Tatort Karlsfelder See - Ruth M Fuchs - E-Book

Tatort Karlsfelder See E-Book

Ruth M Fuchs

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Beschreibung

Die bayerische Miss Marple ermittelt wieder! Annamirl Hofstetter, Rentnerin mit einer Vorliebe für englische Krimis, findet eine Leiche am Karlsfelder See. Und es bleibt nicht bei dieser einen Toten. Annamirl macht sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter - hinter dem Rücken des bärbeißigen Hauptkommissars Auerbach, der ihr schlicht verboten hat, sich einzumischen. So nebenbei muss sie dann auch noch Auerbachs Assistenten Patrick in Liebesnöten helfen. Aber die Zeit drängt: Der Mörder könnte wieder zuschlagen.

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Inhaltsverzeichnis

Tagebuch: Montag, 8. April

Ostermontag, 22. April 2019

Eins

Zwei

Dienstag, 23. April 2019

Eins

Zwei

Drei

Tagebuch: Dienstag, 23. April

Mittwoch, 24. April 2019

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Tagebuch: Mittwoch, 24. April

Donnerstag, 25. April 2019

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Tagebuch: Donnerstag, 25. April

Freitag, 26. April 2019

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Samstag, 27. April 2019

Sonntag, 28. April 2019

Ende April 2019

Freitag, 23. August 2019

Bayrisch – deutsch

Anmerkung

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Bücher von Ruth M. Fuchs

Tatort Karlsfelder See

ein Krimi aus dem Dachauer Moos

von Ruth M. Fuchs

Kriminalroman

Impressum

© 2022 Raposa

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Buch ist auch als Taschenbuch erschienenen

Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

eMail: [email protected]

Bild und Umschlaggestaltung: Ruth M. Fuchs

Lektorat: Jochem Reineck

www.ruthmfuchs.de

Für Jochem Reineck

Was wäre dieses Buch ohne Dich?

Tagebuch: Montag, 8. April

Warum bin ich eigentlich nicht schon viel früher drauf gekommen, dass ein Mord die einfachste und beste Lösung für all meine Probleme ist? Wie dumm war ich, es erst mit Reden zu versuchen! Wer hält sich schon an Abmachungen, wenn es um so viel Geld geht. Nein, wenn man sicher sein will, dass jemand sein Wort hält, ist es am besten, ihn gleich ganz aus der Welt zu schaffen. Ich muss sagen, ich bin schon ein wenig stolz auf mich, dass ich so schnell reagiert habe, obwohl ich das doch so gar nicht geplant hatte. Als sich die Chance ergab, habe ich zugegriffen. Was musste mir der Trottel auch den Rücken zudrehen? Er wollte etwas aus einer Schublade holen, als wäre ich gar nicht da. Als wäre ich überhaupt nicht wichtig! Da musste ich doch etwas tun, oder? Danach war ich ganz kühl und habe, denke ich, keinen Fehler gemacht, keine Spuren hinterlassen. Im Organisieren war ich schon immer gut. Dass ich einen Mantel übergezogen habe, um das Blut an meiner Kleidung zu verdecken, war doch wirklich genial! Und dann habe ich alles in einem Müllcontainer in München entsorgt. Dort wird niemand suchen. Jetzt heißt es nur noch warten, dass die Leiche entdeckt wird.

Und immerhin habe ich in der offenen Schublade ein nettes kleines Souvenir entdeckt. Ich bin sicher, das wird mir noch gute Dienste leisten.

Ja, ich bin zufrieden mit mir. Und was sagt mein Gewissen? Fühle ich Reue? Nein. Ich wüsste auch nicht, warum. Meine Tat war gerechtfertigt. Im Grunde war alles seine eigene Schuld. Nein, ich fühle mich wie immer. Ein bisschen wütend auf mich selbst vielleicht, weil ich nicht früher auf die Idee kam, meine Schwierigkeiten so einfach und endgültig zu beseitigen. Wenn ich daran denke, wie lange ich nachts wach gelegen und mir den Kopf zerbrochen habe, wie die vertrackte Situation zu lösen ist. Dabei war es doch so einfach! Und dabei heißt es doch immer, der erste Mord sei der schwerste. Wie werde ich mich da erst fühlen, wenn ich meinen zweiten begehe? Denn ich schätze, der wird sich nicht vermeiden lassen. Die alte Frau scheint sich ja leider bester Gesundheit zu erfreuen. Ich kann ja nun nicht ewig darauf warten, dass sie endlich stirbt.

Ostermontag, 22. April 2019

Eins

„Ach, schau an, die Alte ist wieder da.“ Annamirl Hofstetter führte ihre beiden Scottish Terrier mal wieder am Karlsfelder See spazieren. Auf derselben Bank mit Blick auf den See saß wie beinahe jeden Morgen eine alte Frau, neben sich eine Thermoskanne und eine Nussschnecke oder ein Plunderstück. Was genau es war, konnte Annamirl nicht erkennen. Aber irgendetwas Süßes war es immer. „Wir machen wie immer einen großen Bogen um das Weib, verstanden?“, ermahnte sie eindringlich ihre beiden Hunde. „Vor allem du, Loki. Du weißt doch bestimmt noch, wie du bei ihr gebettelt hast und wie sie dich beinahe mit dem Fuß erwischt hat. Du hättest natürlich wirklich nicht betteln sollen, das weißt du ganz genau. Aber einen Tritt hast du dafür auch nicht verdient.“

Annamirl sah es immer noch genau vor sich. Sie waren an den See gekommen, und der schwarze Loki, der Süßes über alles liebte, war zu der alten Frau gelaufen, machte Männchen und wedelte bittend mit den Vorderbeinen. Da hatte die alte Frau ausgeholt, um nach dem Tier zu treten.

Loki war nichts passiert, und Annamirl hatte ihn schnell wieder trösten können, aber ab diesem Moment war die Alte, wie Annamirl sie nannte, obwohl sie zugegebenermaßen nur einige Jahre älter war als Annamirl selbst, bei ihr unten durch. Denn sie hatte nicht etwa verschreckt oder ängstlich mit dem Fuß auf den kleinen Hund gezielt, sondern mit einem boshaften Grinsen. Annamirl hatte deutlich das Vergnügen in ihren Augen gesehen. Nichts war besser geeignet, dass jemand Annamirl gründlich und zutiefst unsympathisch wurde.

