Staub und Regenbogensplitter - Stella Delaney - E-Book

Staub und Regenbogensplitter E-Book

Stella Delaney

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Beschreibung

13 Geschichten über die dunklen Facetten des Lebens – und all seine Farben. Welche Farbe hat der Wahnsinn? Wie weit würdest du gehen, um jemanden zu schützen, der dir viel bedeutet? Wen würdest du wählen, wenn du dich zwischen deiner Familie und deiner großen Liebe entscheiden müsstest? Ganz unvermittelt sind sie plötzlich da. Die schweren Fragen, die schmerzhaften Entscheidungen, die ausweglosen Situationen – die düsteren Momente im Leben. Jeder kennt sie. Jeder fürchtet sie. Und jeder muss sich ihnen stellen. Unterschiedliche Erzählungen – von Krimi bis (Queer) Romance, von Dystopie bis Fantasy – und sie alle haben eines gemeinsam: die Botschaft, dass es auch in den dunkelsten Momenten zumindest noch einen Funken Hoffnung gibt. Stückchen vom Regenbogen im Grau.

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Seitenzahl: 169

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Stella Delaney ist in einem beschaulichen kleinen Dorf im fränkischen Weinland aufgewachsen, lebt aber nach einem längeren Zwischenstopp in England bereits seit einigen Jahren in der Schweiz, zusammen mit ihren drei Katzen. Brot und Katzenfutter verdient sie als Lehrerin für Englisch, Deutsch und Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule. Ihr Studium der Anglistik/Germanistik hat sie zuvor mit Jobs wie Kindermädchen, Kellnerin, Kinoangestellte und Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache finanziert, und nebenbei Erfahrung als Märchenerzählerin, freie Journalistin, Übersetzerin und Buchkritikerin gesammelt. Derzeit schreibt sie hauptsächlich Kurzgeschichten, arbeitet aber auch an verschiedenen Romanprojekten. Mehr darüber auf www.stelladelaney.ch

Impressum

© 2017 Stella Delaney

Wässerwiesenstrasse 67M; 8408 Winterthur

Korrektorat: GreenGhost Writing (Lovis Cassaris)

Cover: Cover & Books - Bookcoverdesign by Rica Aitzetmüller

Stella Delaney

Staub und Regenbogensplitter

- 13 dunkelbunte Geschichten -

Inhaltsverzeichnis:

Weiß: Wie eine leere Leinwand

Gelb: Der Weg vor uns

Orange: Durch den Nebel

Rot: Mehr als eine Lieblingsfarbe

Rosa: Einfach Kelly

Violett: Auf der Suche

Blau: Tiefe Wasser

Türkis: Der perfekte Mord

Grün: Fenster und Spiegel

Braun: Hinter der Tür

Grau: Vergebung

Schwarz: Dunkelheit und Licht

Bunt:

Weiß: Wie eine leere Leinwand

Frag mich nicht, wie lange ich einfach nur dasaß und die Wand anstarrte. Diese verdammte Wand. Sie ist weiß. Sie ist makellos. Sie macht mich wahnsinnig.

Doch einfach die Augen zu schließen ist keine Alternative. Denn jedes Mal, wenn ich das tue, sehe ich nur eines: dein Bild, in leuchtenden Farben. Eine Momentaufnahme, die nur in meinem Kopf existiert, von dem Tag, an dem wir zum ersten Mal ernsthaft über unsere gemeinsame Zukunft sprachen. Dein strahlendes Lächeln. So hast du nie wieder gelächelt, seit -

Gewaltsam zwinge ich meinen Blick und meine Gedanken zurück an die Wand.

Warum zur Hölle sind diese Krankenhausflure immer weiß? Wer denkt sich das aus? Soll das sauber wirken, oder vertrauenserweckend?

Für mich ist alles hier ein verdammtes Déjà-vu. Vor nicht ganz einem Jahr saß ich schon einmal auf so einem Flur. Ein anderes Krankenhaus, aber Wände in derselben Farbe. Dieselbe endlose Warterei. Dieselbe Verzweiflung.

“Hast du dich je gefragt, welche Farbe der Wahnsinn hat? Ein grelles Rot, so schrill und kreischend, dass es die Stimme deiner Vernunft vollkommen übertönt? Ein tiefes Schwarz, so düster und unergründlich, dass du deine Seele darin verlierst? Für mich ist es keins vom beidem. Für mich ist der Wahnsinn weiß. Einfach nur weiß.“

Damals klang deine Stimme so sanft und irgendwie verschwommen. Fast automatisch hatte ich deine Hand gestreichelt. Natürlich lag es an all den Medikamenten und der Narkose, die du gerade hinter dir hattest. Es waren nur Worte, wie im Traum gesprochen, ohne jede tiefere Bedeutung.

