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Die staade Zeit … hat’s in sich! Quirin Kammermeier, Hauptkommissar aus Straubing, freut sich auf sein erstes gemeinsames Weihnachten mit seinem Freund Kurt im schwäbischen Tuttlingen. Da schreckt ihn ein Anruf seines Kollegen Rolf auf: Sabine, Quirins langjährige Kollegin und gute Freundin, steht unter Mordverdacht. Und es sieht gar nicht gut für sie aus. Sofort lässt Quirin alles stehen und liegen, um ihr zu Hilfe zu eilen. Aber das ist gar nicht so einfach, denn offiziell darf er nicht ermitteln. So muss er auf recht unkonventionelle Methoden zurückgreifen, um vielleicht doch noch herauszufinden, wer der wahre Mörder ist. Und das bedeutet, dass er auch bereit sein muss, ein großes Risiko einzugehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Siebzehnter Dezember
Achtzehnter Dezember
Neunzehnter Dezember
Zwanzigster Dezember
Einundzwanzigster Dezember
Zweiundzwanzigster Dezember
Dreiundzwanzigster Dezember
Bayrisch - deutsch
Anmerkung
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Bücher von Ruth M. Fuchs
Tod eines Haderlumpen
ein Niederbayernkrimi
von Ruth M. Fuchs
Kriminalroman
Impressum
© 2022 Raposa
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs
c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
eMail: [email protected]
Bild und Umschlaggestaltung: Ruth Fuchs
Lektorat: Jochem Reineck
www.ruthmfuchs.de
„Ich hätte gerne eine Sesamsemmel.“
„Eine was?“
„Na ja, diese runden Dinger hier mit Sesam drauf ...“
„Ach, zwei Sesamweggä!“
Natürlich. Quirin schlug sich innerlich an die Stirn. Die Schwaben sagten ja Wecken, beziehungsweise Weggä, nicht Semmeln. In Bayern war ein Wecken ein großes rundes Brot, im Gegensatz zum Laib, der ein ovales Brot meinte. Dass Wecken jetzt auch Semmeln waren, daran musste er sich erst gewöhnen.
„Und dann noch zwei Seelen, einen … äh …“, er überlegte fieberhaft, „Zipflwecken …“, da war er ganz stolz auf sich, „und zwei Breznstangerl.“
„Brezlä sind die hier.“
Die Dame streckte schon die Hand aus, aber Quirin hielt sie auf.
„Nein, nein! Die da!“ Er deutete.
„Das sind Laugespitz.“
Die Dame an der Theke lachte vergnügt, als sie Quirins verdutztes Gesicht sah.
„Wie händ Sie des g‘nennt?“, fragte sie nach.
„Brezenstangerl.“ Quirin kam sich plötzlich dumm vor.
„Wieder was g‘lernt ...“, stellte die Dame fest, während sie das Gewünschte in eine Tüte packte und ihm hinhielt. „Sie sind net von da, gell?“
„Nein. Ich bin ein Neig‘schmeckter.“ Er ließ sich von dem freundlichen Lachen der Bedienung anstecken, während er nach seinem Geldbeutel fischte. „Aber ich bemüh‘ mich.“
„Das kommt schon noch“, tröstete die Frau. „Muss es ja. Denn mir könnet alles außer hochdeutsch.“ Sie zwinkerte ihm noch zu, bevor sie sich dem nächsten Kunden zuwandte.
Quirin packte seine hart erarbeiteten Backwaren in den Rucksack und verließ die Bäckerei, um zu Kurts Haus im Brunnental zurückzukehren.
Tuttlingen gefiel ihm. Im Moment sah es allerdings nicht wirklich einladend aus. Die kahlen Bäume und Grünflächen gaben dem Ort etwas Tristes. Selbst die Burgruine auf dem Honberg – er hob den Kopf und schaute hinauf – sah irgendwie bedrohlich aus. Aber welcher Ort sah schon schön aus in einem Winter ohne Schnee und mit einem bleifarbenen Himmel, der wie ein Deckel über allem lag. Als er im Sommer hier gewesen war, hatte er alles ganz zauberhaft gefunden. Besonders gefiel ihm, dass man eigentlich von jedem Punkt der Stadt aus nicht mehr als eine Viertelstunde brauchte, um im Grünen zu stehen. Die Tuttlinger hatten Wert darauf gelegt, dass die Berge, na ja, vielleicht eher Hügel, in deren Täler sich der Ort schmiegte, nicht bebaut wurden. Wald und Wiesen waren also geblieben. So konnte es sogar passieren, dass eine Schafherde mitten durch den Ort zog, wenn sie von einer Weide zur nächsten wechselte.
Wieder einmal überlegte Quirin, ob er auf Dauer hier leben wollte. Noch war es zu früh, um sich zu entscheiden. Aber sollte sich seine Beziehung mit Kurt weiter vertiefen, musste er sich fragen, ob er tatsächlich Straubing und seine Freunde hinter sich lassen und nach Tuttlingen ziehen wollte oder nicht. Dass umgekehrt Kurt nach Straubing wechselte, kam nicht in Frage. Kurt war Chirurgiemechaniker von Beruf, was bedeutete, dass er außerhalb von Tuttlingen – der Hochburg für medizinische Instrumente – schwerlich einen Job bekam. Und dann war da ja auch noch sein zweites Standbein: Er besaß mehrere Streuwiesen und verarbeitete das Obst zu hochpreisigen und nichtsdestotrotz begehrten Bränden und Likören. Er musste vor Ort sein. Quirin seufzte.
Doch als Kurts Haus in Sicht kam, hellte sich seine Stimmung wieder auf. Das Haus war ein kleines Schmuckstück, das direkt am Fuß des Honbergs lag – im Brunnental, dem schönsten der Täler, in denen Tuttlingen sich ausbreitete. Behauptete zumindest Kurt. Und Quirin wollte ihm gerne glauben. Er schob den Gedanken an die ungewisse Zukunft energisch beiseite. Er war hergekommen, um Weihnachten und den Jahreswechsel hier zu feiern. Die Vorfreude darauf sollte ihm nichts verderben. Und überhaupt: Jetzt gab es erst einmal Frühstück, na ja, eher Brunch. Der Geruch von Eiern mit Speck wehte ihm entgegen, als er in den Hausflur trat.
„Das riecht köstlich“, lobte er Kurt, den er in der Küche am Herd fand.
„Du kommst genau richtig“, antwortete der lachend. „Setz dich schon mal.“
Wenig später stellte er einen Teller mit zwei perfekten Spiegeleiern und mehreren Scheiben knusprig gebratenen Specks vor Quirin. Der Tisch war außerdem mit verschiedenen Konfitüren und Butter bestückt, und in großen Bechern dampfte frischer Kaffee. Dazu stellte Kurt noch ein Körbchen mit Quirins Einkäufen, bevor er sich selber setzte.
„Und es ist dir wirklich recht, wenn wir René und Karl zu Heiligabend einladen?“, fragte Kurt, als sie eine Weile gegessen hatten.
„Aber ja!“, nickte Quirin. „Ich mag die beiden.“ Er erinnerte sich, wie er das Paar bei einem Besuch im Spätsommer kennengelernt hatte. Beide gingen auf die sechzig zu. René, ein Chaot, der fast immer in ausgeleierten Jeans herumlief, war in Gestik und Ausdrucksweise so ziemlich das Klischee eines Schwulen schlechthin. Und daneben Karl, der Renaissancemensch mit Siegelring am manikürten Ringfinger und akkurat gestutztem grauen Bart, immer eine dezente Brosche am Revers des maßgeschneiderten Anzugs. René nannte ihn liebevoll ‚mein Prinz Charles‘, und irgendwie passte das wirklich sehr gut – mal abgesehen davon, dass Karl wesentlich dichteres Haar hatte als der britische Thronfolger. Karl nannte René dafür ‚Hase Cäsar‘, in Erinnerung an die gleichnamige Handpuppe, die zusammen mit dem Schauspieler René Körner und später mit Arno Görke Anfang der Siebziger eine Kindersendung moderiert hatte. René antwortete dann stets mit dem berühmten „Biddeschööön!“ des Hasen. Einen stärkeren Kontrast als die beiden konnte sich Quirin kaum vorstellen – eine so offensichtlich innige Verbundenheit aber auch nicht. Mit diesen beiden versprach das Weihnachtsfest sehr lustig zu werden.
„Na ja, eigentlich ist Weihnachten ein Familienfest ...“ gab Kurt zu bedenken. „Nun hab ich leider keine mehr.“
„Und ich, ich habe eine Mutter, die irgendwo in der Weltgeschichte herum gondelt auf der Suche nach ihrer inneren Mitte, einen Vater, der mit seiner neuen Frau auf Mallorca lebt, und einen Bruder, der nicht mehr mit mir spricht.“ Quirin zuckte die Achseln. Kurt wollte wegen des Bruders nachfragen, bemerkte aber den bitteren Zug um Quirins Mund, den der jedes Mal bekam, wenn die Sprache auf Xaver, Quirins älteren Bruder, kam.
„Na, dann ist das geklärt“, meinte Kurt also lieber. „Ich sag den beiden, sie sollen so um sieben da sein, in Ordnung? Wie ich René kenne, kommen sie ohnehin nicht vor Viertel acht.“
„Großzügig verspätet. Über eine Stunde ...“
„Über eine Stunde? Wie kommst du denn da drauf?“
„Na ja, viertel nach acht …“
„Viertel acht.“ Kurt lachte auf. Dann wies er auf das Zifferblatt der Uhr: „Viertel, halb, dreiviertel … Halb acht und Dreiviertel acht sagt dir was, oder? Viertel acht kommt davor.“
„Eigentlich logisch“, meinte Quirin und schmunzelte. „Ich seh schon, ich muss noch viel lernen …“
„Ach, das kommt ganz von allein, wenn du ein paar Mal zu spät zu Verabredungen kommst“, grinste Kurt.