„Die Alte ignorieren wir gepflegt“, beschied Annamirl also ihre Hunde und warf noch einen Seitenblick auf die Frau, die reglos auf ihrer Bank saß, gut eingemummelt in einen braunen Mantel und offensichtlich schlafend. „Also auf geht’s, viele Tage sind es ja nicht mehr, bis der See für euch tabu ist. Die wollen wir noch ausnützen, oder?“

Annamirl wollte einfach einen Bogen um die alte Frau machen, doch ihre Hunde folgten ihr nicht. Stattdessen schlichen die beiden zögerlich zu der Bank, auf der die Frau saß, verharrten dann zwei Schritte entfernt und begannen erst zu winseln, dann zu bellen. Neugierig geworden trat auch Annamirl näher heran. Neben der Frau stand wie immer eine Thermoskanne. Daneben lag auf einer Papiertüte ein angebissenes Plunderstück, auf dem es sich zwei Fliegen gemütlich gemacht hatten. Nichts wirklich Ungewöhnliches. Doch Annamirl wunderte sich, dass die Frau trotz des Hundegebells gar nicht aufwachte. Vorsichtig beugte sie sich über sie, wobei sie die beiden Fliegen aufscheuchte, und stupste sie an die Schulter. Doch, statt aufzuwachen, kippte die Frau zur Seite, stieß dabei die Thermoskanne um und blieb reglos auf der Bank liegen. Alarmiert beugte sich Annamirl über sie und rüttelte sie kräftig. Als auch das nichts half, suchte sie nach Lebenszeichen. Der Brustkorb schien sich nicht zu heben. Was machte man da nochmal? Einen Spiegel vor Mund und Nase halten und nachsehen, ob er beschlägt, fiel ihr ein. Gute Idee – nur hatte sie keinen Spiegel bei sich. Den Puls suchen? Zwei Finger am Hals, erinnerte sich Annamirl an etliche ihrer geliebten Krimis, in denen das so gemacht wurde. In den Büchern klang das ganz leicht, aber Annamirl bezweifelte, dass das in der Wirklichkeit auch so einfach war.

Aber sie hatte doch einen Erste-Hilfe-Kurs für Lehrer gemacht! Was hatte man ihr da gleich wieder beigebracht? Zeige- und Mittelfinger an die Innenseite des Handgelenks unterhalb des Daumens legen ...

„Ist was passiert?“ Eine Frau mit Pferdeschwanz kam heran. Sie mochte um die dreißig sein. Anscheinend war sie am See gejoggt, denn sie trug Leggings und eine leichte Trainingsjacke zu Laufschuhen. Anscheinend hatte sie Musik gehört, denn sie nahm ihre Kopfhörer aus den Ohren. „Lassen S’ mich mal sehen. Ich bin Krankenschwester.“

Gehorsam trat Annamirl zur Seite, und die Joggerin beugte sich über die Alte auf der Bank. Routiniert betastete sie den leblosen Körper.

„Ich glaub, sie ist tot“, stellte sie fest.

Inzwischen war auch schon der eine oder andere Spaziergänger aufmerksam geworden, und eine Handvoll Leute standen um Annamirl, die Krankenschwester und die Tote auf der Bank herum.

„Wir müssen einen Krankenwagen rufen“, stellte die Dame im Jogginganzug fest, „auch, wenn’s nichts mehr hilft.“

„Und die Polizei“, meinte Annamirl und tastete in ihren Taschen nach ihrem Handy. Vergebens. Sie musste es daheim vergessen haben.

„Wieso denn das? Die ist wahrscheinlich einfach an Altersschwäche gestorben“, maulte ein junger Mann, der trotzdem sein Handy hob, um ein Foto zu schießen.

„Ach, sind Sie Arzt? Oder Hellseher?“, fuhr Annamirl ihn da in bester Lehrermanier an und stellte sich zwischen ihn und die Tote. „Oder nein! Lassen Sie mich raten: Sie sind Gerichtsmediziner …“ Sie drückte energisch seine Hand mit dem Telefon hinunter. „Machen Sie sich lieber mal nützlich und wählen Sie die 112! Mit dem Ding kann man doch auch telefonieren, oder?“

Der Junge schaute irritiert, rief dann aber doch gehorsam den Notruf.

„Und wenn hier noch einmal irgendwer ein Foto macht, kriegt er Ärger mit mir“, rief Annamirl in die Runde. „So was Geschmackloses lass ich nicht durchgehen.“

„Hetzt du dann die Hunde auf uns?“, spöttelte ein Mann um die vierzig, dessen Bierbauch merklich über den Bund der kurzen Hose hing.

Annamirl bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick – und schaute dann nochmal genauer hin.

„Da schau her, der Ludwig aus der 7 b!“, rief sie dann. „Dicker bist worden, aber ned g’scheiter!“

Der Mann wurde puterrot. Schnell schaute er sich um, ob vielleicht ein Bekannter in der Nähe stand, und entdeckte seine Frau, die ihn anfeixte. Mist! Er zog den Kopf ein, der inzwischen so rot war wie ein frisch gekochter Hummer, und machte, dass er wegkam.

Zwei

Es fiel Hauptkommissar Jürgen Auerbach und seinem Assistenten Patrick Scholl nicht schwer, den Tatort zu finden, nachdem sie ihren Wagen auf dem großen Parkplatz gleich neben dem See abgestellt hatten. Rechts am Restaurant vorbei und dann auf das weiß-rote Plastikband zu, mit dem die Kollegen in Uniform schon den Tatort abgesperrt hatten. Die Leute von der SpuSi in ihren weißen Overalls waren ebenfalls ein sicherer Tipp, wo Auerbach und Scholl zu suchen hatten. Auch ein Rechtsmediziner war schon da. Der beugte sich über die Leiche, nachdem die SpuSi-Leute bereits anfingen, ihre Sachen einzupacken.

Auerbach seufzte. Er hatte mit seiner Frau Resi einen Ausflug zum Starnberger See machen wollen. Eine befreundete Familie hatte dort ein Boot. Es hätte ein gemütlicher Tag auf dem Wasser werden sollen. Resi hatte sogar die alte Kuchenform ihrer Mutter ausgepackt und Osterlämmer gebacken, um sie den Freunden mitzubringen. Aber kurz vor dem Ziel hatte Auerbach der Anruf erreicht, dass eine Leiche mit ungeklärter Todesursache gefunden wurde. Mit dem einen oder anderen saftigen Fluch auf den Lippen war er also umgedreht und zurückgefahren, während seine Frau, die so etwas schon kannte, ihre Freunde anrief und absagte. Wieder daheim rief Auerbach dann noch bei Patrick an, dass er ihn auf dem Weg zum Tatort einsammeln würde.

„Immerhin auch ein See“, witzelte Patrick und fing sich einen vernichtenden Blick von seinem Chef ein. Unwillkürlich zog er den Kopf ein und nahm sich fest vor, für den Rest des Tages möglichst den Mund zu halten.

Neben der Absperrung hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet. Was die Leute an einem toten Körper so magisch anzog, konnte Auerbach noch nie verstehen. Aber vielleicht lag das ja daran, dass er schon zu viele davon gesehen hatte.

Er wartete, bis die SpuSi auch noch ihre letzten Gerätschaften eingepackt hatte und auch der Fotograf fertig war. Als junger Hupfer hatte er einmal einen Tatort ganz unbedarft betreten, während die Kollegen noch zugange waren. Dafür war er übel gescholten worden. Das saß. So etwas passierte ihm kein zweites Mal. War ja auch nicht so schlimm. Man konnte ja warten. So ein Toter lief einem nicht weg. Er warf nur einen Blick zur Leiche hinüber: Eine alte Frau lag seitlich auf einer Parkbank, als würde sie schlafen. Kein Blut. Vielleicht war das ja gar kein Verbrechen. Aber bis auf Weiteres musste die Sache trotzdem als solches behandelt werden.

„Also gut“, wandte Auerbach sich ohne Umschweife an die Versammelten. „Ich bin Hauptkommissar Auerbach und hier, weil’s hier einen Todesfall ‘geben hat. Wer hat die Tote g’funden?“

Wie einst das Rote Meer vor Moses teilte sich die Gruppe und gab den Blick frei auf eine ältere Dame, klein, ein bisschen mollig, mit weißem Haar und großen blauen Augen.

