Tod einer Zwiderwurzn - Ruth M Fuchs - E-Book

Tod einer Zwiderwurzn E-Book

Ruth M Fuchs

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  • Herausgeber: Raposa
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In Straubing, um Straubing, um Straubing herum ... wird gemordet!

Im Geiselhöringer Freibad stirbt am helllichten Nachmittag eine Frau. Sie wurde vergiftet! Für Hauptkommissar Quirin Kammermeier und seine Kollegin Sabine Pfeiffer herrscht kein Mangel an Verdächtigen, denn die Tote betrieb einen Blog, auf dem sie über alles und jeden herzog. Auch vor der eigenen Familie machte sie dabei nicht Halt.
Staatsanwalt Stefan Höppner ist keine große Hilfe, denn ihn beschäftigt weit mehr seine Rolle als Herzog Ernst bei den Agnes-Bernauer-Festspielen, deren Premiere kurz bevorsteht.
Während das Ermittlerduo noch im Dunkeln tappt, geschieht ein zweiter Mord. Dieses Mal mitten in Straubing. Doch das Gift ist das gleiche: Zyankali.

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Inhaltsverzeichnis

Zwischenfall beim Baden

Apfelstrudel ohne Rosinen

Einsatzbesprechung

Alles, was ihr nicht gepasst hat

Vergiftung durch Kaliumcyanid

Friedas Nachtgedanken

Moser? Nie gehört

Kein Durchsuchungsbefehl

Ein Rendezvous

Sag du's mir

Monika Reisinger

Wie war es wirklich?

Vor zwei Wochen war's

„Zum Geiss“

Der Igel-Karre

Hausdurchsuchung

Kein Unfall

Früher war er anders

Ein zweiter Mord

Lauter Verdächtige

Neue Entwicklungen?

Bei den Wachtlingers

Pressekonferenz

Unter Verdacht

Ich war's nicht

Ende gut?

Zinnoberrot mit einer Spur Olivenöl

Anmerkung

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Weitere Bücher von Ruth M. Fuchs

Tod einer Zwiderwurzn

ein Niederbayernkrimi

von Ruth M. Fuchs

Kriminalroman

Impressum

© 2022 Raposa

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Werks darf in irgendeiner Form ohne ausdrückliche vorherige Zustimmung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herausgeber: Raposa – Ruth Fuchs

c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach

eMail: [email protected]

Bild und Umschlaggestaltung: Ruth Fuchs

Lektorat: Jochem Reineck

www.ruthmfuchs.de

Für Dieter

Zwischenfall beim Baden

Quirin bevorzugte das „Laberrutschn“. Obwohl die Straubinger „Aquatherme“ ja eigentlich viel näher gewesen wäre und obendrein auch noch mehr zu bieten hatte, schwang er sich lieber auf sein Radl und strampelte die Dreiviertelstunde bis Geiselhöring.

Dafür hatte er zwei Gründe: Erstens standen bei dem kleineren Bad in Geiselhöring die Chancen besser, dass es nicht so überlaufen war, und zweitens hatte das Freibad „Laberrutschn“ einen Bademeister. Gut, die „Aquatherme“ hatte sogar mehrere. Aber keiner war so ein angenehmer Anblick wie der in Geiselhöring.

Groß war der und muskulös, aber nicht übertrieben. Im Nacken hatte er ein Tattoo, einen Barcode. Der war gut zu erkennen, denn der Bademeister trug sein Haar als nicht vorhanden. Das stand ihm ausgesprochen gut. Quirin hätte gern gewusst, was herausgekommen wäre, wenn man den Barcode gescannt hätte, störte sich aber nicht weiter dran. Schließlich sah er diesen Baum von einem Mann sowieso lieber von vorn. Denn das Wunderbarste an dem Bademeister war sein Lachen. Es hatte so etwas Spitzbübisches, und in den blauen Augen blitzte dann der Schalk. Außerdem hatte er eine so ruhige lässige Art, mit all den kleinen Problemen seiner Badegäste umzugehen, dass man meinte, nichts und niemand könne ihn jemals aus der Ruhe bringen.