„Jedenfalls ist sieben Uhr gut – die richtige Zeit zum Abendessen. Was gibt’s denn?“
„Was ganz einfaches: Linsen mit Spätzle und Saitenwürschtle. Da darfst du dich zum ersten Mal an den Spätzle versuchen.“
„Ich? Du willst wirklich einen großen Klumpen Nudelteig zu deinen Linsen?“
„Das klappt schon. Du musst ja kein Brett nehmen, wir haben eine Reibe.“
„Hm, auf deine Verantwortung.“ Quirin sah wenig Chancen, das hinzubekommen. Seine größte Leistung beim Kochen waren Rühreier. Aber die klappten hervorragend. Kurt dagegen kochte ausgezeichnet. Und die schwäbische Küche sagte Quirin sehr zu. Besonders Linsen liebte er.
„Hast du eigentlich schon Pläne für Silvester?“, schnitt er nach einer Weile ein anderes Thema an.
„Da müssen wir unbedingt auf den Honberg“, schlug Kurt eifrig vor. „Du wirst sehen, dieser Blick von oben auf die erleuchtete Stadt und das Feuerwerk: wunderschön.“
„Das glaube ich gern“, versicherte Quirin. „Ist die Burgruine eigentlich echt? Ich meine, manche Adlige haben sich ja im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert extra Ruinen bauen lassen, weil sie das romantisch fanden.“
„Die Burg – na ja, eigentlich war‘s ja bloß eine Festung – hat der Graf Eberhard im Bart ...“ Kurt lachte, als Quirin erstaunt die Augenbrauen hob, „ja, der hieß wirklich so! Also, der hat sie im fünfzehnten Jahrhundert erbaut. Aber sie hat den Dreißigjährigen Krieg nicht überlebt – weil die eigenen Leute sie zerstört haben. Angeblich, weil man die Stadt vor dem überlegenen Feind schützen wollte. So steht‘s zumindest auf der Tafel an einem der Türme. Böse Zungen behaupten aber, die Tuttlinger hätten schlecht gezielt und dann aus der Not eine Tugend gemacht.“
„Aber die beiden Türme haben sie stehen lassen?“
„Nein, die wurden im neunzehnten Jahrhundert wieder aufgebaut. Damals fand man das romantisch.“
„In der ursprünglichen Form?“
„Nein. Eher so, wie man sich damals halt mittelalterliche Burgen vorgestellt hat. Es war auch wirklich nicht mehr viel da, worauf man hätte aufbauen können. Nach dem großen Brand 1803, bei dem praktisch ganz Tuttlingen in Rauch aufgegangen ist, hat man außerdem viele Steine von der Burg zum Wiederaufbau hergenommen.“
„Von dem Brand habe ich schon gehört. Aber wie kam es eigentlich dazu? Brandbomben? Oder ein verrückter Brandstifter, der etwas gegen die ganze Stadt hatte und mehrfach Feuer legte?“
„Nein!“ Kurt lachte. „Schwäbische Sparsamkeit.“
„Wie bitte?“
„Der Brand brach erst einmal in einem einzigen Haus aus, bei der Hausschlachtung. Es heißt, der Hausbewohner hat alle, die löschen helfen wollten, wieder weggeschickt, weil er sich die Metzelsuppe für die Helfer sparen wollte, die er dann hätte spendieren müssen. Er war sozusagen der Inbegriff des geizigen Schwaben. Allein hat er‘s aber nicht geschafft. Das Feuer griff um sich und alles brannte nieder. Damals hat man ja noch vor allem mit Holz gebaut. Nur die Häuser jenseits der Donau blieben stehen, weil der Fluss verhinderte, dass der Brand übergriff.“
„Und eine Metzelsuppe ist was?“
„Eine Suppe mit Schweinefleisch, dem Brät von Blut- und Leberwurst und Nudeln, gegart in der Wurstbrühe vom Schlachten. Viel g‘spart hat er da nicht.“
„Klingt lecker.“
„Ich kann dir gern mal eine machen.“
Quirin nickte begeistert. Noch eine vielversprechende schwäbische Spezialität! Doch zu einer Antwort kam er nicht, denn sein Handy klingelte.
„Wer um alles in der Welt ist das denn?“ Unwillig blickte er auf das Display. „Rolf? Um diese Zeit? Na, das kann bis nach dem Frühstück warten.“
„Nein, geh ruhig ran, es ist vielleicht wichtig“, drängte Kurt. Er hatte Quirins Kollegen als ‚ein bayerisches Urviech‘ kennengelernt. So hatte Rolf sich selber lachend vorgestellt: Manchmal ein wenig rau und mokant, aber herzlich und zuverlässig, wenn es darauf ankam. Wenn der bei Quirin anrief, obwohl er ihn in Tuttlingen wusste, dann musste etwas passiert sein.
Im Prinzip teilte Quirin Kurts Meinung. Er war nur nicht geneigt, sich die angenehme Stimmung verderben zu lassen. Aber er nickte Kurt dankbar zu.
„Hallo, Rolf!“, meldete er sich. „Du rufst hoffentlich nicht an, weil es einen Mord gab und eine Grippewelle alle Kollegen dahingerafft hat, so dass ich meinen Urlaub abbrechen muss.“ Quirin hoffte ja trotz allem, dass sein Freund und Kollege lediglich vorgezogene Weihnachtswünsche loswerden wollte, gepaart mit irgendeiner spaßigen Bemerkung. Doch Rolf klang todernst, als er antwortete.
„Quirin! Du musst sofort zurückkommen. Sabine steht unter Mordverdacht.“
***
Quirin packte seinen Kulturbeutel in den Rucksack. Kurt lehnte im Türrahmen und schaute ihm dabei zu.
„Tut mir leid, dass ich schon wieder gehe, kaum dass ich gekommen bin“, meinte Quirin und zog den Reißverschluss des Rucksacks zu.
„Na hör mal! Eine Freundin ist in Schwierigkeiten. Selbstverständlich musst du fahren!“, widersprach Kurt vehement. „Aber ich kann das gar nicht glauben – deine Kollegin eine Mörderin?“ Er kannte Sabine nicht persönlich, denn als er Quirin kennengelernt hatte, war sie gerade auf Hochzeitsreise gewesen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine Kripobeamtin, von der Quirin in den höchsten Tönen sprach, überhaupt unter Mordverdacht geraten konnte. „Hat sie bei einem Einsatz jemanden erschossen?“
„Nein, so einfach ist es wohl nicht.“ Quirin schüttelte den Kopf. „Aber so genau weiß ich es gar nicht. Rolf wollte sich am Telefon nicht weiter darüber auslassen. Ich erzähl dir mehr, wenn ich Bescheid weiß.“
Quirin schnappte sich seine Jacke und sah sich suchend um. Wo war seine Mütze? Nie war sie da, wo er sie vermutete. Das Ding schien sich mit voller Absicht zu verstecken!
Mit einem schiefen Grinsen hielt Kurt Quirin die gesuchte Wollmütze hin. Er zögerte ein wenig, ehe er schüchtern meinte: „Ich könnte mitkommen ...“
„Ach Kurt, das ist wirklich lieb von dir!“ Quirin wurde warm ums Herz. Doch dann sagte er ernst: „Aber ich fürchte, du würdest dich langweilen, vor allem weil Frau Mühldorfer auch nicht da ist. Ich hab dir ja erzählt, dass sie dieses Mal Weihnachten bei ihrer Schwägerin in Italien feiert.“
„Ja, klar.“ Kurt nickte. „Na, das macht nichts. Dann kann ich in Ruhe den Baum hinterm Haus schmücken und vielleicht geh ich doch zu Luisa und helf ihr Brödle, also Weihnachtsplätzchen, backen.“
„Luisa? War das nicht die, die sich bei unserem ersten Besuch nicht mehr erinnern konnte, wohin sie den Gin gestellt hatte, und wir dann Tonic pur getrunken haben?“
„Genau die. Sie ist eine Meisterin, Dinge zu verlegen. Bin gespannt, wo sie das Mehl hingeräumt hat.“
Kurt lächelte, aber er sah gar nicht glücklich aus. Quirin konnte ihn gut verstehen.
„Hör zu, es sind nur ein paar Tage“, versuchte er zu trösten. „Ich nehm noch nicht mal meine Kleidung mit. Und ich verspreche dir, dass ich an Heiligabend wieder da sein werde! Du und ich, wir werden Weihnachten zusammen feiern.“
Spontan umarmte er ihn und gab ihm einen Kuss.
„Ich freu mich drauf“, versicherte Kurt. „Aber jetzt mach, dass du wegkommst. Du hast eine Freundin, die dich braucht.“
***
Fünf Stunden später saß Quirin bei Rolf im Wohnzimmer. Er war von Tuttlingen nach Straubing ohne Stopp durchgefahren und hatte sich noch nicht einmal damit aufgehalten, bei sich daheim vorbeizuschauen.
„Also, dann erzähl mal“, forderte er Rolf auf.
Rolfs Frau Resi hatte den beiden Männern Kaffee und einen selbstgebackenen Gugelhupf hingestellt und war dann diskret aus dem Zimmer gegangen. Rolf und Quirin waren allein.