„Ja verreck … Sie schon wieder!“ Auerbach starrte sie mit offenem Mund an. „Sie hab’n die Tote g’funden? Schon wieder? Sammeln Sie sowas?“

„Aber Herr Hauptkommissar …“, tadelte Annamirl, „nur weil ich letztes Jahr zwei Tote gefunden habe …“

„Zwei Mordopfer“, verbesserte Auerbach sichtlich verstimmt. „Und ist da jetzt wieder wer umbracht word’n? Wer ist es denn diesmal?“

„Ich habe keine Ahnung.“ Annamirl lächelte.

Auerbach drehte sich um, als hinter ihm so etwas wie ein Kichern zu hören war.

„Ist ebbs?“, herrschte er Patrick an, der dort stand.

„Nein, warum?“ Patrick machte ein ernstes Gesicht.

„Ich kann unmöglich alle Menschen kennen, die in Karlsfeld wohnen“, fügte Annamirl hinzu, woraufhin Auerbach sich wieder ihr zuwandte. Gerade rechtzeitig, denn es zuckte verdächtig um Patricks Mundwinkel.

„Die letzten zwoa hamm S' aber kennt.“

„Aber das war Zufall. Außerdem waren die beiden aus Dachau.“

„Und woher wissen S‘, dass die hier aus Karlsfeld ist?“

„Ich hab sie schon öfter auf dieser Bank sitzen sehen. Sie scheint immer herzukommen, um zu frühstücken.“

„Also kennen Sie‘s doch!“

„Nur vom Sehen.“

„Ich kenn’ die Frau“, merkte da die Krankenschwester an.

„Und wie heißt sie?“ Eilig zückte Patrick sein Notizbuch. Einige Kollegen sprachen lieber in ihr Handy, aber daran hatte er sich nie gewöhnen können.

„Russe, glaub’ ich.“

„Den Vornamen wissen Sie nicht?“

„Ich kenn’ sie eigentlich auch nur vom Sehen. Sie wohnt in meiner Straße. Wohnte, mein ich.“ Die Dame spielte verlegen mit dem Kabel ihrer Kopfhörer.

Patrick lächelte sie aufmunternd an.

„Und wo ist das?“, fragte er freundlich.

„In der Fliederstraße. Sie wohnt da ganz allein in ihrem Reihenhaus.“

„Wissen Sie auch die Hausnummer?“

Die Dame nannte sie und gab ihm auf sein Bitten auch ihren eigenen Namen und ihre Adresse: „Babette Wegerer. Ich arbeite im Krankenhaus Dachau.“

Auerbach ließ die Gruppe stehen und ging zu dem Arzt, der inzwischen mit seiner Arbeit fertig war.

„Woran ist sie denn g‘storben?“

„Woher soll ich das denn wissen?“ Der Arzt schaute auf. Obwohl mit Schutzoverall und Atemschutzmaske nicht viel von ihm zu sehen war, erkannte Auerbach ihn sofort an seinen buschigen schwarzen Augenbrauen: Doktor Klose. Der war für seine unwirsche Art bekannt und gefürchtet.

Auch das noch, dachte Auerbach, das ist echt nicht mein Tag. Ich hätte heute im Bett bleiben sollen. Aber na ja, nicht mehr lang und er hatte es hinter sich.

„Ich mein ja bloß, weil Sie sind doch der Arzt!“, versuchte er es trotzdem.

„Ich habe sie oberflächlich angeschaut. Mehr kann ich hier nicht tun! Ohne hellseherische Fähigkeiten kann ich da wohl kaum etwas sagen.“

„Also keine Verletzung?“

„Keine offensichtliche.“

„Dann war es vielleicht ein natürlicher Tod?“

„Das kann ich erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe.“

Ohne sich weiter um Auerbach zu kümmern, schälte sich Dr. Klose aus seinem Schutzanzug, rollte ihn zusammen und verstaute ihn in seiner Tasche.

„Es wird wohl etwas dauern. So, wie es aussieht, wird die Staatsanwaltschaft wohl kaum Dringlichkeit anordnen. Ich schau mir die Tote also Dienstag oder Mittwoch genauer an.“ Dr. Klose nickte Auerbach zu und stapfte davon, ohne auf eine Erwiderung zu warten.

Auerbach starrte ihm ärgerlich nach. Wie er es hasste, wenn man ihn wie einen dummen Schuljungen einfach stehen ließ.

„Na, wenigstens wissen wir ungefähr, wann S’ g’storben ist“, sagte er zu sich selbst. „Die ist ja anscheinend jeden Tag zur gleichen Zeit her’kommen.“ Er ging zurück zu Patrick, der sich immer noch mit Babette Wegerer unterhielt.

„Nein, man kann nicht gerade sagen, dass sie beliebt war“, gab die gerade zu Protokoll. „Ich selber hab ja nix mit ihr zu tun g’habt, aber ich bin mit der Petra befreundet, die gleich neben ihr wohnt. Petra Hageneck. Die hat mir mal von einer üblen Sach’ erzählt, die die alte Russe mit der Katze von ihr g’macht hat.“

„Dann hatte sie öfter mal Streit mit den Nachbarn?“

„Sie war a Bissgurkn.“ Die Dame stockte und wurde rot. „Also, was ich so g’hört hab. Ob’s stimmt, weiß ich ned. Na ja, man soll über Tote ja nix Böses sag’n …“

„Machen Sie sich da mal keine Sorgen.“ Patrick lächelte ihr aufmunternd zu.

Auerbach fühlte sich ein wenig überflüssig. Anscheinend hatte sein Assistent alles gut im Griff. Also schaute er sich nach einer anderen Beschäftigung um – und sah Annamirl, die scheinbar mit den Gedanken ganz weit weg ein Stück abseits stand, aber eindeutig in Hörweite von Patricks Befragung.

„Na, haben S‘ alles mitbekommen?“, fragte Auerbach.

Annamirl schreckte auf, fasste sich aber schnell.

„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen“, erklärte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Doch Auerbach fiel nicht darauf herein.

„Sie hab‘n doch zug‘hört, was mein Kollege da g‘fragt hat“, warf er ihr vor.

„Aber Herr Hauptkommissar! Lauschen ist doch sowas von ungehörig. Wie können Sie mir so etwas unterstellen?“ Annamirl gab sich entrüstet, obwohl sie genau das getan hatte.

„Hören S‘ ...“ Auerbach schaute sie streng an. „Sollte sich rausstellen, dass hier ein Verbrechen vorliegt, dann mischen Sie sich nicht ein. Verstanden? Ned so wie beim letzten Mal ...“

„Als ich den Mörder letztendlich überführt habe?“

„Sie … also, das ist doch ganz wurscht!“ Auerbach wurde rot im Gesicht. „Sie mischen sich nicht ein. Hab‘n S‘ verstand‘n?“

„Ja, ich habe Sie verstanden.“ Annamirl nickte liebenswürdig. „Sie haben doch sicher nichts dagegen, dass ich jetzt die Hunde heimbringe? Die dürften inzwischen ziemlich hungrig sein. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich in den nächsten Tagen aufs Revier und gebe meine Aussage zu Protokoll.“

„Schon recht. So machen wir‘s. Habe d’Ehre.“

„Wiedersehen.“ Sie schenkte Auerbach ein liebenswürdiges Lächeln und marschierte davon, wobei sie die beiden Terrier an ihren Leinen hinter sich herzog. Die beiden schienen nicht begeistert, einen Ort zu verlassen, an dem es so interessant war.

