4,99 €
Wenn Agatha Christie die Brüder Grimm getroffen hätte, wäre dabei vielleicht so ein Krimi herausgekommen:
Ein Mädchen ohne Vergangenheit taucht mit einem Vermögen an Goldstücken in Byonn auf. Sie richtet sich ein und verwendet ihr Geld, um Gutes zu tun. Fünf Jahre später wird sie ermordet.
Aber wer könnte ein Interesse daran haben, sie tot zu sehen? Und warum jetzt?Erkül Bwaroo reist nach Byonn, um das Rätsel zu lösen. Butler Orges soll derweil den Junggesellenabschied für Bwaroos besten Freund, Artur Heystings, organisieren. Und so ist Bwaroo bei seinen Ermittlungen ganz auf sich allein gestellt. Er stößt nicht nur auf einige Ungereimtheiten, sondern bekommt es auch noch mit einem Inspektor zu tun, der ziemlich verärgert auf seine Einmischung reagiert. Nicht zuletzt deshalb, weil er eine junge Frau verdächtigt, die Bwaroo für unschuldig hält.
In diesem Krimi werden klassische Märchenelemente, Sagengestalten, Fantasy und Elemente der bekannten Agatha Christie Krimis zu einer spannenden, höchst unterhaltsamen Handlung verwoben. Dabei schafft es die Autorin die Personen und Ereignisse so glaubhaft und anschaulich zu schildern, dass man sofort in die Handlung hinein gezogen wird.“ ABS-Lese-Ecke - Ann-Bettina SchmitzDas E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Eine mysteriöse Dame
Ankunft in Byonn
Abendessen auf der Burg
Nicht sehr zuvorkommend
Unerhört!
Das ‚Sterntaler‘
Ich war es nicht!
Alles kein Problem
Gezinkte Karten
Herr Bwaroo ist ein Gönner
Ich habe Jahre gebraucht
Ich habe mich nicht getraut
Es ist mein Gold
Jungesellinnenabschied
Motive und Möglichkeiten
Ein Hoch auf das Brautpaar
Es kann nur so gewesen sein
Stellas Vergangenheit
Es ist alles vorbereitet
Personenverzeichnis
von Ruth M. Fuchs
Phantastischer Kriminalroman
Impressum
© 2024 Raposa – Ruth Fuchs
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs
c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
eMail: [email protected]
Umschlaggestaltung: Chris Schlicht
www.dreamspiral.de
Lektorat: Jochem Reineck
www.ruthmfuchs.de
Für Ralph
Fühl Dich bitte nicht angesprochen
„Ich sage Ihnen, sie hat mir das Geld versprochen. Ganz fest versprochen.“
„Nun, das mag sein, wie es will. Aber ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen. Überhaupt: Eigentlich hätte ich erwartet, Sie in Tränen aufgelöst zu finden und von Ihrem Kummer völlig gebrochen. Haben Sie doch bei jeder Gelegenheit wissen lassen, wie innig Sie sie lieben.“
„Das tu ich auch. Innerlich bin ich völlig zerrissen. Ich ertrinke in meiner Trauer und kann kaum noch atmen. Die Welt hat für mich alle Farben eingebüßt. Selbst der Gesang der Vögel klingt monoton, und der Zauber des Mondlichts ist unwiederbringlich dahin.“
„Ah ja, das Mondlicht. Dafür haben Sie ja eine ganz besondere Schwäche.“
„Ihren Spott können Sie sich sparen. Ich bin ein gebrochener Mann. Nie wieder wird es eine andere Frau für mich geben! Sie war so rein und gut und ganz erfüllt von Hilfsbereitschaft.“
„Ja, sie war rein und gut. Da sind wir uns einig. Aber weshalb stehen Sie jetzt hier und betteln um Geld, statt in Ihrem Zimmer eine Ode an Ihre verlorene Liebe zu schreiben?“
„Weil ich ohne das Geld bald keine Heimstatt mehr haben werde! Mein Vermieter, der Banause, lehnt es ab, sich in Gedichten bezahlen zu lassen. Ich hatte das Geld ja praktisch auch schon. Gerade an dem Abend, als das Unglück geschah, wollte ich zu ihr gehen. Aber ich wurde aufgehalten. Was, wenn ich hingegangen wäre? Womöglich wäre ich jetzt auch tot.“
„Ja, ich erinnere mich, wie meine liebe Freundin Sie erwähnte und dass sie Sie erwartete …“
„Ja, dann wissen Sie ja auch …“
„Gar nichts weiß ich. Möglicherweise waren Sie dort, aber sie lehnte es ab, Ihnen schon wieder Geld zu geben und es nie zurück zu bekommen. Sie hat mir selbst erst vor Kurzem gesagt, dass sie es langsam satt hat, Ihr Goldesel zu sein. Wahrscheinlich waren Sie also da, und dann haben sie beide gestritten und …“
„Ich … nein! Ich war nicht dort. Nicht an diesem Tag …“
„Nun, das ist Sache der Polizei. Aber ich sage Ihnen eins: Ich halte Sie für einen Blender und einen Nassauer. Von mir werden Sie jedenfalls kein Geld bekommen. Vielleicht versuchen Sie es mal mit Arbeit!“
***
„Monsieur Bwaroo, ich bin so froh, dass Sie kommen konnten,“ erklärte die junge Dame.
„Pas de quoi. Keine Ursache.“ Bwaroo hatte sich bei ihrem Eintreffen erhoben und rückte ihr nun den Stuhl zurecht, als sie sich setzte. Ihm war nicht ganz wohl bei diesem Treffen, denn dass Maja Behn, die Verlobte seines besten Freundes Doktor Artur Heystings, ihn allein sehen wollte, ließ nichts Gutes ahnen. Einen Moment lang ruhte sein Blick gedankenverloren auf ihrem rotbraunen Haar, das so raffiniert aufgesteckt war, dass es die delikaten spitzen Ohren der Halbelfe freiließ. Dann nahm er selbst wieder Platz. „Ich habe mir erlaubt, eine Flasche Wein zu bestellen …“ Der rundliche Elf hob eine Flasche Weißwein. „Darf ich?“
„Gern.“ Maja nickte.
Sie schien es nicht eilig zu haben, ihn über den Grund des Treffens aufzuklären, denn sie griff erst einmal nach der Speisekarte.
„Ich denke, ich nehme den Heilbutt“, entschied sie, nachdem sie die Karte eine Weile studiert hatte. „Artur hat mir erzählt, dass er hier ganz besonders exquisit sein soll.“
„Und warum hat Sie mon cher ami Doktor Heystings dann nicht begleitet?“
„Oh, er weiß gar nichts davon, dass ich heute Abend hier bin.“
Nun schaute Bwaroo erst recht unbehaglich drein.
„Und darf ich den Grund erfahren, warum Sie mich unbedingt hinter dem Rücken von Doktor Heystings treffen wollten?“
„Warum nennen Sie ihn eigentlich nicht beim Vornamen?“
„Pardonnez-moi?“
„Nun, sie beide kennen sich doch schon seit vielen Jahren, nicht?“
„Ja, und?“
„Und sie sind beide gute Freunde, beste Freunde sogar ...“
„C‘est vrai. Ich denke, Heystings ist der beste Freund, den ich habe.“
„Aber Sie duzen ihn nicht und nennen ihn niemals Artur. Warum nicht?“
„Es hat sich nie ergeben.“ Bwaroo räusperte sich und strich sich dann seinen stattlichen Schnurrbart. „Außerdem betont es die besondere Verbindung zwischen uns beiden. Aber, wenn ich fragen darf ...“
„Haben Sie schon ausgesucht, was Sie essen wollen?“
„Ja, das habe ich.“
Wie auf Kommando erschien jetzt auch ein Kellner und nahm die Bestellungen auf.
„Also, … äh ...“ Maja spielte unschlüssig mit ihrer Serviette herum, als der Kellner wieder weg war. Jetzt, da es ernst wurde, war sie plötzlich um die sorgsam zurechtgelegten Worte verlegen.
„Mademoiselle Behn“, kam ihr Bwaroo zu Hilfe, „ich nehme an, Sie wollen mich wegen der Hochzeit sprechen, die in wenigen Tagen stattfinden soll, und bei der ich die Ehre habe, der Trauzeuge des Bräutigams zu sein.“
„Ja. Ja, genau!“ Maja holte erleichtert tief Luft.
„Und was ist geschehen? Haben Sie es sich anders überlegt?“, drang Bwaroo weiter in sie.