Leider war dieser Bademeister ganz eindeutig dem anderen Geschlecht zugetan, dem er mit sehr viel Charme begegnete. Quirin hatte auch schon mal dessen Freundin gesehen, dunkelhaarig und gut gebaut. Na, immerhin hatte der Mann einen guten Geschmack, außer was Musik anging. Er schien Techno zu bevorzugen, was Quirin nun so gar nicht zusagte. Aber seine Musik bekam man ja im Bad nie zu hören – Quirin hatte sie nur einmal mitbekommen, als der Bademeister nach Dienstschluss in sein Auto stieg. Aber wen juckte es? Quirin erfreute sich ganz unschuldig an dem Anblick. Das musste genügen.

So räkelte sich Quirin also an einem heißen Sonntag im Juni behaglich auf seinem Badetuch. Er hatte einen Platz im Schatten gefunden hinter der niedrigen Hecke, die die Liegewiese von den Becken trennte. Gleich links von der Rutsche – sein Lieblingsplatz, weil er von dort alles gut im Blick hatte. Eine Berufskrankheit, zugegeben, aber eine, mit der es sich gut leben ließ. Die Vögel zwitscherten. Dazu kam das Lachen der Kinder im Pool, beim Wasserpilz oder am Matschspielplatz. Oder ihr fröhliches Quietschen, wenn sie die breite Wasserrutsche hinuntersausten, die vierzig Meter s-kurvig über einen bepflanzten Hügel hinabführte, und mit einem großen Platsch im Becken landeten. Quirin lauschte lächelnd und fand das Leben allgemein und seines im Besonderen doch recht angenehm. Schließlich nickte er ein.

Da fuhr er wieder hoch!

Um ihn herum schienen plötzlich alle in Richtung Liegewiese hinter der Rutschbahn zu laufen. Ehe es ihm selbst bewusst wurde, stürzte er hinterher. In einer Ecke bei den Bäumen hatte sich eine Menschentraube gebildet. Quirin kämpfte sich durch die Menschen und wäre fast über eine Frau gestolpert, die am Boden lag und sich in Krämpfen wand. Ein Mann kniete neben ihr und versuchte, sie festzuhalten, wurde aber von dem Bademeister zurückgerissen.

„Lassen's des besser. Des schad't bloß mehr, als es nützt“, begründete der sein Handeln.

„Ja, aber dann sollte wenigstens ein Ast zwischen ihre Zähne ...“ Der hilfsbereite Badegast sah sich bereits nach etwas Passendem um.

„Na. Da beißt sie sich womöglich nur in die Zunge.“ Der Bademeister schüttelte den Kopf. „So ein epileptischer Anfall ist gleich wieder rum. Und der Rettungswagen ist schon unterwegs.“ Er hatte noch sein Handy in der Hand, mit dem er den Notruf gewählt hatte.

Die Frau am Boden bäumte sich auf und gab ein Stöhnen von sich, nein, tatsächlich mehr ein Grunzen. Dann lag sie still. Sehr still. Quirin spürte ein mulmiges Gefühl im Bauch und trat näher heran. Der Bademeister wollte ihn zurückhalten, doch er schob seine Hand zur Seite.

„Ich weiß, was ich tue“, erklärte er entschieden. „Ich bin Ersthelfer.“

Der Bademeister akzeptierte das. Vielleicht lag es auch daran, dass ein Klicken ihn ablenkte. Einer der Umstehenden hatte doch tatsächlich sein Smartphone gezückt und machte ein Foto.

