Erkül Bwaroo auf der Fabelinsel - Ruth M. Fuchs - E-Book

Erkül Bwaroo auf der Fabelinsel E-Book

Ruth M Fuchs

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  • Herausgeber: Raposa
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Der Fall der Sieben Geißlein ist ganz anders, als es das Märchen vermuten lässt. Es ist ein spannender Krimi in bester Agatha Christie-Manier. Graf Alexander von und zu Saragessa ist der Regent einer Insel, die vor allem von Fabelwesen bewohnt wird. Als zwei Geißenmädchen ermordet werden, spricht alles dafür, dass der einzige auf der Insel lebende Wolf der Mörder ist. Doch Alexander von und zu Saragessa ist sich da nicht so sicher und bittet Erkül Bwaroo um Hilfe. Der Elfendetektiv wappnet sich also gegen seine Seekrankheit und reist auf die Insel. Schnell muss er erkennen, dass Fabelwesen so ihre Eigenheiten haben. Und das Morden ist noch nicht zu Ende. Auch in seinem zweiten Fall steht dem Elfen mit dem stattlichen Schnurrbart und dem belgischen Akzent sein unerschütterlicher Diener Orges zur Seite. Allerdings wird der von den amourösen Absichten einer Katzenfrau etwas abgelenkt. Und welche Rolle spielt Bernard Fokke, den man auch den Fliegenden Holländer nennt?

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Inhaltsverzeichnis

Bwaroo sticht in See

Ankunft

Erste Ermittlungen

Am Tatort

Auf der Polizeiwache

Abendessen in Gesellschaft

Nächtliche Rettung

Neue Erkenntnisse

Ein Wolf im Schafspelz

Wiltholm von der Aue

Ein Seebär aus Holland

Im 'Blauen Papagei'

Sirenengesang

Abendliche Begegnungen

Ein weiteres Verbrechen

Nur einer kommt in Frage

Auf ein Wort

Impressum

Erkül Bwaroo auf der Fabelinsel

von Ruth M. Fuchs

Phantastischer Kriminalroman

Impressum

© 2022 Raposa Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

eMail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Chris Schlicht

www.dreamspiral.de

Lektorat: Jochem Reineck

www.ruthmfuchs.de

Für Hermine

Du bist viel zu früh gegangen

Bwaroo sticht in See

Erkül Bwaroo stand an der Reling und blickte gequält in die Gischt. Obwohl die Sonne schien, hatte er drei Seidenschals um den Hals geschlungen und trug außerdem noch einen Mantel. Ja, gegen die Gefahr eines Schnupfens hatte er alles unternommen, aber was konnte man schon gegen die Seekrankheit tun? Der Elf fühlte sich überhaupt nicht wohl. Da half es auch nicht, einfach nicht daran zu denken, wie ihm sein Diener Orges geraten hatte. Erkül Bwaroo wusste, dass er seekrank wurde, sobald er auch nur einen Fuß auf ein Schiff setzte. Und genau so geschah es auch.

„Sieh mal“, hörte er da eine hohe, fast schon schneidende Frauenstimme ein Stück neben sich, „dieses helle Grün ist genau die Farbe, die mein neues Abendkleid haben soll!“

„Welches helle Grün?“ fragte jemand neben ihr, der offenbar ihr Mann war.

„Na, wie das Gesicht dieses Elfen da! Das ist genau die Farbe.“

Unwillig wandte Bwaroo den Kopf in Richtung der Stimme und gewahrte eine pummelige Frau mittleren Alters, die mit dem Finger auf ihn wies. Ihr Gatte neben ihr fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Ob es daran lag, dass seine Frau ein neues Kleid haben wollte oder weil ihm ihre Unhöflichkeit peinlich war, ließ sich unmöglich sagen.

„Ja, Liebling“, presste er schließlich hervor und wandte sich in die andere Richtung, um zu gehen. Aber seine Frau war noch nicht fertig: „Komischer kleiner Kerl“, sie sprach nun nur noch halblaut, doch Bwaroo hatte ausgezeichnete Ohren und verstand jedes Wort. „Guck mal, für einen Elfen ist er aber ziemlich klein. Das ist doch ein Elf oder? Mit einem Kopf wie ein Ei. Vielleicht ist er ja auch ein Mischling. Und er muss kugelrund sein. Obwohl man das ja nicht genau sagen kann, so eingemummelt wie er ist. Bei diesem herrlichen Wetter! Meinst du, der Schnurrbart ist echt?“

„Bien sûr, Madame“, wandte Erkül Bwaroo sich da direkt an sie. „Selbstverständlich ist mein Schnurrbart echt. Wie alles andere übrigens auch, einschließlich meiner Anfälligkeit für Zugluft.“

Wenn er die Absicht gehabt hatte, die Dame in Verlegenheit zu bringen, hatte er keinen Erfolg. Sie lächelte und nickte. Nur widerstrebend ließ sie sich von ihrem Mann wegführen, der zunehmend beschämt schon eine geraume Weile an ihrem Ärmel zupfte.

Der seekranke Elf nahm derweil genau in der Mitte der Bank Platz, die sich vor der Brücke des Postschiffs befand. Dort, so würde er jedem erklärt haben, der ihn danach gefragt hätte, schlingerte das Boot am wenigsten. Wobei man sagen muss, dass das Boot ohnehin nicht schlingerte, denn die See war spiegelglatt und völlig ruhig. Und Bwaroo benahm sich, als würden sie das Meer bei einem Sturm mit Windstärke 7 befahren. Dass ihn das vielleicht lächerlich erscheinen ließ, war ihm, das muss man bewundernd anmerken, völlig egal.

