Schwur des Kriegers - J. R. Ward - E-Book

Schwur des Kriegers E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Dunkel, geheimnisvoll und athletisch ist der junge Vampirkrieger Boone einer der vielversprechendsten Rekruten der BLACK DAGGER und eine tödliche Waffe im Kampf gegen die Feinde der Bruderschaft. Nach einem tragischen Schicksalsschlag wird Boone Ex-Cop Butch O’ Neal zugeteilt, und gemeinsam jagen sie einen Serienkiller, der es auf junge Vampirinnen abgesehen hat. Eine Spur führt Butch und Boone in einen Club für Live-Action-Rollenspiele. Dort begegnet Boone der charismatischen Helania, die dem Mörder ebenfalls auf den Fersen ist, weil dieser ihre Schwester getötet hat. Vom ersten Augenblick an ist Boone der schönen jungen Vampirin verfallen, doch dann gerät Helania selbst ins Visier des Killers ...

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Das Buch

Düster, geheimnisvoll und athletisch ist der junge Vampirkrieger Boone einer der vielversprechendsten Rekruten der BLACK DAGGER im Kampf gegen die Feinde der Bruderschaft. Als sein Vater auf tragische Weise stirbt, entkommt Boone zwar den Zwängen seines adeligen Elternhauses, aber er wird auch vom aktiven Dienst auf der Straße abgezogen. Stattdessen soll er Ex-Cop Butch O’Neal bei der Ermittlung in einer Mordserie helfen: Mehrere junge Frauen wurden auf ebenso grausame wie spektakuläre Weise umgebracht. Eine heiße Spur führt die beiden Vampire ins Pyre, einen Goth-Club von zweifelhaftem Ruf – Drogen und schneller Sex sind hier an der Tagesordnung. Ausgerechnet dort begegnet Boone der charismatischen Helania, die dem Täter ebenfalls auf den Fersen ist, weil dieser ihre Schwester getötet hat. Vom ersten Augenblick an, ist Boone der schönen Vampirin verfallen, doch kann er ihr auch vertrauen? Hat sie möglicherweise sogar etwas mit den Morden zu tun? Dann gerät Helania selbst ins Visier des Killers, und Boone tritt den schwersten Kampf seines Lebens an. Den um seine große Liebe …

Die Au­torin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die innerhalb kürzester Zeit die amerikanischen und internationalen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg von BLACK DAGGER als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf: www.jrward.com

J. R. Ward

SCHWUR DES KRIEGERS

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

BLOOD TRUTH – BLACK DAGGER LEGACY

Deutsche Übersetzung von Corinna Vierkant

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2020

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2019 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic GmbH, Bielefeld

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25823-8V001

www.heyne.de

Für Jennifer Lynn Armentrout,

in Liebe und Respekt.

»Ich mag dich, wirklich.«

Danksagung

Ein riesengroßes Dankeschön an die Leser der Black-Dagger-Romane! Es war eine lange, aufregende Reise bis hierher, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes geschieht. Darüber hin­aus danke ich Meg Ruley, Rebecca Scherer und allen bei JRA sowie Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon & Schuster.

Danke auch dem Team Waud, ihr seid unschlagbar. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an Naamah, meinen Writer­Assistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Nachdem sie aus dem Heiligtum befreit wurden, gehen sie zunehmend eigene Wege und lösen sich von den kultartigen Einschränkungen ihrer traditionellen Rolle. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wiederaufgenommen.

Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Dhunhd – Hölle.

Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft derLesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen – Geschenk.

Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan – Ein mystisches Biest bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin – Eine Jungfrau.

Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman – Retter.

Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Talhman – Die dunkle Seite eines Individuums. Eine Verunreinigung der Seele, die nach Ausdruck verlangt, solange sie nicht beseitigt wird.

Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Prolog

Ein Jahr zuvor …

Rexboone, Sohn des Altamere, konnte eine Seidenkrawatte mit verbundenen Augen binden.

Es war eine Fertigkeit, die er nicht bewusst kultiviert, sondern vielmehr durch seine Lebensumstände erworben hatte, auf dieselbe Weise wie seine Kenntnis von

Do­maine-Coche-Dury Wein, den Dramen von Shakespeare und Uhren von Audemars Piguet. Ohne sich recht zu entsinnen, wie oder wo er sich das Wissen angeeignet hatte, war er in der Lage, einen John Frederick Kensett von einem Frederic Edwin Church zu unterscheiden, wusste er, wann Bentley von Rolls Royce übernommen wurde (im November 1931) und wann sich die beiden wieder trennten (am 31. Dezember 2002). Er verstand es, eine Dame beim Walzer zu führen, und ihm war bekannt, wo man in der Savile Row den besten Anzug bekam.

Natürlich bei Henry Poole & Co.

»Verdammt.«

Er zog die Krawatte, die sich am hochgestellten Kragen seines mit Monogramm bestickten Hemds verfangen hatte, herunter und nahm einen zweiten Anlauf. Vielleicht sollte er es blind probieren. Hinzusehen war jedenfalls keine Hilfe.

Also schloss er die Augen.

Leider bekam er kaum Luft, und seine Hände waren schweißnass, also schien es absurd, sich den Hals abzuschnüren, und sei es mit feinster Seide von Hermès.

Das Problem waren seine Gefühle. Was für eine Überraschung.

Einem Angehörigen der Glymera, der Aristokratie der Vampire, standen eigentlich nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Entweder trug man eine blasierte Zustimmung zu Schau, oder man verlieh seiner Missbilligung durch eine gewölbte Braue Ausdruck.

Wahrlich eine grandiose Bandbreite, gleich der Wahl zwischen einer Wachsfigur und einer Schaufensterpuppe.

Okay, wenn einen wirklich etwas oder jemand verstimmte – zum Beispiel ein Gärtner durch das falsche Beschneiden der Efeubeete oder ein Konzertflügel (ein Steinway, natürlich), der einem auf den Fuß fiel –, konnte man den betreffenden Gärtner oder Konzertflügelbesitzer mit einem eisigen Tadel vernichten, den dieser zum Anlass nahm, sich im Dienste an der Allgemeinheit zu entleiben.

Im Moment erschien Rexboone keine der Optionen reizvoll. Nicht, dass sie es je getan hätten.

Er schob den Knoten hoch, strich die beiden Enden glatt und öffnete die Augen.

Ein Windsor. Er hatte es geschafft.

Er klappte den Hemdkragen nach unten, nahm seine maßgeschneiderte Anzugjacke von dem stummen Diener aus Mahagoniholz, zog sie über und vervollständigte seinen Aufputz, indem er ein Einstecktuch aus korallenroter und blauer Seide in die Brusttasche stopfte.

»Zeit zu gehen«, erklärte er seinem Spiegelbild.

Und doch bewegte er sich nicht. Er betrachtete den dunkelhaarigen Mann, der ihm aus dem mannshohen Spiegel entgegenblickte, und erkannte ihn nicht. Nicht die ebenmäßigen Gesichtszüge, die so typisch für Aristokraten waren, nicht die breiten Schultern, die dem Ideal widersprachen. Nicht die langen Beine oder die Hände mit den hervortretenden Adern.

Man sollte in der Lage sein, sich selbst klar zu sehen. Erst recht, wenn man in der Ankleide des eigenen Schlafzimmers stand, das Licht brannte und es keine Ablenkung gab.

Besonders verstörend war, wie genau er sich an die Herkunft der einzelnen Bestandteile seiner Ausstattung erinnerte: Wer das Hemd, die Jacke, die Hose geschneidert hatte, an die Auswahl, das Maßnehmen. Das Gleiche galt für die Kleidung im Hintergrund, reihenweise Anzüge an Messingstangen, sortiert nach Jahreszeiten und Schattierungen, bunte Hemden angeordnet gleich Fischschwärmen, eine Armee aus säuberlich aufgereihten, auf Hochglanz polierten, handgefertigten Anzugschuhen … und jedes einzelne Stück hatte er ausgesucht.

Wo zum Henker war er selbst inmitten dieser eindrucksvollen Garderobe?