Trotzdem geisterten genau diese Worte durch meine Gedanken, als ich nach einer Wohnung für uns suchte. Ich wollte deshalb kein Bad mit weißen Fließen und keine weißen Einbauschränke in der Küche. Die ursprünglich weißen Wände strich ich sorgfältig an, jeden Raum in einer anderen Farbe. Das Schlafzimmer bekam ein zartes Hellblau. Doch ich vergaß die Decke. Ich vergaß alle Decken. Sie waren und blieben weiß. Nur ein unwichtiges Detail, oder?

Du hast all diese Wände sorgfältig gemustert, als ich dich zum ersten Mal in unser neues Zuhause brachte. Ich sehe dich noch vor der blass-blauen Wand im Schlafzimmer stehen, in einem hellgrauen T-Shirt, dunklen Jeans und einer viel zu weiten grauen Strickjacke, deren Ärmel das weiße Pflaster auf deinem Handrücken verdeckten. Die perfekte Farbharmonie, wie bei einem Kunstwerk. Auch dein Gesicht wirkte weiß, fast durchsichtig. Dein Lächeln war schwach, aber es war da. Daran hielt ich mich fest. Wir würden es schaffen. Wir mussten.

Doch hier, während ich auf diese schmerzhaft perfekte Wand starre, wird mir plötzlich klar, wie falsch ich lag.

Für mich waren die weißen Wände eine leere Leinwand, auf die ich in blassen aber bunten Farben unsere Zukunft malte.

Für dich wurde die weiße Decke zur perfekten Projektionsfläche für all die Erinnerungen, die du nicht abschütteln konntest. Für die Bilder, die dein Verstand wieder und wieder abspielte, ob du wolltest oder nicht. Ein Film in Endlosschleife.

So oft kam ich von der Arbeit nach Hause, und fand dich in dem Zimmer, das du zu deinem Rückzugsort erklärt hattest. Ich wollte mit dir reden, oder einfach nur bei dir sein, so wie früher. Aber du warst nie wirklich da.

„Ich bin müde.“

Immer dieser Satz, immer und immer wieder.

Zwischen uns herrschte Stille, Leere. Nur selten brachten wir genug Kraft auf, uns zu streiten. Und noch seltener waren da diese kleinen Momente, die Funken in der Dunkelheit, die mich Hoffnung schöpfen ließen.

Deswegen war ich auch so überrascht, als ich eines Abends nach Hause kam und alles anders war. Schon im Hausflur roch es nach meinem Lieblingsessen, und als ich die Türe aufschloss, fand ich dich in der Küche, über den Herd gebeugt, ein Lächeln auf dem Gesicht. Ein müdes, angeschlagenes Lächeln, aber gleichzeitig das schönste auf der ganzen Welt.

Den Rest des Abends verbrachten wir auf dem Sofa. Kein Fernseher, keine Musik, nur du und ich. Wir hätten reden können, aber das wollte ich plötzlich nicht mehr. Zu groß war meine Angst, dieses Wunder zu zerstören. Ich hielt dich im Arm, zum ersten Mal seit Monaten, einfach nur dankbar und glücklich. Der Moment hätte von mir aus ewig dauern können.

Der Schmerz, der mich plötzlich durchfährt, ist grell und weiß wie ein Blitz. Noch immer starre ich auf die Wand, unfähig mich abzuwenden.

Da war diese dunkle Vorahnung, als ich mitten in der Nacht aufwachte. Klar, vielleicht rede ich mir das auch nur ein. Rückblickend sieht man immer schärfer. Tatsache ist aber, dass ich unruhig wurde und meine Hand nach deiner Hälfte des Bettes ausstreckte. Sie war leer. Nichts außer der glatten, kühlen Oberfläche des Lakens.

Kein Grund zur Panik. Du bist so oft nachts aufgestanden, wenn du nicht schlafen konntest, immer darauf bedacht, mich nicht zu wecken. Nichts Ungewöhnliches also. Doch mein eigener rasender Herzschlag war anderer Meinung.