„Sagt dir der Name Wolfgang Tressler ebbs?“ Rolf nahm einen Bissen Gugelhupf.
„Hm. Gehört hab ich von ihm. Hat seine Finger angeblich in so einigen zwielichtigen Geschäften.“
„Genau der. Ein echter Haderlump, dem man ois zutrauen kann. Erpressung, Einbruch, Drogen … such dir ebbs aus, der Tressler ist bestimmt dabei. Leider hamm wir eahm immer nur kloane Sach‘n nachweis‘n können. Aber dann haben wir Hinweise ‘kriagt, dass er was mit der Entführung von an‘m kloana Buam zu tun g‘habt hat.“
„Das habe ich mitbekommen. Sabine und du bekamen die Sache zugeteilt, weil der Schröder mir den Urlaub nicht verderben wollte. Deswegen weiß ich jetzt auch nichts Genaueres.“
„Genau, der Leon Fischer ist von seinen Eltern vermisst g‘meldt worden. Was du aber ned weißt, weil du da schon weg warst: Nach a paar Tag‘ hamm‘s den armen Wurm aus der Donau ‘zog‘n. Is erwürgt word‘n – und vorher missbraucht. Sabine war ganz fertig desweg‘n. Jetzt, wo sie selber a Kind kriegt, geht ihr des halt b‘sonders nah. Na ja, mir war‘s aa recht schlecht, als ich den Kloana g‘sehn hab.“ Rolf schluckte.
„An sowas gewöhnt man sich nie“, versicherte Quirin, der eine gewisse Erleichterung spürte, dass ihm derlei bisher erspart geblieben war.
„B‘sondere Spuren hamm wir nicht g‘habt. Das Wasser hat alles abg‘wasch‘n. Sperma wurde aa koans g‘fund‘n. Sabine und ich hab‘n schwarz g‘sehn, dass mir den Mistkerl derwisch‘n. Und dann hab‘n wir anonym Fotos zug‘schickt kriegt, auf dem der Tressler und eben der Bub … also … der Tressler hat den Buben ...“ Rolf brach ab. Auch nach Jahren bei der Polizei fiel es ihm schwer, so ein Verbrechen beim Namen zu nennen.
„Dann habt ihr den Tressler einkassiert?“
„Ja, aber wir mussten ihn wieder laufenlass‘n, weil sein Anwalt durchg‘setzt hat, dass die Buidl nicht als Beweismittel zug‘lassn werden. Frag mich nicht, wie er das g‘schafft hat …“ Rolf stand auf. „Entschuldige, aber ich brauch jetzt einen Schnaps. Für dich auch a Stamperl?“
Quirin bejahte. Er hatte ein ganz flaues Gefühl im Magen. Rolf ging zum Wohnzimmerschrank und kam mit einer Flasche Obstler und zwei Schnapsgläsern zurück, die er großzügig füllte.
„Prost.“ Er stürzte den Schnaps in einem Zug hinunter.
„Prost.“ Quirin nahm einen Schluck und stellte das Glas vor sich ab. „Wie ging es weiter? Hausdurchsuchung?“
„Freilich. Aber es war nix zum Finden. Und dann ist d‘ Sabine ausg‘rastet. Hat den Tressler o‘g‘schrien, dass sie ihn schon noch kriegen wird, und wenn nicht so, dann eben anders. Aber bevor i dazwisch‘n hätt gehn können, hat sie sich schon wieder beruhigt g‘habt ...“
„Der Tressler hat also noch gelebt, als ihr gegangen seid?“
„Logisch. Putzmunter wie a Fisch im Wasser und rotzfrech. Und bleed g‘grinst hat er aa. Sie ist halt kurz mal durchdreht, d‘Sabine. ‘S war ja aa zum Haarausrauf‘n ...“ Rolf hob die Schultern. „Na, jedenfalls, zwei Tag später kriegt sie eine Mail von der Freundin vom Tressler. Die hätt‘ Beweise, stand da, und die Sabine soll sie an der Wundermühle treff‘n.“
„Sag mir jetzt nicht, dass Sabine so dumm war, alleine hinzugehen!“
„Doch.“
„Oh Mann! Und dann?“
„Sie kommt hin und da liegt die Leiche vom Tressler. Und weit und breit keine Freundin oder sonstwer, der in Frage kommt!“
„Eine Falle.“
„Genau. Die Lydia Feldmann – das is die Freundin – behauptet steif und fest, dass sie koa Mail ned g‘schickt hat, und außerdem hat sie ein Alibi für die Zeit, wo‘s passiert sein muss.“
„Aber der Tressler hat doch bestimmt jede Menge Feinde.“
„Das kannst laut sag‘n. Aber Sabine ist halt ausg‘rast‘ bei der Hausdurchsuchung. Und dann hat sie die Leiche g‘funden und eben koa Alibi ...“
„Schöner Schlamassel.“
Rolf schenkte sich noch einmal nach und hielt dann fragend die Flasche über Quirins Glas. Doch Quirin schüttelte den Kopf.
„Wann war das?“, wollte er wissen.
„Vor ned ganz zwei Wochen.“
„Und da rufst du mich jetzt erst an?“
„Na ja, es hat nicht so schlimm für Sabine ausg’schaut. Keiner hat sie wirklich verdächtigt.“ Rolf blickte etwas betreten drein. „Außerdem hat mir die Sabine verboten, dir Bescheid zum sagen. Aber jetzt muss was passiert sein, was die Sabine arg in die Zwickmühl bringt.“
„Und was?“
„Woaß i ned. Sie müss’n ebbs g’funden haben, das d‘ Sabine belastet. Jedenfalls ist sie jetzt die Hauptverdächtige. Außerdem nimmt sie sich das alles furchtbar zu Herz’n“, fuhr Rolf fort. „Macht sich zum einen Vorwürf und wartet zum ander’n drauf, dass sie einer schief anschaut. Zum Glück hat die Presse noch nix von dem Verdacht mit’kriegt. Aber des is bloß a Frage der Zeit.“
Quirin gab ihm recht. Irgendwann sickerte der Verdacht durch, und dann begann für Sabine ein Spießrutenlaufen. Ob wirklich was dran war, war egal. Dass Tressler womöglich ein pädophiler Mörder war, war dabei ganz unerheblich. Argwohn war immer parteiisch.
„Wer ermittelt denn in dem Fall?“, wollte er wissen.
„Ich ned. Bin ja mit ihr befreundet und damit befangen. Sie hab‘n extra einen aus Regensburg kommen lassen. So ein aalglatter Besserwisser. Fritz Ellwenger heißt der. Die Christel assistiert ihm. Des geht, weil sie die Sabine praktisch nicht privat kennt.“
„Und was sagt Christel dazu?“
„Die druckst rum. Wenn du mich fragst, weiß sie ned so recht, wie sie damit umgeh‘n soll. Am liabsten hätt‘ sie abg‘lehnt. Aber der Schröder hat ihr zug‘redt. Der ist ja auch recht in der Zwickmühl‘. Er weiß, dass es die Sabine ned g‘wesen ist, aber er ist der Chef, und Vorschrift ist Vorschrift.“
„Blöde Sache, klar.“ Quirin drehte sein nun leeres Schnapsglas zwischen den Fingern.
„Mir können doch ned rumsitz‘n und zuschau‘n.“ Rolf schaute seinen Freund und Kollegen an, als erwarte er eine zündende Idee von ihm.
„Natürlich können wir das nicht.“ Quirin stellte das Glas entschieden auf den Tisch. „Ich werde mich mal mit Sabine unterhalten. Und wir müssen mit Christel reden. Dann sehen wir weiter.“
„Denkst du, die Christel macht da mit?“, fragte Rolf skeptisch. „Mir wollte sie jedenfalls nichts sagen. Und wenn sie dem Ellwenger was steckt ...“
„Wird sie nicht. Da bin ich ganz sicher. Außerdem ist sie uns was schuldig.“
„Hm. Na ja, stimmt schon. Vielleicht hätt ich sie dran erinnern sollen … ich war ja schließlich auch dabei.“
Quirin grinste. Er hatte vor ein paar Monaten mit Christel zusammengearbeitet. Damals hatten Rolf und er ihr so nebenbei auch aus einer ziemlich unangenehmen Situation geholfen und nie etwas darüber verlauten lassen. Aber auch ohne diesen Hintergrund war Quirin sicher, dass sie behilflich sein würde. Er hatte sie als ein wenig übereifrig kennengelernt, aber auch als zuverlässig und mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie würde helfen – vielleicht mit einem flauen Gefühl im Magen, aber trotzdem.
„Kannst du mit Christel was ausmachen – ohne dass der … wie heißt er gleich wieder?“
„Ellwenger.“
„Ohne dass der Ellwenger was davon mitbekommt? Sag ihr, ich möchte sie sehen. Wir müssen uns so treffen, dass es nicht auffällt. Offiziell bin ich ja noch in Tuttlingen, und vielleicht sollte das für’s Erste so bleiben.“
„Versuchen kann ich‘s ja mal.“
„Gut. Ruf mich an, wenn es geklappt hat. Ich werde mich derweil mit Sabine unterhalten. Die ist vermutlich freigestellt?“
„Logo.“
„Gut.“ Quirin nahm einen Schluck Kaffee und probierte den Kuchen. Zu seinem eigenen Erstaunen stellte er fest, dass er Hunger hatte. Und der Gugelhupf war ausgezeichnet.
