Schwelbrand - Hannes Nygaard - E-Book

Schwelbrand E-Book

Hannes Nygaard

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Beschreibung

Deutschlands Norden wird von einer Serie blutiger Zwischenfälle erschüttert: Brandsätze werden gezündet, Träger öffentlicher Ämter werden verfolgt und ermordet. Die Landesregierung scheint machtlos, Angst regiert die Bevölkerung. Wer hat ein Interesse daran, das Land zu zerschlagen? »Es reicht«, schreiben die Täter in ihren Ankündigungen. Das sagt auch der Ministerpräsident und beauftragt Lüder Lüders vom LKA Kiel mit dem brisanten Fall. Gemeinsam mit dem Husumer Große Jäger begibt sich Lüders auf die Spur eines äußerst skrupellosen Gegenspielers.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. Er wurde 1949 in Hamburg geboren und hat sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Nach einigen Jahren in Münster/Westfalen lebt er nun auf der Insel Nordstrand (Schleswig-Holstein).www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-450-4 Hinterm Deich Krimi 12 Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG

Für Netty, Malte, René und Hannes

Concordia domi – foris paxDrinnen Eintracht – draußen Frieden

Inschrift am Lübecker Holstentor

EINS

Es war die Jahreszeit der Stille und des Besinnens, der Vorfreude auf das große Fest der Christenheit. Rund um den Erdball freuten sich Milliarden von Menschen auf das Weihnachtsfest. Und wer seine spirituelle Erfüllung nicht im Christentum fand, mischte mit beim Kommerz, der sich schon seit Langem das Fest untergeordnet hatte. Die Andacht der Vorweihnachtszeit war allgemeiner Hektik gewichen. Es galt, die Vorbereitungen für das Fest zu treffen, Geschenke zu beschaffen, die Wohnung herzurichten, für das Besondere zu sorgen, das in diesen Tagen auf den Tisch kommen sollte. Nur wenige Menschen konnten oder wollten sich dem entziehen, insbesondere nicht, wenn Kinder zur Familie gehörten. Es war ein oft gehörter Vorwand, man mühe sich nur für die Kinder ab.

Das interessierte Jörg Asmussen nicht. Natürlich standen die beiden Söhne im Mittelpunkt der Festvorbereitungen, selbst wenn sie mit zwölf und acht Jahren nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubten und die christliche Grundlage des Weihnachtsfestes und die damit verbundenen Gebräuche wie den gemeinsamen Gottesdienstbesuch eher als lästige Pflichtübung betrachteten. Trotz allen Stresses in der Vorweihnachtszeit wollte Jörg Asmussen die lieb gewonnenen Gepflogenheiten zum Fest nicht missen, auch wenn Rieke, seine Frau, die Hauptlast der Vorbereitungen zu tragen hatte.

»Nächstes Jahr machen wir diesen Wahnsinn nicht mehr mit«, beteuerte Rieke immer wieder erneut, wenn sie an den letzten Tagen vor Weihnachten erschöpft den kurzen Feierabend genoss. Jörg Asmussen nickte nur. Er kannte seine Frau, mit der er über fünfzehn Jahre verheiratet war, gut. Es war eine Liebe, die sich aus den Kindheitstagen hinübergerettet hatte. Niemand, schon gar nicht er, dürfte es wagen, an den eingefahrenen Ritualen der Familie zu rütteln. Die Kinder wollten es nicht. Ihre Eltern investierten viel in die Zufriedenheit der Söhne, selbst wenn es schwerfiel, die Ansprüche des Nachwuchses zu befriedigen.

Jörg Asmussen war nach Dienstschluss ins Stadtzentrum gegangen. Husum, seine Geburtsstadt, hatte sich wieder einmal als Magnet für zahlreiche Besucher von nah und fern erwiesen. Die quirlige Innenstadt mit ihrem festlichen Weihnachtsschmuck strahlte ein besonderes Ambiente aus. Hier im Norden wurde es in der Woche vor dem ersten Advent schon früh dunkel. Die lange Dämmerung brach bereits am Nachmittag an, und gegen sechzehn Uhr war die Sonne untergegangen. Wer Zeit und Muße fand, sich an den weihnachtlich geschmückten Häuserfronten und Schaufenstern zu erfreuen, die Adventsbeleuchtung im Schlossgang zu genießen, der mochte seine Freude an der Vorweihnachtszeit haben. Jörg Asmussen hatte keinen Blick dafür, weder für die Tanne mit der Weihnachtsbeleuchtung auf dem Marktplatz beim Tinebrunnen noch für die Buden des Weihnachtsmarktes vor der Marienkirche. Er hatte eilig eine Bratwurst hinuntergeschlungen. Das hatte er sich nicht nehmen lassen. Dafür verzichtete er auf das Brötchen mit Burgunderbraten, das er beim Stand vor dem Husumer Kaufhaus, dem ehemaligen Hertiegebäude, sonst verzehrte.

Denn heute war alles anders gewesen. Rieke hatte ihm einen Einkaufszettel mitgegeben. Seine Gelassenheit, der leichte Spott über Riekes Stöhnen wegen der vorweihnachtlichen Belastungen waren schon bald einem Groll gewichen, als er sich in den überfüllten Geschäften mit anderen ebenso gestressten Kunden um das rare Verkaufspersonal stritt, das von mehreren Seiten gleichzeitig mit Fragen und Wünschen bestürmt wurde. Natürlich war der Donnerstag ein bevorzugter Abend zum Einkaufen. Asmussen hatte es gewusst. Trotzdem hatte er ausgerechnet heute den Weg in die Innenstadt gesucht.

Er war nicht erfolgreich gewesen. Mit Ausnahme der Liste von Tees, die er im Stammgeschäft der Familie in der etwas ruhigeren Neustadt besorgt hatte, waren seine Bemühungen vergeblich gewesen. Lediglich das kunstvoll verpackte kleine Päckchen vom Juweliergeschäft am Marktplatz hatte seine Stimmung aufgehellt. Wie oft hatte Rieke, wenn sie durch das kleine Zentrum Husums gebummelt waren, vor dem Fenster gestanden und sich den Ring angesehen. Seine Frau äußerte im Gegensatz zu den Kindern keine unbescheidenen Wünsche. Rieke wusste, wie knapp die Familie kalkulieren musste, auch wenn sie selbst als Halbtagskraft in einer Buchhandlung in der Krämerstraße ein wenig zur Aufbesserung des Familienbudgets beisteuerte. Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, war sie ganztags beschäftigt. Er hatte ihr vom Eingang aus einen kurzen Gruß und einen angedeuteten Handkuss zugeworfen. Mit einem Lächeln hatte sie es quittiert, während sie weiter kunstvoll Geschenke einpackte.

Asmussen hatte es aufgegeben. Er würde an einem der nächsten Tage erneut einen Vorstoß in die Innenstadt unternehmen, vielleicht an einem Montag, hatte er überlegt.

Resigniert hatte er sich in den älteren Opel Vectra gesetzt und war zum Stadtrand gefahren. In einem Elektronikfachmarkt hatte er vergeblich nach dem gesucht, was der Älteste als Wunsch notiert hatte. Asmussen konnte nicht einmal etwas mit der Bezeichnung anfangen. Natürlich hatte er auch in diesem Fachgeschäft keine professionelle Hilfe gefunden.

So war der Frust weiter gewachsen, und er hatte sich entschlossen, nur noch die zweite Einkaufsliste abzuarbeiten, die Rieke ihm am Morgen mitgegeben hatte. In ihrer kleinen gestochenen Handschrift hatte sie notiert, was die Familie in der kommenden Woche an Lebensmitteln und Haushaltsbedarf benötigte. Asmussen hatte beschlossen, auf das Zusammensammeln beim Discounter zu verzichten. Er hatte keine Energie mehr, sich in die lange Schlange vor der Kasse einzureihen.

Es hatte ihn Überwindung gekostet, geduldig am Kreisverkehr zu warten. Obwohl der Kreis Nordfriesland zu den dünn besiedelten Regionen gehörte, riss die Schlange der Fahrzeuge aus Richtung Innenstadt nicht ab. Es hatte schon den ganzen Tag geregnet, und der Scheibenwischer kratzte über die Scheibe. Es war ein unangenehmer feiner Sprühregen, zu wenig für die Scheibenwischer, zu viel, um den Feuchtigkeitsfilm auf der Scheibe zu ignorieren.