Auerbach sah ihr zufrieden nach. Er schaute sich nach Patrick um, der gerade seinen Notizblock wegsteckte. Der nickte ihm zu und trat neben ihn.

„Immerhin wissen wir, wer die Tote ist“, bemerkte er.

„Ja, da wiss‘n wir schon mal, wo wir anfangen mit dem Ermitteln.“

„Aber es ist doch noch gar nicht raus, ob ein Verbrechen vorliegt!“

„Und das wird aa noch a bisserl dauern. So, wie ich das seh, wird die Staatsanwaltschaft koa Dringlichkeit für die Autopsie anordnen“, bediente sich Auerbach schamlos bei Doktor Kloses Annahme. „Des wird also oan oder zwoa Tag dauern. Aber ich will trotzdem schon amoi a wen‘g rumstochern. Wenn‘s dann doch a Mord war, hab‘n wir dann schon ebbs in der Hand.“

„Hm, na ja, wenn Sie meinen ...“ Patrick sah wenig begeistert aus. Er hatte gehofft, dass Auerbach es erstmal gut sein lassen würde. Dann hätte er den Abend mit seiner Freundin Sandra verbringen und vorher noch seine Mutter besuchen können. Am Ostersonntag waren sie bei Sandras Eltern gewesen, und seine Mutter erwartete sie beide heute zum Kaffee. Aber daraus würde jetzt wohl nichts werden. Vielleicht dachte der Chef ja, wenn er schon nicht seinen Ausflug nach Starnberg machen konnte, hätte auch kein anderer ein Recht auf seine Freizeit.

„Ja, des moin i.“ Auerbach ignorierte Patricks betrübte Miene. „Wir fahr‘n jetzt erst amoi aufs Revier in Fürstenfeldbruck, und Sie lassen den Namen durch den Computer. Mal schau‘n, ob die Tote irgendwo Verwandte hat. Immerhin hat mir Ihre Ex-Lehrerin versprochen, dass sie sich dieses Mal nicht einmischt.“

Patrick horchte auf.

„Hat sie das wirklich so gesagt?“, forschte er skeptisch.

„Ich hab ihr g’sagt, dass sie sich raushalten soll und ob sie das verstanden hat.“

„Und sie?“

„Sie hat g’sagt, sie hat’s verstanden und …“ Auerbach brach ab. Ihm dämmerte etwas.

„Dann hat sie Sie wohl wirklich verstanden. Aber wie ich sie kenne, war das auch schon alles“, bestätigte Patrick Auerbachs Verdacht. „Ich hab als Schüler öfter mal mitbekommen, wie sie den Direktor mit so einer Spitzfindigkeit zur Verzweiflung brachte …“

„Echt jetzt?“

„Ich fürchte schon.“

Himmelherrschaftszeiten, diese verflixte Hofstetterin! Einmal mehr wünschte Auerbach sich, dass er im Bett geblieben wäre. Blödsinn, schalt er sich dann aber selbst, was soll die Alte schon groß ausrichten? Beim letzten Mal, da hat Sie einfach nur Glück gehabt. Und außerdem ist ja noch nicht einmal sicher, ob das hier überhaupt ein Mord war.

Trotzdem, ein mulmiges Gefühl hatte er weiterhin.

Auch Patrick war nicht glücklich. Seine Freundin Sandra wohnte im Haus von Annamirl. Wenn hier also tatsächlich ein Mord vorlag, wie sollte er dann der Neugier seiner ehemaligen Lehrerin auskommen?

Dienstag, 23. April 2019

Eins

„Der Hund, der nach unten schaut soll eine Entspannungsübung sein? Ich finde, nur auf den Händen und Zehen zu stehen überhaupt nicht entspannend!“

„Das sagst du jedes Mal.“ Annamirl lächelte ihre Freundin Monika an.

Die beiden saßen auf Annamirls Terrasse und ließen sich die Blaubeermuffins schmecken, die Monika gebacken hatte. Die beiden waren gerade von ihrem Yogakurs zurückgekehrt.

„Roswitha hat aber auch von Power-Yoga gesprochen. So einen Kurs bietet sie ja auch an. Und da ist der Hund wahrscheinlich wirklich entspannend. Anders als bei unserem gemütlichen Senioren-Yoga.“

„Vermutlich. Dieses Power-Yoga scheint mir ja eher so eine schnelle Gymnastik zu sein – Aerobic nannte man das in den Achtzigern. Ich dachte immer, bei Yoga geht es um Achtsamkeit …“

„Man kann auch achtsam schnell sein.“

„Hm, vielleicht. Aber lassen wir das. Erzähl mir lieber von der Toten, die du dieses Mal gefunden hast.“

„Du tust ja geradezu so, als würde ich das ständig machen!“

„Zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Wie viele Menschen gibt es wohl, die auch nur eine einzige Leiche finden? Ich kenne niemanden. Außer dir natürlich.“

„Na ja, zugegeben. Aber dieses Mal war es bestimmt kein Mord. Sie sah aus, als wäre sie einfach friedlich eingeschlafen.“

„Wer weiß? Es gibt bestimmt das eine oder andere Gift, bei dem die Wirkung so ist.“

„Wie auch immer. Das geht mich nichts an.“

„Na, hör mal! Willst du mir wirklich sagen, dass dich das gar nicht interessiert? Denk doch mal, wenn es nicht so wäre? Wärst du Miss Marple, würdest du doch bestimmt …“

„Ich bin aber nicht Miss Marple!“

„Das letzte Mal hast du dich aber so benommen. Bist du denn gar nicht neugierig?“

„Na ja, schon …“

„Na bitte.“ Zufrieden biss Monika in ihren Muffin. „Was hast du also vor?“

„Gar nichts.“

„Ach, komm schon! Du kannst dich doch zumindest ein wenig umhören! Hast du die Adresse von dieser Frau Russe mitbekommen?“

„Es war nicht zu überhören, als Patrick diese Zeugin befragte …“

„Und wo ist das?“

„In der Fliederstraße. Gar nicht so weit weg …“ Annamirl drehte ihren Muffin auf dem Teller hin und her. „Trotzdem war ich noch nie dort. Ich habe gedacht, vielleicht könnte ich mal mit den Hunden dort Gassi gehen …“ Sie hielt den Blick fest auf den Kuchen gerichtet. „Nur um mal zu sehen, wie man da so wohnt …“

„Natürlich“, stimmte Monika ihr eifrig zu. „Wir könnten ja beide mit den Hunden spazieren gehen. Sowas ist ja gut für die Verdauung. Nach dem Essen sollst du ruhen oder tausend Schritte tun, heißt es doch, nicht wahr? Und ich als Dachauerin kenne Karlsfeld sowieso viel zu wenig …“

„Das liegt daran, dass du sonst immer zu dem ‚ ...sollst du ruhen …‘ neigst“, lachte Annamirl.