***
Eigentlich wohnte sonst nur noch Quirins Wirtin in dem Haus im Straubinger Stadtteil Alburg. Sie lebte im Erdgeschoss, während Quirin den ersten Stock für sich beanspruchen konnte. Und auch, wenn Quirin oft zum Essen bei Frau Mühldorfer eingeladen war, führten sie beide doch jeder ein ganz eigenes Leben. Trotzdem wirkte das Haus unnatürlich leer, als Quirin davor parkte. Drinnen war es fast noch schlimmer, und das lag nicht nur daran, dass es empfindlich kühl war, weil Frau Mühldorfer natürlich die Heizung auf ein Mindestmaß herunter gedreht hatte. Quirin wurde schmerzlich bewusst, dass er gerade jetzt ein paar aufmunternde Worte von der alten Dame hätte brauchen können. Er seufzte und stieg den ersten Stock zu seiner Wohnung hinauf, wo er seinen Rucksack einfach aufs Bett warf und die Heizung höher drehte.
Er zog sich einen wärmeren Pullover über und rief dann bei Sabine an.
„Woher weißt du, dass ich zuhause bin?“ Sabine hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf. „Ich hab Rolf extra verboten, dir etwas zu sagen!“
„Ja, ich hab dich auch vermisst.“ Quirin verzog den Mund. „Aber warum hast du das überhaupt gemacht?“, wollte er dann wissen.
„Na, weil du keine Schwierigkeiten kriegen sollst!“ Sabine klang ärgerlich. „Du willst doch bestimmt herkommen und mir helfen!“
„Nein.“
„Nein? Soll das heißen, dass du mich alleine in dem Schlamassel sitzen lassen willst?“
„Könntest du dich mal entscheiden?“
„Ich ...“ Sabine zögerte. „Nein, ich will nicht, dass du dich da einmischst“, erklärte sie dann entschieden. „Wenn das rauskommt, kriegst du Schwierigkeiten ohne Ende. Es wird sich bestimmt alles aufklären. Also bleib in Tuttlingen!“
„Das geht nicht.“
„Wieso?“ Quirin konnte sogar durchs Telefon hören, wie die Rädchen in Sabines Gehirn ratterten. „Du bist schon da, oder?“, stellte sie dann fest.
„Genau.“ Ja, sie kannte ihn wirklich gut. „Und ich war stundenlang unterwegs. Leider hat es auf der A7 einen Unfall gegeben, und ich habe ewig im Stau gestanden. Und das trübe Wetter hat auch nicht dazu beigetragen, die Fahrt erfreulich zu machen. Und dann bin ich in einem Straubing angekommen, das im Nebel versinkt. Ich sage dir, ich setze mich jetzt nicht gleich wieder ins Auto und fahre den ganzen Weg zurück!“
„Äh, na ja ...“
„Und wenn ich schon mal da bin, können wir doch gleich über den Fall sprechen ...“ Quirin wartete nicht ab, was Sabine dazu sagte. „Wie wäre es mit heute Abend? Ich fühle mich etwas einsam in meiner Wohnung. Frau Mühldorfer ist doch nicht da. Und da wäre mir nette Gesellschaft schon recht. Oder haben Thorsten und du schon etwas anderes vor? Vielleicht Ausgehen …“
„Als ob ich jetzt irgendwohin könnte … ich komme mir vor wie eine Aussätzige ...“
„Prima.“
„Ach, du findest das toll?“
„Dass ihr daheim seid, schon. Also, ich komme vorbei und bringe Pizza mit. Was mag dein Mann denn drauf?“
Quirin hörte Sabine nach Luft schnappen. Er konnte sie fast vor sich sehen, wie sie nach einem Grund suchte, um ihn abzuwimmeln.
„Thorsten liebt Quattro stagioni“, sagte sie dann aber nur. „Mit extra Käse, wenn‘s geht.“
***
Genüsslich schob sich Thorsten dan letzten Rest in den Mund.
„Danke an den edlen Spender“, sagte er zu Quirin. Dann warf er einen forschenden Blick auf seine Frau. „Ich schätze, ich lass euch beide jetzt lieber mal allein. Ihr wollt bestimmt etwas besprechen, was ich besser nicht höre.“
„Nein, also … du musst wirklich nicht ...“, druckste Sabine verlegen herum. Einerseits hatte sie sich fest vorgenommen, Quirin um jeden Preis rauszuhalten. Andererseits hätte sie schon gern mit jemandem gesprochen, der wusste, wie es in der Polizei zugeht. Und Rolf, so lieb und nett er auch war, hatte einfach nicht Quirins Einfühlungsvermögen.
„Klar, ich will Sabine über die Schwangerschaft aushorchen“, sprang Quirin da aber auch schon mit einem breiten Grinsen in die Bresche. „Du weißt schon, morgendliche Übelkeit, schwere Beine und so. Ein Gespräch von Frau zu Frau.“
Thorsten verschluckte sich fast. Dann grinste er auch.
„Jetzt sag bloß noch, du hast auch so was vor ...“
„Nein, aber ich kann das viel besser nachempfinden als ihr Heteros! Meine weibliche Seite ist viel ausgeprägter.“
„Ach! Komisch, hab ich noch gar nicht gemerkt. Aber wenn du das sagst … okay, ich gehe dann mal surfen!“
Thorsten stand auf und verließ das Zimmer.
„Er arbeitet doch den ganzen Tag mit Computern“, wunderte sich Quirin. „Und dann macht er das abends auch noch?“
„Er recherchiert alles, was mit Babys zu tun hat: Spielzeug, Windeln, Kleidung … alles eben.“ Sabine musste lächeln. „Er will unserem Nachwuchs von allem nur das Beste bieten.“
„Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“ Quirin warf einen Blick auf Sabines Bäuchlein. Sie musste jetzt so im fünften Monat sein, wenn er das richtig im Kopf hatte. Die Schwangerschaft stand ihr gut – mal abgesehen von den dunklen Ringen unter den Augen, die jedoch wohl eher daher kamen, dass ihr der Mordverdacht schlaflose Nächte bereitete.
„Nein.“ Sabine schüttelte den Kopf. „Wir wollen uns überraschen lassen.“ Ihre Miene verdüsterte sich. „Aber wenn ich dran denke, was Kindern heutzutage so passieren kann, frage ich mich, warum wir überhaupt ...“
„Nicht!“ Quirin hob die Hand. „So darfst du nicht denken. Ich weiß, ich rede mich leicht. Im Moment geht dir da natürlich viel im Kopf herum. Ein Mord an einem Kind ist immer besonders schlimm. Vor allem, wenn man eigentlich weiß, wer es war und nicht an ihn heran kommt. Aber du wirst sehen, alles sieht wieder besser aus, wenn wir herausgefunden haben, wer den Mistkerl umgebracht hat und es dir anhängen will.“
„Womit wir bei dem eigentlichen Grund für deinen Besuch wären.“
„Zugegeben.“ Quirin holte tief Luft. „Also, erzähl mal, was passiert ist.“
„Ich möchte wirklich nicht, dass du ...“
„Sabine, bitte! Erzähl mir einfach, was passiert ist, und überlass die Entscheidung mir, ob oder was ich unternehme.“ Die Worte waren heftiger herausgekommen, als Quirin beabsichtigt hatte. Er lächelte schief und stupste Sabine freundschaftlich an. „Ich bin erwachsen, weißt du? Und außerdem bin ich älter als du.“
Sabine holte tief Luft. Doch dann zuckte sie ergeben mit den Schultern.
„Schätze, eher gibst du keine Ruhe“, meinte sie.
„Da kannst du drauf wetten! Könnte passieren, dass ich morgens um halb drei bei dir anrufe und dich aus dem Schlaf reiße, damit ich dich kalt erwische, und ...“
„Schon gut!“ Sabine seufzte. Doch um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. „Also, du hast ja selbst noch mitbekommen, wie das Ehepaar Fischer seinen Sohn Leon als vermisst gemeldet hat. Der Junge war ganz normal von der Schule weggegangen, aber nie daheim angekommen. Wir mussten von einem Gewaltverbrechen ausgehen. Vor allem, weil keine Lösegeldforderung oder dergleichen bei den Eltern einging. Also bekamen Rolf und ich den Fall. Aber das weißt du ja alles schon.“
„Stimmt. Das war, als ich auf dem Sprung in den Urlaub war. Was habt ihr alles unternommen?“
„Nachdem die übliche Suche nichts brachte, wurde das Ganze ausgeweitet, und es meldete sich eine ältere Dame, die gesehen haben wollte, wie der Junge zu einem Mann ins Auto stieg. Sie hielt den Mann für den Vater des Jungen und dachte sich nichts dabei, bis sie den Aufruf in der Zeitung las. Ihre Beschreibung von dem Mann war eher vage – Lederjacke, dunkle Haare, durchschnittlich groß … aber sie war sich sicher, dass das Auto ein großer weißer BMW mit Straubinger Kennzeichen war.“
„Da gibt es ja ein paar mehr von.“
„Genau. Wir fragten alle Eigentümer ab und stießen dabei auf Wolfgang Tressler. Der war bereits polizeibekannt, aber er war beileibe nicht der einzige BMW-Fahrer, der in Frage kam. Und hundertprozentig sicher, dass der Junge wirklich Leon war, konnten wir natürlich auch nicht sein. Sie beschrieb ihn zwar als ungemein hübschen Jungen mit schwarzen Locken und großen dunklen Augen – und war überzeugt, dass es der Bub von dem veröffentlichten Foto war. Aber beschwören wollte sie es auch wieder nicht.“
„Ach ja, das leidige Problem, dass Zeugen davor zurückschrecken, sich festzulegen. Man will ja keinen Schaden anrichten.“ Quirin nickte. „Und dann wurde der Junge gefunden?“
„Ja, er war erwürgt und in die Donau geworfen worden. Die Wohnung vom Tressler ist in der Donaugasse. Er hätte es also auch nicht allzu weit gehabt, um … äh … um die Leiche loszuwerden, nachdem … nachdem ...“ Sabines Stimme brach.