Da keine Antwort zu erwarten war, verließ er den begehbaren Schrank, durchschritt das Schlafzimmer und den angrenzenden Sitzbereich und trat auf den Gang. Auf seinem Weg zur Treppe passierte er Blumenarrangements auf Demi-Lune-Tischen, eine Galerie aus Ölgemälden und schließlich die geschlossenen Türen zu den ehemaligen Räumlichkeiten seiner leiblichen Mahmen. Soweit er wusste, waren sie unverändert geblieben, seit sie vor zwanzig Jahren gestorben war und man die Türen ein letztes Mal verriegelt hatte.

Allerdings weniger, weil sein Vater trauerte.

Für ihn hatte sich der Fall schnell erledigt. Keine sechs Monate später war eine neue Vampirin ins Haus gekommen, gleich einem Gemälde, ausgestattet mit allen Rechten und Privilegien, die einer Shellan zustanden. Sie sollte fortan als Boones Mahmen bezeichnet werden.

Dass die Betreffende kein Interesse an der Rolle der Mahmen zeigte, auch nicht der Stiefmahmen, fand keinerlei Beachtung, genauso wenig wie die Gefühle von Boone bezüglich der Verstorbenen, die ihn zur Welt gebracht hatte. Altamere hielt nun einmal nichts von Gefühlen, auch nicht gegenüber seiner neuen Shellan. Nach der Vereinigungszeremonie sah Boone die beiden nie zusammen, es sei denn, sie gingen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach.

Die Vampirin schien sich nicht an der kalten Distanz zu stören. Tatsächlich wirkte sie kaum mehr begeistert von ihrem Hellren als Altamere von ihr, obgleich sich das Arrangement vorteilhaft auf ihre Garderobe auswirkte, den regelmäßigen Lieferungen von Chanel, Dior und Hermès nach zu urteilen.

Ihre Zimmer lagen gleich hinter denen von Boones leiblicher Mahmen, und sollte auch sie einmal in den Schleier eintreten, so war sich Boone gewiss, würde eine der beiden Suiten leer geräumt, frisch gestrichen und der nächsten Vampirin zur Verfügung gestellt werden. So, wie man eine frische Batterie einlegte. Offensichtlich benötigte sein Vater für gewisse Bereiche dieses Hauses und seines Lebens eine Shellan – und glücklicherweise konnte man sie problemlos über Amazon Prime nachbestellen, sollte mal einer der Saft ausgehen.

Doch dann fiel Boone ein, was ihn im Erdgeschoss erwartete, und er beschloss, nicht vorschnell zu urteilen.

Als Nächstes passierte er die Zimmer seines Vaters.

Boone hatte sie nie betreten dürfen und konnte daher nichts über ihre Einrichtung sagen. Aber er hätte zwei Drittel seiner Leber und eine Niere gewettet, dass dort alles säuberlich geordnet und überwiegend in Dunkelblau gehalten war.

Altamere war vermutlich in einem marineblauen Sakko, grauer Flanellhose und mit einer Krawatte um den Hals zur Welt gekommen.

Boone erreichte die große geschwungene Treppe. Das leise Knarzen der Stufen unter dem luxuriösen roten Läufer war so vertraut, dass er sich kaum vorstellen konnte, in einem anderen Haus zu wohnen. Sein Heim – das Heim seines Vaters – war nie ein Hort des Glücks gewesen, aber vergleichbar mit seinem Wissen um den »guten Geschmack« und seinem zwanghaften Bedürfnis, das Richtige zu tun, kannte er es einfach nicht anders.

Die Einschränkungen hatten ihn geprägt, ob es ihm gefiel oder nicht.

So, wie es mit der arrangierten Vereinigung sein würde, die ihm nun bevorstand.

Im Erdgeschoss wandte er sich nach rechts und ging auf den Salon zu. Wo ihn die Vampirin hinter geschlossener Tür erwartete.

»Kann ich behilflich sein?«

Boone blieb stehen. Theoretisch handelte es sich um eine Frage, doch aus dem Mund des obersten Hausangestellten klang sie wie ein Vorwurf.

Er drehte sich um. Marquist war Vampir, kein Doggen, abgesehen von dieser Besonderheit allerdings war er ein Butler par excellence: eine steife Uniform wie aus dem Buckingham Palast, nach hinten gelacktes graues Haar, argwöhnische Augen und eine schmale Oberlippe, an der man sich schneiden konnte.

Außerdem hatte er die unangenehme Eigenart, immer dort zu erscheinen, wo man ihn am wenigsten brauchte.

Boone prüfte den Sitz seiner Krawatte. »Ich empfange Besuch.«

»Ja. Ich war es, der sie einließ und nach Ihnen rief.«

Boone erwiderte den tadelnden Blick. »Und?«

»Ihr Vater ist nicht hier.«

»Das ist mir bekannt.«

»Dann werden Sie mit ihr allein sein.«

»Unser Empfangssalon wird von Kameras überwacht. Ich bin mir sicher, Sie werden die Begegnung mitverfolgen. Man kann also kaum von Alleinsein sprechen.«

»Ich werde Ihren Vater rufen.«

»Das tun Sie immer.«

Boone kehrte Marquist den Rücken zu, um in den Salon zu gehen, doch als er die Messinggriffe der Flügeltür umfasste, konnte er sich nicht mehr bewegen. Hinter ihm hüstelte der Butler und zog sich mit empörtem Absatzgeklapper in seine Welt aus Poliertüchern, Tafelsilber und Missbilligung zurück.

Boone hatte nicht seinetwegen gezögert, doch er war froh, Marquist los zu sein.

»Scheiße«, flüsterte er.

Sein Körper verweigerte ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Dienst. Es standen zu viele mögliche Ursachen zur Auswahl. Letztlich schloss er die Augen und holte tief Luft. Auf diese Weise gelang es. Ganz ähnlich wie beim Binden der Krawatte funktionierte er, solange er nicht hinsah.

Er öffnete die Flügeltür und schlug die Augen auf.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm an einem der raumhohen Fenster. Ihr blondes Haar und das rot-schwarze Chanel-Kostüm hoben sich von den himbeerroten Damastvorhängen ab. In der Scheibe spiegelte sich das Porträt einer ernsten Schönheit aus der Vergangenheit, das Profil einer unnahbaren Frau, die nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Rochelle, Tochter des Urdeme, sah sich über die Schulter um, als er die Türen schloss – und sobald sich ihre Blicke trafen, wusste er, war­um sie gekommen war.

Erleichterung durchströmte ihn.

»Boone«, sagte sie mit belegter Stimme.

Er atmete aus und stellte fest, dass er gleichsam einen Monat lang die Luft angehalten hatte. »Es ist alles gut. Ich weiß, war­um du hier bist.«

»Du weißt es?«

»Als du direkt bei mir angerufen hast, statt den üblichen Weg zu gehen, war mir sofort klar, dass du das Arrangement lösen möchtest. Und wie gesagt, es ist in Ordnung.«

Sie schien überrascht, als hätte sie erwartet, sich ausführlich erklären zu müssen. Als hätte sie sich auf ein anstrengendes Gespräch eingestellt. Als hätte sie sich gegen Wut und Empörung gewappnet.

»Aber es ist nicht in Ordnung.«

»Doch. Komm her.«

Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie kam zu ihm, doch bevor sie sich berührten, ließ er bewusst den Arm sinken und wies auf die Couch, um sie dorthin zu geleiten. Schließlich saßen sie gemeinsam auf den weichen Polstern. Unwillkürlich ging ihm durch den Kopf, dass sie so etwas wie Abziehbilder ihrer Eltern waren. Sie waren beide vor gerade mal fünfzig Jahren durch den Wandel gegangen, und doch konnte man meinen, sie wären drei-, vierhundert Jahre alt: sie im Kostüm, er im Anzug. Dezenter Schmuck auf ihrer Seite, Einstecktuch auf seiner. Tadellose Manieren.