Der Flur war dunkel, nur ein schmaler Streifen aus weißem Licht fiel von der fast ganz geschlossenen Badezimmertüre auf den Boden. Meine Hand bewegte sich automatisch, als gehöre sie nicht zu mir. Die Tür schwang auf, und unsere Blicke trafen sich. Einen Moment lang waren deine Augen leer, dann füllten sie sich mit Schrecken, mit Überraschung, und schließlich mit Schuld. Ich verstand nicht. Bis der kleine Gegenstand aus deiner Hand mit einem metallischen Geräusch auf den Boden fiel, und ich die roten Linien entdeckte. Auf deinem Arm, auf dem Boden, überall.

Wut, Entsetzen, Verzweiflung, Angst – alle möglichen Gefühle brachen über mich herein wie gigantische Flutwellen. Als ich wieder denken konnte, befand ich mich auf den Knien neben dir und versuchte verzweifelt, mit den Fingern die Blutung zu stoppen.

„Es tut mir leid.“

Diese einfachen und doch so gewichtigen vier Worte hallen immer noch in meinen Gedanken. Du hast sie wiederholt, immer und immer wieder, bis deine Stimme brach.

Und ich habe nichts gesagt. Ich konnte einfach nicht. Obwohl ich so viele Fragen hatte.

Wann ist das Weiß so unerträglich geworden, dass du es in einem Strom aus Rot ertränken musstest? Dass ein bodenloses tiefes Schwarz, ein ewiges Nichts der einzige Ausweg zu sein schien? Hätte ich etwas tun können, um dich aufzuhalten?

Den ganzen Weg zum Krankenhaus habe ich deine Hand gehalten. Und du meine. Wir konnten und wollten nicht loslassen, bis die Ärzte uns schließlich dazu zwangen.

Und jetzt wird die weiße Wand auch für mich unerträglich. Nein, nicht die Wand, sondern vielmehr die Bilder. Es ist nie die Leinwand, sondern das, was wir darauf projizieren.

Ich stehe auf und laufe ziellos den Flur entlang. Irgendwann finde ich mich an einem großen Fenster wieder. Die Kälte der Glasscheibe an meiner Stirn, so angenehm, so beruhigend. Ich atme tief durch und öffne dann langsam die Augen.

Die Lichter der Stadt hinter dem Regen. Kleine Funken in der Dunkelheit. Wie Sterne.

Und dann ist da plötzlich dieser Gedanke, an den ich mich klammere wie an einen Rettungsring: Wenn es selbst in der größten Dunkelheit noch irgendwo winzige Lichter gibt, dann muss es doch auch im endlosesten Weiß kleine dunkle Punkte geben. Und so lange diese Punkte existieren, ist es noch nicht zu spät. Man kann von ihnen aus Linien ziehen und die Flächen mit Farben füllen. Es ist eine gewaltige Aufgabe, die viel Zeit braucht, aber gemeinsam können wir es schaffen. Wenn wir diese Nacht überstehen, dann sollten wir es zumindest versuchen, meinst du nicht?

Gelb:Der Weg vor uns

Der Himmel hatte die tiefblaue Farbe eines Samtvorhangs, noch ohne jede Spur eines verheißungsvollen Glanzes im Osten. Vor dem Fenster kämpfte das Licht einer einzelnen Straßenlaterne beharrlich gegen die Dunkelheit an, gedämpft durch die vielen Schneeflocken, die von dem warmen Leuchten angezogen wurden wie Motten in einer klaren Sommernacht.

Sommer. Die Erinnerung war schwer und golden und glänzend. Endlose Getreidefelder, strahlendes Licht und Wärme. Sonnenblumen, soweit das Auge reichte, die Wahrzeichen der Gegend, in der er aufgewachsen war. Sommer … das schien eine Ewigkeit her zu sein, nicht nur ein paar Monate.

Aiden seufzte. Die Nacht, die zum größten Teil bereits hinter ihm lag, war gleichzeitig endlos und viel zu kurz gewesen. Jetzt kniete er auf den Boden vor dem Spind und überprüfte ein letztes Mal sorgfältig den Inhalt seines Rucksacks. Alles war an seinem Platz, wie auch schon bei den vorherigen drei Kontrollen. Einen Moment zögerte er, dann griff er in das unterste Fach des Spinds, um etwas leuchtend Gelbes herauszuziehen. Ein wollener Schal, den seine Mutter heimlich in nächtelanger Arbeit gestrickt und ihm dann mitgegeben hatte, als er das Dorf verließ. Ganz schwach konnte man noch den Duft des Apfelkuchens erahnen, den sie immer gebacken hatte, und den Geruch von Wäsche, die in der Sonne trocknet. Wärme. Sommer. Zuhause. Ohne noch einmal zu zögern, legte er den Schal zuoberst auf seinen Rucksack.

