sie kann immer noch nicht richtig sprechen«, sagte er mir, »aber wenn du wieder zurück bist, könnt ihr ja weiterreden.«

Das war zwei Wochen her. Jetzt war Tamara tot.

Das war alles. Mehr hatte ich nicht mit ihr zu tun gehabt. Ich wußte so gut wie nichts über sie. Ich hatte sie nicht gekannt. Das begriff ich an diesem Vormittag in Kanada.

Wir stiegen in unsere Autos und fuhren nach Montreal. Ich saß neben meiner Frau, starrte auf die Autobahn und fragte mich, was ich hier tat. Was sollte ich in Montreal? In fünf Tagen würde Tamara beerdigt werden. Wir hatten noch drei Wochen Urlaub vor uns. Das würde ich nicht aushalten.

»Ich fliege zurück«, sagte ich meiner Frau.

Sie sagte eine Weile gar nichts. Der Satz stand in unserem Auto.

Irgendwann sagte sie: »Gut.«

Es war ein kühles »Gut«. Und es war ein angemessenes »Gut«.

Ich konnte nichts mehr für Tamara tun. Außerdem haßte ich Beerdigungen, weil sie verlogen waren. Verlogene Reden, gute Tote, Feinde mit Krokodilstränen. Auf der Beerdigung eines Popkünstlers dürfte es von all dem reichlich geben.

Ich tat es nur für mich. Aber warum?

Ich wollte es beobachten, die falschen Tränen und die echten. Die prominenten Gäste und die unbekannten. Die drängelnden Fotografen und die Kameramänner. Die »BILD«-Zeitungsreporter in ihrer notdürftigen Trauergarderobe. Die Westjournalisten, die sich bei ihren Ostkollegen nach anwesenden Ostkünstlern erkundigten. Ich wollte die Reden hören und die Argumentationen der Plattenfirmen, die Silly zu Tamaras Lebzeiten so stiefmütterlich betreut hatten. Ich wollte in Berlin sein, um zu zählen, wie oft auf den Radiostationen, die sonst nie einen einzigen Silly-Titel spielten, »Asyl im Paradies« lief. Ich wollte mit Uwe Hassbecker zusammen seinen Anrufbeantworter abhören. Mit all den sanften, mitfühlenden Interviewanfragen. Ich wollte die Nachrufe lesen und die Beileidstelegramme der lokalen Politiker. Ich wollte dabei zugucken, wie sich in den Plattengeschäften die Silly-CDs aus den verstaubten Ecken zu den Ladentischen bewegten.

Wollte ich das wirklich? Ich war mir nicht sicher. Alles, was ich wußte, war, daß ich zurück wollte. Zurück mußte. Es zog und zerrte mich nach Berlin.

»Ich komm nach der Beerdigung wieder zurück«, sagte ich.

»Ja«, sagte meine Frau.

Ich überlegte, ob man von Montreal nach Berlin fliegen konnte. Oder ob es besser wäre, von Boston oder Bangor zu fliegen. Ein bißchen Zeit blieb ja noch. Montreal war eine hübsche Stadt. Wir spazierten durch den alten Teil, aßen in einem italienischen Gartenrestaurant, kauften ein paar Andenken auf dem Flohmarkt. In Montreals Notre Dame zündete ich heimlich eine Kerze für Tamara an. Und als die anderen mit alten Pferdekutschen durch die Stadt schaukelten, nahm ich meinen Mut zusammen und wählte aus einer offenen Telefonzelle Tamaras Berliner Nummer. Gott sei Dank war nur der Anrufbeantworter da. Ich legte auf und sammelte mich für eine Ansage. Es war nicht leicht, denn die Zelle wurde von lustigen jungen Menschen auf Rollerblades umkreist. In Berlin wurde es gerade dunkel. Ich wählte noch mal und sprach mein Beileid aufs Band.

Anschließend gingen wir in die riesige, unterirdische Shopping Mall von Montreal. Wir kauften ein paar günstige CDs und ein paar T-Shirts und aßen in einem der Mall-Restaurants Abendbrot.

Wir fädelten uns aus Montreal hinaus und fanden nach langem Suchen ein kleines Motel, das zwischen einer Tankstelle und einem Drogeriemarkt direkt an der Interstate lag. Unsere Betten standen keine fünfzig Meter vom gutbefahrenen Highway entfernt. Mein Freund und ich kauften uns zwei große Büchsen Bier. Wir setzten uns auf eine Bank vor das Motel und schauten den Autos zu. Es gab erstaunlicherweise keine Moskitos.

Wir redeten über die Rolling Stones, Omega und die Gary Glitter Band, mit denen wir großgeworden waren. Wir redeten über unsere Tonbandgeräte und die Mitschnitthefte, in denen wir unsere lautschriftlichen Eintragungen vornahmen. Wir redeten über Marina von Sänger, die am Montag- und Freitagabend zwanzigminütige knisternde Popmusik-Sendungen von einer geheimnisvollen Londoner Adresse zu uns schickte. Wir dachten daran, wie gedankenlos wir heute CDs einkauften.

Wir stellten wieder mal fest, wie schnell die Zeit vergangen war.

Wir überlegten, wer Tamara Danz wirklich gewesen war. Wir hatten keine Ahnung.

Mir wurde klar, daß ich auf der Beerdigung keine Antworten finden würde. Es waren nicht die verlogenen Reden und der Rummel, die mich nach Berlin zogen. Es war ein schlechtes Gefühl im Magen. Ich hatte irgend etwas angefangen, angerissen, angekratzt, berührt. Und ich hatte es nicht zu Ende gebracht. Ich hatte es einfach liegengelassen und war in Urlaub gefahren. Ich saß an einem kanadischen Highway und dachte an zu Hause. Ich starrte auf die Autos und fühlte, daß in letzter Zeit mehr gestorben war als Tamara Danz.

Ich blieb in Amerika.

Als ich wieder zu Hause war, machte ich mich auf die Suche nach denen, die sie einmal gekannt hatten.

Gib mir Asyl. Hier im Paradies.

Ein letztes Interview

ERSTES GESPRÄCH

Tamara: Hallo

Alex: Hallo. Wie sieht’s aus?

Wie soll’s aussehen?

Können wir reden?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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