„Oh nein!“, wehrte Maja schnell ab, als sie Bwaroos besorgte Miene sah. „Neinnein. Ich will Artur immer noch heiraten. Er ist ein richtiger Schatz, und ich … ich bin sehr glücklich, seine Frau zu werden. Nur … also, die Hochzeit muss verschoben werden.“
„Mais pourquoi? Was ist geschehen?“
„Ein Mord.“
„Ein Mord in Ihrer …“, gerade noch rechtzeitig unterbrach sich Bwaroo, der ‚Familie‘ hatte sagen wollen, als ihm einfiel, dass Maja allein und ohne jeglichen Angehörigen in der Welt stand, „in Ihrer Bekanntschaft? Wer wurde denn ermordet?“
„Stella Hauser. Sie haben bestimmt in der Zeitung darüber gelesen.“
„Das habe ich in der Tat. Die junge Dame, die vor ein paar Jahren aus dem Nichts in Byonn auftauchte. Sie wurde erstochen. War sie eine Freundin von Ihnen?“
„Nein, ich habe sie nie getroffen.“ Maja schüttelte den Kopf. „Aber denken Sie nur …“ Sie beugte sich nach vorn, und ihre Augen blitzten vor Erregung, „‚Die Zeiten‘ hat mich beauftragt, einen Artikel über Stella zu schreiben! Das ist meine Chance, mich als ernstzunehmende Journalistin zu etablieren. Und was für eine Story das ist: Erst taucht eine blutjunge blonde Schönheit barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet im ‚Adler‘ auf, Byonns vornehmstem Hotel. In ihr Nachthemd gerafft trägt sie haufenweise echte Goldtaler. Keiner kennt das Mädchen. Niemand weiß, woher es kommt. Und es erzählt lediglich, dass es völlig mittellos und allein in der Welt stehe. Aus Mitleid habe es ihr letztes Stück Brot und nach und nach ihre ganze Kleidung an arme Leute verschenkt, und dann seien in der Nacht die Sterne als blanke Taler vom Himmel gefallen.“
Maja wurde unterbrochen, als der Kellner die Suppe servierte.
„Vorzüglich“, stellte sie fest, nachdem sie gekostet hatte. „Also, wo war ich? Ach ja, Sterne als Goldtaler. Das mysteriöse Mädchen richtet sich ein, legt ihr Geld gut an und wird eine bewunderte Köchin mit einem eigenen Gourmetrestaurant, das sie passenderweise ‚Sterntaler‘ nennt. Nebenbei gibt sie ihr Geld vor allem für mildtätige Zwecke aus. Jede Menge Verehrer, aber keine Skandale. Und dann wird sie plötzlich tot aufgefunden. Erstochen.“ Die schöne Halbelfe strahlte. „Was für eine Story!“ Doch dann erlosch ihre Begeisterung. „Ich darf mir diese Chance nicht entgehen lassen. Aber dann muss ich nach Byonn fahren und recherchieren. Ich werde keine Zeit haben, um die Hochzeit vorzubereiten, für den Blumenschmuck, die Musik, die Hochzeitstorte … Artur ist lieb und hat einen guten Geschmack. Aber spätestens bei den Anproben für das Brautkleid ist er außen vor. Wir müssen die Hochzeit um mindestens einen Monat verschieben. Falls das so kurzfristig geht.“
„Ja, Heystings hat mir ausführlich berichtet, wie lange sie beide suchen mussten, bis sie einen passenden Ort für sich gefunden haben, der obendrein zum gewünschten Termin frei war.“
„Halb Laundom hat sich anscheinend vorgenommen, genau zu diesem Termin zu heiraten oder Jubiläen und Geburtstage zu feiern.“ Maja seufzte.
„Nun, Mitte September kann man ziemlich sicher sein, dass das Wetter hält.“ Bwaroo lächelte. „Aus diesem Grund haben ja auch Sie diesen Termin gewählt.“
„Na ja, im Winter bekommen wir bestimmt problemlos einen neuen Termin …“
„Was sagt denn Ihr Bräutigam dazu?“
„Ich … nun … äh … er weiß es noch nicht.“ Maja wurde rot bis hinter die Ohren. „Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht …“ Sie warf Bwaroo einen flehenden Blick zu.
Bwaroo saß einen Moment da wie vom Donner gerührt.
„Mademoiselle! C’est impossible. Das kann ich nicht machen“, sagte er dann. „So etwas kann ich meinem Freund nicht antun.“
Maja ließ enttäuscht den Kopf hängen.
„Aber ich kann etwas anderes für Sie tun, damit Sie beides bekommen – Ihren Artikel und die Hochzeit.“
Lächelnd beobachtete Bwaroo, wie Maja wieder den Kopf hob und ihn mit großen Augen anschaute: „Wie?“
„Bwaroo wird nach Byonn fahren, die Hintergründe aufdecken und den Mörder überführen.“
Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte zwirbelte Bwaroo seinen Schnurrbart. „Und dann wird er Ihnen ganz exklusiv ein Interview geben. Nur Ihnen allein.“
„Das wäre phantastisch!“ Maja klatschte vor Freude in die Hände. „Aber werden Sie dann rechtzeitig zurück sein? Und was ist mit Arturs Junggesellenabschied? Als sein Trauzeuge sind Sie doch dafür verantwortlich.“
„Überlassen Sie das ganz Bwaroo“, winkte der Elfendetektiv jedoch nur ab. „Il n’ya pas de problème.“
Er legte den Löffel in den leeren Suppenteller und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab. Das tat er nicht nur der Etikette wegen, sondern auch, um sein Lächeln zu verbergen. Stella Hauser also! Er hatte alles über sie gelesen, was sich in der Presse finden ließ, denn als sie noch lebte, war sie eine überaus interessante Person. Und mindestens genauso lange zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er in den Fall ihrer Ermordung einsteigen konnte. Natürlich hätte er einfach nach Byonn fahren können, aber er war Privatdetektiv. Ohne Auftrag würde er nicht tätig werden. Majas Bitte aber konnte man schon als eine Art Auftrag auslegen. Genau das, was er brauchte! Natürlich würde er Maja den Einsatz nicht in Rechnung stellen. Es ging gar nicht ums Geld – Bwaroo war ein wohlsituierter Mann – sondern ums Prinzip und, zugegeben, um den Reiz, die Herausforderung.
Auch Maja lächelte still in sich hinein. Das war ja alles perfekt gelaufen. Sie hatte gehofft, dass Erkül Bwaroo diese Lösung anbieten würde, wenn nur erst einmal seine Neugierde geweckt war. Außerdem würde er sich doch nie entgehen lassen, seine Brillanz unter Beweis zu stellen. Immerhin rühmte er sich doch, der beste Privatdetektiv aller Zeiten zu sein. Was wahrscheinlich sogar stimmte. Auch wenn man das, Maja warf Bwaroo einen verstohlenen Blick zu, kaum annehmen würde, wenn man ihn so sah. Viel zu elegant gekleidet mit einem sehr gepflegten, schwarzen Schnurrbart hätte man ihn eher für einen in die Jahre gekommenen Snob gehalten, der, klein und rundlich wie er war, ein wenig lächerlich wirkte. Dass er gerne französische Brocken in seine Rede einflocht, verstärkte den Eindruck eher noch. Aber Maja hatte gelernt, ihn auf keinen Fall zu unterschätzen. Genaugenommen wunderte sie sich ja, dass er sich nicht schon längst mit dem Mord an Stella Hauser befasst hatte. Aber egal. Wenn jemand imstande war, den Mörder zu finden, dann Erkül Bwaroo. Und wenn er ihr danach exklusiv ein Interview gab, war das noch viel besser als alles, was sie selbst vor Ort herausfinden konnte. Der Redakteur der ‚Zeiten‘ hatte sich bereits begeistert gezeigt, als sie ihm ihre Idee vorgetragen hatte. Aber direkt zu fragen, war nicht in Frage gekommen. Der kleine Elf hatte ein ausgeprägtes Ego, dem geschmeichelt werden musste. Maja gratulierte sich selbst dazu, dass sie ihn ganz richtig eingeschätzt hatte.
***
„Orges, ich werde nach Byonn fahren“, erklärte Bwaroo seinem Diener, als er nach Hause kam.
„Sehr wohl. Ich werde die Koffer packen.“ Orges verzog wie stets keine Miene.