„Es gab Zeichen für Missbrauch?“, fragte Quirin sanft und legte ihr die Hand auf den Arm.
„Ja …“ Sabine schluckte. „Ich möchte nicht näher darauf eingehen, aber es war ganz eindeutig.“
„Ihr habt also weiter ermittelt?“ Eigentlich war es mehr eine Feststellung.
„Ja. Die Forensik hat die Leiche untersucht, aber keine Spermaspuren gefunden. Die Kleidung gab auch nichts her, weil das Wasser alles abgewaschen hat. Also wurde ein Zeugenaufruf gestartet. Etwas wirklich Brauchbares kam dabei aber auch nicht heraus. Und dann bekamen wir Fotos zugeschickt – Ausdrucke von Bildern, auf denen ein Computerbildschirm mit einem Video zu sehen waren: Leon, wie er sich auszog und dann von einem Mann ...“ Sabine fuhr sich übers Gesicht und holte tief Luft. Sie zögerte. „Du hättest das sehen sollen!“, brach es dann aus ihr heraus. „Der Junge war ganz verängstigt. Sein Gesicht ...“
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie schien es noch nicht einmal zu bemerken. Also holte Quirin eine Packung Taschentücher aus der Tasche und hielt sie ihr hin.
Lange saßen sie nur stumm nebeneinander.
„Auf einem der Fotos sah man auch einen Mann. In der Nachricht, die bei dem Stick dabei war, stand, dass der Mann Wolfgang Tressler wäre“, berichtete Sabine weiter, als sie sich beruhigt hatte. „Man sah ihn nur von hinten, … aber er war es … definitiv! Als wir ihn jedoch vorluden, kam er mit seinem Anwalt, und der zerpflückte uns alles.“
„Ihr habt dann Tresslers Wohnung durchsucht?“
„Ja, Staatsanwalt Höppner hat sich nach einigem Hin und Her breitschlagen lassen. Aber nachdem der Tressler gewarnt war, fand sich natürlich nichts Verwertbares mehr.“ Sabine schnäuzte sich. „Wir haben die Festplatte seines Computers sichergestellt, aber da haben die Jungs von der Technik auch nichts gefunden. Wenn da was drauf war, wurde es sehr gründlich gelöscht.“
„Und während der Durchsuchung bist du ausgerastet“, nickte Quirin. Er konnte seine Kollegin gut verstehen.
„Ich …“ begehrte Sabine erst auf, doch dann ließ sie den Kopf hängen. „Ja, ich hatte mich einen Moment nicht im Griff“, gestand sie. „Wie der Kerl so dastand und uns breit grinsend zuschaute … Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen, nur damit ihm das Lachen vergeht.“
„Na, das hast du wenigstens nicht getan!“
„Nein. Aber ich habe ihn einen Dreckskerl genannt, und dass ich ihn schon noch kriegen werde. Oder so ähnlich. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber einer der Kollegen in Uniform stand daneben und hat das zu Protokoll gegeben, als der Anwalt vom Tressler Dienstaufsichtsbeschwerde einlegte.“
„Der Chef war bestimmt begeistert.“
„Na ja, er hat mich zu sich gebeten und mich halbherzig zusammengestaucht. Ich schrieb eine Entschuldigung, und das wäre es dann eigentlich gewesen ...“ Sabine verstummte und starrte auf ihre Hände.
„Okay, was war sonst noch?“ Quirin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass das noch nicht alles war.
„Na ja, als ich ein paar Tage später über den Christkindlmarkt am Stadtplatz bummele, stehe ich plötzlich vor Tressler ...“ Sabine schaute Quirin immer noch nicht an.
„Und?“
„Er hat mich angefeixt und ein paar blöde Bemerkungen gemacht.“
„Und?“
„Und ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt.“
„Was du hoffentlich nicht getan hast.“
„Nein, aber ich habe ihm unmissverständlich klargemacht, dass ich mir diesen Ton verbitte.“
„Höflich?“
„Äh … na ja … relativ.“
„Was heißt das genau?“
„Ich bin ein bisschen laut geworden. Himmel, der Kerl konnte einen aber auch wirklich gut provozieren! So einen arroganten Mistkerl hab ich noch nie erlebt.“
„Na prima.“ Quirin seufzte. „Und dann?“
„Am nächsten Tag bekam ich eine E-Mail von Lydia Feldmann. Das ist … war ... die Freundin vom Tressler ...“
„Moment mal, war die dabei, als ihr auf dem Christkindlmarkt gestritten habt?“
„Wir haben nicht gestritten!“
„In Ordnung … als ihr euch nett unterhalten habt ...“
Sabine warf Quirin einen beleidigten Blick zu.
„Nein“, sagte sie dann.
„Bist du sicher? Hättest du sie denn erkannt?“
„Na klar, sie war ja auch da, als wir die Wohnung durchsucht haben.“
„Und wie hat sie sich dabei verhalten?“
„Sie war verstört, würde ich sagen. Saß auf dem Sofa und schaute uns fassungslos zu.“
„Hat sie auch etwas gesagt?“
„Sie wollte erst wissen, was das Ganze soll. Und dann sagte sie gar nichts mehr und schaute höchstens mal fragend zu Tressler.“
„Was hat der zu ihr gesagt?“
„Nichts. Ich erinnere mich noch, dass sie mal zu einer Frage ansetzte, er sie aber mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. Ansonsten war er viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Triumph auszukosten.“
„Und die Freundin saß nur da und hat bis zuletzt nichts gesagt?“
„Ich hatte den Eindruck, dass ihr das Verhalten ihres Freundes ein bisschen peinlich war. Sie hat uns am Anfang etwas zu Trinken angeboten und mir am Ende in den Mantel geholfen. Aber sonst war sie ganz passiv.“
„Verstehe. Aber danach schrieb sie dir eine Mail ...“
„Ja. Sie schrieb, sie hätte Beweise, dass ihr Freund Leon entführt hat. Sie wollte sich mit mir treffen, an der Wundermühle. Ich musste erst einmal recherchieren, wo das ist und fand dann den Straubinger Ruderclub.“
„Stimmt. Die Wundermühle war bis in die 70er Jahre ein Ausflugslokal und wurde dann zum Clubheim des Ruderclubs Straubing.“
„Auf der Bschlacht.“
„An der Bschlacht.“
„Echt jetzt? Ich dachte, das wäre die Insel zwischen der alten und der neuen Donau!“
„Nein, das ist die Gstütt-Insel. Die Bschlacht ist der Damm, der die Donau umleitete, damit sie direkt an der Stadt vorbeifließt.“
„Und Bschlacht heißt es, weil da eine Schlachterei stand?“ Froh über die Ablenkung ging Sabine auf Quirins Ausführungen ein.
„Aber nein. Ursprünglich hieß das Ganze Sossauer Bschlächt – später wurde dann Bschlacht draus. Sossau mit seiner alten Wallfahrtskirche liegt in der Nähe. Und Bschlächt kommt von Schlagen, weil Pfähle in mehreren Reihen in den Boden eingeschlagen wurden. Außerdem sind die Pfähle mit Eisenbeschlägen verbunden. Das Wort Schlacht kommt übrigens auch von Schlagen ...“ Quirin stockte. „Gut. Du solltest also da hinkommen ...“ kam er energisch wieder auf Sabines Problem zurück. Seine Begeisterung für die Straubinger Geschichte war mal wieder mit ihm durchgegangen. „Direkt an der Wundermühle?“
„Nein, in der Mail stand, ich sollte zum Parkplatz vor der alten Donaubrücke neben der Schrebergartenanlage parken und dann nicht auf dem Wundermühlweg, sondern auf dem Fußweg weiter vorn, entlang der Donau, Richtung Wundermühle gehen …“
„Das sind ja sehr genaue Angaben“, staunte Quirin. „Da kennt sich aber jemand aus. Und in der Mail stand, dass du allein kommen solltest?“
„Ja. Allein.“
„Und du bist brav alleine hingegangen? Es muss dir doch klar gewesen sein, dass da was nicht stimmt!“
„Ich fand es eigentlich ganz logisch, dass sie sich an einem Ort mit mir treffen wollte, an dem wir unbeobachtet sein würden.“
„Das hätte sie aber auch leichter haben können.“
„Na ja, sie wohnte ja bei Tressler, und dessen Wohnung ist nicht weit weg davon.“
„Trotzdem. Und überhaupt – so ganz allein? Rolf mitzunehmen, wäre doch das Mindeste gewesen!“
„Ich dachte, zu mir hätte sie eben Vertrauen, und ein Gespräch von Frau zu Frau ...“ Sabine wedelte hilflos mit den Händen. „Nein, eigentlich habe ich überhaupt nicht groß nachgedacht. Ich sah eine Chance, den Dreckskerl endlich festzunageln, und sonst nichts.“
„Das war ziemlich dumm von dir.“
„Ja, im Nachhinein weiß ich das auch.“ Sabine holte tief Luft. „Aber damals ging ich einfach hin.“
„Ja, klar“, lenkte Quirin ein. Es hatte ja wirklich wenig Sinn, über etwas nachzugrübeln, was nun einmal schon geschehen war. „Du bist hingegangen und dann?“
„Ich nahm also den Fußweg Richtung Wundermühle, und zwischen den Bäumen stolperte ich über die Leiche von Tressler.“
„War dir gleich klar, dass er es war?“
„Nein. Das Treffen war um acht Uhr früh. Da war es noch gar nicht richtig hell und nebelig obendrein. Ich sah erst nur etwas Dunkles auf dem Boden liegen. Erst dachte ich, es wäre ein Baumstamm, dann dass es ein Lumpenbündel wäre – erst als ich direkt davor stand, wurde mir klar, dass da ein Mann auf dem Bauch liegt. Da nahm ich dann an, er wäre gestürzt. Ich wäre selber kurz vorher fast auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht. Hätte ja sein können, dass er sich den Knöchel verknackst hatte und nicht mehr hochkam. Dass ihm ein Messer in der Brust steckte, sah ich erst, als ich ihn umdrehte. Und da hab ich dann auch gesehen, dass es der Tressler war.“
„Wie ist der denn da hingekommen?“
„Woher soll ich das wissen? Er war eben da. Und außer ihm hab ich niemanden gesehen.“ Sabine kaute an ihrer Unterlippe. „Weißt du, er sah ganz erschrocken aus, als hätte er nicht erwartet, dass sein Angreifer ihn niederstechen würde. Wäre da nicht der schwarze Griff eines großen Messers in seiner Brust gewesen ...“
„Du meinst, er hat seinen Mörder gekannt?“
„Jedenfalls hat er ihn nicht als gefährlich eingestuft, würde ich sagen.“
„Hm. Das ist doch schon mal was. Weiter … Was hast du gemacht, als du gesehen hast, wer das ist?“
„Ich hab mich über ihn gebeugt, um zu sehen, ob er noch atmet, und dann hab ich am Hals nach seinem Puls gesucht.“
„Du hast ihn also auch noch angefasst ...“
„Ich hatte Handschuhe an. Es war schließlich ziemlich kalt. Den rechten hab ich allerdings kurz ausgezogen, um den Puls zu suchen.“ Sabine hob die Hände. Meine Güte, Quirin! Ich wollte sehen, ob ich helfen kann! Das ist doch ganz natürlich.“
Quirin seufzte. Sabine hatte wirklich alles falsch gemacht. Aber wer konnte es ihr verdenken? Er hätte sich in dieser Situation vermutlich ganz genauso verhalten.