„Na und?“ Monika gab sich entrüstet. „Es ist nie zu spät für gute Vorsätze!“

„Wartet denn dein Mann nicht auf dich?“

„Der ist Golfspielen. Ist er bei schönem Wetter eigentlich immer. Aber das weißt du ja. Trotzdem – praktisch, oder?“ Monika grinste. „Also, iss deinen Muffin auf, und dann gehen wir spazieren.“

Eine halbe Stunde später standen die beiden Damen, jede einen Terrier an der Leine, vor einem Reihenhaus. Dem vorletzten in der Straße.

„Hier muss es sein“, stellte Annamirl fest. „Könnte passen. Das sieht nicht nach einem Haus aus, in dem eine glückliche Familie lebt.“

„Oh ja. Die Fenster sollten dringend mal geputzt werden, und die Wände könnten frische Farbe vertragen“, stimmte Monika zu, „die sind ja schon ganz grau.“

„Und der Rasen ist voller Unkraut.“

„Immerhin ist das das einzige, was hier blüht.“

„Wenigstens ein Apfelbaum. Oder ist das ein Birnbaum? Ich verwechsel die immer, wenn sie nicht gerade Früchte tragen.“

„Apfelblüten sind, glaube ich, ein wenig mehr rosa.“

„Und kannst du erkennen, ob sie rosa sind?“

„Nein. In die Ferne hab ich auch schon mal besser gesehen. Und in die Nähe auch. Ach, das Alter ...“

„Sind sie Freundinnen von Frau Russe?“, schreckte die beiden da eine misstrauische Männerstimme auf.

Am Zaun des Nachbargartens stand ein älterer Herr, einen zerbeulten Hut auf dem Kopf und eine Harke in der Hand.

„Nein, aber sie ist die Freundin meiner Tante gewesen“, erklärte Annamirl, ohne rot zu werden. „Die ist gestorben, und da dachten wir ...“

„Aha, genau wie die Russe.“

„Was denn, die ist auch tot?“, gab sich Annamirl ganz erstaunt. „Schon lange?“

„Nee. Erst gestern. Eine von den Nachbarn weiter unten hat sie gefunden.“

„Oje, das war bestimmt ein Schock. War sie zu Besuch bei Frau Russe?“

„I wo. Zu der geht keiner von uns. Nein, das war drüben am See.“

„Schrecklich.“

„Wie man‘s nimmt. Der weint bestimmt keiner eine Träne nach.“ Der Nachbar schaute sich um und beugte sich dann mit Verschwörermiene ein wenig nach vorn. „Die Russe, die hatte Haare auf den Zähnen. Und sie hat sich um nichts geschert. Keine Rücksicht auf die Nachbarn, nichts.“

Annamirl nickte, während ihr durch den Kopf ging, dass Babette Wegerer ziemlich genau dasselbe gesagt hatte.

„Dann kamen Sie nicht so gut mit ihr aus, Herr ...“

„Günther. Doktor Günther. Ich bin Orthopäde.“

„Sehr erfreut.“

„Gleichfalls. Nein, ich kam nicht gut mit ihr aus. Das war unmöglich! Ständig hat sie sich beschwert, wenn es mal die eine oder andere Feier bei mir gab – ich habe gesellschaftliche Verpflichtungen, die bringen das so mit sich. Sie hat sogar gemeint, es wäre alles nicht so schlimm, wenn ich beim Grillen weniger Grillanzünder nehmen würde. Die würden stinken! Als ob man MIR erzählen müsste, wie man richtig grillt! Und als es mal ein bisschen länger dauerte, hat sie doch tatsächlich die Polizei gerufen!“

„Haben die Ihnen das so gesagt?“

„Natürlich nicht! Die sind doch Beamte. Und Beamte sind alle faul oder korrupt. Passt ja ganz prima, wenn man fürs Nichtstun auch noch bezahlt wird! Alles dieselbe Mischpoke. Deshalb geht es auch so bergab mit unserem Land! Aber es kann nur die Russe gewesen sein. Die ärgert mich, wo sie kann. Sie hat auch schon mal Kugeln aus Zeitungspapier in meinen Garten geworfen. Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass es keine Steine waren!“

Zwischen diesen beiden Nachbarn war eindeutig keine Liebe verschwendet worden, dachte sich Annamirl. Monika aber stand da und nickte wissend. Das nahm der Nachbar als Aufforderung, weiter zu schimpfen.

„Schauen Sie sich das an: Der Komposthaufen! Der ist viel zu nah an meinem Zaun. Ich hab mich schon beim Landratsamt deswegen beschwert, aber die tun ja nichts! Alle korrupt.“

„Aber wenn es ihr eigener Garten ist – darf sie da nicht machen, was sie will?“, wagte Annamirl anzumerken.

„Na und?“

„Da kann doch das Landratsamt gar nichts machen.“

„So ein Quatsch! Soll ich jetzt vielleicht auch noch Geld für einen Anwalt ausgeben? Soweit kommt’s noch!“ Doktor Günther schnaubte abfällig. „Wozu zahlt man Steuern, frag ich Sie, wenn die einem noch nicht mal bei so einer Sache helfen können?“

„Ja und … wenn Sie mal mit Herrn Russe reden …“

„Es gibt keinen Herrn Russe. Nur einen Neffen. Na ja, der heißt auch Russe, das stimmt schon. Aber mit dem ist auch nicht zu reden. Der raucht im Garten, und der Rauch zieht dann zu mir hinüber – stört ihn gar nicht. Und die vom Landratsamt sagen natürlich wieder, dass sie nichts machen können. Dabei ist das ein klarer Verstoß gegen das Gesundheitsschutzgesetz!“

„Im Freien und im eigenen Garten?“

„Der Rauch zieht zu mir rüber. Also darf er da nicht rauchen!“

„Ja, manche Leute nehmen einfach keine Rücksicht“, merkte Monika an.

„Genau! Und die Russe, die war richtig bösartig. Fragen Sie mal die Hageneck auf der anderen Seite ...“ Er deutete auf das Grundstück, das auf der anderen Seite an das von Frau Russe grenzte. „Was die Alte mit der Katze von der angestellt hat … einfach nur abartig!“

Doktor Günther fuchtelte mit seiner Harke.

Annamirl öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als Loki plötzlich an seiner Leine zerrte und wie verrückt zu kläffen anfing. Monika, die ihn führte, wurde von dem plötzlichen Temperamentsausbruch überrascht und stolperte zur Seite.

„Dein Odin hat wohl was gewittert“, rief sie, als der Hund mit ihr im Schlepptau zu dem Nachbargarten auf der anderen Seite des Russe-Grundstücks rannte.

„Odin ist der weiße“, berichtigte Annamirl ruhig. Sie kannte ihren Hund nur zu gut. Loki drehte beim Anblick eines Vogels oder eines Eichhörnchens gerne mal durch, aber er war harmlos. „War schön, mit Ihnen zu plaudern“, erklärte sie dem Doktor, der jetzt ein wenig verwirrt aussah. „Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen.“ Damit folgte sie Loki und Monika zu dem anderen Garten. Odin trabte brav neben ihr her. Er hatte anscheinend wenig Verständnis für seinen schwarzen Kumpel. Der stand inzwischen am Zaun des anderen Gartens und kläffte sich die Seele aus dem Leib.