Als er sich wieder erhob, bemerkte er sein Spiegelbild im dunklen Glas des Fensters. Ein Junge, an der Schwelle zum Mann. Ein Fremder. Seine Augen wirkten schwarz statt des wirklichen Dunkelbrauns, und seine Haare waren seit einigen Tagen militärisch kurz. Ein Anblick, an den er sich immer noch nicht gewöhnt hatte.

Obwohl er wusste, dass er sich langsam beeilen musste und dass es keinen Sinn hatte, das Unvermeidliche hinauszuzögern, trat er näher und legte seine Hand auf die kühle Glasfläche. Ein Teil des Fensters war mit Eisblumen bedeckt. So kalt. So zerbrechlich.

„Gabriel, das ist kindisch.”

Der Blick seines besten Freundes schlug ihm unmittelbar darauf wie Hagel ins Gesicht.

„Habe ich dich etwa gebeten, mir dauernd nachzurennen und dich wie meine Mutter aufzuführen? Habe ich das, Aiden?“

„So war das nicht gemeint. Ich wollte …“

„Und du tust es schon wieder. Glaubst du, ich kann die Bedeutung von ein paar einfachen Worten nicht verstehen, ohne dass du mir einen Vortrag darüber hältst?“

Sein Atem beschlug das Glas. Er fühlte sich fiebrig, gereizt, unsicher und besorgt – alles zur selben Zeit. Die Mischung verursachte einen Druck in seinem Magen, wie von zu vielen Süßigkeiten. Und dabei mochte er Süßigkeiten nicht einmal.

„Ganz ernsthaft, ich glaube wirklich nicht, dass es irgendwas mit dir zu tun hat. Du bist nicht weniger fähig als alle anderen, und sicher kein bisschen weniger als ich. Es ist einfach nur noch nicht der richtige Zeitpunkt. Du warst einige Wochen lang krank, und man will wahrscheinlich sichergehen, dass du dich völlig erholt hast.“

Doch statt einer Antwort erntete er nur Schweigen.

In Gedanken versunken, zog Aiden mit dem Finger die Muster der Eisblumen nach. Wie konnte eine Person voller Feuer plötzlich so kalt sein? Es ergab einfach keinen Sinn.

Er hatte es noch einmal versucht. „Es sind nun mal Befehle. Und die muss man befolgen, ob es einem passt oder nicht.“ Dann trat er näher und wollte seinem Freund die Hand auf die Schulter legen.

Zu seiner Überraschung wich Gabriel jedoch so heftig zurück, als hätte Aiden ihn schlagen wollen. Mit einem Blick, der brannte, aber gleichzeitig nichts als Kälte versprühte, herrschte ihn sein Freund an: „Verdammt nochmal, wie kann jemand, der so intelligent ist wie du, so unglaublich schwer von Begriff sein?“

Und ohne ein weiteres Wort ließ er Aiden stehen.

Sie waren seit Jahren beste Freunde, aber es war natürlich nicht so, dass sie nie gestritten hätten. Gabriel hatte ihm die Türe mehr als einmal vor der Nase zugeschlagen, aber immerhin hatte Aiden stets gewusst, warum. Sicher ging es Gabriel nahe, dass er nicht ausgewählt worden war – Aiden wäre es umgekehrt genauso gegangen – aber warum musste er das an seinem besten Freund auslassen?

„Gabriel, ich will das doch auch nicht. Wenn ich gesagt habe, dass es Befehle sind und dass man nichts machen kann, habe ich damit nicht gemeint, dass ich mich darüber freue. Der Gedanke, dich allein zu lassen …“

„Meinst du wirklich, ich bin so unfähig? Dass ich es nicht eine Sekunde ohne dich aushalte? Überraschung: du kannst aufhören, dir Sorgen um mich zu machen, und dichstattdessen um dich selbst kümmern. Schließlich habe ich mehr Erfahrung im Alleinsein als du.“

Danach hatte Gabriel nicht mehr mit ihm gesprochen, auch letzte Nacht nicht. Er hatte sich einfach umgedreht und so getan, als schliefe er.