Tief im Herzen wusste er, dass es falsch war. Nichts von alldem hier war richtig, und das nicht nur in Bezug auf die arrangierte Vereinigung. Dieses Haus, diese Familie, in die er hin­eingeboren worden war, nichts davon passte zu ihm, und doch war er bereit gewesen, eine lebenslange Verpflichtung einzugehen, um den Ansprüchen dieser Welt zu genügen. Mit einem Schlag wurde er wütend.

Glücklicherweise war sie mutiger als er.

»Es tut mir so leid«, schniefte sie.

Er zog ein Taschentuch aus seiner Sakkotasche. »Hier, nimm.«

»Was habe ich nur angerichtet.« Sie nahm das Taschentuch und tupfte sich die Augen. »Was für ein Elend.«

Neue Tränen stiegen in ihr auf, und er wünschte, er hätte ihr tröstend einen Arm um die Schultern legen können. Doch er hatte sie noch nie berührt, und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen.

»Wir müssen es nicht tun.«

»Aber ich möchte. Ich möchte es wirklich.« Sie presste sich das Taschentuch seitlich an die Nase und sah ihn an. »Du bist ein wundervoller Mann. Du bist alles, was man sich wünschen kann, aber ich … gütige Jungfrau der Schrift, ich sollte das nicht sagen.«

Boone lächelte. »Ich nehme es als Kompliment.«

»Ich meine es ernst. Ich wünschte, ich könnte dich lieben.«

»Das weiß ich.«

Sie begann den Kopf zu schütteln, und ihr blondes Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern. »Nein, nein, wir müssen uns fügen. Ich weiß nicht, war­um ich her­gekommen bin. Es gibt keinen Ausweg, Boone. Eine solche Vereinbarung kann man nicht brechen.«

»Selbstverständlich kann man das. Erzähl ihnen, ich wäre für dich inakzeptabel. Das ist dein gutes Recht. So wirst du … werden wir … die Sache regeln.«

»Aber das ist nicht fair dir gegenüber.« Tränen glitzerten in ihren Augen. »Man wird schlecht von dir denken und …«

»Damit komme ich zurecht.«

»Wie?«

Darauf wusste er keine Antwort. Aber eins war sicher: Lieber stand er bei der Glymera im Ruf, als Hellren ungeeignet für eine andere Angehörige der Oberschicht zu sein, als diese Vereinigung zu erzwingen. Dabei hatte er nichts gegen Rochelle einzuwenden. Sie war intelligent und geistreich und eine klassische Schönheit. Es war durchaus möglich, dass sich im Laufe der Zeit etwas zwischen ihnen entwickelte, aber im Grunde waren sie Fremde.

Und während er hier zum ersten Mal mit ihr allein zusammensaß, wurde ihm endlich klar, was ihn von der ersten Nacht an beschäftigte: Der einzige Grund, war­um er sich dem Arrangement bislang gefügt hatte, war seine Hoffnung, es vielleicht besser machen zu können als sein Vater. Erfolg zu haben, wo sein Vater versagte. Den Erwartungen der Glymera zu genügen und dennoch ein authentisches Leben zu führen.

Doch am Ziel winkte eine wertlose Trophäe – die Vereinigung mit einer Vampirin, die er nicht liebte. Und das nur, um es einem Mann zu beweisen, der nicht einmal etwas Besonderes darin sehen würde.

»Es wird alles gut«, wiederholte er.

Rochelle atmete tief durch. »Bitte glaube nicht, ich hätte dich aus einem Impuls heraus kontaktiert. Meine Entscheidung war wohlüberlegt.«

Kopflos, dachte er, was für ein Hohn. Was konnte kopf­loser sein, als sich zu verpflichten, für siebenhundert Jahre zusammenzubleiben, eventuell Nachwuchs miteinander großzuziehen und sich im Tod beizustehen, wenn man einander gerade zweimal beim Tee, einmal bei dem obligatorischen Essen mit den Eltern und einmal bei dem Cocktailempfang gesehen hatte, bei dem man ihre Vereinigung offiziell angekündigt hatte? Alles in allem hatte er fünf Stunden in Rochelles Gegenwart verbracht, und bis zum gegenwärtigen Treffen immer unter Aufsicht.

»Boone, ich möchte es dir erklären. Ich … liebe jemand anderes.«

Boone lächelte und fragte sich, wie sich das anfühlen mochte. »Das freut mich für dich. Liebe ist ein Segen.«

Rochelle wandte den Blick ab, ihr Gesicht mit einem Mal gefasst und maskenhaft. »Danke.«

Boone hätte gern mehr über diesen anderen Vampir erfahren, doch so verrückt es war, es blieb dabei: Obgleich sie einander versprochen waren, kannten sie sich kaum.

Es war so viel einfacher, eine Vereinbarung zu brechen, als sich zu trennen, wenn man erst einmal vereinigt war.

»Behaupte einfach, ich sei unwürdig«, sagte er beharrlich. »Danach kannst du dich mit deinem Geliebten vereinigen.«

Rochelle sah ihn an, mit Augen, die vom gleichen Blau waren wie die seinen, und aus irgendeinem Grund irritierte ihn das. Natürlich gab es nichts an ihr auszusetzen, es war nur … all das Gehabe um die achtbare Blutlinie. Abgesehen von seinem dunklen Haar ähnelten sie einander so stark, sie hätten Geschwister sein können. Es war nahezu unheimlich.

Rochelle strich das Taschentuch glatt, das er ihr gegeben hatte und nun in ihrem Schoß lag, und fuhr das Monogramm in der Mitte nach.

»Dann … dann willst du dich auch nicht mit mir vereinigen?«

»Jedenfalls fände ich es besser, wenn wir uns kennen würden« – wenigstens ansatzweise – »und uns selbst dazu entschließen könnten. Ich weiß, dass es in unseren Kreisen unüblich ist, aber war­um? Mein Vater und meine leibliche Mahmen waren nie glücklich miteinander, auch ihre Vereinigung war arrangiert. Nach ihrem Tod vereinigte sich mein Vater aufs Neue, mit dem gleichen Ergebnis. Ich dachte, vielleicht könnte ich ihm zeigen, wie man es richtig angeht, aber wem mache ich etwas vor. Noch dazu, wo dein Herz bereits vergeben ist. Es ist unwahrscheinlich, dass wir miteinander glücklich werden, war­um sollten wir uns also vereinigen?«

»Ich kann nicht zulassen, dass du geächtet wirst. Das wäre nicht fair.«

»Mach dir nichts vor. Wenn wir einen anderen Grund nennen als meine Untauglichkeit, trifft dich die Schande mit voller Wucht. Dann darf sich auch der Mann, den du liebst, nicht mit dir vereinigen. Es wäre dein gesellschaftliches Ende, du würdest für keinen anständigen Hellren mehr infrage kommen. Außerdem würdest du Schmach und Schande über deine Familie bringen, und sie würde dir allein die Schuld dar­an geben. Wäre dir das etwa lieber?«

Rochelle ließ die Schultern hängen. »Aber auch dich wird man ächten.«

»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was dir blühen würde. Lieber bin ich ein Jahr lang Gesprächsthema auf Festen und lasse mich zehn Jahre lang schräg ansehen, als dein Glück und das deines Geliebten auf dem Gewissen zu haben.«

Rochelle schüttelte abermals den Kopf. »Du trägst den Schaden. Warum solltest du das tun?«

»Ich weiß nicht. Ich schätze … die Liebe ist ein Opfer wert. Selbst wenn es einen nicht persönlich betrifft.«

»Du bist wahrlich ein Mann von Wert«, flüsterte sie. »Und so mutig.«

War er das wirklich? Vielleicht in Bezug auf die Glymera, doch er war Realist und wusste, dass wahrer Mut nicht darin bestand, überheblichen Blicken und abfälligen Bemerkungen zu trotzen. Nach den Plünderungen durch die Gesellschaft der Lesser, bei denen so viele Unschuldige in ihren Häusern getötet wurden, konnte doch niemand ernsthaft behaupten, dass es kein schlimmeres Übel gab als gesellschaftliche Zwänge. Oder dass man eine Medaille verdiente, wenn man sich ihnen aus gutem Grund widersetzte.