„Okay“, lenkte er ein, „du hast also gesehen, dass es Tressler war, und zwar tot. Hast du dann gleich die Kollegen angerufen?“
„Das wollte ich. Aber dann kam ein Jogger vorbei und hat das Schreien angefangen.“
„Ein Jogger? Wer war das?“
„Kann ich dir nicht sagen. Ich habe ihn natürlich gefragt, aber er hat mich nur angestarrt, als wäre ich ein Monster, und ist dann weggerannt, als wär der Teufel hinter ihm her.“
„Vielleicht hat er gedacht, dass du ihn als nächsten umbringst.“
„Sehr witzig.“
„Nein, im Ernst. Er hat dich wahrscheinlich für die Mörderin gehalten.“
„Na ja, möglich wäre es. Jedenfalls hab ich kurz überlegt, ob ich hinterher soll. Aber dann bin ich doch bei dem Toten geblieben und habe dann endlich die Kollegen angerufen.“
„Weißt du, ob dieser Jogger auch die Polizei gerufen hat?“
„Keine Ahnung. Als ich ins Büro kam, hat mich der Schröder gleich zu sich ins Büro gerufen und mir erklärt, dass ich erst einmal vom Dienst freigestellt werde, bis alles geklärt ist.“
„Dann hat er wahrscheinlich angerufen und alles übertrieben.“ Quirin zog die Stirn kraus. „Du weißt vermutlich auch nicht, ob die Mail zurückverfolgt worden ist und was dabei herauskam.“
„Nein. Ich bin wie abgeschnitten. Nicht mal Rolf konnte mir etwas sagen. Den haben sie zwar nicht vom Fall von Leon Fischer abgezogen, ihm aber strikt untersagt, sich bei dem Mord vom Tressler einzumischen.“
„Und Christel?“
„Zu der hatte ich noch nie viel Kontakt.“
„Nun gut, ich werde mal sehen, was ich herausfinde …“
„Spinnst du?“ Aufgebracht sprang Sabine auf und lief im Zimmer auf und ab. „Du kannst dich doch nicht einfach einschalten und deine Karriere riskieren! Das ist kein Spaß!“
„Ich will mich nur ein bisschen umhören …“
„Genau das meine ich. Hör mal …“ Sabine setzte sich neben Quirin und schaute ihn eindringlich an. „Ich bin unschuldig …“
„Das weiß ich doch!“
„Und ich bin dir dankbar, dass du mir glaubst und dass du mir helfen willst. Aber ich bin sicher, dass sich auch ohne dein Eingreifen schon bald herausstellt, wer wirklich der Mörder ist.“
„Natürlich.“ Quirin lächelte sie beruhigend an. „Mach dir keine Sorgen. Übrigens …“ er grinste, „das Bäuchlein steht dir gut! Wann ist es denn soweit?“
„21. Mai …“ Sabine lächelte. Doch gleich wurde sie wieder ernst. „Versprich mir, dass du nichts unternehmen wirst!“
„Ich … werde mich zurückhalten“, nickte Quirin – und kreuzte die Finger hinter dem Rücken.
***
Christel warf ihren Hausschlüssel auf das Schränkchen neben der Tür und schälte sich aus ihrer Jacke. Jetzt erst einmal unter die Dusche, eine Kleinigkeit essen und dann ein wenig fernsehen. Christel hatte eine Schwäche für amerikanische Krimiserien. Allerdings hatte sich ihr Geschmack ein wenig gewandelt, seit sie als Partnerin von Quirin Kammermeier den Mord in einem Bierzelt untersucht hatte. Quirin hatte ihr schnell klargemacht, dass die Methoden, die Horatio Caine in ‚CSI Miami‘ anwandte oder Robert Goren in ‚Criminal Intent‘, erstens rechtlich gesehen zumindest fragwürdig waren und zweitens in der Realität nicht funktionierten. Tatsächlich war sie knapp an einer Dienstaufsichtsbeschwerde vorbeigeschrammt, als sie eine Befragung so aggressiv angegangen war, wie sie es in den Serien gesehen hatte. Ohne Quirins Einschreiten wäre das Ganze wirklich unangenehm geworden.
Inzwischen hatte sie ihre Art, mit den Leuten umzugehen, drastisch geändert. Außerdem bevorzugte Christel mittlerweile eine andere Fernsehserie: ‚Castle‘ – eine Reihe, in der ein Krimiautor einem Team in New York half, Morde aufzuklären. Genauso weit weg von echter Polizeiarbeit, aber viel bessere Dialoge, besonders die von Richard Castle, dem Schriftsteller. Der war richtig witzig und hatte ungewöhnliche Ideen. Außerdem sah er ziemlich gut aus. Ein bisschen wie Quirin, der ihr zwar mit seiner Klugscheißerei oft auf die Nerven ging, aber wirklich recht ansehnlich war mit seiner Größe, seiner Figur und mit seinen grauen Schläfen zu den braunen Augen. Besserwisser hin oder her; er hatte sich in der Vergangenheit als richtig guter Freund erwiesen, und das nicht nur dienstlich. Als er erfahren hatte, dass ein Stalker Christel belästigte, war er eingeschritten und hatte zusammen mit Rolf dafür gesorgt, dass der aufdringliche Verehrer – ein Kollege von der Sitte – sie ein für allemal in Ruhe ließ. Und weder Rolf noch Quirin hatten danach je wieder ein Wort darüber verloren, was Christel ihnen besonders hoch anrechnete. Zumindest bis jetzt. Denn anscheinend war es jetzt so weit, dass die beiden ihrerseits einen Gefallen von ihr einforderten. Was genau das war, wusste Christel noch nicht, aber sie konnte es sich schon denken.
Als sie dann die Folge ‚Castle‘ abspielte, die sie mittags aufgenommen hatte, sank ihre Stimmung noch weiter. Es war eine, die Christel für sich selbst als „Mum-Folge“ bezeichnete, also eine Folge, in der Detective Beckett mal wieder mit dem Mord an ihrer Mutter vor vielen Jahren konfrontiert wurde und sich wie immer geradezu hysterisch hineinsteigerte. Überhaupt war Christel diese Frau nicht wirklich sympathisch. Dass sie ständig Sätze von sich gab wie „Ich bin ein Cop!“ oder noch öfter: „Ich habe eine Waffe!“, machte es nicht besser.
Aber die Mum-Folgen waren die schlimmsten. Da konnte noch nicht einmal mehr Detective Kevin Ryan helfen, ein Kollege von Beckett. Der gefiel Christel besonders gut. Er war gewissenhaft und doch humorvoll und stand auch bei größter Gefahr unumstößlich zu seinen Freunden. Außerdem war er immer gut gekleidet, hatte dichtes Haar, dass er flott zurückgekämmt trug und graublaue Augen. Ein bisschen sah er aus wie Fritz Ellwenger, der Kollege aus Regensburg, der gekommen war, um den Mordfall an Wolfgang Tressler zu untersuchen. Der hatte auch einen guten Geschmack, was Kleidung anging, und trug sein Haar genauso wie Ryan. Nur, dass seines blond war.