Asmussen war in eine zu kleine Lücke hineingeschossen, nachdem sein Hintermann ungeduldig gehupt hatte. Der vorfahrtberechtigte Fahrer hatte es mit Gelassenheit ertragen. Die Husumer waren die Benutzung von Kreisverkehren gewohnt. Ihre kleine Stadt war voll davon.

Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Asmussen den Kreisel verlassen und ein wenig Schadenfreude empfunden gegenüber den Autofahrern, die hier ungeduldig darauf warteten, in den Kreisverkehr hineinfahren zu können.

Nach wenigen Metern war er nach rechts abgebogen. Er hatte dem wuchtigen holzgeschnitzten Tor mit den chinesischen Schriftzeichen und den beiden steinernen Löwen davor keine Beachtung geschenkt. Dieses Bauwerk war ebenso wie der sich hinter den Säulenwacholdern ein wenig versteckende Bambuspalast so kunstvoll gestaltet, dass es nach Asmussens Ansicht originalgetreuer aussah als im Reich der Mitte selbst, obwohl er noch nie in China war. Dafür wusste er, wie vorzüglich man in diesem Chinarestaurant speisen konnte. Dahinter dehnte sich ein Teil des Gewerbegebiets aus. »Die Automeile«, da gleich mehrere Automarken hier ihre örtlichen Vertretungen unterhielten. Am Ende der Straße lag in einem unscheinbaren Gebäude, das von außen mehr einem Lagerhaus glich, die angesagte Disco der Stadt, zu der leider auch sehr oft die Polizei zu Einsätzen gerufen wurde.

Asmussen hatte eine Weile auf dem großen Parkplatz suchen müssen, bis er eine Parklücke fand. Es war stockfinster, der Regen hatte zugenommen, und die Menschen waren damit beschäftigt gewesen, eilig ihre Einkäufe aus den Einkaufswagen in ihren Fahrzeugen zu verstauen. Asmussen hatte keinen Blick für die vertraute Umgebung, für den Croqueladen, das Geschäft für Anglerbedarf oder das Erotikfachgeschäft. Vor der Automatiktür hatte man einen gläsernen Windschutz gebaut, den es zu umrunden galt. Man wusste hier an der Küste mit dem Wetter umzugehen. Vom langen Gang zweigten die kleinen Läden der Dienstleister ab, der Friseur, die Apotheke, der Zeitungsladen, der Geldautomat. Für das leibliche Wohl sorgten die Bäckereifiliale und der Snack-Point auf der gegenüberliegenden Seite. Asmussen nannte das Bistro zur Erheiterung seiner Familie stets »Schnack-Punkt«. Das kleine Auto oder das Pferd, die sich nach einem Münzeinwurf sanft bewegten, wurden schon seit vielen Jahren nicht mehr von den Kindern frequentiert. Asmussen lächelte in sich hinein, als er sich erinnerte, dass es früher ein steter Kampf gewesen war, die Kinder daran vorbeizulotsen.

Er hatte den weiteren Geschäften und den Sonderangeboten, die im Gang des Einkaufszentrums standen, keine Beachtung geschenkt und war in den großen Verbrauchermarkt eingetaucht, den ein fremder Besucher in dieser Größe kaum in der kleinen Stadt vermutet hätte.

Mit einem übervollen Einkaufswagen war Asmussen zu seinem Opel zurückgekehrt und hatte den Einkauf im Vectra verstaut. Der Kofferraum hatte sich wieder einmal als zu klein erwiesen, und so musste er einen Teil der Ware mühsam auf Rücksitz und Beifahrersitz verteilen.

Er war genervt. Ein ganzer Tag Arbeit bedeutete nicht so viel Stress wie die vorweihnachtliche Hetzerei durch die Geschäfte. Asmussen hatte auch keinen Blick dafür gehabt, wer auf dem lebhaft frequentierten Parkplatz in seiner Nähe mit ähnlichen Verrichtungen beschäftigt war. Er hatte sich auch keine Gedanken gemacht, ob die Menschen ähnlich gestresst waren wie er selbst. Zu allem Überfluss hatte es auch unablässig geregnet. Husum, die feuchte Stadt am Meer.

Es regnete immer noch. Asmussen war von oben bis unten durchnässt. Das Wasser tropfte ihm von den feuchten Haaren ins Gesicht, leckte in die Augen und lief über die Wange am Hals entlang in den Kragen. Die Kleidung hatte den Regen, dem er jetzt seit einiger Zeit ausgesetzt war, aufgesogen. Die Nässe war selbst durch die Unterwäsche bis auf die Haut durchgedrungen. Hinzu kam der Wind, der die Feuchtigkeit noch schlimmer erscheinen ließ. Es war eiskalt. Asmussen fror erbärmlich. Er zitterte am ganzen Leib, seine Zähne schlugen aufeinander, soweit es ihm möglich war. Immer wieder irrten seine Augen umher, versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Mehr als die hohen Lichtmasten des Betriebswerks der Nord-Ostsee-Bahn konnte er nicht erkennen. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie spät mochte es sein? Es schien ihm unendlich lange her, dass die Lampen aufgeflammt waren. Fast hatte es ihn ein wenig beruhigt, nachdem er zuvor nur die Lichtkuppel Husums am Horizont hatte erkennen können. Sonst hatten die dichten Regenwolken die Welt in eine bedrohliche Finsternis getaucht. Selbst die kahlen Büsche und Bäume am Bahnhang wirkten unheimlich. Asmussen war kein ängstlicher Mensch, aber die ganze Umgebung hatte ihn fürchten lassen. Es war nicht nur die Kälte, die ihn zittern ließ. Es war die nackte Angst.

Wieder peitschte ihm der Regen ins Gesicht und ließ ihn ein wenig schaukeln. Asmussen hatte nicht mitgezählt, wie oft er sich gewunden hatte, verzweifelt bemüht, sich aus seiner Lage zu befreien. Er hatte an den Kunststofffesseln, die fast wie Kabelbinder aussahen, gezerrt, mit denen seine Hände auf dem Rücken fixiert waren. Das Plastik hatte sich nur noch tiefer ins Fleisch eingegraben. Er spürte den schneidenden Schmerz nur, wenn er kraftlos für einen Augenblick innehielt, um sich neu zu sammeln. Seine Kräfte waren verbraucht. Trotzdem zerrte er immer wieder an den Fesseln, versuchte seinen Körper ins Schwingen zu bringen, aber mehr als eine leichte Schaukelbewegung brachte er nicht zustande. In den kurzen Pausen versuchte er, durch Grimassen und Bewegungen seiner Zunge den Klebestreifen vom Mund zu lösen. Wenn er wenigstens den abstreifen könnte, so könnte er schreien und hoffen, dass ihn jemand in dieser regnerischen und windigen Dezembernacht hören würde. Er hatte versucht, die Schulter in die Höhe zu ziehen, um das Pflaster am Kragen des Dienstparkas abstreifen zu können. Dabei hatte er sich lediglich die Haut abgescheuert, die jetzt höllisch brannte.

Zwischendurch lief immer wieder der Film seines Lebens vor seinem geistigen Auge ab, Rieke, die Söhne, die Eltern und der verwitwete Schwiegervater, Freunde, Kollegen … Das Haus, auf das er so stolz war und für das er viele andere Dinge hatte aufgeben oder zurückstellen müssen. Man lebte eingeschränkt, verzichtete auf Urlaub, fuhr ein altes Auto … Doch all das hätte er hergegeben, wenn er sich hätte befreien können.

Asmussen stöhnte auf, als ihm seine Lage erneut bewusst wurde. Er wehrte sich nicht, als sich zum wiederholten Male sein Darm entleerte. Es war die Angst. Panische Angst. Das Grauen hatte sich in sein Hirn gefressen. Sein Kreislauf drohte zusammenzubrechen. Er hoffte, dass er das Bewusstsein verlieren würde, dass die Natur ihm gnädig war. Sie tat ihm nicht den Gefallen.