Rochelle blickte forschend in sein Gesicht, wie um abzuschätzen, ob er dem Druck gewachsen wäre. »Dich kümmert es wirklich nicht, was sie von dir denken, oder?«

Boone zuckte die Schultern. »Ich war noch nie ein großer Freund von gesellschaftlichen Anlässen. Viele wissen gar nicht, dass Altamere einen Sohn hat, und es hat mich nie gestört. Mein Vater wird schrecklich aufgebracht sein, aber ich versichere dir, damit komme ich zurecht. Nachdem er mich mein Leben lang abgewiesen hat, werde ich mir wegen seiner Probleme nicht den Kopf zerbrechen. Und bitte fühle dich nicht schuldig. Es ist für uns beide das Beste.«

Rochelle tupfte frische Tränen fort. »Ich wünschte, ich wäre wie du. Ich bin feige.«

»Machst du Witze? Du hast großen Mut bewiesen. Und erklär mich nicht zum Helden.« Er lächelte verbittert. »Ich habe viele Mängel. Frag meinen Vater. Er nennt dir eine Liste, die länger als deine Auffahrt ist.«

Sie verstummte und sah schon wieder so traurig aus, dass er sie in den Arm nehmen wollte. Aber Marquist hatte über die Überwaschungskameras ein Auge auf sie – und vor allem stand es ihm nicht zu, Rochelle zu trösten.

Das Arrangement aufzulösen war wirklich das einzig Wahre …

»Nein«, sagte sie mit neu erstarkter Stimme. »Ich werde die Verantwortung selbst übernehmen. Ich lasse nicht zu, dass du …«

»Rochelle. Ich weiß nicht, wem dein Herz gehört, aber wenn er aus der Glymera kommt, darf unsere Vereinigung nicht an dir scheitern. Wenn du dich den Erwartungen widersetzt, wird seine Familie einer Verbindung zwischen euch niemals zustimmen. Das weißt du selbst. Dein Ruf ist ruiniert, und das für den Rest deines Lebens. Lass mich die Schuld auf mich nehmen.«

»Ich weiß noch immer nicht, war­um du das für mich tun solltest.«

»Wäre ich verliebt, würde ich auch mit der Betreffenden zusammen sein wollen. Aber das bin ich nicht.« Er runzelte die Stirn und dachte an die Vampirinnen, die er kannte oder getroffen hatte. Es waren alles Aristokratinnen. »Und mal ehrlich, ich wüsste nicht, in wen ich mich verlieben sollte. Also möchte ich euch beiden helfen.«

Rochelle tupfte sich erneut das Gesicht. »Ich wünschte wirklich, ich könnte dich lieben. Du bist ein Mann von wahrem Wert. Doch nein, ich kann nicht zulassen …«

Ein Poltern war zu hören. Marquist stieß die Flügeltür auf, und Boones Vater Altamere kam in den Salon. Seine Budapester klapperten auf dem Marmorboden, bis er den Teppich erreichte, der alle Geräusche schluckte. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht, dunkles, zurückgekämmtes Haar, und seine hellen Augen hatten in seiner Wut die Farbe von Stahl angenommen. Gedankenverloren registrierte Boone, dass der Anzug seines Vaters aus dem gleichen Stoff war wie sein eigener. Schiefergrau, durchwirkt mit Fäden in Violett und Hellgrau, so dezent, dass man die Nase an die Aufschläge pressen musste, um sie zu erkennen.

Doch im Schnitt unterschieden sich die Anzüge von Vater und Sohn. Boone kam nach der Familie seiner Mahmen und hatte breite Schultern, kräftige Arme und lange, muskulöse Beine. Er hatte immer gewusst, dass dieser Körperbau seinem Vater missfiel, und erinnerte sich, dass er nach Boones Transition geflüstert hatte, er hätte die Statur eines Arbeiters. Als ob es ein angeborener Makel wäre.

Oder Anlass dazu, an der Treue seiner Shellan zu zweifeln.

Was das betraf, hatte Boone immer so seinen Verdacht gehabt.

»Was tust du hier?«, herrschte Altamere ihn an.

Er fasste seinen Sohn scharf ins Auge, ohne Rochelle Beachtung zu schenken. Es wunderte Boone nicht. Für Altamere existierten Frauen nur im Hintergrund, sie waren mehr schmückendes Beiwerk als aktive Teilhaber an seinem Leben.

Boone erhob sich. »Rochelle ist gekommen, um mir zu sagen, dass ich unwürdig bin und sie sich nicht mit mir vereinigen kann. Sie weist mich ab, und da sie eine ehrbare Frau ist, hat sie es mir persönlich mitgeteilt. Sie wollte gerade gehen.«

Er spürte Rochelles erschrockenen Blick und machte sich bereit, jeden Versuch ihrerseits, ihm in die Flanke zu fallen, abzuwürgen. Über Altameres Schulter hinweg sah er, wie Marquist die Szene beobachtete, ein lebendiger Camcorder, der alles aufzeichnete.

»Wage es nicht, mich auf diese Weise zu beschämen«, zischte Altamere. »Das lasse ich nicht zu.«

Als witterte er, dass mehr dahintersteckte.

Die Wut, die in Boones Brust gebrodelt hatte, ergriff nun Besitz von seiner Seele. »Diese Entscheidung liegt nicht bei dir.«

»Du bist mein Sohn. Niemand sonst hat das Recht …«

»Schwachsinn.« Als sein Vater angesichts des rohen Tons erbleichte, wurde Boones Stimme tiefer und lauter. »Ich habe lang genug versucht, deinen Vorstellungen gerecht zu werden. Darin habe ich ohnehin versagt – zumindest wenn es nach dir geht. Es ist höchste Zeit, dass ich für mich selbst einstehe.«

In seinem Hinterkopf wurde die Liste der Versäumnisse seines Vaters immer länger und wand sich in schwindelerregende Höhen: Altameres Abneigung gegen Boones Körperbau und dass er lieber las, als sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu tummeln. Dass er den Tod von Boones Mahmen ignoriert hatte. Dass seine Stief­mahmen wie ein kalter Windhauch im Haus Einzug gehalten hatte. Dass er es ihm nie recht machen konnte.

Altamere deutete mit dem Finger auf ihn. »Ich gebe dir eine letzte Chance. Ich weiß nicht, was ihr beide mit diesem Unsinn bezweckt, aber jetzt ist Schluss damit. Die Vereinigung wird vollzogen, oder du kannst was erleben. Die Schmähung durch die Glymera ist nichts im Vergleich dazu, wie ich dich ausschließen werde.«

Rochelle sprang auf. »Ich bin es, die seiner nicht wert ist …«

»Ich habe keine Angst vor dir«, unterbrach Boone laut vernehmbar. »Du hast recht, Vater, hier wird sich einiges ändern.«

Altamere sah ihn aus schmalen Augen an. »Was ist in dich gefahren?«

Boone schüttelte den Kopf. »Es war längst überfällig. Wie sagt der Ökonom, den du so gern zitierst? ›Wenn etwas nicht ewig weitergehen kann, wird es aufhören.‹ Ich habe genug von dieser verlogenen Existenz.«

Damit sah er Altamere in die Augen, als forderte er ihn heraus. Sollte er ihn weiter reizen, so teilte Boone ihm telepathisch mit, dann würde er das Unaussprechliche aussprechen.

Namentlich die Zweifel bezüglich seiner Vaterschaft.

Vor Zeugen.

Denn Ächtung war in der Glymera im Allgemeinen für Frauen reserviert, aber ein gehörnter Mann? Dar­an durfte man nicht einmal denken. Der Punkt war so heikel, dass Altamere nie die Möglichkeit eines Vaterschaftstests erwähnt hatte. Das gesellschaftliche Risiko war einfach zu hoch. Stattdessen hing der Verdacht, dass Boone einen anderen Vater haben könnte, unausgesprochen über dem Haus und folgte dem »Sohn« wie ein Geist.