Ach ja, der Fritz. Während Kate Beckett im Fernsehen mal wieder schwor, dass sie den Mörder ihrer Mutter zur Verantwortung ziehen würde, koste es, was es wolle, gestattete sich Christel ein paar Tagträume über den Kollegen, mit dem sie gerade zusammenarbeitete. Den hätte sie gerne ein wenig näher kennengelernt. Natürlich nur auf kollegialer Ebene! Schließlich hatte sie mit Hans, einen festen Freund. Der lebte zwar in München, aber an den meisten Wochenenden sahen sie sich.
Wie auf Kommando klingelte Christels Telefon. Sie schaltete den Fernseher aus und ging ran: „Hans! Wie schön. Ich habe gerade an dich gedacht.“
„Hoffentlich was Gutes“, kam die amüsierte Antwort. „Mach doch mal deine Kamera an, damit ich dich sehen kann.“
Christel tat ihm den Gefallen.
„Na, mein Schatz, wie ist es dir heute ergangen?“, wollte Hans wissen. „War es ein anstrengender Tag?“
„Es ging so. Er war eher frustrierend. Wir kommen bei unserem Fall einfach nicht weiter, und dann …“ Christel zögerte.
„Und dann?“ Hans sah nicht wirklich besorgt aus. „Darfst du darüber reden?“
„Ich weiß nicht so recht“, druckste Christel herum. Doch dann gab sie sich einen Ruck. „Ja, ich denke schon. Ich hab dir doch erzählt, dass bei dem Fall, an dem ich gerade mit dem Regensburger Kollegen dran bin, eine Kollegin involviert ist, nicht?“
„Ja, ganz blöde Geschichte.“
„Und sie wird noch blöder. Kurz vor Feierabend schaute nämlich mein Kollege Rolf vorbei. Er hatte heute eigentlich frei, aber er sagte, er hätte was vergessen.“
„Na ja, kann doch sein.“
„Sicher. Aber dann hat er mir unauffällig einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem stand, dass Quirin und er mich treffen wollen.“
„Quirin ist der andere Kollege, der dich zwar nervt, dir aber so viel beigebracht hat, ja?“
„Genau der.“
„Einen Zettel – das erinnert mich daran, wie mein Vater mal erzählte, wie sie bei ihm in der Schule heimlich im Unterricht Zettel ausgetauscht haben. Mit ganz wichtigen Nachrichten oder für heimliche Verabredungen, immer in der Angst, dass der Lehrer was merkt.“ Hans lachte. „Ohne Handy musste man sich eben etwas einfallen lassen. Heutzutage schreiben die Kids ganz einfach ihre Nachrichten unter der Tischplatte aufs Handy. Dieser Rolf hat wohl deine Nummer nicht?“
„Hat er wohl. Vielleicht wollte er keine Spuren hinterlassen oder so.“ Auch Christel lachte.
„Klingt ja sehr geheimnisvoll. Was wollte er denn?“
„Keine Ahnung. Ich hab noch nicht angerufen.“
„Warum nicht?“
„Warum nicht? Mir war sofort klar, weshalb die zwei mich sprechen wollen: Wegen dem Mordfall, in den diese Kollegin verwickelt ist.“
„Ich kapier’s immer noch nicht. Weswegen wollen sie das denn? Können sie nicht einfach selber nachsehen?“
„Die beiden sind gut mit ihr befreundet. Das heißt, sie sind befangen und dürfen in der Sache auf keinen Fall mit ermitteln. Quirin dürfte außerdem eigentlich gar nicht da sein. Er hat gerade Urlaub und wollte den eigentlich bei seinem Freund in irgend so einem Dorf im Schwäbischen verbringen. Er muss extra wieder zurückgekommen sein.“
„Jetzt verstehe ich. Ist aber doch nett von diesem Quirin, dass er seinen Urlaub abbricht, um zu helfen.“
„Schon, aber die zwei bringen mich in ziemliche Schwierigkeiten!“ Christel klappte die Hülle ihres Handys so auf, dass sie es hinstellen konnte. Der Drang, zu gestikulieren war zu stark. Sie wedelte mit den Armen. „Die bitten mich doch nur um ein Treffen, um mich auszuhorchen. Das kann mich den Job kosten!“
„Dann sag nein.“
„Das geht auch nicht. Ich schulde den beiden etwas …“ Christel hatte Hans davon erzählt, dass sie mal von einem Mann belästigt worden war. Sie war nicht in Details gegangen, und er hatte nicht weiter gefragt. „Sie haben mir damals bei der Sache mit dem Stalker geholfen“, gestand sie nun.
„Oh, das ist ein echter Schlamassel. Trotzdem gibt das den beiden kein Recht, dich in die Zwickmühle zu bringen. Na ja, du wirst dich schon richtig entscheiden …“ Hans lachte. „Du kannst dich ja einfach mal mit den beiden treffen. Wenn sie dann zu viel wissen wollen, ziehst du den Stecker. Das können sie dir nicht übel nehmen. Denn immerhin hast du’s versucht.“
„Ja, du hast recht.“ In Christel machte sich Erleichterung breit. „Genau so werde ich das machen. Denn, um ehrlich zu sein, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Kollegin eine Mörderin ist. Leider ist der Kollege aus Regensburg da ganz anderer Meinung. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass sie es getan hat.“
„Üble Sache. Aber du wirst sehen, das wird sich alles finden.“ Hans schien das Interesse verloren zu haben. „Wenn es dich beruhigt, mein Tag war auch nicht einfach …“ Und damit war er bei seinem Lieblingsthema: sich selbst. Christel seufzte und hörte brav zu, als er ihr erzählte, wie er mal wieder vor den Kollegen brilliert hatte. Er war anscheinend der totale Überflieger in seinem Job, und Christel schwankte immer häufiger zwischen Genervtheit und schlechtem Gewissen, weil sie genervt war.
Als das Gespräch mit Hans beendet war, schrieb Christel eine Nachricht an die auf dem Zettel angegebene Telefonnummer: „Morgen früh um sechs bei mir.“ Und darunter ihre Adresse. So, geschafft!
Sie schaltete den Fernseher wieder ein. Doch als Kate Beckett sie mit einem ‚Der Mörder meiner Mum darf nicht ungestraft davon kommen!‘ begrüßte, stoppte sie die Aufnahme wieder.
Ihr war jetzt nicht nach Becketts fixen Ideen. Lieber ein unkomplizierter Spielfilm. Oder vielleicht kam ja irgendwo ‚Drei Haselnüsse für Aschenbrödel‘. Zumindest in einer Mediathek sollte der Film doch zu finden sein. Ja, so ein Märchen mit Happy End, das war es, was sie jetzt brauchte.
***
Auch Quirin war in einem Videochat, aber mit Kurt.
„Das klingt ja wirklich furchtbar!“, sagte der gerade. „Da hat sich aber jemand große Mühe gegeben, Sabine etwas anzuhängen. Und was willst du da jetzt machen? Ich meine, du kannst ja nicht hingehen und dir die Fallakte anschauen!“
„Fallakte? Du schaust zu viele Krimis!“
„Möglich. Aber es ist doch so, oder?“
Quirin zog die Stirn in Falten. Kurt hatte recht. Ohne die Möglichkeiten, die ihm sonst zur Verfügung standen, hatte er nicht viel, das er tun konnte.
„Ich werde mich mal ein bisschen umhören“, meinte er schließlich.
„Aber glaubst du wirklich, dass du etwas erfahren kannst, was deine Kollegen nicht auch herausbekommen?“
„Wahrscheinlich nicht.“ Quirin seufzte. „Aber herumsitzen und nichts tun kann ich auch nicht. Ich will einfach sicher sein, dass nichts übersehen wird.“
„Deine Kollegen werden doch sicher alles tun, um Sabines Unschuld zu beweisen. Es wird doch bestimmt keiner glauben, dass sie es war.“
„Wer weiß? Ich kenne den Kollegen aus Regensburg nicht, den man extra angefordert hat.“ Quirin verzog den Mund. „Mal sehen, was Christel morgen zu sagen hat. Sie darf mit ihm zusammenarbeiten.“
„Christel ist die, die mit dir den Mordfall auf dem Gäubodenfest untersucht hat, oder?“ Kurt legte den Kopf schief. „Die, die so … so … verbissen war?“
Quirin lachte auf. Kurt hatte damals den Toten gefunden, und so hatten sie sich kennengelernt. Sabine war zu dieser Zeit gerade auf Hochzeitsreise gewesen. Also war Christel eingesprungen. Dabei hatte sich schnell herausgestellt, dass sie erstens Quirin für einen Besserwisser hielt und nicht leiden konnte, und zweitens, dass sie völlig andere Vorstellungen von Polizeiarbeit hatte als er. Verbissen passte eigentlich ganz gut zu ihrem damaligen Verhalten.
„Genau die“, bestätigte er also. „Aber ich glaube, das ist inzwischen besser geworden.“ Zumindest hatte Quirin aus der Gerüchteküche mitbekommen, dass Christel sich mittlerweile recht gut machte.
„Und du sagst, der Tatort heißt Wundermühle?“, fragte Kurt. „Komischer Name.“
„Das liegt daran, dass niemand geglaubt hat, dass die Mühle bei dem geringen Gefälle funktioniert“, schmunzelte Quirin.