Erkül Bwaroo zupfte seine Seidenschals zurecht und dachte daran, wie er nur in die missliche Situation hatte geraten können, mit diesem Schiff auf dem Meer zu reisen.

Es war nun vier Tage her, dass ihn eine Winddepesche erreicht hatte. Solche Depeschen waren die neueste Mode. Man fing dazu auf magische Art einen Windhauch ein, der dann einen Brief durch die Luft transportierte. Das ging wesentlich schneller als jeder Botendienst und war inzwischen auch für Nichtzauberer nutzbar. Die verschiedenen Vereinigungen der Berufsboten hatten anfangs protestiert und ein Verbot dieser Windnutzung gefordert – mit der Begründung, es handele sich hier um nicht vertretbare Luftbewegungsquälerei. Jedoch stellte sich schnell heraus, dass so ein Wind nicht mehr als ein einzelnes Blatt tragen konnte und dass es sich insgesamt um einen Luxus handelte, den sich nur wirklich betuchte Menschen leisten konnten. Die Botendienste waren überhaupt nicht gefährdet und prompt verebbte auch die Besorgnis um das Wohlbefinden der Winde.

Der Absender der Depesche an den Elfendetektiv war in der Tat reich genug, sich haufenweise Winddepeschen leisten zu können: Graf Alexander von und zu Saragessa, Hochwohlgeboren und gewählter Regent der Insel Saragessa im Jaspischen Meer bat um einen Termin bei Erkül Bwaroo.

Als der Graf tags darauf das Büro des Elfendetektivs betrat, wirkte der eigentlich geräumige Raum plötzlich klein. Der Besucher war aber auch eine sehr stattliche Erscheinung, obwohl er seine Flügel eng angelegt hatte und den Kopf gesenkt hielt. Er versuchte gar nicht erst, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.

Erkül Bwaroo blieb deshalb ebenfalls stehen und betrachtete Alexander von und zu Saragessa mit kaum verhohlener Neugier. Denn obwohl er bereits mit den ungewöhnlichsten Fällen und bizarrsten Orten und Wesen zu tun gehabt hatte, war er bisher noch nie einem Greifen begegnet. Und dieser hier war fürwahr ein Prachtexemplar seiner Spezies. Der Rumpf des Greifen ähnelte dem eines Löwen, der Vorderleib samt Flügeln und Kopf dem eines Adlers. Allerdings hatte er keine Vogelkrallen, sondern Hände ähnlich denen eines Menschen. Federn und Fell waren im gleichen Goldton gehalten, doch um den Hals war ein Ring aus Federn in tiefstem Blau. Auch die großen Ohren hatten an ihren Spitzen einige Federchen in dieser Farbe. Der Elf erinnerte sich daran, dass ein Greif, wie es hieß, ein Pferd mitsamt Wagen emporheben und wegtragen konnte. Das erschien ihm nun gar nicht mehr so unglaublich.

„Sie sind Erkül Bwaroo, der Detektiv?“ eröffnete der Graf das Gespräch.

„A votre service“, der Elf verneigte sich. „Womit kann ich Ihnen dienen, Graf Saragessa?“

Statt einer Antwort fragte der Greif: „Sie kennen Saragessa?“

„Ich war noch nie persönlich dort, aber natürlich kenne ich die dortigen Verhältnisse“, nickte Bwaroo.

„Gut. Dann wissen Sie auch, dass die Insel einst meinem Urgroßvater gehörte. In der schlimmen Zeit, als die Fabelwesen noch nicht als freie Bürger des Landes anerkannt waren, bot er sie den Verfolgten als Zuflucht an. Jetzt ist sie ein eigenständiger Staat, dessen Bewohner ihr Staatsoberhaupt frei wählen...“

„Wobei sie seit vielen Jahren immer wieder Sie wählen.“ Der Elf schmunzelte und fragte sich, ob der Graf sich immer so umständlich ausdrückte oder nur, wenn er nervös war. Denn nervös war er mit Sicherheit. So, wie sich die Federn an seinem Hals sträubten.

„Nun ja.“ Der Greif entspannte sich ein wenig.

„Das spricht doch nur für Ihre weise Regierung“, vermutete der Detektiv.

„Es ist nicht schwer, Fabelwesen glücklich zu machen“, wehrte der Graf in wohl einstudierter Bescheidenheit ab. Er schloss einen Moment die Augen, als müsste er sich selbst dazu zwingen, zum Grund seines Besuches zu kommen.

„Wir sind ein friedliches Volk, Herr Bwaroo“, begann er schließlich. „Wir liegen mit niemandem in Streit und auch untereinander leben wir in Frieden. Doch nun wird unsere kleine Welt von unvorstellbaren Verbrechen heimgesucht.“

Saragessa ist eine weitläufige Insel im Jaspischen Meer, das seinen Namen von den intensiven Rottönen hat, in denen es wegen einer besonderen Algenart schimmert, die dort überall in Ufernähe wächst. Auf der einzigen Insel inmitten dieses Meeres leben fast ausschließlich Fabelwesen. Diese sind sehr darauf bedacht, unter sich zu bleiben. So sind sie vor übereifrigen Großwildjägern sicher. Denn auch heute noch gibt es Personen, die glauben, dass Fabelwesen einfach nur Tiere sind, die zufällig sprechen können. Da es solche Jäger sowohl unter den Menschen als auch bei den Feien gibt, brauchen beide Völker gleichermaßen eine Besuchserlaubnis, um die Insel betreten zu dürfen. Die Überwachung ist streng, die Zahl der erteilten Erlaubnisse gering – was sie umso begehrter bei Touristen macht. Das wiederum hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Wirtschaft und den Wohlstand Saragessas. Natürlich befinden sich nicht sämtliche existierenden Fabelwesen auf der Insel. Da es umgekehrt keinerlei Beschränkungen gibt, leben viele auch auf dem Festland. Erkül Bwaroo hatte zum Beispiel schon einmal einem Einhorn geholfen, das in den Wäldern hinter Laundom, der Heimatstadt des Elfen lebte, und seine Jungfrau verloren hatte. Außerdem war er gut mit einem Drachen befreundet, den er hin und wieder gerne zu einem gemütlichen Grillabend besuchte.