Zwei Männer hatten ihn angesprochen, als er die Einkäufe in seinem Auto verstaut hatte. Natürlich wollte er ihnen behilflich sein und war den beiden gefolgt, obwohl ihm die Zeit inzwischen davonzulaufen drohte. Die beiden hatten ihm erklärt, sie seien fremd in der Stadt. Sie hatten den großen Parkplatz direkt vor dem Einkaufszentrum verlassen, waren an der Ecke des Gebäudes auf die erweiterten Plätze abgebogen, die sich an der tristen und fensterlosen Längswand des Komplexes entlangzogen. Hier war es ruhiger, wenn auch der Schein der hohen Lichtmasten mit den jeweils vier Lampen alles in ein mildes gelbliches Licht tauchte. Die Männer waren vor einem älteren Wohnmobil stehen geblieben. Ratlos hatte Asmussen die beiden angesehen, als einer eine Pistole gezückt und ihm durch eine energische Bewegung bedeutet hatte, einzusteigen. Niemand hatte gesprochen. Eine Antwort auf die Frage, ob das ein Scherz sei, hatte man ihm versagt. Einer hatte Asmussen die Hände auf den Rücken gefesselt. Anschließend war ihm ein dickes Paketklebeband über den Mund geklebt worden. Während sich einer der Männer ans Steuer gesetzt und den altersschwachen Diesel angeworfen hatte, war der zweite bei ihm sitzen geblieben. Durch die Scheibe konnte Asmussen verfolgen, wie das Wohnmobil auf die Umgehungsstraße gelenkt wurde und Richtung Süden fuhr. Bereits an der zweiten Abfahrt hatte das Fahrzeug die Bundesstraße wieder verlassen, die Ostenfelder Straße gekreuzt, das Friesenstadion passiert und war am Rande der Mauseberge, einem citynahen Waldgebiet, entlanggefahren. Am Ende der Straße hörte der Teerbelag auf, und Asmussen hatte deutlich jedes Schlagloch des unbefestigten Weges gespürt, bis das Wohnmobil mitten im Wald anhielt. Hier hatten sie die nächsten Stunden verbracht. Man hatte seine Papiere hervorgeholt, sie angesehen und, ohne etwas daraus zu entfernen, wieder zurückgesteckt. Eine Erklärung, weshalb man ihn gefangen hielt, war unterblieben. Er hatte Mineralwasser zu trinken bekommen. Man hatte gefragt, ob er rauchen würde. Aber befragt wurde er nicht.

Die Männer hatten sich ungeniert über persönliche Dinge unterhalten, über gemeinsame Freunde und Bekannte, über Urlaubserlebnisse. Es war ein normales Gespräch gewesen, fast so, als wäre Asmussen nicht anwesend. Es hatte ihn überrascht, dass die Männer sich keine Mühe gegeben hatten, ihre Identität zu verbergen. Was wollten sie von ihm? Asmussen war niemand, für den man Lösegeld bekam. Er hatte keine Ahnung, weshalb man ihn gefangen gehalten hatte. Seine Versuche, sich durch Laute zu artikulieren, waren unerhört geblieben.

Irgendwann, nach vielen Stunden, hatte man ihn gezwungen, in ein Gestell zu klettern, das wie ein Tragegurt aussah. Dann waren sie wieder losgefahren, nur ein kurzes Stück, durch das eiserne Tor, das als Ersatz für einen Bahnübergang über ein Abstellgleis diente; und nur ein paar Häuser weiter, im Schockedahler Weg, hatte das Wohnmobil gestoppt. Das Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite war dunkel. Die Bewohner der wenigen Häuser hatten tief und fest geschlafen.

Die rechte Straßenseite war unbebaut. Ein Stück abseits der Straße fiel das Gelände zu den Bahngleisen ab, der im Taleinschnitt liegenden Hauptstrecke nach Hamburg.

Die wenigen und weit auseinander stehenden Straßenlampen spendeten nur ein spärliches Licht. In Fahrtrichtung folgte eine kleine Koppel, auf der sich zu dieser Jahreszeit keine Tiere befanden.

Die Männer hatten an dem Tragegestell, in das man Asmussen gezwängt hatte, ein stabiles Nylonseil befestigt, sodass die beiden Enden wie Zügel wirkten. Dann hatte man ihn gezwungen, auszusteigen. Er hatte sich zu wehren versucht, wollte sich mit den Füßen gegen den Türrahmen des Wohnmobils stemmen, aber die Männer waren kräftiger. Nach kurzer Gegenwehr hatten sie ihn, an jeder Seite am Oberarm haltend, aus dem Fahrzeug gezerrt und zur Brücke geführt, die diesen Teil der Stadt mit Rödemis verband, einem in sich geschlossenen ruhigen und beliebten Wohngebiet. Die Brücke war für Autos gesperrt und nur für Fußgänger und Radfahrer freigegeben. Zu dieser Stunde, bei den widrigen Witterungsverhältnissen, konnte man sicher sein, dass keine Passanten unterwegs waren. Die Stelle war exzellent gewählt. Auch von der anderen Seite des Bahndamms, jenseits der Brücke, war sie nicht einsehbar. Das letzte kleine Siedlungshäuschen auf Rödemisser Seite war durch Bäume und Strauchwerk abgeschirmt.

Asmussen hatte sich gewehrt und getreten, er hatte sich gewunden und versucht, die Männer mit seinem Körper zu rammen und zur Seite zu schubsen. Es war ihm immer nur kurz gelungen. Die beiden waren durchtrainiert und kräftiger. Sie hatten es vermieden, ihn zu schlagen, keine Gewalt gegen ihn ausgeübt, ihn nur so weit bedrängt, wie es für ihr Vorhaben erforderlich war. Lediglich als sie ihn über das Brückengeländer geschoben hatten, mussten sie kräftiger zupacken. An den beiden Enden des Seils hatten sie ihn langsam herabgelassen, bis es einen Ruck gab und Asmussen etwa einen Meter über den Gleisen zum Hängen gekommen war, genau zwischen den beiden Schienen des Gleises, das Richtung Süden führte.

Wenn es ein Scherz war, ein sehr derber, dann war es ein dummer Scherz, hatte er gedacht. Er wusste nicht, weshalb man ihm einen solchen Schrecken einjagen wollte.

Als Asmussen trotz des Windes hörte, wie der Motor des Wohnmobils ansprang und sich der nagelnde Diesel entfernte, hatte ihn die Panik erfasst. Ein Alptraum hätte nicht so schlimm sein können wie seine derzeitige Lage, von der Brücke herabhängend, genau in Höhe der Lokomotive. Er spürte nicht den Wind, die Kälte, die durchdringende Nässe, den Schmerz an den durchgescheuerten Handgelenken, die Einschmutzungen am Unterleib.

Asmussen kämpfte verzweifelt um sein Leben.

Er hörte das tiefe Brummen der schweren Diesellokomotive, die den ersten Zug der Nord-Ostsee-Bahn Richtung Hamburg zog, als sie den Husumer Bahnhof, der hinter der Kurve lag, verließ. Kurz darauf tauchte das Dreilicht-Spitzensignal des Zuges auf.

Jörg Asmussen wurde zweiundvierzig Jahre alt.

ZWEI

Als der Erste Hauptkommissar Christoph Johannes am Tatort eintraf, hatten die ersten Streifenwagen das Gebiet schon weiträumig abgesperrt. Man hatte Christoph, den kommissarischen Leiter der Husumer Kriminalpolizeistelle, zu Hause in England informiert. Der Ortsteil mit dem ungewöhnlichen Namen lag auf der Husum vorgelagerten Marscheninsel Nordstrand.

Christoph hatte den Tatort über den Stadtteil Rödemis angesteuert und musste sich ausweisen, damit ihn der Mann der freiwilligen Feuerwehr, der die Sackgasse zur Brücke absperrte, durchließ.

Am Ende der Beselerstraße, die in die Eisenbahnbrücke überging, standen mehrere Einsatzfahrzeuge. Die Strahlenfinger des zuckenden Blaulichts reflektierten in den Fenstern der Häuser, sofern diese nicht geöffnet waren und die Bewohner dem Treiben in ihrer Straße zusahen.

Ein blaues Verkehrsschild zeigte an, dass die Benutzung der Brücke für Fußgänger und Radfahrer freigegeben war. Christoph schüttelte den Kopf über die deutsche Bürokratie, weil direkt darunter ein weiteres Schild prangte, auf dem zu lesen war: »Radfahrer frei«.