„Aber Sie werden nicht mitfahren können“, fuhr Bwaroo fort und hob bedauernd die Hände. „Ich brauche Sie hier, um für Heystings seinen Junggesellenabschied zu organisieren, und alles vorzubereiten.“
„Das dürfte kein Problem darstellen.“ Sein unerschütterlicher Diener zeigte auch hier keine Gefühlsreaktion. „Werden Sie ohne mich zurecht kommen?“
„Ich werde mich in einem Hotel einmieten. Für ein paar Tage dürfte das schon gehen, auch wenn es nicht so perfekt sein wird.“
„In der Tat. Werden Sie mit dem Zug fahren?“
„Das werde ich wohl müssen. Schließlich stehen Sie mir als Chauffeur nicht zur Verfügung.“
„Es gibt eine direkte Verbindung morgen Vormittag um 10.00 Uhr.“
„Perfekt. Besorgen Sie mir bitte eine Fahrkarte. Erster Klasse natürlich. Die Fahrt dauert immerhin fast drei Stunden. Und kümmern Sie sich bitte auch gleich um ein angemessenes Zimmer im Hotel ‚Adler‘.“
„Selbstverständlich.“
„In Zukunft werde ICH das Lokal führen.“
„So? Und wieso ausgerechnet du?“
„Stella hätte das so gewollt. Und überhaupt: Wer sollte es sonst machen? Du vielleicht?“
„Warum nicht? Ich kann weit mehr als nur kochen.“
„Das möchte ich sehen. Bei deinen Wutausbrüchen hättest du spätestens in zwei Wochen kein Personal mehr.“
„Oder ein Personal, auf das ich mich verlassen kann.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“
„Das, was du so manchmal als Personal ausgesucht hast, lässt … sagen wir mal … zu wünschen übrig.“
„Ach ja?“
„Ach ja. Den Kellner, der die Hand in der Kasse hatte, hast doch du eingestellt, oder? Wahrscheinlich haben dir seine schwarzen Glutaugen so gut gefallen. Er hat dich ja auch immer so schön angehimmelt. Dabei wollte er dich nur einlullen, um in aller Ruhe klauen zu können.“
„Wie kannst du es wagen? Er hat sich als Kellner gut angestellt. Die Gäste mochten ihn!“
„Na klar. Stella war jedenfalls nicht begeistert. Sie hat sich bitter beklagt.“
„Und wie war das nochmal mit deinem Assistenten, der unter der Hand überzählige Rebhühner weiterverkauft hat?“
„Ein einziges Mal. Wir hatten wirklich zu viel bestellt, weil diese Delegation aus dem Ostreich zu kurzfristig abgesagt hat. Das Geld hat er mir gegeben. Und von mir ging es an Stella weiter.“
„Soso!? Und du hast es nicht für nötig befunden, Stella oder gar mir vorher Bescheid zu sagen. Was, wenn wir schon andere Absprachen getroffen hätten?“
„Habt ihr aber nicht.“
„Ist ja toll – hellsehen kannst du also auch noch!“
„Es ist ja alles gut gegangen, oder?“
„Mit so einer Einstellung willst du ein Lokal führen? Lächerlich. Stella sah das genauso. Am Tag vor ihrem Tod hat mir Stella noch anvertraut, dass sie deine Mätzchen gründlich satt hat. Sie hatte vor, dich zu entlassen.“
„Das hätte sie nie getan. Sie wusste genau, dass die Leute nur meiner Kochkunst wegen kommen.“
„Papperlapapp! Also, in meinen Ohren klang das ziemlich ernst mit der Kündigung. Und warum auch nicht? Du hast doch alles von Stella gelernt. Sie hätte jederzeit wieder selbst zum Kochlöffel greifen können. Oder jemand anders anlernen. Aber da Stelle nicht mehr da ist, hast du ja jetzt nichts mehr zu befürchten.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich? Gar nichts. Ich meine ja nur, dass es durchaus Vorteile für dich hat, dass Stella ...“
„Das ist ungeheuerlich! Nach der Sache mit dem Kellner hattest du doch viel mehr zu verlieren. Und dann, und dann das Desaster, als du die Reservierungen durcheinander gebracht hast. Deine Anstellung hing an einem seidenen Fädchen. Jaja, schau bloß nicht so entsetzt. Zufällig weiß ich ganz genau, dass Stella sich bereits nach einem neuen Geschäftsführer umgesehen hat.“
***
Erkül Bwaroo blickte zufrieden um sich. Byonn war ein malerisches Städtchen am Byonner See. Jenseits des Sees erhoben sich die Weinhügel, die Byonn berühmt gemacht haben, denn der würzige Wein, der nur hier gedeihen wollte, war sehr beliebt.
Die Hügel verliefen fast halbmondförmig um Byonn, und überall grünte und blühte es. Die Stadt schien ganz aus kleinen, weißen Häusern zu bestehen, denen farbige Rahmen um Fenster und Türen ein fröhliches, buntes Aussehen gaben. Ein wenig abseits erhob sich, wuchtig wie eine Festung und entsprechend irgendwie fehl am Platz, die Residenz des Elfenherzogs, der hier herrschte. Überhaupt war die Gegend zu einem großen Teil Elfenland. Und hinter den Weinhügeln, schon an der Grenze zum Nordreich und darüber hinaus, lag der dichte Wald, in dem Oberon und Titania residierten, das Herrscherpaar der Elfen.
Aber das berührte Bwaroo eher wenig. Sein Verhältnis zu Elfenkönigin Titania war nicht gerade das beste, doch das tat jetzt nichts zur Sache. Und Herzog Boonis konnte ihm ohnehin egal sein.
Nach der angenehmen Fahrt entsprechend gut gelaunt entlohnte Bwaroo großzügig den Gepäckträger, der seine Koffer bereits in einem Wagen verstaut hatte, an dessen Türen der Schriftzug ‚Adler‘ prangte. Der Träger tippte hoch erfreut an seine Mütze und wünschte einen schönen Aufenthalt, ehe er wieder zurück in die Bahnhofshalle eilte. Derweil war der Fahrer des Wagens ausgestiegen und hielt Bwaroo die Tür auf, damit er bequem einsteigen konnte.
„Ein schönes Automobil“, bemerkte Bwaroo.
„Ja, und ganz neu!“, antwortete der Fahrer, der zurück am Steuer den Motor startete. Er klang so enthusiastisch, als würde das Fahrzeug ihm gehören. „Wir sind das erste Hotel, das seine Gäste mit ‘nem Motorwagen abholt. Alle and’ren fahr’n noch mit Kutschen!“
„Nun ja, das ‚Adler‘ ist ja auch das erste Haus am Platz“, nickte Bwaroo.
„Ganz genau! Wir hab’n ’nen Ruf zu wahr’n.“
„Bestimmt sind Sie sehr stolz, dass Sie so einen Wagen fahren dürfen.“
„Da können Sie drauf wetten! Es ist toll, wenn einem alle mit offenen Mündern nachschau’n.“
„Ich weiß, was Sie meinen, schließlich habe ich selbst auch so ein Auto, wenn auch etwas kleiner.“
„Tolles Gefühl, nicht? So mit fünfundzwanzig dahinzubrausen … na ja, vielleicht nich g’rade hier im Ort …“ Der Fahrer bremste, als eine Dame mit einem winzigen Hund an der Leine die Straße überquerte.
„C’est vrai.“ Bwaroo lächelte amüsiert. „So ein Wagen ist obendrein auch viel bequemer als eine Kutsche.“
„Wenn Sie den Wagen mal für nen Ausflug brauchen“, bot der junge Fahrer – Bwaroo schätzte ihn auf Mitte zwanzig – eifrig an. „Frag’n Sie einfach nach Bob. Bob, das bin ich!“
„Das werde ich mir merken, Bob“, versprach Bwaroo.
Inzwischen fuhren sie die gekieste Auffahrt zum Hotel hinauf. Interessiert betrachtete Bwaroo das Gebäude, das sich in zwei Flügeln links und rechts von einem großen, mit Rundbögen verzierten Eingang erstreckte. Die Wände waren in einem makellosen Weiß gehalten. Zwischen den unter weiteren Rundbögen untergebrachten Balkonen blühten rosa Kletterrosen. Die strenge, aber nicht aufdringliche Symmetrie behagte dem Elfendetektiv sehr.
„Wir freuen uns überaus, Sie bei uns begrüßen zu dürfen, Herr Bwaroo“, begrüßte der Rezeptionist ihn wenig später und gab einem jungen Mann in Pagenuniform einen diskreten Wink, sich um das Gepäck zu kümmern. „Ihr Ruf eilt Ihnen ja voraus. Sind Sie zur Erholung hier oder, um einen Fall zu lösen?“
„Nun, tatsächlich führt mich der Mord an Stella Hauser hierher“, gestand Bwaroo.
„Das habe ich mir schon beinahe gedacht. Schreckliche Sache, das.“, nickte der Rezeptionist.
„Ihr Hotel spielte ja auch eine Rolle bei dem mysteriösen Auftauchen der jungen Dame damals, nicht wahr?“
„Oh ja. Wir dürfen uns rühmen, Fräulein Hauser bei ihrem ersten Auftauchen in der Stadt hilfreich zur Seite gestanden zu haben.“
„Mais oui, davon habe ich gelesen. Haben Sie die Dame damals selbst in Empfang genommen?“
„Oh nein. Ich bin erst seit vier Jahren hier. Aber Panntos, der damals wie heute die Nachtschicht hat, der kann Ihnen da gerne Auskunft geben.“
„Das würde mich außerordentlich freuen. Wann beginnt denn sein Dienst?“
„Um zehn Uhr. Ich werde ihm Bescheid geben, dass Sie ihn zu sprechen wünschen. Mein Name ist übrigens Helmut. Sie können sich tagsüber mit allen Wünschen an mich wenden.“ Helmut zog das Gästebuch, in das sich Bwaroo während des Gesprächs eingetragen hatte, wieder zu sich hinter den Tresen und reichte dem Elf den Zimmerschlüssel. „Suite 207. Thomas …“, er deutete auf den Pagen, der gerade mit Bwaroos Gepäck auf einem Wägelchen wieder hereinkam, „wird Sie hinbringen. Wir haben selbstverständlich einen Fahrstuhl.“
Natürlich, dachte Bwaroo amüsiert. Fahrstühle waren der neueste Schrei in seiner Welt und natürlich hatte ein Hotel vom Renommee des ‚Adler‘ einen zu bieten.