„Ein brutaler Mörder auf Saragessa? Erzählen Sie mir mehr“, bat der Elf nun den Greifen, der ihn völlig verblüfft anschaute.

„Woher wissen Sie?“ brachte er endlich heraus und raschelte unbehaglich mit den Flügeln.

Erkül Bwaroo zuckte die Schultern: „Sie haben in der Mehrzahl gesprochen. Und wenn es unvorstellbare Verbrechen sind, kann es sich wohl kaum um simple Diebstähle oder ähnliches handeln, ja noch nicht einmal um 'einfache' Morde. Denn dergleichen hätte die zuständige Behörde vor Ort sicher selbst aufgeklärt. Voilà, was bleibt, sind mehrere Morde, und sie müssen grausam gewesen sein.“

„Das ist allerdings richtig“, gab der Graf zu. „Wenn man Ihnen so zuhört, klingt es ganz logisch.“

Zufrieden zwirbelte der Elf seinen Schnurrbart und wippte auf den Fußsohlen auf und ab. Wer ihn kannte, wusste, dass ihm ein solches Kompliment sehr gefiel. Da Alexander von und zu Saragessa dem Detektiv bisher noch nie begegnet war, blickte er etwas irritiert drein. Dann beschloss er jedoch, Bwaroos Verhalten zu ignorieren und stattdessen von den Bluttaten zu sprechen: „Die Morde geschahen vor ungefähr zwei Wochen. Zwei Geißenmädchen wurden getötet.“

„Zwei Geißenmädchen?“ Erkül Bwaroo musste zugeben, dass er mit dieser Bezeichnung nichts anfangen konnte.

„Meines Wissens gibt es nicht viele Geißenmenschen“, klärte der Graf ihn großmütig auf. „Man könnte sie auch Ziegenmenschen nennen, aber der andere Begriff hat sich eben eingebürgert... Nun, diese Wesen haben die Gestalt eines Menschen, gehen auch auf zwei Beinen, die allerdings in Ziegenhufen enden statt in Füßen und sie sind ganz und gar von weißem Ziegenfell bedeckt, haben Ziegenohren und Ziegenhörner. Die Männer tragen außerdem auch noch einen Geißbart. Man darf sie auf keinen Fall mit Satyrn, Silenen oder Faunen verwechseln, denn sie sind tatsächlich eine ganz eigene Rasse.“

„Aha“, der kleine Detektiv nickte, „und gleich zwei Mädchen dieser Rasse wurden getötet? Wie waren die genaueren Umstände?“

„Sie wurden auf einem Felsenplateau am Meer gefunden. Ihre Kehlen waren zerfetzt. Ein Wolf oder etwas in dieser Art, den Bissspuren nach zu urteilen, war über sie hergefallen.“

Erkül Bwaroo machte ein bedauerndes Gesicht: „Pauvres petites. Was für eine Familie ist das, die derart heimgesucht wird?“

„Eine ganz normale, allseits beliebte...“ Der Graf schüttelte ungehalten sein Gefieder. „Eine Geiß mit Namen Zieglinde Geißler mit sieben Kindern, äh, ursprünglich sieben Kindern. Sie ist seit drei Jahren verwitwet und arbeitet als Heilerin, da sie ein überragendes Wissen hat, was Heilpflanzen und deren medizinische Wirkung angeht. Besonders ihre Salben und Tees sind sehr gefragt. Die Kinder sind – waren – alle wohlerzogen und freundlich – als sie noch kleiner waren, nannte sie die Nachbarschaft liebevoll nur ‚Die sieben Geißlein’. Die Familie ist nicht reich, aber schuldenfrei und allgemein beliebt. Auch die beiden Mädchen waren überall gern gesehen.“

„Also keine Verdächtigen?“

„Nun ja“, der Greif wiegte den Kopf. „Wenn man nach den Spuren an den Leichen geht... Die Bissspuren gleichen, wie gesagt, denen eines Wolfes.“

„Gibt es denn auf Ihrer Insel Wölfe?“

„Nur einen.“

„Und der kann es nicht gewesen sein?“

„Nun, ja, vielleicht schon. Aber ich kann das nicht glauben!“ Eine energische Kopfbewegung unterstrich die Ablehnung des Greifen. „Wenn Sie ihn kennen würden, wüssten Sie, wovon ich spreche, aber natürlich kann ich mich irren. Wenn er jedoch tatsächlich unschuldig ist, obwohl alle Beweise auf ihn zu deuten scheinen...“ er holte tief Luft. „Ich will Gerechtigkeit und die Sicherheit, dass der Richtige bestraft wird.“

„Sie wollen deshalb, dass ich den Fall untersuche“, folgerte der Elf. „D’accord. Ich bin einverstanden.“

„Wunderbar! Wir fliegen am besten gleich zurück, und Sie können Ihr Gepäck nachschicken lassen“, freute sich Alexander von und zu Saragessa.