„Das ist also wirklich eine richtige Mühle? Warum wurde sie denn gebaut, wenn keiner an sie geglaubt hat?“
„Ein Müllergeselle – sein Name ist leider nicht überliefert – hatte die Idee, auf der Spitalwiese zwischen der alten und der neuen Donau einen Graben anzulegen, dessen Wasser die Mühle antreiben sollte.“
„Gab es denn sonst keine Mühlen in der Gegend?“
„Doch, die waren jedoch alle ziemlich weit weg. Der Bursche wollte also eine neue bauen, aber alle dachten, das Gefälle sei zu gering. Er sprach also bei den Zuständigen vor und bat um ein Stück der Spitalwiese – das war Weideland, das der Gemeinde gehörte.“
„Und der lehnte ab?“
„Genau. Aber der Müllergeselle war von seinem Plan überzeugt. Also ging er zum Landesfürsten.“
„Ganz schön raffiniert.“
„Oh ja, und der war dann neugierig genug, um die Durchführung anzuordnen. Der Müllerbursche konstruierte einen Zulauf so ähnlich wie bei dem berühmten Pumpwerk von Schloss Nymphenburg, das auch nur mit einem Gefälle von anderthalb Metern auskommt. Es klappte und die Mühle lief. Also nannte man sie Wundermühle.“
„Wieder was gelernt“, freute sich Kurt.
„Schön, dass ich helfen konnte.“
„Und ist sie noch in Betrieb?“
„Nein. Sie wurde irgendwann stillgelegt. Danach war sie lange ein Ausflugslokal. Als das dann pleite ging, hat ein Ruderclub das Gebäude übernommen und sein Vereinsheim dort eingerichtet. Dass es mal eine Mühle war, sieht man gar nicht mehr.“
„Schade.“
„Stimmt. Aber sag mal, warst du nun bei Luisa zum Plätzchenbacken?“
„Oh ja! Es war lustig.“
„Hatte sie die Zutaten verlegt?“
„Nein. Erstaunlicherweise hatte sie fast alles beisammen. Sie scheint mir überhaupt viel ordentlicher geworden zu sein.“
„Nanu?“
„Na ja, nicht ganz freiwillig. Ihre Tochter war vor ein paar Wochen zu Besuch und hat ihr dabei ein Kätzchen geschenkt.“
„Ich wusste gar nicht, dass Luisa eine Tochter hat.“
„Die wohnt in Stuttgart und kommt nur selten zu Besuch.“ Kurt lachte. „Aber sie telefonieren viel. Das Verhältnis zwischen den beiden ist jedenfalls herzlicher als das von Luisa und ihrem geschiedenen Mann.“
„Ach, geschieden ist sie also auch?“
„Ja, aber man spricht sie besser nicht drauf an. Sie sagt, sie will sich auf gar keinen Fall an die Geschmacksverirrung erinnern, die sie bewogen hat, den Kerl zu heiraten.“
„Schön ausgedrückt. Und die Tochter hat ihr also eine Katze geschenkt?“
„Ja, als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Ein Herbstkätzchen, ein ganz kleines Ding und furchtbar mager. Kätzchen aus dem letzten Wurf im Jahr haben es ja oft besonders schwer, und die Kleine sah wirklich aus, als würde sie es nicht schaffen. Aber Luisa hat sie aufgepäppelt, und jetzt ist Minna – so heißt die Mieze – schon recht munter und neugierig. Und sie hat anscheinend eine Schwäche dafür, alles runter zu schmeißen, was ihr vor die Pfoten kommt.“
„Das machen Katzen gern.“
„Stimmt. Jedenfalls musste Luisa sich dran gewöhnen, alles wegzuräumen, was heil bleiben soll.“
„Und sie kann sich merken, wohin sie was geräumt hat?“
„Nicht immer.“ Kurt grinste. „Aber beim Brödlebacken hatten wir eher das Problem, dass die Mieze das Mehl so interessant fand.“
„Oje.“
„Genau. Ich hab mir dann eine Bürste geschnappt und die Katze stundenlang gebürstet und gestreichelt.“
„Das hat ihr bestimmt gefallen.“
„Und wie.“ Kurt schenkte Quirin einen koketten Augenaufschlag. „Ich kann mich besonders für‘s Streicheln sehr empfehlen.“
***
Thorsten stellte eine Tasse Kräutertee vor Sabine. Normalerweise hätte er ihr einen Gin Tonic gemacht, aber jetzt in der Schwangerschaft war Alkohol tabu. Genauso wie Kaffee. Oder Schwarztee.
„Und? Denkst du, Quirin wird sich zurückhalten?“, fragte er seine Frau und setzte sich neben sie aufs Sofa.
„Ich hoffe es“, antwortete sie und nahm einen Schluck Tee. „Mmmh, der ist lecker. Danke schön.“
Thorsten schmunzelte: „Danke für das Kompliment. Okay, du hoffst es – aber glaubst du es auch?“
Mit einem Seufzer stellte Sabine ihre Tasse zurück.
„Ganz ehrlich?“ Sie schaute ihren Mann unsicher an. „Nein, das glaube ich nicht. Und ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Er bringt sich damit in Teufels Küche!“
Beide schwiegen eine Weile.
„Quirin ist ein guter Freund“, stellte Thorsten schließlich fest.
„Ja, das ist er.“
„Und von guten Freunden erwartet man doch, dass sie an einen glauben und helfen, wenn es notwendig ist.“
„Ja, und ich bin froh darum, dass es für ihn gar keinen Zweifel an meiner Unschuld gibt. Aber jetzt auf eigene Faust zu ermitteln – das ist Quatsch! Und ich habe ihn nicht um Hilfe gebeten.“
„Wie würdest du dich denn verhalten, wenn Quirin unter Mordverdacht stünde?“
„Das ist doch etwas ganz anderes!“
„Ach, wieso?“
„Weil … weil … oh, ich hasse es, wenn du mich so in die Enge treibst!“
„Ja, ich weiß.“ Thorsten lächelte und legte den Arm um Sabine, die dankbar den Kopf an seine Schulter legte.
„Ich will doch nur nicht schuld sein, wenn er sich seine Karriere versaut“, klagte sie. „Bei der Polizei versteht man bei so etwas keinen Spaß.“
„Quirin weiß, was er tut“, tröstete Thorsten. „Sei doch froh, dass er so ein guter Freund ist.“
Jetzt lächelte Sabine, während sie zu ihrem Mann hinauf schielte.
„Ja, ich hatte schon immer sehr viel Glück mit meinen Männern“, meinte sie. „Und den besten von allen hab ich geheiratet.“
***
Quirin lief in seiner Wohnung auf und ab. Irgendetwas musste er doch tun können! Schließlich blieb er vor der großen Magnetwand stehen, die neben der Wohnungstür hing. Als Fallbrett wäre sie doch ganz gut geeignet, fand er. Kurzentschlossen machte er ein Foto davon und räumte dann all die Notizen und Blätter ab. Notierte Telefonnummern wischte er weg. Und dann malte er mit Whiteboardmarker eine horizontale Linie unten auf die Magnetwand: Die Zeitlinie.
„Also, Leon Fischer wurde entführt ...“ murmelte er, während er das Datum der Entführung an den Anfang der Linie schrieb. Dann kamen die Fotos, die Hausdurchsuchung, Sabines Streit mit Tressler auf dem Christkindlmarkt, Tresslers Ermordung.
Ihm fiel ein, dass er einen Wanderführer besaß mit Routen in und um Straubing. Ein Bild der Wundermühle fand er zwar nicht darin, aber er machte ein Foto der Gegend von der beiliegenden Wanderkarte. Das schickte er mit einem Bild von Sabine an seinen Drucker und heftete beides an die Wand. Da er von Tressler kein Foto hatte, malte er ein Ei auf die Magnetwand, das er mit zwei Punkten und zwei Strichen zu einem Gesicht machte.
„Na schön, ein großartiger Maler werde ich nie sein“, befand er und schrieb kurzentschlossen ‚Tressler‘ darunter. Ein weiteres Ei, aber mit Strichen drum herum, die lange Haare sein sollten, wurde mit Lydia Feldmann tituliert – Tresslers Freundin. Zwischen die beiden Eier malte er noch einen Strich mit einem Herzen darüber.
„Viel ist das nicht“, urteilte er dann kritisch. „Ich brauche mehr Informationen. Vor allem über Tressler.“
Also setzte er sich an den Computer und gab ‚Wolfgang Tressler‘ in die Suchmaschine ein. Viel kam dabei nicht heraus. Kleine Artikel aus der Zeitung, wie Tressler nach einer Schlägerei verhaftet worden war, aber mit einer Geldstrafe davon kam. Und als er mal mit Drogen erwischt wurde, bekam er eine Bewährungsstrafe.
Sein Auftritt in den Sozialen Medien zeigte Tressler als Lebemann, der gerne im Mittelpunkt stand und Party machte. So sah er sich selbst wohl gern. Quirin druckte eines der Fotos aus und heftete es über das Tressler-Ei. Als er ein Foto fand, auf dem Tressler eine Frau im Arm hielt, druckte er auch das aus in der Hoffnung, dass das Bild Lydia Feldmann zeigte. Unter deren Namen fand er seltsamerweise nichts in den Sozialen Kanälen.
Eine Weile stand Quirin nachdenklich vor seinem neuen Fallbrett und tippte sich mit dem Stift ans Kinn. Schließlich schrieb er ‚Gewalt, Drogen?‘ unter Tresslers Bild. Alles sehr vage, stellte er fest. Und nichts deutete darauf hin, dass Tressler pädophil war, oder sonst etwas mit dieser Szene zu tun hatte. Das war seltsam. Wie kam dieser Kerl dazu, plötzlich Jungen zu entführen und Videos zu drehen? Und was machte er dann damit? Ins Darknet, wo solche Filme kursierten, konnte man sich nicht so ohne weiteres einloggen. Auf die einschlägigen Plattformen kam man, soweit Quirin wusste, nur mit persönlicher Einladung.