Belastete ihn mit einem Vergehen, das nicht seines war.

Aber dieser Spuk fand heute sein Ende.

Nach langem, angespanntem Schweigen wandte sich Boones Vater schließlich an Rochelle. »Ich verstehe Ihre Entscheidung und mache Ihnen keinen Vorwurf.«

Damit wandte er sich ab und ging, gefolgt von Marquist. Zusammen verschwanden sie ins Arbeitszimmer.

Als sie fort waren, fasste sich Boone an den Hals und löste den Krawattenknoten. Es war ein herrliches Gefühl, wieder frei zu atmen.

»Warum hast du das getan?«, ereiferte sich Rochelle.

Boone dachte an all das, was sein Vater über ihn gesagt hatte. »Ich bin unwürdig. Es ist nicht gelogen.«

»Das alles ist meine Schuld«, stöhnte Rochelle und ließ sich zurück auf die Couch fallen.

Boone löste die Krawatte nun ganz und dachte dar­an, wie er sie mit geschlossenen Augen gebunden hatte. Wie er den Salon mit geschlossenen Lidern betreten hatte. Wie er sein ganzes Leben in Blindheit verbracht hatte, frei gewählt, aber eben auch als Überlebensstrategie.

Instinktiv hatte er stets geahnt, dass er, wenn er zu genau hinsähe – oder auch nur ein Auge öffnete –, nicht in der Lage sein würde fortzufahren. Er hatte so vieles absorbiert, ohne es zu merken, als wäre das Gift der Aristokratie tatsächlich ein Gas, das er eingeatmet hatte. Doch damit war jetzt Schluss.

Wenn Rochelle für ihre Liebe einstehen konnte, dann konnte auch er sein Leben in die Hand nehmen und dar­über entscheiden, wer er sein wollte. Wohin es mit ihm gehen sollte. Was er lernen wollte. Ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Ihr Mut hatte ihn inspiriert.

»Es tut mir so leid«, sagte Rochelle niedergeschlagen.

Boone schüttelte den Kopf. »Ganz gleich, was kommt, mir nicht.«

1

29. Ecke Market Street,Caldwell, New York

Boones Springerstiefel zermalmten die gefrorenen Reifenspuren in der Gasse, als er sich mit kraftvollen Schritten durch den schmutzigen Schnee pflügte, eisige Luft strömte in seine Lungen und schoss als heißer Dampf wieder daraus hervor wie aus dem Schornstein einer Lokomotive. In der Rechten hielt er ein dreißig Zentimeter langes Jagdmesser mit gezahnter Klinge. In der Linken eine Kette.

Vor ihm, ungefähr zehn Meter voraus, lief ein Lesser um sein untotes Leben. Der verräterische süßliche Gestank des Feindes hing schwer in der Luft, ein Hinweis, den seine sensible Nase bereits vor sieben Blocks aufgeschnappt hatte. Der Jäger rannte stolpernd und mit rudernden Armen, und der starke Geruch, den er verbreitete, ließ vermuten, dass er bereits verletzt war.

Tohrment, Sohn des Hharm, Kommandant der Bruderschaft der Black Dagger, bestimmte die nächtlichen Areale für die Brüder und Kämpfer, unterteilte die Innenstadt in Quadranten, die nach dem Feind durchkämmt werden sollten. Trainees wie Boone wurden mit erfahreneren Kämpfern losgeschickt, entweder mit Brüdern oder Angehörigen von Xcors Bande, im Interesse der Sicherheit – zumal eine neue Bedrohung in den Straßen erschienen war.

Schatten. Schatten, die unschuldige Vampirzivilisten töteten.

Boone blickte über die Schulter. Heute war er mit Zypher unterwegs, einem Kämpfer aus Xcors Bande. Er war ein toller Partner, ein großer, brutaler Kerl, der nichtsdestotrotz die Geduld eines Lehrers hatte und ein Auge für stetige Verbesserung.

Eigentlich hätte es Syn sein sollen. Dass es sich doch nicht so ergeben hatte, erleichterte ihn.

Syn war … anders.

Am liebsten war Boone mit Bruder Rhage unterwegs. Aber in dieser Nacht war die Bruderschaft anderweitig beschäftigt. Bis zum letzten Mann.

Boone selbst hatte sie auf eine Mission geschickt, und nun hoffte er, dass sie niemandem das Leben kostete.

Namentlich seinem Vater.

In den zwölf Monaten seit ihrem Zerwürfnis anlässlich des aufgelösten Arrangements waren er und Altamere zu einem angespannten Waffenstillstand gekommen. Wie das eben so war, wenn man einen Tyrannen zur Ordnung rief. Äußerlich wahrten sie den Schein, was nicht schwer war, da ihre Beziehung schon immer steif und gespielt gewesen war, doch die angedrohten Konsequenzen waren ausgeblieben. Boone hatte eine Grenze gezogen, und Altamere hatte grollend den Rückzug angetreten.

Vermutlich hätte Boone ausziehen sollen, aber so erbärmlich es war, genoss er es, die Oberhand errungen zu haben und zu halten. Besonders nachdem er dem Trainingsprogramm der Bruderschaft beigetreten war, wohl wissend, wie sehr es seinem Vater missfiel. Altameres »Sohn« ein Soldat? Bewaffneter Kampf? Wie animalisch. Im Vergleich dazu mussten ihm Boones Jahre als Bücherwurm nahezu musterhaft erscheinen.

Aber er liebte die Herausforderung und meisterte seine Aufgaben verdammt gut. Ein neues Leben hatte begonnen, mit einem neuen Rhythmus, durch den er und sein Vater sich kaum mehr begegneten.

Doch dann kam die Einladung: Sein Vater und seine Stiefmahmen wurden gebeten, an diesem Abend einen aristokratischen Gastgeber mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Allein das Volumen der Einladungskarte verriet, dass auch andere Angehörige der Glymera auf der Gästeliste standen.

Ein geselliges Beisammensein? Vielleicht. Ein Verstoß gegen Wraths Verbot von Ratszusammenkünften? Schon eher wahrscheinlich.

Zum ersten Mal seit einem Jahr hatte Boone mit seinem Vater etwas von Bedeutung besprochen. Es blieb ihm nichts übrig, er musste ihn drängen, zu Hause zu bleiben. Das Schlangennest von Aristokraten hatte schon einmal versucht, Wrath vom Thron zu stürzen. Ein zweiter Versuch hätte fatale Folgen.

Im Trainingszentrum hatte Boone detaillierte Kenntnisse dar­über erworben, wozu die Brüder fähig waren, wenn man ihnen blöd kam. Natürlich konnte er seinen Vater nicht leiden, doch eben darin lag die Krux. Die Sache roch zu offensichtlich nach Verrat; wenn er Altamere nicht wenigstens warnte, würde er das Gefühl haben, ihn eigenhändig umgebracht zu haben.

Das kam zu nah an die Mordgelüste heran, die er ab und an gehegt hatte, und wer wollte mit so einer Schuld leben?

Wie vorhergesehen, lehnte es sein Vater ab, auf den klugen Rat seines Sohnes zu hören. Also hatte Boone die Bruderschaft informiert, und das war der Grund, war­um er an diesem eisigen, kristallklaren Winterabend mit einem Angehörigen von Xcors Bande zusammenarbeitete.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Beute zu und rannte schneller, bis seine Oberschenkel brannten, die Waden fest wurden und sein verletzter Knöchel erste Proteste anmeldete, denen eine Endlosliste von Beschwerden folgen würde. Doch all das kam einem Hintergrundrauschen gleich, das sich ignorieren ließ.

Einfach atmen, dachte er. Je mehr Sauerstoff er in die Lunge sog, desto mehr gelangte in sein Blut, Treibstoff für die Muskeln, mehr Tempo für seinen Körper.

Kraft.

Und tatsächlich holte er auf. Das Problem war nur, dass er sich dabei immer weiter von Zypher entfernte, der selbst mit einem Lesser rang, drei – mittlerweile vier – Blocks hinter ihm.