Erkül Bwaroo wurde blass.

„Wie meinen Sie das, Herr Graf?“ fragte er unbehaglich.

„Nun, ich nehme Sie auf meinen Rücken und wir fliegen zu meiner Insel.“ Der Greif schien das für die natürlichste Sache der Welt zu halten.

„Absolument pas! Das muss ich zu meinem Bedauern entschieden ablehnen“, wehrte der Elf jedoch sofort vehement ab. „Ich werde leider luftkrank. Ich habe das Fliegen einmal mit einem befreundeten Drachen versucht... Nein, es ist leider ganz unmöglich. Ich werde das Schiff nehmen.“

„Damit verlieren wir aber Zeit“, gab der Graf zu bedenken. Doch der kleine Elfendetektiv blieb hartnäckig bei seiner Weigerung, den Rücken des Greifen zu besteigen. Schließlich hob dieser resigniert die breiten Schultern: „Nun gut, wenn Sie Schiffsreisen besser vertragen...“

„Durchaus nicht“, Bwaroo schüttelte bedauernd den Kopf. „Aber, wissen Sie, wenn einem auf einem Schiff schlecht wird, dann fällt man wenigstens nicht so tief.“

Um nach Saragessa zu gelangen, musste man das Postschiff nehmen, das regelmäßig zwischen der Insel und dem Hafen von Cadric auf dem Festland verkehrte. Bei günstiger Witterung dauerte die Fahrt zwei Tage. Neben Bwaroo und seinem Diener waren die einzigen Passagiere die beiden Menschen, deren nicht gerade salonfähige und entsprechend unwillkommene Bekanntschaft der Elf schon gemacht hatte. Der Kapitän hatte alle zusammen zu einem gemeinsamen Abendessen eingeladen. Doch Erkül Bwaroo verzichtete darauf und begab sich lieber in seine Kabine, um dort still vor sich hin zu leiden. Sein Butler Orges war in solchen Fällen auch kein Trost, da er nicht das leiseste Mitleid zeigte, sondern einfach in seiner stoischen Ruhe verharrte.

So fanden sich nur der Kapitän, der Erste Maat und das Ehepaar bei Tisch ein.

„Nun, Herr und Frau Hagedorn, wie gefällt Ihnen denn die Reise bisher?“ machte der Kapitän höflich Konversation, während die Suppe serviert wurde.

„Sehr schön“, versicherte Herr Hagedorn. Doch seine Frau schien mit dieser knappen Antwort nicht zufrieden: „Es ist ganz zauberhaft! Ich weiß natürlich, dass das Jaspische Meer Jaspisches Meer heißt, weil da ein Pilz im Wasser wächst... Oder war es eine Schneckenart? Egal, jedenfalls weil das Wasser ganz rot erscheint. Zumindest am Anfang. Jetzt ist es ja ganz normal blaugrün, aber immer noch wunderschön. Besonders, wenn die Sonne auf das Wasser scheint und es so schön glitzert. Wirklich ganz entzückend. Ich freue mich ja schon so auf Saragessa. Meinem Mann Berthold und mir ist natürlich bewusst, dass es eine große Ehre ist, die Insel besuchen zu dürfen...“ Vor Stolz bekam Frau Hagedorn ganz rote Bäckchen. Sie warf dem Kapitän einen neckischen Blick zu, was diesen leider nur peinlich berührte, und den Ersten Maat wiederum zu einem breiten Grinsen veranlasste, bis sein Vorgesetzter ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte.

Frau Hagedorn aber strich sich kokett das hennarote Haar zurück, bevor sie gewichtig fortfuhr: „Wissen Sie, wir besuchen unseren Neffen Gerald, mein Mann und ich. Er ist der Privatsekretär von Graf Alexander von und zu Saragessa, Hochwohlgeboren.“

„Ach lass doch, Malvine“, versuchte Berthold Hagedorn den Redestrom seiner Frau einzudämmen.

„Aber warum denn? Den Kapitän interessiert das!“ wehrte sie jedoch nur ab. „Sie haben ja bestimmt nicht oft Passagiere, nicht wahr Kapitän?“

„Eher selten“, murmelte der Angesprochene, während er dem Matrosen, der bediente, seinen leeren Suppenteller reichte.

„Siehst du?“ sagte Malvine Hagedorn triumphierend zu ihrem Mann. Ohne weiter auf ihn zu achten, wandte sich Frau Hagedorn gleich wieder an den Kapitän: „Wir haben ja auch wirklich geglaubt, dass wir die Einzigen wären. Aber nun ist dieser Elf auch da – seltsamer Bursche. Ist sich wohl zu fein, um zu uns zu stoßen.“

„Er ließ sich entschuldigen, da er seekrank ist“, bemerkte der Erste Maat.

„Pah!“ winkte Frau Hagedorn verächtlich ab. „Wie kann man bei einem so ruhigen Meer seekrank werden?“

Die beiden Seeleute tauschten einen Blick. Auch ihnen war es unverständlich, doch sie sagten nichts dazu.

Inzwischen wurde der Hauptgang aufgetragen.