„Er ist dort hinten“, erklärte Helmut währenddessen. „Und damit ich es nicht vergesse: Es ist auch schon eine Nachricht für Sie eingetroffen.“
Erstaunt nahm Bwaroo den Umschlag entgegen, den ihm Helmut reichte. Außer Orges und Maja, und vermutlich inzwischen auch Heystings, wusste niemand, dass er hier war. War etwa zuhause etwas Schlimmes geschehen?
„Ich nehme an, es ist eine Nachricht von Herzog Boonis“, kam Helmut zu Hilfe und wies auf das Wappen, das in der linken oberen Ecke des Umschlags prangte. „Der Herzog wünscht, über alle Besucher der Stadt von Rang und Namen informiert zu werden. Also haben wir ihm selbstverständlich avisiert, dass Sie bei uns erwartet werden.“
„Ah!“ Bwaroo strich sich geschmeichelt den Bart. „Ich danke Ihnen, Helmut.“
„Stets zu Diensten!“
Bwaroo gab Thomas ein großzügiges Trinkgeld, als dieser Bwaroos Koffer ausgepackt und im Schrank verstaut hatte. Seiner Meinung nach war es nie verkehrt, das Personal auf seiner Seite zu haben. Es gab fast nichts, worauf die Belegschaft keinen Einfluss hatte. Höflichkeit, ein paar freundliche Worte und hin und wieder ein paar Münzen waren, abgesehen davon, dass es sich so gehörte, stets eine gute Investition.
Als er nun allein in seiner Suite stand, schaute sich Bwaroo erst einmal kritisch, aber auch zunehmend zufrieden um. Der Salon war hell und gemütlich eingerichtet, weder zu schlicht noch zu protzig. Eine Seite wurde von einem Kamin dominiert, in dessen Feuerstelle jetzt im August kein Holz brannte, sondern ein großes Blumengesteck prunkte. Die zwei Kerzenständer auf dem Kaminsims musste Bwaroo erst ein wenig zurechtrücken, damit sie den genau gleichen Abstand hatten. Vor dem Kamin stand ein gemütlicher Sessel und dem gegenüber ein Sofa mit einem niedrigen Tisch.
Das angrenzende Schlafzimmer beherrschte ein großes Himmelbett, das sich zu Bwaroos Freude genau in der Mitte der Wand befand, flankiert von identischen Schränkchen. Perfekte Symmetrie.
Ja, entschied Bwaroo, dieses Hotel hatte seinen guten Ruf zu Recht. Dann aber öffnete er den Kleiderschrank und seufzte. Thomas hatte sich alle Mühe gegeben, alles aufs Ordentlichste unterzubringen. Aber, lag da etwa ein hellblaues Hemd zwischen zwei weißen? Und der helle Sommeranzug konnte unmöglich neben dem dunklen Abendanzug bleiben! Bwaroo machte sich also daran, Wäschestapel zurecht zu ziehen und Hemden farblich zu sortieren. Danach nahm er jeden Kleiderbügel einzeln heraus und begutachtete akribisch die Anzüge, um gegebenenfalls ein wenig daran herum zu zupfen und sie dann sortiert von hell nach dunkel wieder zurück zu hängen.
Bei Orges, ging es ihm durch den Sinn, wäre das nicht nötig gewesen. Dessen Sorgfalt und Methodik ließen keine Wünsche offen. Wie schade, dass er nicht da war, denn nun musste Bwaroo alles selbst richten.
Er seufzte.
„Je suis a veillir“, sagte er sich. „Ich werde alt. Alt, bequem und verweichlicht. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich jetzt ein paar Tage ohne Orges auskommen muss.“
Als er endlich mit der Ordnung seiner Garderobe zufrieden war, zog er den Brief aus seiner Anzugtasche und wog ihn nachdenklich in der Hand: Zeit nachzusehen, was der Herzog von ihm wollte.
Vorher aber nahm er noch das Wappen genauer in Augenschein.
Auf der linken Seite eine goldene Weinrebe auf blauem und ein weißes Einhorn auf rotem Grund auf der rechten. Durchtrennt wurde das Ganze, und das fand der Detektiv besonders interessant, durch ein schmales silbernes Band, das von rechts oben nach links unten verlief.
„Très intéressant“, murmelte Bwaroo. „Ein Bastardfaden. Der Herzog oder einer seiner Vorfahren ist also einer unehelichen Verbindung oder Mesalliance entsprungen.“
Bwaroo öffnete den Briefumschlag und nahm ein einzelnes Blatt heraus, auf dem sich nur ein Satz fand:
„Herzog Boonis bittet Sie, heute Abend um acht Uhr sein Gast zu sein.“
Bwaroo lächelte. Obwohl der Herzog die Einladung als Bitte formuliert hatte, war klar, dass er ein Nein als Antwort nicht akzeptieren würde. Er würde also mit dem Regenten des Landes zu Abend essen. Und es würde interessant werden, zu erfahren, was der Herzog von ihm wollte. Ein guter Anfang!
„Ich seh sie immer noch vor mir, wie sie da so lag … alles voller Blut.“
„Ach du Ärmste. Dass aber auch ausgerechnet du sie hast finden müss’n.“
„Ich hab immer noch Alpträume deswegen.“
„Was wirst du jetzt mach’n, jetzt wo unsere Dienstherrin nicht mehr da ist? Ich bin ja immer nur zum Saubermachen herg’kommen und ich hab noch andere Häuser, aber du ...“
„Keine Ahnung. Die Gräfin hat gemeint, ich soll erst mal hier wohnen bleiben. So als ne Art Verwalterin. Aber irgendwann werd ich mich wohl nach einer neuen Stellung umseh’n müssen. Oder gehe zurück ins Geschäft meiner Eltern. Zu schade. Stella war so eine liebe Herrin. Wir waren mehr Freundinnen als alles andere. Ach, und ich werde ihr nie mehr sagen können, dass ich das nicht so gemeint hab!“
„Dass du was nicht so g’meint hast?“
„Na, was ich gesagt hab, damals, gerade an dem Abend.“
„Jetzt wein doch nicht. Hier, nimm das Schneuztücherl. So ist’s recht. Was war denn so schlimm dran?“
„Ich … na ja … wir haben gestritten … sie hat mich vor meinem Freund gewarnt und üble Dinge über ihn gesagt.“
„Über dein’n neuen Verehrer, diesen Jojo?“
„Ja. Sie hat sich hinter meinem Rücken über ihn erkundigt!“
„Das hätt sie nicht machen soll’n.“
„Das hab ich auch gesagt. Dabei kennt sie ihn doch gar nicht!“
„Na, der hat aber auch wirklich schon so ein paar halbseid’ne Sachen g’macht. Und g’sessen hat er auch schon.“
„Ach was! Ihr habt alle keine Ahnung. Und das mit dem Gefängnis – das war ein Justizirrtum.“
„Na ja, das weißt du sicher besser als ich.“
„Allerdings.“
„Gut, ich will nix g’sagt haben. Unsere Herrin war also nicht begeistert vom Jojo?“
„Sie hat … sie hat gesagt, ich soll ihn sausen lassen, weil er einen schlechten Ruf hat … Und da wurde ich böse! Ich hab gesagt, dass sie doch gar nicht weiß, was Liebe ist, sondern dass sie ein kalter Fisch ist. Der Herzog hat sie über alles geschätzt. Das war ja schon krankhaft. Und den hat sie am langen Arm verhungern lassen. Und dann dieser Dichter, der sie so verehrt hat …“
„Na, ich mein, der hat eher ihr Geld verehrt.“
„Aber er hat sie doch so angehimmelt … und er ist so süß …“
„Er schaut gut aus, das schon. Aber mal ehrlich: Diese Riesenschleifen, die er sich immer umbindet. Das ist doch affig!“
„Er ist eben ein Künstler.“
„Na na, hast dich ein bisserl in ihn verguckt, was? Wenn das der Jojo wüsst …“
„Unsinn. Außerdem hatte er ja immer nur Augen für Stella. Ach, und jetzt ist sie tot, und ich kann ihr gar nicht mehr sagen, dass ich es nicht so gemeint hab mit dem kalten Fisch. Ich hab sie doch wirklich und ehrlich gern gehabt!“
***
„Herr Bwaroo! Schön, dass Sie es möglich machen konnten.“ Mit diesen Worten und ausgestreckten Armen kam ein hellhaariger, vollbärtiger Elf Bwaroo entgegen, und einen Moment lang befürchtete der, dass sein Gastgeber ihn in die Arme schließen wollte. Doch stattdessen ergriff er mit beiden Händen Bwaroos rechte Hand und schüttelte sie enthusiastisch.