Heute durfte niemand die Brücke betreten. Dafür sorgte ein uniformierter Beamter, der dort Wache hielt. Er nickte Christoph zu und murmelte ein halblautes »Moin. Gehen Sie bitte ganz rechts. Spurensicherung«.

Die Brücke lag inmitten einer Kurve. Links sah man das Bahnbetriebswerk im Hintergrund, rechts ging die Kurve mit den Gleisen weiter und verschwand, bis die Strecke die nächste, von hier unsichtbare Brücke unterfahren hatte und dann durch den offenen Margarethenkoog zum nächsten Bahnhof, Friedrichstadt, führte.

Heute sah Christoph im Einschnitt, am Ende der Kurve, die roten Schlusslichter eines Eisenbahnzuges. Man hatte ihn in groben Zügen über das Vorkommnis informiert. Er war nicht überrascht, dass der Zug trotz der noch nicht hohen Geschwindigkeit so weit gefahren war, bis er zum Stehen gekommen war. Neben den Waggons und unter der Brücke sah er auf und ab tanzende Taschenlampen und eine Handvoll Leute, die über die Gleise liefen und sie absuchten. Schemenhaft konnte er die dunklen Polizeiuniformen erkennen.

Hinter der Überführung stieß er auf Thomas Friedrichsen, den Kommissar der uniformierten Kollegen. »Hier entlang«, sagte der Beamte und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem Christoph ihn fragend angesehen hatte, ergänzte er: »Dort kommen Sie besser auf die Gleise.«

Ein Trupp der Feuerwehr war damit beschäftigt, Ausrüstungsgegenstände und Tiefstrahler nach unten zu transportieren. Christoph folgte den Feuerwehrleuten und war völlig mit Dreck verschmiert, als er, halb gehend, halb rutschend, die Böschung hinab- kletterte.

»Da oben«, sagte ein weiterer Polizist, der auf dem Gegengleis stand und mit seiner Taschenlampe zur Brücke hochleuchtete. Im Wind bewegte sich das abgerissene Ende eines Seils. »Daran muss er gehangen haben, der arme Teufel. Große Jäger ist weiter vorne.«

Christoph stolperte mehr, als dass er ging, und suchte im Dunkeln einen Rhythmus zu finden, der ihn von Schwelle zu Schwelle führte.

Aus einer offenen Waggontür rief ihm jemand zu: »Stimmt es, dass sie ein’ umgefahr’n hab’n?«

Christoph ignorierte den Mann und traf noch vor dem Zuganfang eine Gruppe von drei Männern.

»Moin«, grüßte er und erhielt keine Antwort. Stattdessen trat Oberkommissar Große Jäger zur Seite und zog Christoph ein wenig abseits.

»Das habe ich noch nicht erlebt«, sagte der Oberkommissar. Er war, wie üblich, unrasiert und trug seine Lederweste mit dem Einschussloch über einem dicken Pullover. Mit wenigen Worten schilderte er, was die Beamten vorgefunden hatten. »Fast nichts«, schloss er seinen Bericht. »Was sind das für Tiere, die jemanden vor eine Lokomotive hängen?« Große Jäger, der über ungemein viel Erfahrung verfügte und schon Dinge erlebt hatte, die andere Menschen sich nicht vorstellen konnten, war erschüttert. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf mit den ungewaschenen dunklen Haaren, die von zahlreichen Silberstreifen durchzogen waren. »Es ist alles in die Wege geleitet«, sagte der Oberkommissar. »Die Spurensicherung aus Flensburg ist angefordert, und der Chef muss auch bald hier sein.« Er sah Christoph, seinen Vorgesetzten, an. »Ich meine Nathusius. Bei einem solchen Fall …«

»Wissen wir schon etwas über das Opfer?«

»Zwei Opfer«, sagte Große Jäger und ergänzte, nachdem Christoph ihn fragend angesehen hatte: »Der Lokführer. Der hat einen schweren Schock erlitten, als plötzlich vor seiner Scheibe ein Mensch auftauchte. Ich habe gehört, dass man den Mann sogar reanimieren musste, weil der Schock so heftig war. Arme Sau. Das wird der sein Leben lang nicht mehr los.«

»Und das andere Opfer? Wo ist das?«

Große Jäger sah ihn an, als würde er an Christophs Verstand zweifeln. Dann ließ er seinen Arm kreisen. »Hier überall«, sagte er mit leiser Stimme. »Und es kommt noch schlimmer.«

Christoph ließ ihm Zeit. Der Oberkommissar schluckte tief. »Noch ist es nicht bestätigt, aber es könnte Jörg Asmussen sein.«

Jetzt schluckte auch Christoph. Ein eiskalter Schauder jagte ihm über den Rücken. Wie gut, dass es dunkel war, sonst hätte man gesehen, dass alles Blut aus seinem Gesicht gewichen war.

»Einer von uns«, murmelte er leise.

Es trafen immer mehr Rettungskräfte ein. Die Feuerwehr hatte für Licht gesorgt, Kriminaldirektor Nathusius, der Leiter der Polizeidirektion Husum, hatte die Gesamtleitung übernommen. Die Spurensicherung aus Flensburg war eingetroffen, und Hauptkommissar Jürgensen, der stets eine Bösartigkeit auf den Lippen hatte, wenn er zu einem Einsatz an die Westküste gerufen wurde, hatte diesmal auf jeden Kommentar verzichtet, die Husumer Beamten nur mit einem Kopfnicken begrüßt und sich dann mit seinen Mitarbeitern an die traurige Arbeit gemacht. Dr. Hinrichsen, der der Husumer Kriminalpolizei oft als erster medizinischer Ansprechpartner diente, war kurz erschienen und hatte abgewinkt. Hier gab es für ihn nichts zu tun.

Christoph hatte Kommissar Harm Mommsen beauftragt, sich um die Medien zu kümmern. »Die Art des Todes ruft die Presse auf den Plan«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass hier fotografiert oder gefilmt wird. Das sind wir der Würde des Opfers schuldig, außerdem möchte ich jeder Sensationsgier von Beginn an Einhalt gebieten. Wir sollten auch vermeiden, dass irgendwelche Spekulationen kursieren.«

Ein wenig später sprach Christoph Nathusius an: »Das Terrain gehört jetzt den Experten. Wir können hier nicht viel ausrichten. Deshalb möchte ich mich mit Große Jäger zur Dienststelle zurückziehen und von dort aus den Fragen nachgehen, die sich uns stellen.«

Der Kriminaldirektor nickte. »Es wär mir lieb«, sagte er, »wenn Sie mich zuvor begleiten würden. Wir müssen die Ehefrau benachrichtigen.«

Christoph nickte. Das hätte er gern anderen überlassen. Doch war es klar, dass diese Pflicht der Polizeiführung zufiel und nicht einem der Notfallseelsorger, die sich inzwischen um die Menschen kümmerten, die Zuspruch benötigten.

Die Feuerwehr hatte inzwischen Leitern an der steilen Böschung angebracht, sodass es einfacher war, sie zu erklimmen. Trotzdem waren Christophs Kleidung und Hände vom feuchten Lehmboden und vom Gras verschmutzt. Nathusius war es nicht anders ergangen.

Sie reinigten sich mit Papiertaschentüchern, soweit es möglich war.

»Es ist sicher nicht die ideale Aufmachung«, sagte der Kriminaldirektor, »ich möchte aber so schnell wie möglich zu Frau Asmussen.« Er folgte Christoph zu dessen Volvo. Noch einmal warfen sie einen Blick in den Talausschnitt, auf die Eisenbahn, die Rettungskräfte, die dort unten ihrer Tätigkeit nachgingen.

An der Absperrung vor der Brücke hatten sich trotz der frühen Stunde zahlreiche Schaulustige eingefunden. Die beiden Beamten wurden mit Fragen bedrängt, und es kostete sie Mühe, sich durch den Pulk zu zwängen. Auch Christophs Auto wurde umlagert, und erst nachdem ein uniformierter Polizist einschritt, konnte Christoph die Sackgasse im Rückwärtsgang verlassen. Er fuhr durch das stille Rödemis, in dem nur vereinzelt ein paar Fußgänger unterwegs waren, unterquerte die Eisenbahn und bog in die Poggenburgstraße ab. Dort lag das Gebäude der Polizeidirektion. Zahlreiche Fenster waren hell erleuchtet, mehr als sonst zu dieser frühen Stunde. Vor dem gegenüberliegenden Bahnhof standen Menschen in Gruppen. Fahrgäste, vermutete Christoph, deren Zug ausgefallen war und die auf Informationen warteten.