„Ich habe wirklich eine zarte Konstitution“, versicherte die Dame am Tisch derweil eifrig. „Aber ich fühle mich ausgezeichnet! Aber dieser Elf...“

„Lass doch, Malvine!“

„Aber nein! Das ist doch wichtig!“ Malvine Hagedorn wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ich meine, er ist doch wirklich ein Elf, oder? Ich meine, weil er doch so klein ist. Und so rundlich. Ich dachte immer, Elfen wären alle groß, schlank und schön, aber dieser hier... Mit einem Kopf wie ein Ei und einem riesigen Schnurrbart. Und dann so eingemummelt, dass man gar nichts weiter erkennen kann. Ich würde ja schon gern wissen, warum der eine Erlaubnis erhält, die Insel zu besuchen.“

„Zweifellos gib es ernste Gründe, warum Herr Erkül Bwaroo nach Saragessa eingeladen wurde“, versicherte der Kapitän, schnell eine kurze Atempause von Frau Hagedorn nutzend. „Er ist ein berühmter Privatdetektiv.“

„Nanu, berühmt? Also, ich hab noch nie von ihm gehört. Hast du schon von ihm gehört, Berthold?“

„Ich meine schon von ihm gelesen zu...“

„Na bitte! Mein Mann hat auch noch nie von ihm gehört. Sind Sie sicher, dass er nicht nur so ein kleiner Hochstapler ist, der auf die Insel fährt, um die dort lebenden Wesen auszunehmen?“

„Neinnein, bestimmt nicht“, nun lachte der Kapitän zu Malvines Ärger doch tatsächlich laut auf, als hätte sie einen Witz gemacht. Was für ein grober Kerl! Na ja, was wollte man von einem rauen Seemann schon erwarten. Und überhaupt, die Männer waren doch alle gleich. Hatten alle nichts übrig für weibliche Intuition. Malvine Hagedorn fand ihre Vermutung jedenfalls kein bisschen lächerlich. Und so nahm sie sich fest vor, selbst auf diesen seltsamen Elfen ein Auge zu haben.

Inzwischen war man beim Dessert angelangt, und Frau Hagedorn löffelte das fruchtige Sorbet mit geradezu grimmiger Entschlossenheit in sich hinein.

Ankunft

Die Sonne stand hoch am Himmel, als das Schiff am nächsten Tag vor Saragessa vor Anker ging. Die drei Passagiere und Orges, Bwaroos Diener, mussten nun in ein kleines Boot umsteigen, das sie, ihr Gepäck und zahlreiche Postsäcke zur Anlegestelle brachte.

Kaum hatte Erkül Bwaroo wieder festen Boden unter den Füßen, vollzog sich mit ihm eine erstaunliche Verwandlung. Schon nach wenigen Schritten knöpfte er seinen Mantel auf und lockerte die Seidenschals. Und kurze Zeit später legte er beides ganz ab. Während Orges die Kleidungstücke sorgfältig über dem Arm faltete, holte sein Herr tief Luft, straffte die Schultern und hob das Kinn. Er strich sich gewichtig den Schnurrbart und putzte ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel seines eleganten Jacketts.

„Oh, sieh nur, Berthold, da ist Gerald!“ rief da eine Frauenstimme hinter ihm. Und da rannte bereits eine verzückt glucksende Malvine Hagedorn Bwaroo fast über den Haufen, als sie an ihm vorbei stürmte. Augenscheinlich wollte sie möglichst schnell zu einem jungen Mann gelangen, der am Kai wartete. Ihr Mann folgte um einiges gemächlicher.

Der Elf räusperte sich ein wenig unmutig und näherte sich schlendernd der Gruppe. Er wurde Zeuge, wie Frau Hagedorn den als Gerald bezeichneten, dem das sichtlich peinlich war, ausgiebig herzte und abküsste und wie ihm Herr Hagedorn kräftig die Hand schüttelte. Er war eine angenehme Erscheinung mit dunklem Haar und einem Dreitagesbart, wie er zur Zeit bei den Männern modern war. Seine Figur verriet, dass er ausgiebig Sport trieb. Eine Beschäftigung, die Bwaroo stets unverständlich gewesen war. Gekleidet war der junge Mann in einen leichten Anzug mit am Kragen offenem Hemd.

„Onkel, Tante“, lachte er nun gutmütig, „schön dass ihr da seid. Aber ihr müsst mich kurz entschuldigen. Ich bin eigentlich in offizieller Mission...“

Mit diesen Worten wandte er sich dem Detektiv zu, der die Gruppe inzwischen erreicht hatte. „Herr Erkül Bwaroo, nicht wahr?“ rief er und reichte dem Elfen die Hand. „Ich bin Gerald Hagedorn, der Sekretär des Grafen, welcher mich gebeten hat, Sie abzuholen und in sein Haus zu geleiten.“

„Sehr nett“, nickte der Elf, „Dies ist mein Diener Orges und hier mein Gepäck...“

„Und wo werden wir wohnen, Gerald?“ mischte sich da Tante Malvine ein.

„Ich habe Zimmer für euch gemietet...“

„Aber ich dachte, wir wohnen bei dir!“

„Das geht leider nicht. Ich bewohne das kleine Gartenhäuschen auf dem Anwesen des Grafen. Da ist leider kein Platz.“

„Man sollte meinen, der Graf bietet seiner rechten Hand eine bessere Unterkunft...“

„Aber Tante! Ich hatte extra darum gebeten, dort wohnen zu dürfen. Dort ist es ruhig und ich störe niemanden, wenn ich mal länger arbeite.“

„Nun ja, aber ein Gartenhäuschen...“

„Du wirst sehen, es ist ganz wunderbar im 'Harpyiennest'! Podarge, das ist die Harpyie, die das kleine Hotel führt, ist sehr zuvorkommend, und ihr habt die schönsten Zimmer bekommen.“ Gerald drängte seine Tante sanft, aber bestimmt zu der Kutsche, auf die das Gepäck der Hagedorns bereits geladen worden war. „Podarge freut sich schon sehr auf euch – ihr seid zur Zeit die einzigen Gäste.“

„Also, ich kann nicht sagen, dass mich das besonders überzeugt“, klagte Malvine und machte ein unglückliches Gesicht. Sie ließ sich jedoch von Gerald in die Kutsche schieben. Berthold kletterte hinterher.