Es war so sinnlos, so ungerecht. Und es war eigentlich nicht Gabriels Art. Vielleicht wurde er wieder krank? Eine Erkältung vielleicht, oder gar eine Grippe, oder … Hör auf, unterbrach Aiden sich selbst. Du klingst wirklich wie seine Mutter, nicht wie sein bester Freund.

*

Als er wenig später sein Zimmer betrat, saß Gabriel auf dem Bett. Angespannt, blass, aber bereits vollständig angezogen und sehr entschlossen. Sein Blick lastete schwer auf Aiden, während dieser seine warme Winterjacke vom Bett nahm und überzog. Einfache Handgriffe, notwendige Vorbereitungen, die kein weiteres Nachdenken erforderten. Schließlich war es kalt draußen. Als letztes legte er den gelben Schal um. Nicht ganz standesgemäß, aber wenigstens würde er ihn warmhalten, bis er seine Uniform und die dazugehörige Ausrüstung erhielt.

Während er nach seinem Rucksack griff, um ihn zu schultern, erhob sich sein Freund mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Sie wechselten einen kurzen Blick, doch Gabriel wandte sich wieder ab, bevor Aiden irgendetwas in seinen Augen lesen konnte. Keine Geste, kein Flüstern, nicht einmal das kleinste Lächeln – dies alles war deutlicher als Worte es jemals sein konnten.

Dann drehte sich Gabriel um und begann, in forschen Schritten den Flur entlangzulaufen, ohne sich darum zu kümmern, ob Aiden ihm folgte oder nicht. Auch wenn er nicht die geringste Lust hatte, das Ende des Flures zu erreichen, beschleunigte Aiden fast automatisch, um ihn einzuholen.

Verstohlen musterte er seinen Freund von der Seite. Unglaublich, wie sehr Gabriel in den letzten Monaten gewachsen war. Er war immer noch kleiner als Aiden, und würde es wahrscheinlich auch bleiben, aber wenigstens sah er nicht mehr so aus, als würde er in seinem Mantel geradezu ertrinken.

„Gab…” Im letzten Moment zwang Aiden sich, den Rest zu verschlucken.

„Hör mir doch wenigstens kurz zu, Gabby.“

„Den Teufel werde ich, wenn du mich weiterhin so nennst. Ich hab’s dir schon tausendmal gesagt, Aiden: ich bin kein kleiner Junge mehr.“

*

Als sie das Gebäude verließen und auf den Vorhof hinaus traten, war es, als würde die Welt um sie herum den Atem anhalten. Der Schnee, der den harten Betonboden bedeckte, reflektierte das Licht der zahlreichen Lampen und verwandelte es dabei in ein sanftes, fast übernatürliches Leuchten, das auch auf den dunklen Himmel übergriff. Unendliche Stille, nur unterbrochen vom leisen Knirschen ihrer Schritte.

Es mochte wie ein Spaziergang durch eine Märchenwelt anmuten, aber die allgegenwärtige Kälte holte einen schnell in die Realität zurück. Sie biss erbarmungslos, mit stumpfen Zähnen wie ein alter aber immer noch eifriger Jagdhund.

Wenigstens hatte der heftige Schneefall nachgelassen, und die Flocken schwebten nun langsam und vereinzelt zu Boden. Für einen Moment erinnerten sie Aiden an die Apfelblüten im Frühling. War es nicht erst gestern gewesen, dass sie zusammen durch die Obstgärten des Dorfes gerannt waren?

Er dachte an Gabriels harte Worte, und die Wahrheit in ihnen. Vielleicht mochten sie in den Augen der Welt noch Kinder sein, aber sie beide wussten es besser. Dennoch liefen sie nach wie vor Seite an Seite, und tief in seinem Herzen hoffte er, dass sich zumindest das niemals ändern würde.

Ein Schritt, und noch einer. Gleichmäßig, konzentriert. Ein Mantra aus leisen Geräuschen und wiederholten Bewegungen. Normalerweise liebte Gabriel den Schnee, und der Anblick einer perfekten weißen Schneedecke oder von schwerelosen Flocken erfüllte ihn immer mit einer unerklärlichen, kindlichen Freude. Aber an diesem Morgen waren seine Augen blind für das Wunder. Oder war es vielleicht sein Herz?