Es war an der Zeit, zur Sache zu kommen.

Wie vorgeschrieben, drückte er den Positionsmelder an der Schulter, um den anderen Mannschaften mitzuteilen, dass er sich nun in den Kampf begab. Dann schloss er die Augen.

Für gewöhnlich mussten sich Vampire konzentrieren und zur Ruhe kommen, um sich zu dematerialisieren. Doch Boone hatte sich antrainiert, diese innere Ausgeglichenheit selbst dann zu finden, wenn er im vollen Lauf hinter dem Gegner herjagte. Und dank unermüdlicher Übung löste sich seine physische Erscheinung in eine Wolke aus Molekülen auf, und er schoss voraus, vorbei an dem Lesser.

Direkt vor dem Feind nahm er wieder Gestalt an, die Stiefel fest auf dem Boden, Messer und Kette gezückt, bereit für die Party.

Der Jäger gab sich alle Mühe, seinen Schwung zu stoppen. Er fuchtelte mit den Armen, stemmte die Absätze in den Schnee und versuchte auf dem Eis schlitternd zum Stehen zu kommen.

Seine Masse arbeitete gegen ihn. Anders als ein paar der hageren neuen Rekruten hatte dieser Lesser den Stiernacken und die breite Brust eines Footballspielers, und dieses Gewicht verwandelte ihn in einen Felsklotz, der einen Berghang hinabkullerte. Er war nicht aufzuhalten.

Und wie man es ihm beigebracht hatte, prägte sich Boone über die periphere Sicht Konturen und Deckungsmöglichkeiten der Gasse ein. Außerdem nahm sein Gehirn eine blitzschnelle Risikoeinschätzung vor, katalogisierte Feuertreppen, Dachlinien und Fenster, fütterte Informationen in die Berechnung der eigenen Sicherheit. Körperlich stählte er sich für die Konfrontation.

Schon begann die Kette zu schwingen.

Boone hatte Hand und Arm nicht bewusst den Befehl dazu gegeben, doch das war in den vergangenen Monaten öfter vorgekommen. Laut Bruder Vishous vollzog sich die Entwicklung von Kampfgeschick in vier Etappen: unbewusst unausgebildet, solange man nichts von der eigenen Unfähigkeit wusste, bewusst unausgebildet, wenn man begriff, wie viel man zu lernen hatte, bewusst ausgebildet, wenn man begann, die erworbenen Fähigkeiten einzusetzen, und schließlich unbewusst aus­gebildet.

Das war der Punkt, an dem die Bewegungen automatisch abliefen, ohne dass man detaillierte Befehle dazu erteilen musste. Wenn man das Training so weit verinnerlicht hatte, dass es Teil von einem war, und man über ein Repertoire an Reaktionen verfügte, die ohne großes Zutun erfolgten. Wenn man in die »Zone« eintrat, wie Bruder Rhage es nannte.

An diesem schönen Punkt war Boone angelangt.

Die Kettenglieder surrten leise und bedrohlich neben ihm, wie das ruhige Atmen eines großen Tiers – und Boone merkte sofort, als der Lesser angreifen wollte, weil sich eine seiner Schultern hob und er die Hüften kaum merklich vorschob.

Das Messer, das er Boone entgegenschleuderte, bewies, dass Boones Unterbewusstsein doch nicht alles registriert hatte. Doch seine Reflexe waren gut. Boone duckte sich seitlich weg, und die aggressive Kraft, die ihn durchströmte, war so intensiv, so lustvoll, dass es an Erotik grenzte.

Sein Gegenangriff begann mit der Kette. Sie schnellte nach außen und schlang sich um den Hals des Lessers, eine metallene Schlange, die einen Bogen beschrieb und sich in den Schwanz biss. Dann wickelte er sich das andere Ende um die Hand und zog mit seinem ganzen Gewicht.

Der Jäger stürzte Gesicht voraus in den Schnee.

Und das war der Moment, in dem Boone mit dem Jagdmesser ausholte.

Pyre’s Revyval Club,33. Ecke Market Street

Ein Vampir unter Menschen, die sich als Vampire verkleideten.

Und er war nicht der einzige.

Unter den gut zweihundert Clubbesuchern, die sich in der düsteren, von Laserstrahlen durchzuckten Halle einer alten T-Shirt-Fabrik tummelten, gab es nur vier oder fünf echte Vertreter der Spezies, die sich biologisch von den Nacheiferern erfundener Charaktere einer wirren Mythologie unterschieden.

Aber anders als die kostümierten und maskierten Männer und Frauen, die sich mit so viel Mühe verstellten, sahen der Vampir und seine Artgenossen davon ab, ihren DNA-Status in irgendeiner Weise zur Schau zu tragen. Sie hatten sich unter die Menge gemischt, tauchten unter, beobachteten … nahmen gelegentlich teil.

Der Vampir war um eine Kopf- und Schulterlänge größer als die Männer der menschlichen Spezies, die sich in schwarzen Umhängen im Zentrum des leer stehenden Gebäudes drängten, und mit der Kraft in seinem Körper und den rasiermesserscharfen Fängen, die bei Bedarf aus seinem Oberkiefer ausfuhren, war er stets angriffsbereit. Auch ohne konventionelle Waffen.

So stand er abseits und musterte die Menge bewusst hinter einer dunklen Sonnenbrille hervor, auch wenn es ihn ermüdete. Er war seine dunkle Seite leid. Aber wenn er seinen Talhman nicht wenigstens ein bisschen drillte, wäre der Besuch in diesem Club verschwendete Zeit. Als würde man einem eingesperrten Raubtier außerhalb der Gitterstäbe seines Käfigs einen unerreichbaren Fleischbrocken hinhalten.

Eben darum ging es. Er musste sicherstellen, dass er Kontrolle über sich besaß. Über lange Zeit hinweg war es nicht nötig gewesen, sich zu beherrschen, lange waren die Folgen seiner schlechten Impulskontrolle kaum von Bedeutung gewesen. Doch die Lage hatte sich geändert.

Er war jetzt in der Neuen Welt.

Er stand im Bund mit dem König.

Also prüfte er sich in diesem Club. Denn sollte er austicken, sollten ihm die Zügel seines inneren Monsters entgleiten und … Dinge geschehen, dann traf es hier zumindest nur Menschen oder zufällig anwesende Vampire. Wen kümmerte es, wenn ein paar davon die volle Schlagkraft seiner bösen Seite abbekamen? Wichtiger war die Gewissheit, dass er sich unter diesen wehrlosen Opfern aufhalten und den Gedanken widerstehen konnte, die ihn plagten. Die Versuchung durch Willenskraft besiegen. Den Killerinstinkt unter­drücken.

Und wenn es misslang? Nun, manchmal musste eben jemand Federn lassen, damit der Rest in Frieden leben konnte. Und lieber hier in diesem Club als sonst irgendwo in Caldwell …

Rechter Hand von ihm verdichtete sich ein Teil der Menge wie zu einem Tumor in ansonsten gesundem Gewebe. Es war zu einer Auseinandersetzung gekommen, doch das schwache Licht, die schwarzen Kostüme und das Geschiebe und Gedränge machten es unmöglich, den Angreifer zu orten oder zu erkennen, worum es ging. Wurden Schläge ausgeteilt, oder ging es nur um das übliche Posen von Menschen vor Publikum?

Wenigstens war das die Information, die sein Hirn registrierte. Sein Talhman dagegen witterte die Aggression und Wut, gierte nach Blut und triefenden Wunden, lechzte nach der Jagd und dem Erlegen der Beute.

»Nicht für uns«, murmelte der Vampir.

Dann zog er seine schwarze Mütze tiefer ins Gesicht. Er tat es aus einem Reflex heraus und merkte erst danach, was er damit bezweckte.

Er machte sich bereit, sich einzumischen. Sich etwas zu holen. Und dabei unerkannt zu bleiben.

Doch wie sich herausstellte, kam sein Testobjekt zu ihm.