„Was hat er bloß?“, wunderte sich Monika.

Auf der anderen Seite des Zauns konnte Annamirl nach kurzem Suchen eine Katze entdecken, die ganz ruhig dasaß und den aufgeregten Hund mit mildem Interesse betrachtete. Sie war ein dreifarbiges Exemplar, das, halb versteckt hinter einem Busch, kaum zu erkennen war. Monika sah sie erst, als Annamirl sie darauf aufmerksam machte.

„Ach, dein kleiner schwarzer Terrier mag wohl keine Katzen? Wieso bleibt denn sein weißes Gegenstück so ruhig?“

„Odin macht sich nichts aus anderen Tieren. Deshalb heißt er ja auch Odin, nach dem obersten der Asen aus der nordischen Mythologie. Loki dagegen ginge auf alles los, was sich bewegt, wenn er dürfte. Deshalb heißt er ja auch Loki, nach dem Störenfried in der nordischen Götterwelt.“ Annamirl betrachtete ihre Freundin von der Seite. „Das hab ich dir aber aber schon hundert Mal erklärt.“

„Und es macht dir immer einen Riesenspaß, mir das zu erklären.“ Monika zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Hört der auch mal wieder auf, sich so aufzuführen?“

Bei dem Haus zum Garten öffnete sich die Terrassentür, und eine Frau trat heraus. Annamirl schätzte sie auf Mitte dreißig. Das musste ‚die Hageneck‘ sein, von der Doktor Günther gesprochen hatte.

„Na, ärgerst du mal wieder die Hunde?“, sprach sie mit der Katze, die daraufhin beleidigt zu ihr aufsah und dann mit hocherhobenem Schwanz davon stolzierte. Loki verstummte. Er schien nicht recht zu wissen, was er davon halten sollte, und setzte sich ratlos auf die Hinterbeine. Odin setzte sich solidarisch dazu.

„Ein wunderschönes Tier“, bemerkte Annamirl, die der Katze mit den Augen folgte. „Wie heißt sie denn?“

„Woher weißt du denn, dass das eine ‚sie‘ ist?“, mischte sich Monika ein.

„Dreifarbige Katzen sind immer weiblich.“

„Ach?“

„Aha, Sie kennen sich aus.“ Frau Hageneck lächelte anerkennend.

„Nur ein wenig“, versicherte Annamirl bescheiden. „Ich bin, wie Sie sehen, eher ein Hundemensch.“

„Hauptsach’ tierlieb.“ Frau Hageneck machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mir ist alles recht. Ich bring noch nicht einmal Spinnen um, obwohl ich sie nicht mag.“

„Na, solange Sie keinen Schreikrampf kriegen, wenn Sie eine sehen.“ Monika lächelte. „Ich hatte mal eine Kollegin, die drehte regelmäßig durch und kam erst wieder, nachdem ich die Spinne zum Fenster hinaus befördert habe …“

„Wenigstens hab’n Sie’s nicht eing’saugt.“

„Nein, das finde ich grausam.“

„Sie haben einen sehr schönen Garten.“ Bewundernd ließ Annamirl den Blick über die Beete streifen, die geradezu überquollen von Tulpen und Stauden, die zum Teil bereits blühten, oder zumindest schon Knospen trugen. Im Sommer war das hier sicherlich ein wahres Blütenmeer. Abgetrennt wurden die Beete nur durch bekieste Pfade. Ein Kirschbaum blühte verschwenderisch, und ein kleiner Weidenbaum am Zaun trug pelzige Kätzchen, an denen sich schon gelbe Staubbeutel gebildet hatten. Annamirl konnte auch eine Kräuterspirale erkennen. Es gab nur ein kleines Stück Rasen bei der Terrasse, alles andere war voller Blumen. Ein kleines Paradies.

„Ja, mein Garten ist mein ganzer Stolz!“ Jetzt strahlte Frau Hageneck. „Und ich leg’ Wert drauf, dass auch die Bienen was davon haben.“

„Ihre Nachbarin sollte sich mal ein Beispiel an Ihnen nehmen“, stellte Annamirl fest mit einem bezeichnenden Blick auf den Unkrautrasen nebenan.

„Hör’n Sie mir auf mit der alten Russe.“ Frau Hageneck fuhr sich durch ihr unordentliches blondes Haar. „Jedes Jahr hatt’ ich Ärger mit ihr, weil angeblich der Samen meiner Blumen in ihren Garten fliegt und austreibt. Selbst wenn’s so wäre, das würde dem ‚Garten‘ nichts schaden. Warum die überhaupt einen Garten hat, geht mir eh nicht ein. Blumen mag sie nicht und Tiere auch nicht. Die ist sogar mit dem Gartenschlauch auf meine Saskia los’gangen, als die sich mal in ihren Garten verirrte. Saskia ist die Katze.“ Sie deutete in die Richtung, in der die Katze verschwunden war. „Hinter dem Fliederbusch da war ein Loch im Zaun. Das hatt’ ich noch nicht g’merkt – abgesehen davon hätt’ die Russe ja auch was dagegen machen können, ist ja auch ihr Zaun. Jedenfalls ist Saskia durch das Loch zu ihr rüber, und die Russe ging mit dem Schlauch auf sie los. Hat den Strahl voll aufdreht, die Russe. Natürlich war Saskia z’ schnell für sie, aber sie hat sogar noch nach ihr g’spritzt, als meine Kleine schon wieder in unserem Garten war.“ Frau Hageneck kniff empört die Lippen zusammen. „Hab auch mal g’seh’n, wie die Russe auf ein Eichhörnchen eing’schimpf hat, das auf ihrem Apfelbaum war“, fuhr sie dann fort. „Ich glaub, das arme Ding wusste gar nicht, was los war.“

Annamirl und Monika nickten unisono. Immerhin war die Frage Apfel- oder Birnbaum damit geklärt.

„Aber das Schlimmste war, als die Russe mal mit einem Spaten auf einen Igel losging!“ Jetzt redete sich Frau Hageneck richtig in Rage. „Ich konnt’ g’rade noch verhindern, dass sie ihn tot schlägt.“ Sie wies auf eine Kiste, die in einer Ecke zwischen den Büschen stand. „Ich hab ein Igelhäuschen, wie Sie sehen. Die armen Viecherl werden ja immer weniger.“

„Und die vielen überfahrenen Igel auf der Straße“, stimmte Monika zu.

„Das liegt daran, dass die armen Kerlchen zu wenig zu fressen finden und dass sie in immer größeren Umkreis suchen müssen. Das sind Insektenfresser und es nutzt gar nichts, wenn sie stattdessen Obst fressen. Wussten Sie, dass Igel bei vollem Obstmagen verhungern können? Oder sie sterben, weil sie zu schwach sind. Deshalb stelle ich ihnen Katzenfutter und Mehlwürmer hin.“

„Und Ihre Nachbarin stört das?“

„Die hat oft rumgezetert desweg’n. Wie ein Fischweib hat S’ g’schimpft! Nannte sie Ungeziefer und verlauste Schmarotzer. Wobei ich zugeb’n muss, dass Igel schon mal Zecken und so was haben können …“ Frau Hageneck warf einen Blick in den Nachbargarten. „Aber was will man schon erwart’n, wenn jemand so einen Garten hat.“

„Na ja, das kann ja jetzt eigentlich nur besser werden, nicht?“, sagte Monika aufmunternd. „Wir haben gerade gehört, dass Ihre Nachbarin gestorben ist.“

„Stimmt. Gestern. Meine Freundin Betty hat sie gefunden. Saß am See auf einer Bank und war plötzlich tot, die Russe.“

„Ach, du meine Güte!“ Monika machte ein entsetztes Gesicht. „Wie konnte das denn passieren?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat die Bosheit ihr das Herz ab’drückt. Oder sie wurde ermordet.“

„Ermordet?“

„Betty hat g’meint, die Polizei war da. Das wär sie doch bestimmt nicht, wenn da nicht was Verdächtiges gewesen wäre.“

Betty, überlegte Annamirl, musste die Krankenschwester sein. Die hatte also die Heldentat, eine Leiche zu finden, ganz allein für sich reklamiert. Nun, das konnte Annamirl ja nur recht sein.