Die Straße führte sie in einem für Ortsfremde nur schwer zu durchschauenden System rechts-links-rechts-links-rechts entlang, bis sie kurz nach dem »Einstein«, das zu Deutschlands bester Whiskykneipe gewählt worden war, in den Marienhofweg abbogen. Entlang der Straße standen zahlreiche Blocks mit Mehrfamilienhäusern. Die Wache der Freiwilligen Feuerwehr Husum, deren Mitglieder im Augenblick einer unerfreulichen Tätigkeit nachgingen, lag auch an dieser Straße.

Beim Abbiegen in die Herzogin-Augusta-Straße tauchte man in eine andere Welt ein. Hier war ein Neubaugebiet mit lauter schmucken Einfamilienhäusern entstanden. Im Sommer mussten die sorgfältig gepflegten Anwesen mit den hübschen Gärten eine Augenweide sein. Dazu trug auch die Verkehrsberuhigung bei. Die Emma-Carstensen-Straße war so schmal, dass ein Begegnungsverkehr nicht möglich war. Fußwege gab es keine, dafür aber lauter in die Straße hineingebaute Schikanen.

Christoph wunderte sich über das viele Grün und die zahlreichen Bäume, während Nathusius Ausschau nach dem Haus hielt. Die Sackgasse öffnete sich am Ende zu einem kleinen gepflasterten Platz, der von Reihenhäusern gesäumt wurde, die aber nicht in schlichter Kettenbauweise, sondern trotz hoher Verdichtung mit einem individuellen Charme gestaltet waren.

»Dort muss es sein«, sagte der Kriminaldirektor. Sie stiegen aus und näherten sich dem Haus, neben dessen Tür ein handgefertigtes Keramikschild verkündete, dass hier »Familie Asmussen« wohnte. Nathusius zögerte ein wenig, bevor er seinen Finger auf die Klingel legte. Als wenn jemand hinter der Tür auf Besuch gewartet hätte, wurde sie geöffnet. Eine Frau mit schmalem Gesicht und hochgesteckten blonden Haaren stand ihnen gegenüber. Sie sah übernächtigt aus. Als sie die beiden Männer sah, hielt sie erschrocken ihre Hand vor den Mund. Sie hatte Nathusius erkannt.

»Mein Gott«, stammelte sie.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Kriminaldirektor. Sie nickte und gab die Tür frei. Dann führte sie die beiden Beamten in die kleine Küche und zeigte auf die Klappstühle, die um den Tisch herumgruppiert waren.

Der Kriminaldirektor nahm Platz, während Christoph im Türrahmen stehen blieb. Rieke Asmussen hatte sich gegen die Spüle gelehnt.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Nathusius.

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah abwechselnd den Kriminaldirektor und Christoph an.

Nathusius räusperte sich. »Der Beruf des Polizisten ist kein gewöhnlicher«, begann er vorsichtig. »Er erfordert viel persönliches Engagement, vom Beamten und seiner Familie. Wer sich dafür entschieden hat, weiß, welche Belastungen auf ihn zukommen. Und er ist mit Gefahren verbunden.«

»Jörg?«, fragte Rieke Asmussen und sah Nathusius mit angstgeweiteten Augen an.

Der Kriminaldirektor nickte stumm. »Es war ein Unfall.«

»Ist er … ist er schwer verletzt?«

Traurig schüttelte Nathusius den Kopf. »Er hat nicht leiden müssen. Das ist aber für uns alle kein Trost.«

Vor Christophs Augen zogen die Bilder vom Bahndamm vorbei. Man musste nicht viel Phantasie haben, um sich ausmalen zu können, was Asmussen in seinen letzten Augenblicken durchlebt hatte. Es gab Situationen, da war die Lüge gnädiger als die Wahrheit.

Rieke Asmussen stand wie zur Salzsäule erstarrt. Ohne Lidbewegungen starrte sie auf den Kriminaldirektor. Dann zuckte es um ihre Mundwinkel. Sie drehte sich um und begann, mit fahrigen Bewegungen ein Gefäß mit Reis aus den Hängeschränken herauszuholen, öffnete die Dose und sah hinein, bevor sie es wieder zurückstellte. Das Gleiche geschah mit zwei weiteren Dosen, bis ihr eine Packung mit Hörnchennudeln aus der Hand fiel und der Inhalt sich auf den Fliesen verteilte. Gebannt starrte die Frau auf den Fußboden, dann begann ihr schmaler Körper zu beben. Sie riss die Hände vors Gesicht und schluchzte. Mit einem schnellen Schritt war Christoph bei ihr und nahm sie in den Arm. Sie lehnte sich an ihn, kroch förmlich in ihn hinein und ließ ihrem Schmerz freien Lauf.

Es mochten Minuten vergangen sein, in denen niemand sprach, während Christoph ihr sanft über den Kopf strich, soweit es die hochgesteckten Haare zuließen.

»Ich werde eine Kollegin informieren«, sagte er schließlich. »Die wird sich heute um Sie kümmern. Wir werden außerdem dafür sorgen, dass ein Seelsorger zu Ihnen kommt. Wir sind unendlich traurig und werden alles tun, um Ihnen zu helfen.«

»Aber … Jörg«, sagte sie, und Christoph wusste, dass keine Hilfe der Welt der Familie den Vater und Ehemann ersetzen konnte.

Er ließ ihr Zeit, bis sie sich von ihm löste und sich mit einem Geschirrtuch die Tränen abtrocknete. Christoph nutzte die Zeit, rief Hilke Hauck an und gab die Adresse durch. Die Kommissarin stellte keine Fragen und sagte zu, umgehend zu kommen.

In diesem Moment erschien ein kleiner blonder Junge mit Sommersprossen im Gesicht. Er war barfuß und trug noch den Pyjama. Der Junge wischte sich verschlafen über die Augen und sah irritiert in die Küche.

»Was ist hier los?«, fragte er.

Christoph war froh, als Nathusius aufstand und sich zu dem Kind hinabbeugte. Er hörte nicht zu, mit welchen Worten der Kriminaldirektor dem Kleinen das zu erklären versuchte, was Christoph selbst nicht verstand.

* * *

»Ruhe!«

Die Hand landete klatschend auf der Tischfläche, dass die Tassen und Teller tanzten. Für einen Augenblick war es so still, dass man die Atemluft hören konnte. Dann drang ein leises kindliches Kichern durch die Stille. Über der vorgehaltenen Hand vor dem Mund suchten zwei lustige kleine Augen die Runde prüfend ab. Dann wurde aus dem Kichern ein lautes Lachen, in das drei andere Kinder und zwei Erwachsene einfielen.

»Glaubst du wirklich, die Rolle als Patriarch steht dir?«, fragte Thorolf, der Sechzehnjährige, und steckte sich ein halbes Brötchen in den Mund.

»Du kannst schlecht argumentieren, wenn du den Mund so vollnimmst«, erwiderte Lüder. »Das gilt für Brötchen und andere Vorhaben.«

»Hä – hä«, quetschte Thorolf zwischen den Zähnen hervor.

Margit war aufgestanden und hatte die Thermoskanne von der Arbeitsfläche geholt. »Noch Kaffee?«, fragte sie Lüder und schenkte nach, als er nickte.

Das Machtwort hatte nur wenig genutzt. Schon begannen sich Viveka und Jonas wieder zu streiten.

Lüder atmete tief durch. Diese Familie war nur schwer zu bändigen. Das galt für Thorolf und seine ein Jahr jüngere Schwester Viveka, die Margit mitgebracht hatte, für Jonas, das Enfant terrible, das aus Lüders geschiedener Ehe stammte, und für die vierjährige Sinje, Margits und Lüders gemeinsame Tochter.

Bevor Margit sich entfernen konnte, hatte Lüder sie um die Taille gefasst und zu sich herangezogen. »Ich würde viel vermissen«, sagte er, »wenn es euch nicht gäbe.«

»Und wenn wir alle leise wären, würdest du uns nicht hören. Das wäre doch so, als gäbe es uns nicht«, argumentierte Thorolf.

»Hast du deine Schularbeiten erledigt?«, wandte sich Lüder an Jonas.