Aus dem Gewühl löste sich eine Frau, die er als Vampirin erkannte, und sein erster Gedanke war: Was zum Donner hatte sie inmitten all dieser schwanzlosen Ratten zu suchen? Doch während er ihre äußere Erscheinung betrachtete, trat diese Überlegung in den Hintergrund.

Gehetzt sah sie sich um. Ihr schwarzes Haar hatte sich an der Maske verfangen, die ihre Augen und die obere Gesichtshälfte verdeckte, ihr Lippenstift war verschmiert, ihr Bustier verrutscht, und eine Brust drohte herauszuspringen.

Ihre Orientierungslosigkeit verflog augenblicklich, als sich ihre Blicke trafen. Ihre Beine, eben noch unstet, fanden festen Stand. Ihre Atmung stockte und setzte in ruhigerem Rhythmus wieder ein. Mit den Händen zog sie ihr Oberteil zurecht.

Er hätte gewettet, dass unter ihrer Schädeldecke das Gleiche vorging: Ihre zerstreuten Gedanken kamen zur Ruhe.

Ihr Fokus richtete sich auf ihn.

Sie ließ das Handgemenge hinter sich und kam auf ihn zu, warf das wogende Haar über die Schultern und hob das Kinn.

Ob sie es tat, um ihm in die Augen blicken zu können oder um Unabhängigkeit und Angriffslust zu signalisieren, konnte er nicht sagen. Aber es war im Grunde unerheblich.

»Ich bin Nightingale«, erklärte sie.

Als würde mich das interessieren, dachte er.

Zur Antwort ließ er den hinter den dunklen Gläsern verborgenen Blick über ihre Kurven streifen. Ihr schwarzes Haar war lang, sehr lang und ergoss sich in Kaskaden über ihre Schultern bis zu den Hüften, ein sprudelnder Strom aus Korkenzieherlocken, in dem sich das blaue Blinken der Laser verfing. Das schwarze Bustier betonte ihre Taille und schob ihre Brüste nach oben, schuf milchig weiße Kugeln, die sie mit etwas Schimmerndem bestäubt hatte. Ihre Lippen waren blutrot … ihr Hals blass und zierlich.

»Wie heißt du?«, fragte sie gedehnt.

Der Vampir sog Luft durch die Nase ein und erforschte ihren Duft. Ihre sexuelle Erregung war offensichtlich und galt ihm. Sie baute auf ihn, um Befriedigung zu finden, hatte ihn auserkoren, um ihre Fantasie zu erfüllen.

Sein Blut geriet in Wallung. Und unter seiner eigenen Erregung trieb sich der Talhman umher. Hätte sie gewusst, mit wem sie es zu tun hatte, hätte sie nicht ausgerechnet ihn ausgewählt. Aber darin lagen das Risiko und die Faszination von Orten wie diesem. Anonymer Sex gestattete es den Teilhabenden, den anderen nach den eigenen Wunschvorstellungen auszuschmücken und Bedürfnisse zu stillen, ohne sie offen ansprechen zu müssen. Dass man dabei nicht wusste, an wen man wirklich geriet, war der Reiz dabei.

Ein Reiz, der das Fehlen echter Zuneigung übertünchte, ein schöner Schein, der blind machte für die Mängel, die in der Realität herrschten.

Rache, entschied er. Er sah das wilde Feuer in ihren Augen und den wütenden Blick zurück zur Menge, als hätte sie dort jemand verärgert, und er wäre jede Wette eingegangen, dass ihre Suche nach heißem Sex die Vergeltung für eine Schmähung war.

Auch sie hatte offensichtlich Dampf abzulassen.

Er streckte die Hand aus und legte den Zeigefinger auf die weiche Stelle in der Mitte ihres Schlüsselbeins, die Einbuchtung im Fleisch, die nicht von Knochen geschützt war, diesen verletzlichen, weichen Punkt an ihrem Hals. Als er drückte und ihre Luftzufuhr ein klein wenig eindämmte, keuchte sie auf.

Und dann stöhnte sie, als fühlte sie ein köstliches Ziehen zwischen den Beinen.

Wieder drückte er, diesmal fester … sodass er spürte, wie ihr Hals gegen den Druck anarbeitete.

Dieser Kampf war es, der ihn endgültig hart machte, seine Erektion verdickte sich hinter der Knopfleiste seiner Hose.

Er wusste, was als Nächstes passieren würde. Sie würden sich eine dunkle Ecke suchen oder vielleicht sogar hier im Gedränge der maskierten Leute bleiben. Seine Hände würden ihre Hüften umfassen und sich auf ihren Hintern legen. Er würde sie an sich ziehen und das Becken vorschieben, sodass sich seine Erektion an sie presste – und da sie so viel kleiner war als er, wäre das knapp unter ihren hochgedrückten Brüsten.

Sie würde erbeben und sich ihm darbieten, schwach und willig und zu allem bereit.

Er würde ebenfalls zittern, weil der Talhman erwachte, aber sie würde es als Erregung deuten.

Und wenn er sich unter ihren langen Rock schob und mit seinem dicken, harten Geschlecht in sie eindrang, würde sie einen Orgasmus haben, ohne zu ahnen, wie nah sie bei diesem kleinen Tod, wie ihn die Franzosen nannten, ihrem wahren Ableben war.

Er selbst würde nicht zum Höhepunkt kommen.

Das tat er nie.

Und wenn er sich im Zaum halten konnte, würde sie nie erfahren, welch Fehler es gewesen war, ausgerechnet ihn auszuwählen. Doch wenn er die Beherrschung verlor? Nun, dann würde er ihr eine wichtige Lektion erteilen – allerdings zu spät. Denn die Toten erzählten nicht nur keine Geschichten, sie konnten auch nicht mehr aus ihren Fehlern lernen.

»Sag mir deinen Namen«, hauchte sie.

Die Silben vibrierten unter seiner Fingerkuppe, und sein erhitztes Blut, sein Killerinstinkt, ließen ihren Anblick in der Maske wie unter dem Vergrößerungsglas erscheinen, bis er jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf und jedes Pulsieren ihrer Halsschlagader wahrnahm.

Sein Blick senkte sich auf ihre Lippen.

Er legte seine riesige Hand in ihren Nacken und zog ihr Gesicht an sich, während der Rest ihres Körpers folgte wie Wasser, das man aus einer Vase goss. Doch er küsste sie nicht. Selbst als sie den Kopf in den Nacken legte und den Unterleib an ihn schmiegte, ihm die Lippen darbot, hielt er inne, bevor es zur Berührung kam.

Mit der freien Hand umfasste er ihr Handgelenk und führte es an die Lippen. Ohne den Blickkontakt zu lösen, fauchte er und bleckte die Fänge.

Es war nur ein Kratzer, den er ihr verpasste, doch er saß an der richtigen Stelle. Blut quoll daraus hervor und rann an der Innenseite ihres blassen Arms herab.

Ihre Brüste hoben und senkten sich in dem engen Bustier und schimmerten im Licht. »Und jetzt?«, hauchte sie.

Er hob ihre Hand höher und leckte das rote Rinnsal von ihrer Haut, den dunklen Wein aus ihrer Ader. Sie schmeckte akzeptabel, nicht dass er sonderlich hohe Ansprüche gehabt hätte, und als er bei der Wunde ankam, die er ihr zugefügt hatte, verschloss er sie mit dem Mund und formte ein warmes Siegel darum.

Saugte.

Leckte.

Er merkte genau, wann sie kam. Sie kniff die Augen zu und biss sich auf die Unterlippe, ihre harten, weißen Eckzähne ließen das weiche, rot bemalte Fleisch prall hervortreten. Ihre Hüften pressten sich an ihn und begannen zu rotieren, und er nahm an, das ziehende Pulsieren in ihrem Kern war eher quälend als erlösend.

»Bring mich fort von hier«, stöhnte sie.

So abgeschieden unten im Keller. Keine neugierigen Blicke. Nur wenige verirrten sich dorthin, und die standen unter Drogen und waren mit sich selbst beschäftigt.

Eine größere Herausforderung.