„Aber ein Mord“, warf sie nun zweifelnd ein. „Wer würde denn so etwas tun?“

„Die Russe hat einen Neffen, den Michi. Würde mich nicht wundern, wenn der Schulden hätt’, so wie der mit dem Geld um sich schmeißt.“

„Und haben Sie gar keine Angst, dass jetzt jemand neben Ihnen einzieht, der vielleicht ein Mörder ist?“ Monika warf einen ängstlichen Blick auf das Nachbarhaus, als würde es sich im nächsten Moment in Draculas Schloss verwandeln. „Ich meine, falls er das Haus erbt ...“

„Der Michi hier einziehen?“ Frau Hageneck lachte auf. „Der wohnt doch ganz großkotzig in Gröbenzell! Der wird das Haus verkauf’n, so schnell es geht. Falls er überhaupt was erbt.“

„Wieso das denn?“

„Na ja …“ Frau Hageneck grinste überlegen. „Seit ein paar Wochen kam da fast täglich so ein junger Mann zu der Russe. Ich hab erst denkt, das ist ein Pfleger oder so. Aber wie der mit ihr umgangen ist ... Tat ihr schön ins G’sicht und so. Das war bestimmt kein Pfleger. Und die Russe war ganz vernarrt in den. Und ich hab sie mal zu ihm sagen hör’n, dass sie dafür sorgen wird, dass er alles von ihr kriegt, wenn sie mal nicht mehr ist ...“

„Na, das war doch sehr aufschlussreich!“, freute sich Monika, als sie wieder in Annamirls Zuhause beisammen saßen.

„Ja, da hast du recht“, nickte Annamirl, „ich werde auch so ein Igelhäuschen aufstellen. Ich wusste gar nicht, dass es um die armen Kerlchen so schlecht bestellt ist.“

„Ich meine doch ...“ Monika unterbrach sich. „Ja klar, zieh mich ruhig auf. Und damit du‘s weißt: Mein Garten ist zwar klein, aber einen Platz für so ein Igelhäuschen finde ich bestimmt auch. Aber das ist gar nicht der Punkt, und das weißt du auch! Wir wissen jetzt immerhin, dass die Tote einen Neffen hat und einen geheimnisvollen Typen kannte, der sie besucht und umgarnt hat. Da hätten wir dann schon einmal zwei Mordmotive!“

„Es ist doch noch gar nicht heraus, ob es Mord war.“

„Machst du Witze? Natürlich war es Mord.“ Monika machte ein entrüstetes Gesicht. „Was soll es denn sonst gewesen sein? Wahrscheinlich wurde sie vergiftet. Du hast mir doch erzählt, dass sie eine Thermoskanne dabei hatte.“

Zwei

„Frau Russe hat einen Neffen, der in Gröbenzell wohnt. Anscheinend ihr einziger lebender Verwandter“, erklärte Julia, Patricks Kollegin, mit der er sich ein Büro teilte. „Zumindest spuckt der Computer sonst niemanden aus.“

„Bist du krank?“ Patrick war ein wenig irritiert. Julia und er saßen sich gegenüber und hatten ein freundschaftliches Verhältnis. Im Stillen hatte Patrick immer für seine Kollegin geschwärmt, die war aber bis vor wenigen Monaten in festen Händen. Und seit er Sandra kannte, hatte sich die Schwärmerei ziemlich schnell gelegt.

„Nein, mir geht es gut.“ Julia zog fragend eine Augenbraue hoch. „Wieso?“

„Weil … mein Croissant … es ist immer noch da!“

Patrick brachte immer Croissants für sie beide zum Frühstück mit – und Julia aß ihm seines immer weg, wenn er nicht höllisch aufpasste. Doch heute hatte er die Tüte auf dem Schreibtisch deponiert, während er sich Kaffee holte. Und sein Croissant war immer noch drin.

„Na und? Ich habe eben beschlossen, mal ein wenig netter zu dir zu sein. Es war ja wirklich nicht in Ordnung, dir immer alles weg zu schnabulieren ...“ Julias Gesicht bekam einen spitzbübischen Ausdruck. „Aber ich muss schon sagen, dass es mir verdammt schwer gefallen ist. Also lobe mich entsprechend ausführlich.“

Patrick lachte auf.

„Großes Lob!“, verkündete er großzügig. Dann runzelte er die Stirn. „Noch nichts von der Forensik, nehme ich an?“

„Nein, ich habe nachgefragt und mir einen Anpfiff von Doktor Klose eingefangen. Hat mir erklärt, dass er nur zwei Hände hat und drei Leichen im Kühlraum – was auch immer er damit sagen will. Jedenfalls meinte er, vor heute Nachmittag würde es sicher nichts werden.“

„Dann besuchen wir eben schon mal den Neffen. Der Chef möchte, dass wir uns da drüber machen, als wäre es ein Mord. Wo wohnt der Neffe denn?“

„Ich drucke dir die Adresse aus. Du und der Chef wollen bestimmt gleich hinfahren, oder?“ Julia zog eine Schnute. „Ich wünschte, ich käme auch mal so viel rum wie ihr beide.“

„Du bist unsere Ermittlerin im Hintergrund.“

„Ja, natürlich.“

„Ich frag den Chef gerne, ob er dich mal zur Abwechslung mitnehmen will.“

„Eigentlich dachte ich eher daran, dass wir beide mal zusammen rausfahren.“

„Aber ich bin doch nur ein kleiner HiWi!“

„Ach Unsinn! Du hast doch schon eine Menge Erfahrung!“ Jetzt breitete sich ein Grinsen auf Julias Gesicht aus. „Na, komm, wir fragen den Auerbach einfach mal. Mehr als Nein sagen kann er ja nicht.“

Doch, konnte er, widersprach Patrick im Stillen, sagte es aber nicht laut. Zumindest tendierte Auerbach dazu, ein Nein sehr viel wortreicher auszudrücken. Und dabei war er bei der Wortwahl nicht zimperlich. Mit einem unguten Gefühl folgte er Julia, die sofort zielstrebig aus dem Zimmer ging, um den Chef in seinem Büro aufzusuchen.

Zu Patricks Erstaunen fand Auerbach die Idee aber großartig.

„Das ist ja bloß eine Routinebefragung“, stellte er fest. „Da könnt ihr zwei ned viel falsch machen.“

Nicht gerade ein Kompliment. Aber so oder so, Julia und Patrick machten sich auf den Weg, um Michael Russe, dem Neffen der verstorbenen Afra Russe, einen Besuch abzustatten.