»Klaro.«

»Der lügt«, mischte sich Viveka ein. »Die macht er immer vor der Schule auf’m Klo. Die schreibt er von Dixi ab. Die will was von ihm.«

»Du spinnst doch«, ereiferte sich Jonas, und ein leichter Rotschimmer überzog sein Gesicht. »Die ist doch viel zu fett. Und rothaarig.«

»Jonas! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Schule ernst nehmen.«

»Ich weiß«, stöhnte er. »Ich lerne fürs Leben, nicht für die Schule.«

»Und? Was ist mit dem Abschreiben im Klo?«

»Viveka lügt«, behauptete Jonas. »Dabei geht die doch zum Konfirmationsunterricht. Die sollte doch wissen, dass man nicht lügen soll. Steht doch im vierten Gebot. Oder so.«

»Das besagt etwas anderes, besonders Wichtiges. Weißt du es, Viveka?«

»Nö«, antwortete das Mädchen kess und grinste. Warum sollte ausgerechnet sie vortragen, dass man die Eltern achten und ehren soll?

»Und was ist mit dem Lügen?«, hakte Lüder nach.

»Keine Ahnung«, erwiderte Jonas. »Außerdem kann ich noch lügen. Ich gehe noch nicht zum Konfer.«

»Was hast du heute zu tun?«, wechselte Margit das Thema und sah Lüder an.

»Büroarbeit, mein Schatz. Wie jeden Tag. Wie es sich für einen Beamten gehört.«

»Wie war das mit dem Schwindeln?«, fragte Margit und fuhr durch Lüders wuscheliges blondes Haar.

Dabei hatte er die Wahrheit gesagt. Kriminalrat Dr. Lüder Lüders vom Landeskriminalamt Kiel saß den Tag über an seinem Schreibtisch in der Abteilung 3, dem Polizeilichen Staatsschutz.

Mit ruhigem Gewissen verabschiedete er sich von seiner Familie und sah kritisch zum grauen Himmel über Kiel hoch. Er zog die Nase kraus, als er durch den Regen zu seinem BMW lief. Das einzig Gute an solchem Wetter war, so überlegte er, dass die Nachbarin, Frau Mönckhagen, nicht am Gartenzaun lauerte und ihn in ein Gespräch verwickelte.

Lüder fuhr von dem älteren Einfamilienhaus im Stadtteil Hassee zum nahen Eichhof, dem Polizeizentrum, in dem sich neben diversen anderen Dienststellen auch das Landeskriminalamt befand.

Er parkte seinen Wagen auf den für Mitarbeiter vorgesehenen Plätzen und steckte seinen Kopf zur Tür des Geschäftszimmers hinein.

»Moin, Frau Beyer«, grüßte er die Mitarbeiterin, die gleichzeitig die Funktion der Vorzimmerdame des Abteilungsleiters wahrnahm. Lüder hielt seine Nase in die Luft und schnupperte. »Gibt es schon Kaffee?«

»Natürlich«, antwortete sie lachend.

Lüder trat ein und schenkte sich einen Becher voll. »Ich müsste wieder einmal etwas in die Kaffeekasse legen«, sagte er und wollte sein Portemonnaie zücken.

»Ich komme mit dem Klingelbeutel zu Ihnen«, sagte die Sekretärin.

In seinem Büro schloss Lüder die Rollis unter dem Schreibtisch und die Schränke auf, schaltete den Computer ein und trank einen Schluck, während er wartete, dass die langwierige Anmeldeprozedur ablief. Entgegen seinen üblichen Gewohnheiten hatte er heute keine Tageszeitungen mitgebracht. Warum auch. Gestern war ein ereignisloser Tag gewesen. Und die Nacht war auch ruhig verlaufen.

Mit einem Stoßseufzer griff er zu einem Aktendeckel, schlug ihn auf und studierte den Inhalt.

Lüder hatte sich zwei Stunden durch die Papierberge gearbeitet, als sein Telefon klingelte.

»Beyer«, meldete sich die Sekretärin und bat ihn, zum Leiter der Abteilung zu kommen.

Lüder klopfte pro forma an und betrat das Büro des Kriminaldirektors. Dr. Starke saß hinter seinem Schreibtisch.

»Guten Morgen, Herr Lüders.« Starke unternahm gar nicht den Versuch, Lüder die Hand zu reichen. Die beiden Männer waren sich in herzlicher Abneigung zugetan. Da Lüder nicht erwartete, dass ihm Platz angeboten wurde, setzte er sich ohne Aufforderung.

»Sie dürfen wieder aufstehen. Wir sollen in die Staatskanzlei kommen.« Dabei zeigte Dr. Starke auf seinen Telefonapparat. »Mich hat eben die Amtsleitung informiert.«

»Wir?«, fragte Lüder und besah sich den durchgestylten Abteilungsleiter, der wie immer modisch und korrekt gekleidet war. Er trug einen dunkelblauen Blazer, eine graue Hose und ein farblich hervorragend dazu abgestimmtes blaues Hemd mit einer dezenten Clubkrawatte.

Dr. Starke war aufgestanden, zupfte sich einen unsichtbaren Fussel vom Ärmel und sagte: »Man hat gebeten, dass Sie dabei sind. Deshalb dürfen Sie mich begleiten.«

Lüder folgte dem Kriminaldirektor, ohne dass sie ein Wort miteinander wechselten. Dr. Starke führte ihn zu einem Audi A5Cabriolet. Lüder hätte es nicht gewundert, wenn der stets braun gebrannte Abteilungsleiter das Verdeck zurückgeklappt hätte, nachdem er sich eine Lederkappe ähnlich englischen Landadeligen übergestülpt hatte.

Wenig später hatten sie die Staatskanzlei erreicht. Lüder amüsierte sich, dass der Kriminaldirektor mehrfach betonte, »ich bin Dr. Starke und werde erwartet«, aber es ihm nicht weiterhalf. Der Mann am Empfang ließ die beiden Beamten warten, bis sie abgeholt und zum Vorzimmer des Ministerpräsidenten eskortiert wurden.

Lüder begrüßte die beiden dort tätigen Sekretärinnen, die ihn aus seiner Zeit, als er im Personenschutz tätig war, kannten. Nur zögerlich folgte Dr. Starke seinem Beispiel.

»Einen kleinen Augenblick, Herr Dr. Lüders«, bat die eine und sah auf das Display ihres Telefonapparats. »Der Chef telefoniert noch.«

Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sich die Verbindungstür öffnete und die massige Gestalt des Ministerpräsidenten erschien. Mit einem strahlenden Lächeln ging er auf Lüder zu, streckte ihm die Hand entgegen und schüttelte sie kräftig.

»Schön, Herr Dr. Lüders, dass wir uns einmal wiedersehen. Fein, dass Sie so schnell Zeit hatten.« Mit einem Kopfnicken grüßte er den Kriminaldirektor, der von seinem Stuhl hochgesprungen war. »Haben Sie einen Mitarbeiter mitgebracht?«, fragte er Lüder.

Bevor der antworten konnte, deutete Dr. Starke eine Verbeugung an. »Dr. Starke vom Landeskriminalamt. Ich bin der Vorgesetzte von Herrn Lüders.«

»Fein«, sagte der Ministerpräsident mit sonorer Stimme, griff Lüder am Ärmel und zog ihn in sein Büro. »Kommen Sie. Meine Zeit ist – wie immer – knapp bemessen.« Er lachte auf. »Gäbe es keine Opposition, könnte ich Ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen.«

Lüder folgte dem Regierungschef. Dr. Starke hatte ihm einen bösen Blick zugeworfen und eilte den beiden hinterher, als sich der Ministerpräsident noch einmal umdrehte.

»Danke, dass Sie Herrn Dr. Lüders begleitet haben. Im Augenblick ist Ihre Präsenz nicht erforderlich. Sabine«, sprach er eine der Sekretärinnen an, »können Sie den Herrn … ähh …«

»Dr. Starke«, beeilte sich der Kriminaldirektor zu antworten.

»Also, den Herrn hier mit Kaffee versorgen, während ich mit Dr.Lüders spreche? Danke.«

Er schloss vor dem verdutzt dreinblickenden Kriminaldirektor die Tür und zeigte auf die Sitzgruppe.