„Ich besuche euch bald“, versprach ihr Neffe noch, während er dem Kutscher schon ein Zeichen gab loszufahren.

„Verwandte“, wandte er sich dann entschuldigend an Erkül Bwaroo. „Tante Malvine ist eine Seele von Mensch und meint es gut, aber...“

„Pas de problème! Ich verstehe vollkommen“, versicherte Bwaroo großmütig. Im Stillen beglückwünschte er sich jedoch, dass er selbst nicht mit einer Tante dieses Formats gesegnet, oder besser geschlagen war.

Gerald wies ihm derweil den Weg zu einer Kutsche und half ihm beim Einsteigen. Während sie zum Haus seines Auftraggebers fuhren, erkundigte der Elf sich bei Gerald Hagedorn, wie er zu seiner Stellung gekommen war. Der berichtete ihm mit sichtlichem Stolz, dass er sich vor einigen Monaten aufgrund eines Inserats für den Posten beworben habe. Der Graf hatte Gefallen an ihm gefunden und ihn angestellt. Das, so erzählte der junge Mann weiter, sei ein großes Glück für ihn gewesen, denn er habe sich schon immer für Fabelwesen interessiert.

„Soweit ich weiß, bin ich der einzige Mensch, der dauernd auf der Insel lebt“, erklärte er. „Es gibt den einen oder anderen Kobold hier, einige Zwerge, eine Handvoll Gnome und ein paar Elfen. Ein wunderbares Volk, wenn ich so frei sein darf, Herr Bwaroo. Und so vielfältig. Sie sind ein Beltaneelf, nicht wahr? Bei diesen überaus spitzen Ohren...“

„Samhain. Ich wurde an Samhain gezeugt. Aber die Form der Ohren ist ziemlich ähnlich.“ Der Detektiv lächelte freundlich.

„Oh, das wusste ich nicht.“ Gerald machte ein betretenes Gesicht.

„Cela arrive souvent“, winkte Bwaroo aber nur ab. „Selbst Elfen irren sich da schon mal.“

Sie plauderten noch ein wenig, während sie so dahinfuhren. Schließlich wagte Gerald eine Frage, die ihn schon eine Weile beschäftigte.

„Bitte verzeihen Sie meine Neugierde, aber...“ er zögerte, sichtlich verlegen. Doch dann platzte er heraus: „Hat Ihr französischer Akzent denn auch etwas mit Ihrer Samhainnatur zu tun, Herr Bwaroo?“

„Ah non! Keineswegs!“ Erkül Bwaroo lachte herzlich. Der junge Mann an seiner Seite aber atmete hörbar auf, als er merkte, dass der große Detektiv die Frage weder als dreist noch als dumm betrachtete.

„Es ist eigentlich nur eine Grille von mir, une caprice, n'est-ce pas?“ gestand ihm Bwaroo da auch schon. „In meiner Jugend, wissen Sie, bin ich viel gereist. Auch in die Parallelwelt. Dort besuchte ich ein Land, das sich Belgien nennt. Diese Belgier sind ein wunderbares Volk, sehr aufgeschlossen, gerade für uns Feien. Ich habe mich sehr wohlgefühlt dort und blieb entsprechend lange. Und weil man in Belgien französisch spricht, blieb ein wenig davon hängen.“

„Ah, verstehe“, stimmte Gerald eifrig zu.

Zu mehr kam er nicht, denn sie hatten das Haus des Grafen erreicht, wobei 'Haus' eine ziemliche Untertreibung war. Es war eindeutig ein Schloss. Sie standen vor einem dreistöckigen Gebäude mit Seitenflügeln. Das Haupthaus hatte eine säulengestützte Vorhalle, die man über drei Stufen erreichte. Zahlreiche große Rundbogenfenster durchbrachen die ansonsten völlig schmucklose Fassade aus hellen Backsteinen. Das Haus wurde eingerahmt von uralten, efeubewachsenen Eichen und davor befand sich ein Rasen, so akkurat geschnitten, als hätte der Gärtner die Halme einzeln und mit dem Lineal gekürzt. Erkül Bwaroo bewunderte mit einem anerkennenden Nicken die strenge Symmetrie der drei Gebäudeteile und die Leistung des Gärtners. Doch es blieb ihm keine Zeit für lange Betrachtungen, denn Gerald bat ihn schon ins Innere des Hauses, wo Graf Alexander von und zu Saragessa seinen Gast bereits in seinem Arbeitszimmer erwartete.

„Schön, dass Sie endlich da sind“, begrüßte er den Elfendetektiv und lud ihn mit einer Handbewegung ein, auf einem Sessel Platz zu nehmen. „Die Situation hat sich inzwischen merklich zugespitzt.“

„Noch ein Mord?“ fragte Erkül Bwaroo erschüttert.

„Das nicht“, räumte der Greif ein und nahm gegenüber seinem Gast auf dem Boden Platz, „aber am Tag vor meiner Rückkehr verschwand ein Sohn der Familie Geißler und zwar das zweitjüngste Kind. Wir haben alles abgesucht, aber er bleibt verschwunden.“

„Aber dann könnte er zumindest noch leben“, gab Bwaroo zu bedenken.