Wie sich herausstellte, bewohnte Michael Russe eine Maisonettewohnung in einem Neubauviertel Gröbenzells, dem man die gehobene Preisklasse ansah. Von außen gediegen, aber doch schlicht, entpuppte sich die Wohnung innen als ziemlich luxuriös. Der Mann, der Patrick und Julia die Tür öffnete, war der Inbegriff eines gepflegten Geschäftsmannes mit sorgfältig gestutztem, blonden Vollbart zu einem modernen Haarschnitt: Oben lang und zu einem Schwänzchen zusammengefasst, dafür an den Seiten kurz rasiert. Patrick fand diese Art von Frisur einfach nur affig. Außerdem roch ihm der Typ zu aufdringlich nach Rasierwasser. Bestimmt furchtbar teuer. Aber musste der Kerl denn gleich darin baden? Julia dagegen schien von Michael Russe erst einmal recht angetan. Das wurmte Patrick, obwohl er sich selber fragte, warum. Es konnte ihm ja schließlich egal sein, was für Männer Julia toll fand.

Russe bat sie mit einer Handbewegung herein und schlug dann die Tür mit Schwung zu.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, als sowohl Julia als auch Patrick erschrocken herumfuhren. „Im April, wenn’s wärmer wird, verzieht sich die Tür immer ein bisschen und klemmt dann. Ich weiß, ich hätte mich längst drum kümmern müssen. Aber bis ich die Zeit finde, ist es wieder Herbst, und alles ist von allein wieder gut.“ Er grinste schief und bedeutete seinen beiden Besuchern, ihm zu folgen.

„Ich muss zugeben, ich bin etwas erstaunt, dass die Polizei zu mir kommt“, erklärte er, als er sie in ein geräumiges Wohnzimmer führte. „Am Tod meiner Tante ist doch sicherlich nichts Verdächtiges. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, danke.“ Patrick schaute sich um. Auf zwei Sofas waren diverse Kleidungsstücke ausgebreitet. Russe bemerkte seinen Blick und stieß ein kurzes Lachen aus.

„Ich checke gerade meine Garderobe nach schwarzer oder wenigstens dunkler Kleidung“, erklärte er mit einer wegwerfenden Geste. „Meine Tante hat immer großen Wert auf Formalitäten gelegt. Bei einem Trauerfall trägt man Schwarz und so. Und als ihr einziger Verwandter bin ich ihr das schuldig.“

„Dann gibt es außer Ihnen niemand, der Ihrer Tante nahestand?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Russe schüttelte den Kopf. „Ich bin alles, was Tante Afra noch an Familie hatte. Sie war die Schwester meines Vaters. Als meine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen, hat sie mich praktisch großgezogen.“

„Praktisch?“

„Na ja …“, wieder dieses kurze Lachen, „sie war nicht gerade das, was man liebevoll nennen könnte. Sie hat nie geheiratet und dementsprechend keine eigenen Kinder. Da war sie wohl etwas überfordert mit mir. Aber setzen Sie sich doch!“

Russe räumte zwei Jacketts und einige Hemden von einem der Sofas. Julia und Patrick nahmen Platz. Russe setzte sich breitbeinig ihnen gegenüber.

„Aber Sie hatten immer noch Kontakt zu Frau Russe?“, nahm Patrick das Gespräch wieder auf.

„Ja, klar. Ich habe sie regelmäßig besucht und war zur Stelle, wenn es mal etwas zu reparieren gab oder so. Außerdem habe ich mich um ihre Finanzen gekümmert. Da verlor sie gern mal die Übersicht. Sie war ja auch nicht mehr die Jüngste.“

„War Ihre Tante wohlhabend?“

„Hm. Ja, ich denke, das kann man so sagen. Sie hat eigentlich immer geknausert, obwohl sie sich ein Leben in Luxus hätte leisten können. Ich lag ihr immer in den Ohren, dass sie mehr Geld in ihr Haus stecken sollte. Sanierungsreif genug war es ja. Und ich als Architekt hätte da schon ein paar gute Ideen gehabt. Aber davon wollte sie nichts wissen. Irgendwie schien es ihr immer die größte Freude zu machen, wenn auf ihren Bankauszügen möglichst viele Stellen vor dem Komma standen.“ Russe grinste.

„Und Sie erben jetzt diese vielen Stellen links vom Komma?“

„Ich …“ Jetzt wurde Russe ernst. „Hören Sie: Ich habe das Geld meiner Tante nicht nötig. Ich führe ein erfolgreiches Architekturbüro. Aber ja, ich bin der Alleinerbe.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute Patrick herausfordernd an. „Selbst wenn ich das Geld nötig hätte“, fuhr er fort, als Patrick nichts sagte, „hätte ich meine Tante nicht umbringen müssen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sie … hm … von uns ging. Sie hatte ein schwaches Herz und war schon über achtzig. Der Arzt verschrieb ihr Medikamente. Die nahm sie aber nicht. Ich konnte machen, was ich wollte. Ich hab ihr so einen Schieber für die Tabletten gekauft – Montag bis Sonntag durchnummeriert – und die Pillen einsortiert. Als ich das nächste Mal zu Besuch war, stand das Ding noch immer unbenutzt herum, und sie hatte nicht eine Tablette genommen. Sie meinte dann, sie hätte die Dinger aus der Packung genommen. Aber ich kenne Tante Afra lange genug, um zu wissen, wann sie lügt. Mit der Wahrheit hat sie es noch nie zu genau genommen.“

„Dann wird die Autopsie Ihre Annahme sicher bestätigen“, versicherte Patrick, der sich im Stillen fragte, warum Russe so genau den Gesundheitszustand seiner Tante beschrieb. „Erlauben Sie mir trotzdem die Frage, wo Sie am Sonntag Vormittag waren?“

„Da war ich mit meiner Verlobten zusammen.“

„Was die Dame bestätigen kann?“, mischte Julia sich zum ersten Mal in das Gespräch ein, nachdem sie bisher eigentlich mehr die geschmackvolle Einrichtung bewundert hatte.

„Natürlich kann sie das!“ Russe begann, ungeduldig mit dem Finger auf die Lehne des Sessels zu klopfen. „Oder wollen Sie mich lieber gleich verhaften?“

„Selbstverständlich nicht.“ Patrick schüttelte den Kopf. „Die Frage ist reine Routine. Und bestimmt haben Sie recht, dass die Untersuchung der Leiche eine ganz natürliche Todesursache ergeben wird. Wir verdächtigen niemanden und wir unterstellen keinem etwas. Wir müssen eben auch unsere Arbeit machen.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Na ja, klar. Das verstehe ich.“ Russe stand unvermittelt auf. „Es ist für alle Seiten unangenehm. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, geh ich kurz auf den Balkon, eine rauchen. Ich möchte keinen Rauch hier drinnen, aber ich könnte jetzt wirklich eine Kippe vertragen. Ich lass die Tür auf, dann können wir weiterreden.“

Ohne die Antwort abzuwarten, öffnete er die Glastür, die auf den Balkon führte, und ging hinaus, wo er sich eine Zigarette ansteckte.

---ENDE DER LESEPROBE---