»Sie kennen sich ja aus.« Nachdem er Platz genommen und seine Bügelfalten zurechtgezupft hatte, sagte er: »Ersparen Sie mir lange Vorreden. Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihnen vertraue und weiß, dass außergewöhnliche Probleme bei Ihnen in den besten Händen liegen. Hier.« Er nahm ein Blatt Papier hoch, das verdeckt auf dem Tisch gelegen hatte, und reichte es Lüder.

Es war normales Papier, achtzig Gramm Standard, wie Lüder erkennen konnte, das überall im Handel zu erwerben war.

Im oberen Drittel waren zwei blaue Löwen gedruckt. Darunter stand: »Es reicht.«

Lüder betrachtete den Ausdruck lange und ausgiebig. Dann runzelte er die Stirn.

»Dazu kann man viele Gedanken anstellen. Die beiden Löwen sind nach innen gewandt. Sie sind rot bewehrt und schreiten. Blau auf gelbem Grund. Das ist der linke Teil unseres Landeswappens.«

Der Ministerpräsident lachte kurz auf. »Der rechte Teil.« Als Lüder ihn fragend ansah, erklärte er: »Die Löwen sind im heraldisch rechten Feld. Das ist das für den Betrachter linke. Sie haben natürlich recht. Lassen wir die Wissenschaft. Sie haben es richtig erkannt. Es handelt sich um die Schleswigschen Löwen, die im Landeswappen den nördlichen Teil unseres Landes repräsentieren.«

»Up ewig ungedeelt«, sagte Lüder mehr zu sich selbst und wiederholte auf Hochdeutsch: »Auf ewig ungeteilt.« Im Unterschied zu anderen Bundesländern, in denen es eine Rivalität zwischen Rheinländern und Westfalen oder Badenern und Württembergern gab, hatte der Bindestrich im Namen Schleswig-Holstein wirklich eine bindende Wirkung. »Da fehlt das holsteinische Nesselblatt«, stellte Lüder fest. »So macht es keinen Sinn.«

»Richtig«, bestätigte der Ministerpräsident. »Außerdem fällt noch etwas auf.« Er sah Lüder fragend an. Als der die Schulter zuckte, zog der Ministerpräsident einen Kugelschreiber hervor und zeigte auf die beiden Löwen. »Es gibt zwei Wappen. Dieses hier darf nur von offiziellen Stellen verwendet werden. Sie erkennen es am Schwanz der Löwen, der am Ende in zwei Teile gespalten ist. Für den allgemeinen Gebrauch, sozusagen das ›Jedermannwappen‹, da haben die Löwen eine einzelne buschige Rute. Dies hier ist das offizielle Wappen.«

Lüder betrachtete das Papier lange. Noch erschloss sich ihm nicht, welche Aussage damit verbunden sein sollte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob hinter diesem Brief nicht eine Warnung stecken könnte«, äußerte der Ministerpräsident seine Vermutung. »Löwen und Nesselblatt gehören zusammen. Wenn jemand nur die Löwen druckt und sagt: ›Es reicht‹, könnte da eine separatistische Idee dahinterstehen?«

»Dafür gibt es keine Anzeichen. Uns liegen beim Staatsschutz keine Hinweise dazu vor. Andererseits … Die Schleswigschen Löwen entstammen dem dänischen Wappen. Sollte es bei der dänischen Minderheit im nördlichen Landesteil rumoren?« Lüder sah den Ministerpräsidenten nachdenklich an. »Es gab hinreichend Zündstoff in der gutnachbarlichen Beziehung. Die Kürzung der Mittel für die dänischen Schulen, die Amputation der Universität Flensburg, die erfolgreich mit der süddänischen Universität kooperiert hat, Etatkürzungen beim Landestheater, das in Flensburg sitzt, kein Ausbau der Verkehrswege, ich denke da an die Bundesstraße 5 an der nördlichen Westküste, nicht zuletzt die Brücke über den Fehmarnbelt, die die europäischen Verkehrsströme am nördlichen Landesteil vorbeifließen lassen. Ich denke auch an die Protestbewegung der Bürger, die sich gegen die Einlagerung von CO2 unter ihren Gärten wehren. Die Menschen können nicht verstehen, dass man ihnen die dreckigen Abgase der Braunkohlekraftwerke unter die Füße blasen will, während sie selbst ihre Landschaft für die Installation von Windkrafträdern opfern und damit für saubere Energie eintreten.«

Der Ministerpräsident fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen weißen Vollbart. »Oberflächlich mag das alles richtig klingen, was Sie vorbringen. Aber wir haben keine wundersame Geldvermehrung. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, dass wir, wären wir ein Unternehmen, Insolvenz anmelden müssten. Natürlich ist es für einen Politiker viel einfacher, Geld, das er nicht hat, auszugeben und Wohltaten zu verbreiten. Wenn Sie aber verantwortungsbewusst sagen: ›Leute, wir müssen den Gürtel enger schnallen‹, bekommen Sie Prügel von allen Seiten. Am meisten von denen, die es vor unserer Zeit verbockt haben. Und das ärgert mich.«

»Es könnte ein Ansatz sein, in dieser Ecke mit der Suche zu beginnen«, überlegte Lüder laut. »Aber warum? Noch ist niemand aufgetreten, der Forderungen stellt. Und wenn das der Fall wäre, ist die Aufgabe, dem mit politischen Argumenten zu begegnen. Mit Verlaub, aber ich fürchte, die Polizei ist nicht der richtige Ansprechpartner.«

Der Ministerpräsident beugte sich ein wenig vor und stützte seine Ellenbogen auf die Knie. »Ich wäre der Letzte, der Behörden und Ämter politisch missbraucht, Herr Dr. Lüders. Abgesehen davon wäre das vorrangig eine Aufgabe für den Verfassungsschutz. Ich möchte nur vorbeugen, dass uns nicht etwas droht, von dem wir überrollt werden. Deshalb bitte ich Sie, präventiv zu prüfen, wer hinter dieser Nachricht steht.«

Lüder sah auf das Papier. »Wer hat es in Händen gehabt?«

Der Regierungschef zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Der Brief war an den Ministerpräsidenten gerichtet, wurde in meinem Sekretariat bearbeitet und dann herumgereicht. Meine Referentin, ich, der Innenminister … an wen der das Schreiben weitergegeben hat, kann ich nicht sagen.«

Lüder seufzte. »Schön. Damit scheidet das Papier als Spurenträger aus. Ich werde es trotzdem mitnehmen und zur Kriminaltechnik geben. Vielleicht bekommen die etwas heraus über die verwendete Papierart, die Druckertinte, Unregelmäßigkeiten beim Drucker oder sonst was.«

Der Ministerpräsident deutete noch einmal auf das Wappen. »Es gibt noch etwas Interessantes. Die Schleswigschen Löwen, die Vorbild für das Wappen sind, sehen normalerweise nach links. Das finden Sie auch im Flensburger Wappen. Angeblich soll Otto von Bismarck angeordnet haben, dass sie im Landeswappen nach rechts, Richtung Nesselblatt, sehen, da sie sonst dem Holsteiner Wappen den Hintern zugewandt hätten.«

Der Ministerpräsident ließ sein dröhnendes Lachen hören.

»Was erzähle ich meinem Vorgesetzten, der bestimmt wissen möchte, was wir besprochen haben?«, fragte Lüder.

Der Regierungschef zeigte mit dem Daumen Richtung Tür. »Sie meinen, dem Dingsda …« Er legte eine kleine Pause ein, um Lüder Gelegenheit zu geben, den Namen zu nennen. Aber Lüder tat ihm diesen Gefallen nicht. Warum sollte ausgerechnet er den Namen des Vorgesetzten beim Landesvater einführen? Und die Bezeichnung, die Oberkommissar Große Jäger aus Husum für den Kriminaldirektor benutzte, wollte er auch nicht verwenden. »Scheiß-Starke« hätte nicht gut geklungen.

Sie gingen zur Tür, und der Ministerpräsident öffnete. Er gab Lüder die Hand und drückte sie kräftig. »Wir hören voneinander. Ich bin mir sicher, der Fall liegt bei Ihnen in bewährten Händen.«

Dr. Starke war aufgesprungen und eilte auf den Regierungschef zu. »Herr Ministerpräsi…«, begann er, wurde aber vom Landesvater unterbrochen.