„Pas du tout“, wehrte der Elfendetektiv höflich ab und entzog seinem Gastgeber vorsichtig wieder seine Hand. „Es ist mir eine Ehre.“
„Dann folgen Sie mir doch gleich in den Speisesaal. Ich habe ein paar Appetithäppchen vorbereiten lassen.“ Herzog Boonis zwinkerte Bwaroo zu und deutete einen Gang hinunter.
Während der Detektiv so seinem Gastgeber folgte, hatte er Muße, ihn genauer in Augenschein zu nehmen, wenn auch nur von hinten. Boonis war so groß gewachsen wie alle Hochelfen, die ja den Adel des Elfenlandes stellten. Und wie die meisten Hochelfen war er praktisch von undefinierbarem Alter. Aber ein Jungspund war er ganz sicher nicht mehr. Außerdem hatte er um Bauch und Hüften das eine oder andere Pölsterchen, was bei Hochelfen eher selten war, genauso wie die dichte, aber gut gepflegte Gesichtsbehaarung. Hochelfen hatten eigentlich immer glatte Wangen. Unter den Vorfahren des Herzogs musste der eine oder andere Mensch stecken.
Für die Einrichtung seines Zuhauses hatte der Herzog anscheinend nicht allzu viel übrig. Der Gang, durch den er Bwaroo führte, hatte kahle Wände und war außerdem ziemlich schlecht beleuchtet. Der Saal, in den sie schließlich traten, besaß abgesehen von ein paar fadenscheinigen Wandteppichen wenig, das Behaglichkeit geschaffen hätte. Auf einem blanken Tisch stand eine große Platte mit allerlei Häppchen, die sehr appetitlich angerichtet waren. Kein Zweifel, Essen war dem Herzog wichtiger als Wohnen.
„Wie viele Gäste erwarten Sie denn heute?“ Bwaroo beäugte all die Köstlichkeiten verwundert.
„Nur Sie. Und keine Sorge, dass ist wirklich nur zur Appetitanregung. Ein amuse gueule, wie Sie Franzosen sagen.“
Der Elfendetektiv verzichtete darauf, den Herzog zu korrigieren. Sein Faible für französische Brocken in seiner Rede war ja auf eine Reise nach Belgien zurückzuführen. Indessen wählte er eines der Schnittchen, das mit Tomaten und Kräutern belegt und mit Käse überbacken war, und biss hinein.
„Sehr delikat“, lobte er. Gleichzeitig stellte er fest, dass sich der Herzog indes bereits fünf der Häppchen einverleibt hatte.
„Ich habe mir erlaubt, einen hiesigen Krötenbluter zu wählen.“ Boonis wies auf einen bauchigen Dekanter, der, flankiert von zwei silbernen Bechern, neben der Platte stand. Die leere Flasche und der Korken fanden sich ebenfalls dort. „Manche behaupten ja, dieser Rotwein sei zu schwer, aber ich finde ihn in Maßen sehr appetitanregend.“
Der Herzog nahm das Gefäß und schenkte schwungvoll ein. Er hatte offensichtlich ganz eigene Vorstellungen davon, was maßvoll bedeutete.
„Ich hoffe, Sie mögen den Byonner Wein“, meinte er und reichte Bwaroo einen der Becher. „Hmm, großartig“, seufzte er zufrieden, als er einen Schluck aus seinem genommen hatte. „Samtig weich auf der Zunge mit einer herben Note von Brombeeren, mineralisch im Abgang mit einem Hauch von Moos und Walderde im Nachgang.“ Bwaroo fragte sich, wie viel Walderde Boonis denn schon gekostet hatte. Doch Boonis war noch nicht fertig: „Dieser Rotwein ist etwas ganz Besonderes. So schwer wie perfekt als Aperitif. Er ist sogar nummeriert, um ihn gegen Panscher und Fälschungen zu schützen. Wie ein Kunstwerk!“ Der Herzog nahm den Korken, roch mit einem feinen Lächeln daran und reichte ihn weiter an Bwaroo. „Hier, sehen Sie die eingebrannte Nummer? KB für die Weinsorte und danach eine fünfstellige Nummer. Sie korrespondiert mit der hier unten auf dem Etikett.“
„Ein ziemlicher Aufwand“, meinte Bwaroo. „Aber der ist es sicher wert.“
Er nahm nun selbst einen Schluck.
„Sehr gut. Angenehm herb“, meinte er nur.
Der Herzog schaute ihn einen Moment irritiert an, wurde da aber durch den Klang eines Gongs abgelenkt.
„Das Essen ist fertig!“, rief er erfreut und bedeutete Bwaroo, ihm ins Speisezimmer zu folgen.
„Ahhh! Das war köstlich!“ Drei, nach Bwaroos Meinung, ziemlich umfangreiche Gänge später tupfte sich der Herzog die Lippen ab und lehnte sich zufrieden zurück.
„Un repas excellent“, stimmte Bwaroo zu. „Mein Kompliment an Ihren Küchenchef. Aber um auf Ihre Einladung zurückzukommen …“ Er drehte nachdenklich sein Weinglas in der Hand, das einen leichten Weißwein enthielt, der laut Herzog Boonis perfekt zum Geflügel passte. „Sie haben mich doch bestimmt nicht hergebeten, um mir zu zeigen, was für einen großartigen Koch Sie haben. Wir haben jetzt die ganze Zeit über das Wetter, die Jagd und die letzte Weinernte gesprochen. Sollten wir nicht langsam auf den Punkt kommen?“
„Ja, natürlich.“ Boonis fuhr sich unbehaglich mit dem Finger unter seinen Hemdkragen. „Also ...“, er zögerte, „ich möchte, dass Sie den Mörder von Stella Hauser finden“, platzte er dann heraus.
Bwaroo hob die Augenbrauen.
„Es ehrt Sie, dass Sie sich so viele Gedanken um die Menschen in Ihrer Stadt machen …“ Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen und blickte den Herzog fragend an.
„Aber es ist mehr als das.“ Boonis nickte. „Klar, jemandem mit Ihrem Scharfsinn kann man nichts vormachen, nicht wahr?“
Bwaroo nahm einen Schluck Wein, sagte aber nichts.
„Stella war eine gute Freundin“, fuhr Boonis auch prompt fort und sprudelte dann richtig los: „Sie war wunderbar! Nicht nur eine wunderschöne Frau, sondern eine Göttin in der Küche. Ich habe bei ihr Dinge genossen, so himmlisch, dass man dafür sterben möchte! Ein gutes Herz hatte sie obendrein. Niemand, der ihre Hilfe suchte, ging mit leeren Händen wieder fort. Und für jeden hatte sie ein freundliches Wort. Anbetungswürdig, das war sie. Leider, leider, leider hat sie niemals meinen Antrag angenommen.“
„Sie wollten sie heiraten?“
„Heiraten? Nein!“ Boonis starrte Bwaroo an, als wäre er nicht ganz bei Trost. „Ich habe sie gebeten, meine Köchin zu werden.“
„Mais oui, natürlich.“
„Aber sie wollte nicht. Sagte, sie habe in ihrem Restaurant ihre Erfüllung gefunden. Außerdem, meinte sie, sollte man Freundschaft und Arbeit nicht vermischen.“
„Verstehe.“
„Nun, jedenfalls war sie etwas ganz Besonderes. Und dann wird ihr Leben einfach so ausgelöscht.“ Boonis schüttelte traurig den Kopf. „Ich verstehe es einfach nicht. Aber ich will wissen, was dahintersteckt. Der Schuldige muss gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden. Das bin ich Stella einfach schuldig.“
„Die Byonner Polizei …“
„Tut ihr Bestes“, winkte der Herzog ab, „aber Byonn ist eine kleine Stadt. Bekannt und gern besucht, aber abgesehen von dem einen oder anderen Krawall, wenn jemand zu viel Wein getrunken hat, ein paar Taschendiebstählen und dergleichen mehr ist es hier friedlich. Inspektor Essinger ist … äh ... etwas eigen … aber ein fähiger Mann, ja, ganz bestimmt ein fähiger Mann. Mit Mord hatte er jedoch noch nie zu tun. Deshalb möchte ich Sie beauftragen, den Schuft zu finden, der Stella das angetan hat.“
Bwaroo legte den Kopf schief, was ihn ein wenig wie einen neugierigen Spatz aussehen ließ. Noch ein Klient? Nun, warum nicht? Theoretisch sprach nichts dagegen. Und mit dem herzoglichen Auftrag im Rücken konnte er mehr erreichen.