Er hob sie hoch, legte ihre Schenkel um seine Hüften, und ihre Brüste pressten sich an ihn. Er brauchte nur einen Arm, um sie zu halten, so leicht war sie.

Sie blickte nicht zurück zur Menge, als sie gingen. Im Moment beschäftigte sie nur noch er.

Die Tür zum Keller war unschwer zu finden, und während er sich in die entsprechende Richtung durchs Gedränge schob, schmiegte sie sich an seinen Hals und rieb ihr Geschlecht an seiner Hüfte. Er erreichte die Stahltür und stieß sie auf. Die Treppe dahinter war aus Beton und roch nach modriger Erde und kaltem Schimmel, und die Temperatur fiel jäh ab, als sie sich von der beheizten Halle mit den erhitzten Leibern entfernten.

»Wie heißt du?«, flüsterte ihm die Vampirin ins Ohr.

Immer weiter ging es nach unten, und seine schweren Schritte hallten von den Wänden wider. Am Fuß der Treppe entriegelte er kraft seines Willens eine zweite Stahltür und ließ sie aufschwingen. Der Gang dahinter war in das flackernde Licht altersschwacher Neonröhren in rostigen Deckenhalterungen getaucht, und der zuckende Schein ließ Schatten in einem unheilvollen Walzer tanzen. Die Gerüche in der kalten, abgestandenen Luft ließen vermuten, dass diesen Gang schon viele vor ihnen für den gleichen Zweck genutzt hatten, den die Vampirin im Sinn hatte …

Unter seiner Haut streckte der Talhman die Klauen aus und erwachte zu neuer Kraft. Frische Aggression durchströmte ihn und ließ ihn dar­an zweifeln, ob er in dieser Nacht die Kontrolle behalten würde …

Seine Blackouts bemerkte er immer erst, wenn sie vorbei waren. Dann kehrte die Welt in einem Ansturm von Wahrnehmungen zurück, denn während der Aussetzer konnte er weder sehen noch hören, fühlen oder schmecken.

Doch die Vampirin war noch immer bei ihm – und sie lebte.

Er hatte sie gegen eine Tür gedrückt, und seine Hände suchten nach einem Weg unter ihren Rock …

Oder besser gesagt, eine Hand. Mit der anderen tastete er nach der Klinke, um die Tür zu öffnen.

Aus Erfahrung wusste er, dass sich hinter den alten Holztüren Lagerräume mit ausrangierten Gerätschaften befanden, alte Paletten und Kolonien von Ratten, die sich in den dunklen, feuchten Höhlen häuslich eingerichtet hatten.

Dort drin … konnte er noch mehr mit ihr anstellen.

Als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, wusste er nicht, welcher Teil von ihm dahintersteckte. Sein Sexualtrieb … oder das Monster. Sie waren nicht ein und dasselbe, doch manchmal fiel es ihm schwer, sie auseinanderzuhalten.

»Dein Name«, drängte sie und rieb sich an ihm. »Wie heißt du …«

»Syn«, knurrte er an ihrem Mund. »Ich bin Syn.«

2

In der Gasse ungefähr fünfzehn Blocks westlich des Pyre’s Revyval griff Boone mit dem Jagdmesser an und warf sich mit der geballten Wucht aus Schwerkraft und Körpermasse auf den Lesser. Die Stahlklinge sank in die Augenhöhle des Untoten, und während sie durch Pupille und Sklera schnitt und über den Sehnerv ins Gehirn drang, machte er sich eine geistige Notiz.

Das hier war ein Regelverstoß.

Ganz gleich, ob Trainingsschüler paarweise oder allein unterwegs waren – aber insbesondere, wenn Letzteres der Fall war –, lautete die Weisung, den Gegner zurück zu Omega schicken, sobald sich eine Gelegenheit bot, ihm ein Messer in die Brust zu stoßen. Lesser, diese stinkenden, entseelten Menschen, die auf nichts anderes aus waren, als Vampire auszuradieren, waren unsterblich ähnlich wie in Der Tod steht ihr gut: Ganz gleich, wie viel Schaden man ihren Körpern zufügte, sie hörten nicht auf, wahrzunehmen und sich zu bewegen. Man konnte ihnen die Köpfe abschlagen, Glieder abtrennen, sie ausweiden, zerstören, sezieren – sie bewegten sich weiter wie eine Klapperschlange.

Es gab nur eine Möglichkeit, sie zu »töten«: mit einem Stich in die leere Brusthöhle mit Stahl. Dann gab es einen Knall und einen Lichtblitz, und die Sache war erledigt.

Sie kehrten zurück zu ihrem widerwärtigen Schöpfer.

Als Auszubildender hatte Boone nicht den Erfahrungsreichtum anderer Kämpfer und Brüder, deshalb sollte er kein Risiko eingehen. Den Jäger mit einem schnellen Stich zurück zu Omega zu schicken, war die sicherste Methode – und in seinen ersten Wochen draußen im Einsatz hatte er sich strikt an diese Anweisung gehalten. Doch nach einer Weile …

Er fing an, den Todesstoß etwas hin­auszuzögern, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.

Er konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als er von der üblichen Vorgehensweise abgewichen war. Er hatte dem Jäger in die Brust stechen wollen, doch dieser hatte sich unerwartet zur Seite gerollt, und Boone hatte ihm die Brust aufgeschlitzt. Als sich der Untote wieder aufsetzen wollte, hatte Boone in Panik begonnen, wild auf ihn einzustechen.

Schwarzes Blut war gespritzt, gesprudelt, geflossen. Der Lesser hatte vor Schmerz geschrien. Boones Arm war zu einem Presslufthammer mutiert, der in verschwommenen Bewegungen auf und ab gefahren war.

Es war eine Offenbarung gewesen.

In seinem Gehirn waren ganz neue Bereiche erwacht, die zuvor im Dunklen geschlummert hatten, Areale hatten aufgeleuchtet und Glücksgefühle und asexuelle Lust ausgelöst. Der Rausch war so intensiv gewesen und so unerwartet aufgetreten, dass Boone ihn erst für eine Anomalie gehalten hatte.

Diese Annahme erwies sich als falsch.

Beim zweiten Mal, als er den letzten Stoß hin­ausgezögert hatte, war es genauso gewesen: eine sinnliche Erfahrung, die alle Empfindungen verstärkte, sodass jede Nuance hervortrat, die Reaktion des Lessers, Anfang, Mitte und Ende, alles brannte sich in sein Gedächtnis. Ein drittes Mal bestätigte das Prinzip als eine Art von Gesetz.

Seitdem hatte er diese Momente gesucht, stets darauf bedacht, sich nicht dabei erwischen zu lassen.

All die ermordeten Vampire, die ihr unschuldiges Leben an diese seelenlosen Monster verloren hatten. All die zerstörten Familien. All das Leid, dass seine Spezies durch die Hände dieser Killer erfahren hatte.

Verfluchtes Lesserpack.

Boone schob die Gedanken beiseite, fasste den Untoten bei der Kehle und blickte in das teigig weiße Gesicht. Sein Messer steckte noch immer im Auge des Lessers und stand daraus hervor, der Griff geneigt im Winkel seines Stoßes. Schwarzes Blut, schimmernd und stinkend, lief wie Tränen seitlich aus der Einstichstelle, rann über die Schläfe, sammelte sich im Ohr.

Unwillkürlich musste Boone dar­an denken, wie er sich als Kind einmal in der Badewanne zurückgelehnt hatte und dabei Wasser in sein Ohr eingedrungen war, das alle Geräusche dämpfte. Ging es dem Lesser nun genauso?

Als der Mund des Jägers wie ein Fischmaul aufklappte und seine Arme ruderten, als wollte er einen Engel in den Schnee zeichnen, in einem äußerst ungeeigneten Moment, drückte Boone fester zu und zerquetschte ihm die Luftröhre.

Das Gurgeln, das aus dem Mund des Lessers drang, weckte in ihm den Wunsch, noch mehr anzustellen. Die Sache stundenlang hin­auszuzögern. Den Torso aufzuschneiden …