Dann tauchten nach und nach weitere Männer auf, manche in Aidens Alter, die meisten jedoch älter. Im fahlen Licht wirkten sie mehr Schatten als menschliche Wesen; Schatten, die sich nahe am Gebäude hielten, um dem Schnee und der Kälte keine Angriffsfläche zu bieten. Es wäre vernünftig gewesen, sich ihnen anzuschließen, aber an diesem Morgen stand Aiden der Sinn nicht nach Vernunft.

Er blickte zurück. Ihre Spuren in der ansonsten unberührten Schneefläche. Zwei Linien, parallel, genau nebeneinander.

Dann blickte er nach vorne. Ein weites weißes Nichts. Jeder Weg, sogar die Hauptstraße, die vom Gebäude wegführte, war von den weichen, aber erbarmungslos fallenden Massen verschluckt worden, und am Horizont verschmolz das fahle Weiß mit dem dunklen Himmel zu einem unergründlichen Grau.

Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Und die Tatsache, dass Gabriel immer noch so untypisch still war, machte es kein bisschen besser.

„Warum beginnen solche Einsätze immer so unmenschlich früh? Das ist Psychoterror, wenn du mich fragst.“

Ein schwacher Versuch, die Stimmung etwas zu heben.

Sein Freund antwortete nicht. Aiden bemerkte einen seltsamen, fast fiebrigen Glanz in seinem Blick und fragte sich erneut, ob Gabriels schierer Wille das einzige war, was ihn an diesem Morgen aufrecht hielt. Er hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt, eine Geste, die Distanz und Gleichgültigkeit bedeuten konnte, oder der einfache Versuch, warm zu bleiben.

„Es ist toll, dass du mir Gesellschaft leistet. Wirklich. Aber du musst nicht hier draußen rumstehen, nur wegen mir.“

Immer noch kein einziges Wort. Und war es wirklich die Kälte, die Gabriel die Tränen in die Augen trieb?

Inzwischen wäre Aiden sogar ein weiterer Streit lieber gewesen als diese verdammte Stille. Eine beißende Bemerkung, ein unfairer Vorwurf, irgendetwas. Es war schlimm genug, dass sie zum ersten Mal getrennt sein würden, aber einen Streit zurückzulassen war noch wesentlich schlimmer. Das Gewicht der Verantwortung lastete schwer auf Aiden, so schwer, dass er fast erwartete, im Schnee zu versinken wie in Treibsand.

„Okay, wenn du es nicht anders willst, dann bitte. Aber bei diesem Wetter hättest du dich wenigstens etwas wärmer anziehen können. Keine Mütze und kein Schal?“

Sie standen nun direkt nebeneinander, obwohl sich Aiden nicht erinnern konnte, einen Schritt in die entsprechende Richtung gemacht zu haben. Wie Kaninchen in einem Käfig am Markttag. Teile die Wärme, genieße die Gesellschaft, denk nicht an das Unbekannte, das bevorsteht.

„Ich hasse das”, meinte Gabriel plötzlich.

„Was genau?“

Erleichterung, versteckt hinter ehrlichem Interesse.

„Diese verdammte Kälte natürlich.“

In seinen Augen las Aiden allerdings etwas ganz anderes.

„Wenn das so ist, dann solltest du wirklich wieder rein gehen.“

„Wahrscheinlich.“

Aber Gabriel zeigte keine Anstalten, sich zu bewegen.

Für eine Weile war die Stille zurück, dann näherte sich plötzlich ein Lastwagen durch den Schnee. Die Anderen bewegten sich sofort darauf zu, während Aiden noch zögerte.

„Sieht so aus, als müsste ich los.“

Sein erster Impuls war, Gabriel an sich zu ziehen, ihn zu drücken und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde. So, wie er es früher immer getan hatte. Aber sein Verstand beharrte darauf, dass es nicht möglich war. Nicht mehr.

„Mach‘s gut, Gabriel.“

Was schmerzte mehr, nichts tun zu können oder sehen zu müssen, dass sein bester Freund immer noch nicht reagierte, ihn nicht einmal ansah?

Bist du wirklich so stur? So nachtragend? Selbst jetzt noch?

Gabriel starrte in tiefer Konzentration an Aiden vorbei, und sein Blick war klar und hart wie die Eisschicht auf einem See im frühen Winter. Eine Schicht, die noch transparent und dünn war, und das Wasser gerade so abdeckte. Darunter konnte man die dunklen Wellen erkennen, die gegen das Eis drückten. Nur ein bisschen zu viel Druck, und die zerbrechliche Schicht würde bersten.