„Bien sûr, c’est possible“, sagte er langsam. „Ich will ehrlich sein: Tatsächlich bin ich hier, um den Mörder zu finden.“
„Großartig!“
„Aber ich habe einer aufstrebenden Journalistin versprochen, ihr für ‚Die Zeiten‘ ein Exklusivinterview zu geben, sobald ich den Fall gelöst habe.“
„Hm. Werden Sie Stella dabei gerecht werden, sie in bestem Licht darstellen?“
„Bwaroo ist der Wahrheit verpflichtet! Wenn es also eine dunkle Seite gibt, wird Bwaroo sie nicht verheimlichen können.“
Herzog Boonis schaute enttäuscht drein.
„Aber …“, fuhr Bwaroo fort, „Bwaroo wird nicht mehr sagen als notwendig. Er ist nicht auf Skandale und schmutzige Wäsche aus.“
Der Herzog nahm sich Zeit, diese Worte zu überdenken. Dann räusperte er sich und machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Stella hatte keine dunkle Seite, auch nicht in ihrer Vergangenheit, da bin ich mir sicher. Das hat irgendein Verrückter getan! Na gut, geben Sie Ihr Interview. Ich werde Ihnen da nicht dreinreden. Aber vorher möchte ich über alles informiert werden.“
„Très bon.“ Zufrieden lehnte sich Bwaroo zurück. „Dann nehme ich Ihren Auftrag gerne an.“
„Gut.“ Sichtlich erleichtert griff Boonis zur Weinflasche, schenkte sich nach und nahm einen tiefen Schluck.
Bwaroo tat es ihm gleich.
„Alors“, sagte er dann, „nachdem das nun geklärt wäre, möchte ich gleich mit den Ermittlungen beginnen und Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Schießen Sie los!“
„Bwaroo weiß bisher nur, was in den Zeitungen zu lesen war. Angeblich ist Stella Hauser eines Nachts mit einer Schürze voller Goldtaler hier in Byonn aufgetaucht.“
„Es war keine Schürze, es war ein Nachthemd.“
„Bon. Sonst stimmt die Geschichte aber?“
„Im Prinzip, ja. Nur war es nicht nur angeblich, sondern tatsächlich so. Sie stand eines Nachts barfuß und nur mit einem langen weißen Hemd bekleidet im Hotel ‚Adler‘. In diesem Hemd zusammengerafft hatte sie eine Menge Goldmünzen.“
„Und das kam niemandem komisch oder gar verdächtig vor?“
„Wieso denn? Sie hatte eine völlig plausible Erklärung: Ihre Eltern waren gestorben, und die Erben hatten sie aus dem Haus geworfen. Sie hatte nur noch, was sie am Leib hatte, und ein Stück Brot. Aber dann traf sie einen Bettler, der sehr hungrig war, und gab dem das Brot. Und dann lief ihr ein Kind über den Weg, das sehr fror, und sie gab ihm ihre Mütze. So nach und nach verschenkte sie all ihre Kleidung, und als sie nur noch ein Hemdchen anhatte, versteckte sie sich im Wald. Und dort fielen dann die Sterne vom Himmel und in ihren Schoß, als Dank für ihr gutes Herz.“
„Gibt es denn eine Fee in diesem Wald, die dafür bekannt ist, dass sie mildherzige Menschen belohnt?“ Bwaroo strich sich skeptisch seinen Schnurrbart.
„Nein“, gab der Herzog zu, „und ich als Elf müsste es wissen, wenn es so wäre. Schließlich ist das hier mein Herzogtum.“
„Vielleicht eine Fee auf der Durchreise?“
„Ich habe mich unter den Feyen umgehört. Nichts dergleichen.“
„Und das nennen Sie plausibel?“
„Ja, ich gebe es zu, es klingt eher nach einer völlig verrückten Lügengeschichte.“ Boonis hob frustriert die Hände. „Aber eine andere Erklärung gab es auch nicht. Keine Überfälle, kein Raub, kein Diebstahl in dieser Zeit. Niemand hatte einen Schatz verloren, nichts dergleichen.“
„Wo lebte das Mädchen, bevor es von den Erben auf die Straße gesetzt wurde? Wieso hat das Haus überhaupt jemand anders geerbt, wenn sie die einzige Tochter war?“
„Keine Ahnung. Sie muss aus einem Nachbarort gekommen sein.“
„Mais c’est absurd! Sie muss doch in der Lage gewesen sein, den Ort zu benennen. Und irgendjemand muss sie gekannt haben. Eine Schule müsste sie auch besucht haben …“
„Genaueres weiß ich nicht“, unterbrach Boonis. „Die Polizei hat umfangreiche Ermittlungen angestellt. Dort kann man Ihnen auf jeden Fall mehr dazu sagen. Aber wenn Sie Stella gekannt hätten, würden Sie nicht daran zweifeln, dass sie die Wahrheit sagte. Sie hatte so etwas Reines an sich – ich bin davon überzeugt, dass sie gar nicht zu einer Lüge fähig war!“ Boonis leerte erneut seinen Becher und schenkte sich nach. „Ich verstehe allerdings nicht, was das damit zu tun hat, dass sie ermordet wurde.“ Er warf Bwaroo einen missbilligenden Blick zu.
„Vielleicht alles, vielleicht nichts.“ Bwaroo lächelte ihn an. „Aber Sie haben recht: Wenden wir uns dem Mord zu. Mademoiselle Hauser wurde von ihrer Zofe erstochen aufgefunden, heißt es. Wissen Sie dazu Genaueres?“
„Nicht viel. Ihre Zofe heißt Jana Waldhaus und ist ein kleines, munteres Ding. Na ja, jetzt im Moment wahrscheinlich nicht so munter. Soviel ich weiß, hatten die beiden ein sehr herzliches Verhältnis, eher wie Freundinnen …“ Boonis seufzte und nahm noch einen Schluck Wein. „Ansonsten kann ich eigentlich gar nicht viel dazu sagen. Ich sagte ja schon, dass Inspektor Essinger etwas eigen ist.“
„Das haben Sie bereits erwähnt.“ Bwaroo nickte und wartete.
„Ja, also, um genau zu sein, hat er gewisse Vorbehalte gegen Elfen – und mehr noch gegen Mischlinge.“ Boonis zupfte wieder nervös an seinem Hemdkragen. „Na ja, nennen wir die Dinge beim Namen …“ Er gab sich einen Ruck: „Essinger mag keine Elfen und ist recht unglücklich darüber, dass ich hier das Sagen habe. Elfen und Menschen versuchen ja, sich in solchen Dingen nicht in die Quere zu kommen. Aber Königin Rosamunde und ich haben eine Übereinkunft, dass ich sozusagen die menschlichen Angelegenheiten mit in die Hand nehme. Oberon und Titania sind darüber nicht wirklich glücklich – aber die sind weit weg und überhaupt! Ich meine, ich habe ja auch Menschenblut in meinen Adern. Mein Urgroßvater hatte eine Beziehung zu einer menschlichen Herzogin, aus der mein Großvater hervorging. Mein Urgroßvater hatte sonst keine Erben und anerkannte meinen Großvater als seinen Sohn, weshalb der nach dessen Tod Land und Titel erbte. Mein Großvater heiratete eine Elfe. Mein Vater auch. Aber ein paar Tropfen menschliches Blut fließen immer noch in meinen Adern.“
„Und Inspektor Essinger?“
„Kann nicht nur Elfen nicht ausstehen, sondern ist auch ein streitbarer Gegner von Mischehen.“ Boonis lächelte schief. „Im Prinzip ist mir das egal. Letztlich muss er auf meine Wünsche Rücksicht nehmen. Aber er weigert sich, mir Genaueres zu dem Mord an Stella zu sagen. Er kommt mir mit ‚laufenden Ermittlungen‘, ,notwendige Geheimhaltung von Fakten und Täterwissen’ und dergleichen. Als ob ich ein Verdächtiger wäre!“
In diesem Punkt konnte Bwaroo den Inspektor gut verstehen. Boonis hatte eine Beziehung zu Stella, welcher Art auch immer. Damit war er tatsächlich ein Verdächtiger. Und es war nie gut, zu viel preiszugeben.