„Oder die Leiche wurde irgendwo verscharrt.“ Der Graf seufzte. Mit einer einladenden Geste bot er dem Elfen verschiedene Getränke an, die zwischen den Sesseln auf einem Servierwagen aufgereiht standen.

„Weiß man, wann und wo der Junge verschwand?“ wollte der nun wissen und lehnte zugleich mit einer verneinenden Kopfbewegung etwas zu Trinken ab.

„Er verließ nach dem Mittagessen sein Elternhaus, um mit einem Freund spielen zu gehen, wie er sagte. Als er nicht zur vereinbarten Zeit zurückkehrte, ging Zieglinde Geißler zu dem Haus des Freundes, um ihren Sohn abzuholen, erfuhr jedoch, dass er dort gar nicht gewesen war. Man hatte ihn auch nicht erwartet.“

„Seltsam.“

„Wenn Sie mich fragen, hat man ihn mit irgendwelchen Versprechungen weggelockt. Heimtückisch und hinterhältig.“ Graf Alexanders Schnabel zitterte vor lauter Empörung. „Die Bevölkerung ist entsprechend aufgebracht. Außerdem gibt es inzwischen Gerüchte, obwohl ich angeordnet hatte, dass die Sache mit den Bissspuren geheim gehalten werden muss. Aber es ist wohl trotzdem etwas durchgesickert, und die Leute wissen natürlich, dass es auf der Insel nur einen einzigen Wolf gibt. Erste Rufe nach Selbstjustiz konnte ich noch zum Verstummen bringen. Ich habe daran erinnert, dass es ja auch ein großer Hund sein könnte, und es gibt hier mindestens zwei Bewohner, die sich große – und auch scharfe – Hunde halten. Einer davon bin übrigens ich.“

„Ah, c'est très intelligent!“ Der Detektiv schmunzelte. „Es ist natürlich nicht so einfach, den eigenen Regenten zu beschuldigen.“

„Richtig“, bestätigte Alexander von und zu Saragessa mit ernster Miene. „Aber ich weiß nicht, wie lange das noch anhalten wird, zumal man unseren Wolf sowieso etwas misstrauisch betrachtet.“

„Wieso das?“

„Nun ja... Am besten machen Sie sich selbst ein Bild von ihm, denn ich möchte Sie da nicht beeinflussen. Ich nehme an, Sie werden auf jeden Fall mit ihm reden wollen.“

„Allerdings. Aber vorher möchte ich mit der Mutter der Familie Geißler sprechen.“

„Muss das sein? Zieglinde Geißler ist mit ihren Nerven verständlicherweise am Ende und völlig am Boden zerstört.“

„So gern ich auf ihre Trauer Rücksicht nähme...“ Bwaroo richtete sich selbstbewusst in seinem Sessel auf. „Aber es ist unumgänglich, dass ich mit ihr, ihren Kindern und eventuellen Zeugen spreche. Ich brauche Informationen aus erster Hand, damit die kleinen grauen Zellen effektiv arbeiten können.“

„Natürlich wissen Sie am Besten, was zu tun ist“, lenkte der Greif, wenn auch widerwillig, ein. Dann erhob er sich. Ein klares Zeichen, dass er das Gespräch als vorerst beendet betrachtete.

„Gestatten Sie mir noch eine Frage“, bat der Elf, während er ebenfalls aufstand.

„Bitte.“ Der Graf nickte, schaute jedoch ein wenig missbilligend drein.

„Nur um es ein für allemal ausschließen zu können... Wo waren Sie in der Nacht in der die Mädchen ermordet wurden? Wie Sie ja selbst sagten, haben auch Sie ein paar Hunde, die die Bissspuren verursacht haben könnten.“

„Verstehe, das müssen Sie natürlich fragen.“ Jetzt schien Graf Alexander sogar ein wenig zu lächeln. „Meine Gattin hat vor kurzem zwei Eier gelegt und hütet das Nest. Daher verbringe ich jeden Abend bei meiner Gemahlin und den zukünftigen Kleinen.“

„Ich gratuliere“, versicherte Bwaroo. „Und danach?“

„Gehe ich gewöhnlich schlafen.“

„In der Nacht, in der das Verbrechen an den Mädchen geschah, auch?“

„Weshalb... nun ja, doch.“ Der Graf geriet etwas aus der Fassung. „Ich erinnere mich, an diesem Abend sogar besonders früh schlafen gegangen zu sein.“

„Was bestimmt jemand von der Dienerschaft bestätigen kann?“

„Das nehme ich an. Genau weiß ich es selbstverständlich nicht.“ Graf Alexander bemerkte Bwaroos skeptischen Blick. „Was wollen Sie denn damit andeuten?“ begehrte er auf. „Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich diese entzückenden Mädchen...“

„Ich unterstelle gar nichts“, verwahrte sich der Elf. „Ich sammle nur die Fakten. Wie etwa die, dass die Mädchen in Ihren Augen entzückend waren.“

„Ach Unsinn. Ich kannte die Mädchen ja gar nicht.“ Unmutig sträubte der Greif sein Nackengefieder. „Oder besser, nur vom Sehen. Sie waren hübsch, aber sehr schüchtern. Das ist alles, was ich über sie weiß.“

„Mais laissons cela de côté.“ Der Detektiv machte eine abschließende Handbewegung. „Und wo waren Sie an dem Tag, an dem der Junge entführt wurde?“

„An diesem Tag war ich mit meinem Aufseher am Hafen, um eine Lieferung zu überwachen. Leuchtkugeln, wissen Sie? Wir haben keinen eigenen Magier auf der Insel, deshalb müssen wir solche Dinge vom Festland importieren. Der Aufseher kann bestätigen, dass ich den ganzen Nachmittag mit ihm zusammen war.“

„Bon“, nickte der Elf zufrieden und machte Anstalten, sich nun wirklich zurückzuziehen.