»Vielen Dank, dass Sie Dr. Lüders gefahren haben, Herr … ähh …« Dann klopfte er Lüder auf die Schulter. »Machen Sie’s gut, mein Lieber.« Ohne Dr. Starke eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich zu seiner Sekretärin um. »Was haben wir jetzt auf dem Zettel, Sabine?«

Lüder schmunzelte, als er den wütenden Blick seines Vorgesetzten bemerkte. Nur mühsam konnte Dr. Starke seinen Zorn zurückhalten, bis sie im Auto saßen.

»Um was geht es?«, fragte er barsch.

»Da müssen Sie den Ministerpräsidenten persönlich fragen«, erwiderte Lüder vergnügt.

»Ihr Weg ist der falsche, Herr Lüders. Sie werden sehen, wo er endet«, schimpfte Dr. Starke.

Lüder sah geradeaus, räkelte sich im Ledersitz des Audis zurecht und begann, leise zu flöten. »Weißt du, wohin …?«

Im Landeskriminalamt ging er, ohne den Kriminaldirektor eines weiteren Blicks zu würdigen, sofort in sein Büro. Den Kaffee würde er sich später besorgen.

In seiner Anrufliste sah er, dass Jochen Nathusius aus Husum versucht hatte, ihn zu erreichen. Lüder seufzte. Das waren andere Zeiten gewesen, als der scharfsinnige Analytiker Nathusius mit seiner menschlichen und umgänglichen Art noch Leiter des Polizeilichen Staatsschutzes war. Jetzt leitete der Kriminaldirektor die Husumer Polizeidirektion.

Lüder rief zurück und wurde umgehend mit seinem ehemaligen Vorgesetzten verbunden.

»Vielen Dank, dass Sie zurückrufen«, sagte Nathusius. »Haben Sie schon gehört?«

»Nein. Was sollte ich wissen?«

Nathusius informierte ihn über die Ereignisse des frühen Morgens.

»Oh«, war zunächst alles, was Lüder herausbekam. Es gehörte zu seinem Beruf, mit Tod und Gewalt konfrontiert zu werden. Wenn es aber um einen Polizisten ging, der sein Leben im Dienst verloren hatte, tauchten bei Lüder immer wieder Zweifel auf, ob er seiner Familie diesen Beruf zumuten konnte. Oft genug war er selbst in Gefahr geraten. Und die Umstände des Mordes in Husum waren außergewöhnlich. »Gibt es erste Hinweise auf den oder die Täter?«, fragte er.

»Nein. Es gibt nur eine Absonderlichkeit. Deshalb rufe ich Sie an. In der Uniformjacke des Opfers haben die Kollegen von der Spurensicherung einen Zettel gefunden, einen ganz gewöhnlichen Computerausdruck. Er war arg mitgenommen, was nicht verwunderlich ist. Trotzdem war darauf ein Teil des Landeswappens zu erkennen, genau genommen der schleswigsche. Die beiden Löwen.«

»Darunter stand: ›Es reicht‹?«, fiel Lüder Nathusius ins Wort.

»Jaaa. Kennen Sie das?«

»Ich habe vor einer Viertelstunde davon gehört«, antwortete Lüder. »Ich werde mich sofort auf den Weg nach Husum machen.«

»Danke.«

Unterwegs schaltete Lüder zwischen den Radiosendern hin und her. Als Erstes hörte er auf Radio Schleswig-Holstein die Nachrichten. Der Sender begnügte sich mit einigen wenigen Sätzen. Der NDR mit der Welle Nord brachte eine umfangreichere Berichterstattung und hatte sogar einen Korrespondenten vor Ort, der die Lage und die Fassungslosigkeit der Einsatzkräfte und der Bevölkerung schilderte. Oberstaatsanwalt Dr. Breckwoldt aus Flensburg hatte kurz kommentiert, dass die Ermittlungen liefen und man noch nichts zum Tathergang und zum Motiv sagen könne. Er drückte sein tiefes Mitgefühl mit der Familie des Opfers aus. Wenigstens liegt dieser Fall nicht in den Händen von Oberstaatsanwalt Brechmann aus Kiel, dachte Lüder. Mit Dr. Breckwoldt ließ es sich unkompliziert zusammenarbeiten.

Die ausführlichste Berichterstattung lieferte NDR Info, der Sender, der für seine informative investigative journalistische Arbeit bekannt und bei manchen auch gefürchtet war. Natürlich stand die Frage nach dem Motiv im Vordergrund, wenn auch dieser Sender es vermied, Spekulationen anzustellen. Insgesamt rundeten die Rundfunkberichte Lüders Bild ab, auch wenn sie keine Neuigkeiten brachten.

Lüder hatte auf den Einsatz des Blaulichts verzichtet, dennoch schaffte er es, in wenig mehr als einer Stunde auf den Hof hinter dem schlichten Bau in Husums Poggenburgstraße zu fahren. Er begab sich direkt zu Nathusius. Der Kriminaldirektor begrüßte ihn mit ernster Miene. Dann berichtete er von der Tatortaufnahme und dem Besuch bei Rieke Asmussen.

»Wir haben noch keine Erkenntnisse zum Tathergang oder zum Motiv. Polizeiobermeister Asmussen war bei uns im Bezirksrevier eingesetzt. Das ist ausgelagert in der Dieselstraße. Die liegt im Industriegebiet.«

»Bezirksrevier?«, überlegte Lüder laut. »Die sind für die Verkehrsüberwachung zuständig. Das ist völlig unspektakulär.«

»Richtig. Natürlich werden wir prüfen, ob es Vorfälle gegeben hat, in denen Beamte bedroht wurden. Wir haben beim Leiter des Reviers und den Kollegen nachgefragt. Da ist nichts bekannt.«

»War der Kollege schon länger beim Bezirksrevier?«

Nathusius nickte. »Seit sieben Jahren.«

»Dann ist es unwahrscheinlich, dass es Gründe gibt, die auf einer früheren Tätigkeit beruhen. Gibt es irgendwelche Zufallsaktionen? Haben die Kollegen jemanden verhaftet? Oder Ähnliches?«

Der Kriminaldirektor lächelte milde. »Wir sind hier in Nordfriesland. Das ist zwar nicht frei von Kriminalität, aber Wildwest … Das ist uns hier fremd.«

»Wild und West, das passt für diese Gegend, aber nicht in der Kombination«, sagte Lüder und lächelte ebenfalls. Er verriet Nathusius nicht, weshalb. Der Kriminaldirektor war infiziert vom Charme der Landschaft und von den Menschen, dass er von »wir« und »bei uns« sprach, obwohl er aus Kiel hierher versetzt worden war, und das nicht freiwillig, wie Lüder vermutete. »Dann müssen wir sehen, ob es private Gründe gibt, die als Motiv dienen.«

Nathusius lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander, dass die Hände wie ein Dach aussahen. »Nehmen wir an, das wäre der Fall, dann hätte man Asmussen nicht auf solche Weise ermordet. Nein, Herr Dr. Lüders. Mit der Art der Tatausführung wollte man ein Zeichen setzen.«

Lüder musste dem Kriminaldirektor zustimmen. Schon während der Kieler Zeit hatte er Nathusius’ Analysefähigkeit bewundert.

»Es könnte einen Zusammenhang geben«, sagte Lüder und berichtete von seinem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten. Wenn er jemandem vertraute, dann war es Nathusius.

Der Kriminaldirektor zeigte sich überrascht. »Ich glaube nicht an einen Zufall. Warum ermordet man einen Polizeibeamten auf solche Weise? Und lässt der Landesregierung zuvor eine Warnung zukommen? Ich fürchte, da braut sich etwas zusammen, das uns überrollen könnte. Aber was?«

Lüder trug die Idee vor, dass jemand Interesse an einer Destabilisierung des politischen Systems haben könnte.

»Das klingt so phantastisch, dass ich es mir kaum vorstellen kann«, sagte Nathusius. »Natürlich wird in einer Demokratie um Besitzstände gefochten. Jeder möchte vom knapper werdenden Kuchen ein möglichst großes Stück abbekommen. Denken Sie an die Sparbeschlüsse. Da wird der Regierung vorgeworfen, die eigene Klientel zu begünstigen. Jeder Betroffene zeigt auf einen anderen und fordert, dass nicht bei ihm, sondern beim anderen gespart wird.«