„Bon,“ winkte er ab. „Ich werde mich dazu direkt an den Inspektor wenden. Kommen wir lieber zu Ihnen. Sie sagen, Sie waren mit Mademoiselle Hauser befreundet. Wie haben Sie sich kennengelernt?“
„Je nun, ich hatte ein paar Freunde zu Gast, und die wollten ein wenig durch die Stadt stromern. Ist ja auch wirklich ein malerischer Ort. Und weil das am freien Tag meines Kochs war, haben wir beschlossen, auch gleich in der Stadt zu essen. Das ‚Sterntaler‘ war damals noch ganz neu, hatte aber bereits einen ausgezeichneten Ruf – also sind wir dorthin und bekamen tatsächlich noch einen Platz. Das ist in diesem Restaurant eine Seltenheit. Das Essen war eine Offenbarung. Mein Koch ist einer der besten seines Fachs. Aber was uns im ‚Sterntaler‘ serviert wurde, das war noch eine ganze Klasse besser als alles, was er je kreiert hat. Stella kam zum Dessert an unseren Tisch, um sich zu erkundigen, ob alles zu unserer Zufriedenheit war. Wir waren alle des Lobes voll – bis auf Otto … Baron Otto von Sax, um genau zu sein. Der mäkelte an den Portionen herum, fand das Rindfleisch zu blutig, das Gemüse zu weich, die Suppe zu fade … es war richtig peinlich. Vor allem, wenn man weiß, dass der Kerl die Geschmacksnerven eines Wurms hat. Zugegebenermaßen hat er immer und überall was auszusetzen. Aber dass er gleich so vom Leder zieht, hätte ich ehrlich gesagt nicht erwartet. Na ja, Stella nahm die ungerechte Kritik mit Würde entgegen, merkte aber bei dem Steak an, dass er es ausdrücklich ‚sehr blutig‘ bestellt hatte. Daraufhin wurde er ausfallend, und ich ging dazwischen.“
Boonis nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas, ehe er fortfuhr: „Ich hielt es dann am nächsten Tag für angebracht, mich persönlich bei Stella zu entschuldigen. Dabei haben wir recht angenehm geplaudert und machten sogar eine kleine Kutschfahrt zusammen. In der Folge war ich öfter bei ihr zu Gast und hab ihr schließlich angeboten, meine Küche zu übernehmen.“
„Wusste Ihr Koch, dass Sie ihn entlassen wollten?“
„Gute Güte, nein! Die Idee war mir ganz spontan gekommen und hatte sich ja auch gleich wieder erledigt, als Stella Nein sagte.“
„Bon. Aber gestatten Sie mir, dass ich Ihren Koch persönlich befrage?“
„Muss das sein? Ich meine, nach Stella ist er der Beste, den ich kenne. Und ich möchte schon, dass er bei mir bleibt.“
„Ich werde ihn nur ganz allgemein zu Mademoiselle Hauser befragen. Köche unter sich – man kennt sich, man tauscht sich aus …“
„Hm, na gut. Ich lasse ihn holen.“
„Mais non.“ Bwaroo hob die Hand, als Boonis bereits nach dem Klingelzug griff. „Bwaroo möchte ihn in seinem persönlichen Umfeld kennenlernen, also in der Küche.“
„In der Küche? Na gut. Ich lasse Sie hinbringen. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht so genau, wo die Küche ist. War noch nie dort. Hat mir immer gereicht, was an Leckerem von dort kam.“
„Bien sûr.“ Bwaroo lächelte. Diese Einstellung hatte er schon bei vielen Adligen angetroffen. Der Herzog hatte vermutlich auch keine Ahnung, wo – und wie – seine Bediensteten wohnten.
Auf das Klingeln des Herzogs erschien ein Bediensteter, den Boonis anwies, Bwaroo zur Küche zu geleiten.
„Eins noch“, sagte Boonis, als er Bwaroo zum Abschied die Hand schüttelte. „Morgen ist die Beerdigung von Stella, und danach wird das Testament verlesen. Die Rechtsanwaltskanzlei ‚Schütte und Leisner‘ hat mich dazu gebeten. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten könnten. Die Testamentseröffnung ist um elf.“
„Gerne“, nickte Bwaroo zustimmend. Auf diese Weise konnte er alle treffen, die mit Stella Hauser in Verbindung gestanden hatten, und gleichzeitig auch noch deren Reaktion auf den Inhalt des Testaments beobachten.
„Gut.“ Auch Boonis war zufrieden. „Ich lasse Sie dann abholen.“
Wenig später stand Erkül Bwaroo in einer geräumigen Küche, in der drei Leute eifrig damit beschäftigt waren, nach dem Abendessen alles wieder auf Hochglanz zu bringen und gleichzeitig das Frühstück für den nächsten Morgen vorzubereiten. Den Chef erkannte man gleich: Während er höchstpersönlich den Herd schrubbte, gab er ständig Befehle und Ratschläge an die beiden anderen: ein junges Mädchen, das sein blondes Haar in einem dicken Zopf trug und ein schon etwas älterer Mann mit schütterem braunen Haar. Der Mann wienerte den Boden. Das Mädchen schnitt Kräuter klein.
Der Diener, der Bwaroo zur Küche geführt hatte, zögerte einen Moment. Dann nahm er sich ein Herz und sprach den Koch an: „Herr Vogel? Dieser Herr hier ist Herr Erkül Bwaroo. Er möchte mit Ihnen sprechen.“ Kaum hatte er das gesagt, zog er sich auch schon zurück.
Der Angesprochene legte die Bürste beiseite, mit der er die Herdplatte bearbeitet hatte, und drehte sich um. Er war ein stattlicher Mann, der alle anderen Anwesenden überragte, untersetzt, aber nicht so dick, wie man es Köchen im Allgemeinen nachsagte. Sein kurzes Haar verschwand fast völlig unter der weißen Mütze, die er trug. Die Flecken auf seiner Küchenschürze rührten augenscheinlich davon, dass er seine bemerkenswert großen Hände mehr als einmal daran abgewischt hatte. Er kniff seine grauen Augen misstrauisch zusammen, während er Bwaroo musterte.
„Beschwerden?“, bellte er dann.
„Pas du tout!“ Bwaroo setzte ein breites Lächeln auf. „Au contraire. Ich möchte Ihnen mein Kompliment aussprechen.“
„Hm.“ An so etwas war der Koch anscheinend nicht gewöhnt. „Danke. Aber deswegen haben Sie sich bestimmt nicht extra herbemüht.“
„Ah, Sie tun mir unrecht!“, begehrte Bwaroo auf. „Bwaroo zollt jemanden gerne den Dank, den er verdient. Aber zugegebenermaßen nehme ich die Gelegenheit gerne wahr, um Ihnen ein paar Fragen zu einer verstorbenen Kollegin zu stellen.“
„Stella Hauser?“
„C’est ça. Ich untersuche den Mord …“
„Und wie soll ich Ihnen dabei helfen?“, brauste Vogel da auf. „Hab ich Sie etwa umgebracht, weil sie meine Stelle wollte?“
„Haben Sie?“
„So ein Quatsch! Außerdem wollte sie den Posten ja gar nicht. Sie hatte ein großartiges Restaurant. Nur noch für den Herzog zu kochen, wäre da eher ein Abstieg.“
„Aber Sie wussten, dass der Herzog es ihr angeboten hat?“
„Klar. Unter Kollegen spricht sich das rum.“
Bwaroo schmunzelte. So viel zur Geheimhaltung.
„Sie waren doch sicher wütend, als Sie erfuhren …“
„Dass der alte Knacker lieber die hübsche Küchenfee um sich wollte? Hat mir nicht gefallen. Ich reiß mir jeden Tag den Arsch für ihn auf, und das ist dann der Dank. Ich hätte allerdings lieber dem Herzog den Hals umgedreht. Aber das bringt ja nun auch nichts. Und es hat seine Vorteile, nur für den Regenten des Landes zu kochen. Außerdem werde ich gut bezahlt, und der Herzog schaut nicht aufs Geld, solange die Qualität stimmt. Er hat zwar oft Gäste, aber alles im Rahmen, planbar. Bei einem Lokal wie dem ‚Sterntaler‘ weiß man nie so genau, ob nicht am nächsten Tag irgendein Großkotz plötzlich fünfzig Gäste bewirten will. Hier in meiner Küche spielt Politik keine Rolle. Wenn der Herzog zufrieden ist, ist alles gut. In einem Restaurant muss man immer auf alle möglichen Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen.“ Vogel wedelte abwertend mit der Hand. „Ich hab eine Freundin, die ist da Unterköchin. Im ‚Sterntaler‘, mein ich. Nebenbei eine Verschwendung ihres Talents. Aber egal. Jedenfalls, was die mir da so erzählt … Den Ärger muss ich mir nicht antun.“
„Dann reizt es Sie nicht, die Stelle des Chefkochs im ‚Sterntaler’ zu übernehmen? Die müsste ja jetzt frei werden, n’est-ce pas?“
„Nee. Die hat Patrick, und der gibt sie bestimmt nicht her.“
„Patrick?“
„Patrick Hehlbein. Stella hat ihn schon vor einiger Zeit eingestellt. Sie selber war nur noch zu besonderen Anlässen in der Küche. Ein Lokal Führen und Kochen, das wurde ihr auf Dauer zu viel.“
„Und Monsieur Hehlbein führt jetzt das Restaurant?“
„Da bin ich überfragt. Ich weiß, dass sie das ‚Sterntaler‘ heute wieder aufmachen. Hatten erst mal zu, als das mit Stella passiert ist. Und Patrick wird wohl kochen. Aber wer sich sonst um was kümmert – keine Ahnung.“ Vogel hob den Kopf. „Hey, Bernd! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du auch in den Ecken putzen sollst!“
Der mit Bernd Angesprochene zuckte zusammen und beeilte sich, die Ecke, die er gerade gewischt hatte, noch einmal gründlich zu bearbeiten.