„Gerald kann Sie bei Ihren Besuchen auf der Insel überall hin begleiten“, merkte Graf Alexander noch an, während er nach einer kleinen silbernen Glocke griff, die auf dem Tischchen stand, und läutete. „Er kennt die Wege und die Bewohner der Insel inzwischen bereits ganz gut, und ich habe ihn bereits vorerst von all seinen anderen Aufgaben entbunden, damit er Ihnen ganz zur Verfügung stehen kann. Sicherlich wollen Sie jetzt ein wenig ruhen und sich etwas frisch machen. Ich lasse Sie zu Ihrem Zimmer bringen.“

Er gab einem livrierten Diener, der inzwischen eingetreten war, entsprechende Anweisungen und Bwaroo folgte diesem in den rechten Flügel des Schlosses, wo ein Gästezimmer im zweiten Stock auf ihn wartete.

***

Erkül Bwaroo stand in der Mitte des ihm zugewiesenen Zimmers und sah sich unglücklich um.

„Leider erwies sich das Bett als zu schwer, um es verschieben zu können“, erklärte ihm Orges mit unbewegter Miene.

Sein Dienstherr legte den Kopf schief und betrachtete das besagte Möbelstück. Es war ein Himmelbett aus massiver Eiche, reich mit Schnitzereien versehen und mit schweren, grünen Vorhängen. Ein schönes Bett. Und sicherlich auch sehr bequem. Aber es stand an der rechten Wand, etwa ein Drittel der Wandbreite vom Fenster entfernt. Das war für Erkül Bwaroo ein ernstzunehmendes Problem. Sein ausgeprägter Ordnungssinn war nur bei symmetrischen Anordnungen zufrieden. Alles andere bereitete ihm Unbehagen. Die Bettstatt hätte also in der Mitte der Wand stehen müssen. Dass es das so beharrlich nicht tat und durch seine Unverrückbarkeit auch noch jede Korrektur verhinderte, verdross den Elf.

Zur Beruhigung wandte er sich dem offenen Kamin zu, der sich an der gegenüberliegenden Wand und glücklicherweise in deren Mitte befand. Fast unbewusst begann er, die Gegenstände auf dem Kaminsims neu zu ordnen: Der Kerzenständer aus Messing kam in die Mitte und zu beiden Seiten in genau gleichem Abstand vier Porzellanfiguren, die ländliche Charaktere wie Schäfer und Bauern darstellten.

Als er sich wieder umdrehte, fiel sein Blick erneut auf das Bett und er seufzte.

„Besteht die Möglichkeit“, fragte er schließlich, „wenn wir gemeinsam schieben, dass...“

„Ich fürchte, nein“, erwiderte Orges. „Ich hatte mir erlaubt, den jungen Mann, der das Gepäck herauf brachte, um Mithilfe zu bitten. Das Bett bewegte sich jedoch nicht einmal um Haaresbreite, wenn ich das so sagen darf.“

„Oh, je comprend“, bedauerte der wohlbeleibte Elf.

Eine Weile blickte er sinnend auf das störrische Möbelstück. Doch dann richtete er sich auf.

„Ich werde nicht zulassen, dass dieses Bett meine Arbeit beeinträchtigt“, verkündete er mit Nachdruck. „Erkül Bwaroos graue Zellen werden nicht in Mitleidenschaft gezogen werden, selbst wenn ich keine Nacht ein Auge zu tun werde.“

Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Vor ihm breitete sich ein Park nach englischer Art aus – scheinbare Wildnis, von kundiger Hand gebändigt. Der Elf hätte einen Barockgarten natürlich bevorzugt, musste jedoch anerkennen, dass der Park auf seine Art sehr gepflegt war. Das Unterholz zwischen den Bäumen war praktisch entfernt worden, die Wege ordentlich gekiest. Büsche und Blumen standen in ansprechenden Gruppen beisammen. Na, wenigstens etwas.

„Orges“, wandte er sich nach einer Weile an seinen Diener. „Was halten Sie davon: eine Geißenfamilie, deren Kinder nach und nach ermordet werden?“

Der Angesprochene hüstelte diskret.

„Vielleicht haben sie zu viel gemeckert“, merkte er dann an.

„Oh, ich denke, Ziegenmenschen bedienen sich durchaus unserer gebräuchlichen Sprache“, klärte sein Herr ihn auf.

„Ich meinte dies im übertragenen Sinne“, korrigierte Orges jedoch sofort, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ah! C'est une chose différente!“ Der Elfendetektiv schmunzelte. „Sie meinen, dass die Familie jemandem lästig ist? Oder wenigstens die Kinder?“

„In der Tat.“

„Ja, das wäre tatsächlich möglich“, sinnierte Bwaroo. „Um das beurteilen zu können, muss ich sie aber erst einmal kennenlernen.“

„Persönliche Erfahrung ist in der Regel zweifelsohne von Nutzen.“

„Wie recht Sie doch haben!“ Der Elf strahlte seinen Diener an.

---ENDE DER LESEPROBE---