„Und du, Monika,“ wandte sich Vogel an das blonde Mädchen, „schneid den Schnittlauch in gleichmäßige, möglichst schmale Ringe! Hier geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um Sorgfalt. Das letzte Mal hatten wir Ringe, die einen halben Zentimeter dick waren neben welchen von einem Millimeter. Das sieht abscheulich aus. So einen Mist streu ich doch nicht morgen früh auf die Rühreier!“
Bwaroo erkannte einen Zaunpfahl, wenn er ihn sah, und wusste, dass es Zeit wurde zu gehen. Also verabschiedete er sich mit einem weiteren Lob für das Essen und vertraute sich dem Diener an, der ihn aus dem Schloss geleitete.
Da Walter Vogel erwähnt hatte, dass das ‚Sterntaler‘ wieder aufmachte, beschloss Bwaroo, dort vorbei zu schauen, bevor er in sein Hotel zurückkehrte.
Das Lokal war nicht schwer zu finden. Es lag prominent am Stadtplatz, ein imposantes Gebäude, das jetzt am Abend mit zahlreichen kleinen Lichtern, die über die Fassade verstreut waren, auf sich aufmerksam machte. Eine Traube von Leuten stand davor, hauptsächlich Menschen und Elfen. Aber Bwaroo konnte auch den einen oder anderen Zwerg und sogar einen Troll ausmachen.
„Es tut mir leid! Wenn Sie nicht reserviert haben, kann ich Sie leider nicht hinein lassen“, hörte Bwaroo eine achtunggebietende, weibliche Stimme, als er näher kam. „Wir sind völlig ausgebucht! Nein, mein Herr, auch wenn Sie einen Extrabonus bieten, kann ich keinen zusätzlichen Tisch aus dem Hut zaubern.“
Jetzt konnte Bwaroo auch die Frau erkennen, die einen dicken Mann so angefahren hatte, dass der mit eingezogenem Kopf davon hastete. Sie war eine Elfe, die ihr pechschwarzes Haar zu einem Zopf geflochten wie eine Krone über den Kopf gelegt hatte, was sie noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Sie strahlte Selbstsicherheit und Autorität aus. Bwaroo schmunzelte. An dieser Frau kam niemand vorbei, das war klar.
Am besten verschiebe ich meinen Besuch hier auf morgen, sagte er sich und ging weiter zu seinem Hotel.
„Panntos wäre jetzt da“, begrüßte ihn Helmut, kaum dass er das Foyer betreten hatte. „Soll ich ihn in Ihre Suite schicken?“
„Ja, bitte“, stimmte Bwaroo zu. „Und lassen Sie auch eine Flasche Byonner Pfaffentränen und eine Flasche Bier hinauf schicken.“
Amüsiert bemerkte Bwaroo wie der Rezeptionist sich jede Bemerkung zu dieser Bestellung verkniff. Stattdessen trug er eine gleichmütige Miene, als könne ihn nichts erschüttern.
Er muss auf derselben Schule gewesen sein wie mein lieber Orges, dachte Bwaroo.
Kaum hatte der Elfendetektiv sein Zimmer betreten, kam auch schon ein junges Mädchen mit der bestellten Flasche Wein, natürlich mit der genau richtigen Temperatur, und dem gut gekühlten Bier.
Wenig später erschien Panntos. Für einen Zwerg war er groß. Wie zum Ausgleich waren sein Haar und sein Bart für einen Zwerg recht kurz, wenn auch sehr gepflegt. Vermutlich ein Zugeständnis an seinen Beruf.
„Sie wollten mich wegen des Vorfalls mit Stella Hauser sprechen?“ Panntos war in Habachtstellung gleich neben der Tür stehen geblieben.
„Richtig. Setzen Sie sich doch! Wie wäre es mit einem kalten Bier?“ Bwaroo wies auf einen bequemen Sessel und das Bier mit Glas, das auf dem niedrigen Tisch davor stand.
Doch Panntos schüttelte den Kopf und blieb stocksteif stehen.
„Aber ja doch“, rief Bwaroo heiter, „ich bestehe darauf! Ihr Hotel rühmt sich doch, den Gästen alle Wünsche zu erfüllen, oder etwa nicht?“
Bwaroo deutete noch einmal auf den Sessel und schenkte dann das Bier ein.
Der Zwerg blieb noch einen Moment stehen, wobei er verstohlene Blicke auf das bernsteinfarbene Getränk mit der einladenden Schaumkrone warf. Dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich.
„So unterhält es sich doch gleich viel besser“, erklärte Bwaroo zufrieden und hob sein Glas Wein, um mit seinem Gast anzustoßen. „Sie wissen wahrscheinlich schon, dass ich hier bin, um den Mord an Mademoiselle Hauser aufzuklären?“
„Ja, ist mir bekannt.“
„Bon. Ich habe die junge Dame selbst nie kennengelernt. Deshalb möchte ich mehr über sie erfahren. Soviel ich weiß, haben Sie sie vor einigen Jahren in Empfang genommen?“
„Richtig. Sie kam in unser Hotel und verlangte ein Zimmer.“
„Wie lief das genau ab?“
„Nun, sie kam herein und fragte, ob wir ein Zimmer frei hätten.“
„Ce n’était pas la question.“ Bwaroo schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Was genau ist geschehen? Wie sah Mademoiselle Hauser zum Beispiel aus, als sie eintrat?“
Panntos nahm einen großen Schluck Bier und druckste ein wenig herum.
„Es war vor fünf Jahren“, begann er schließlich nach einem weiteren Schluck aus seinem Glas. „Ich war allein an der Rezeption, und es war nichts los – ging immerhin schon auf Mitternacht zu. Da kam dieses Mädchen herein. Ein halbes Kind noch, höchstens siebzehn oder achtzehn, mit langen blonden Haaren und nur mit einem Nachthemd oder so etwas bekleidet. Es war barfuß, und ihre Füße waren schmutzig und blutig und hinterließen Spuren auf den Fliesen. Das ging natürlich nicht, und als ich wieder allein war, habe ich mir einen Lappen geholt, und alles sauber gemacht.
Na, jedenfalls, da stand diese blutjunge Frau. Das Hemd hatte sie vorne zusammengerafft, und es sah aus, als ob da etwas sehr Schweres drin wäre.“ Noch ein Schluck Bier. „Sie war wirklich völlig unpassend gekleidet, das Hemd vorne so hochgerafft, dass man die Knie sehen konnte, und eigentlich hätte ich sie gleich wieder wegschicken müssen. Aber sie schaute mich mit ihren großen blauen Augen an, und … ich weiß nicht … sie hatte etwas Unschuldiges, Hilfloses an sich, da hat sie mir sofort leid getan. Ich hab sie also so freundlich wie möglich gefragt, ob ich ihr helfen kann.
Sie wollte wissen, ob sie hier irgendwo schlafen kann, und hat dann in ihren Hemdbeutel gegriffen und einen Goldtaler herausgenommen und auf den Tresen gelegt. So eine Münze hatte ich noch nie gesehen! Ein wenig verbogen und mit einem Stern drauf, sonst nichts. Es war pures Gold, als Zwerg merkt man das sofort. Noch nicht einmal Zwergenbatzen sind so rein. Und sie hatte noch viel mehr davon. Ein Wahnsinn mit so einem Schatz einfach durch die Gegend zu laufen! Da hätte ja sonstwas passieren können. Ich war so verdattert, dass ich sie erst einmal gefragt habe, wo sie das her hat. Und sie meinte, sie wäre ganz allein im Wald gewesen und da wären die Sterne vom Himmel in ihren Schoß geregnet und zu Talern geworden. Sie hat das so ernst und glaubhaft erzählt, dass ich keine Zweifel hatte. Natürlich habe ich sie nach ihren Eltern gefragt, aber sie sagte, sie stünde ganz allein auf der Welt. Na ja, im Foyer konnte sie nicht bleiben, schon gar nicht in dem Aufzug. Also hab ich den Taler genommen, ihr ein Zimmer gegeben und sie persönlich hingebracht. Ins Empfangsbuch schrieb sie ‚Stella Hauser‘. Keine Adresse. Nur den Namen. Ich hab sie noch gefragt, ob ich einen Arzt rufen sollte wegen ihrer Füße. Aber sie meinte, damit käme sie schon klar. Also hab ich’s dabei belassen.
Am nächsten Morgen habe ich bei Schichtwechsel dann den Empfangschef informiert.“
„Und weiter haben Sie nichts unternommen?“, staunte Bwaroo. „Das Geld hätte ja auch aus einem Überfall stammen können …“
„Das meinte Peter auch und hat mich heftig gerügt. Peter Hell, das war der damalige Empfangschef. Der ging dann bald in Rente und vor zwei Jahren ist er gestorben, der arme Kerl. Na, jedenfalls hat er mich ganz schön geschimpft.