Während der Bademeister den Fotografen herunterputzte und bei der Gelegenheit auch gleich noch die Neugierigen verscheuchte und die Eltern anwies, ihre Kinder beiseite zu nehmen, kniete sich Quirin neben die Frau und beugte sich über sie. Offensichtlich atmete sie nicht mehr, also begann er mit der Herzdruckmassage. Während er rhythmisch und so kräftig er konnte, auf die Mitte des Brustkorbs drückte, schaute er sich die Verletzte genauer an. Sie mochte um die vierzig oder höchstens fünfzig sein, schlank und gepflegt. Ihr blondes Haar zeigte keine Spuren von Grau. Aber was hieß das schon? Die Haut war nur leicht gebräunt. Eine Sonnenanbeterin war sie definitiv nicht. Die halbgeschlossenen Augen waren blickleer. Ihr Gesicht hatte rote Flecken, und aus ihrem Mundwinkel war Speichel geflossen. Quirin meinte sich zu erinnern, dass er sie schon das eine oder andere Mal hier gesehen hatte, immer in dem einteiligen Badeanzug, den sie jetzt auch trug – schwarz und grün. Er beugte sich tiefer, um zu hören, ob sie vielleicht wieder atmete. Dabei nahm er den Geruch nach Marzipan wahr. Unwillkürlich sah er sich nach der Verpackung für einen Riegel oder eine Tafel Schokolade um, entdeckte aber nur ein halb gegessenes Wurstbrot. Wer isst denn Marzipan zu einem Wurstbrot?, ging es ihm durch den Sinn, da wurde er von Stimmen aufgeschreckt, die sehr energisch verlangten, dass die Leute beiseitetraten. Zwei Männer vom Rettungsdienst waren angekommen. Ihnen auf dem Fuße folgte die Notärztin.

Gehorsam wich Quirin zurück und sah zu, wie die Männer sich neben die Frau knieten.

„Es riecht nach Marzipan“, wandte er sich an die Ärztin. „Beziehungsweise nach Mandeln. Vielleicht eine Vergiftung?“

„Und wer sind Sie Schlaumeier?“, fragte sie unwirsch zurück. Ihre Haltung war klar: Das fehlte gerade noch, dass so ein Obergescheiter daherkam und sich mit Gifttheorien einmischte.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Kammermeier“, stellte Quirin sich vor. Normalerweise ließ er seinen Titel nicht so heraushängen, aber hier schien es angezeigt.

Die Haltung der Ärztin änderte sich tatsächlich schlagartig. Sie winkte die beiden Männer beiseite und ging selbst vor der Frau in die Hocke.

„Rote Flecken“, stellte sie fest, während sie den Defibrillator auspackte. „Vermehrter Speichelfluss. Und es riecht nach Mandeln. Wir rufen besser die Polizei.“ Sie warf einen Blick auf Quirins Badehose. „Sie sind ja offensichtlich nicht im Dienst.“

Nur Minuten später traf eine Polizeistreife ein. Zwei Beamte, einer etwas korpulent und um die vierzig, einer sportlich schlank und vielleicht Mitte zwanzig, kamen eilig quer über die Liegewiese gelaufen. Quirin trat zu ihnen und stellte sich vor.

„POM Konrad Wecker“, antwortete der ältere. „Und das ist ...“ er verstummte. Sein jüngerer Kollege starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau, die inzwischen auf eine Trage gehoben worden war und gerade abtransportiert wurde.

Wecker trat verdutzt zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm.

„Was ist denn los?“, wollte er wissen.

„Meine … das … das ist … meine Tante ...“, stotterte der junge Polizist leise. Er war aschfahl im Gesicht. „Ist sie tot?“

„Die Sanis tun ihr Bestes“, versuchte Quirin ihn zu beruhigen, obwohl er selbst nicht glaubte, dass da noch viel zu machen war.

„Was ist denn passiert? Ein Unfall?“ Der junge Polizist sah Quirin beunruhigt an.

„Rufen Sie Verstärkung“, wies Quirin Wecker an, der stumm nickte. Dann führte er den geschockten jungen Mann zu einer der Bänke am Beckenrand und etwas abseits vom Geschehen.

Er setzte sich neben ihn und sagte eine Weile gar nichts. Schließlich, als der andere sich wieder ein wenig besser im Griff zu haben schien, fragte er behutsam nach seinem und dem Namen der Tante.

„Ich bin Peter Graf“, stellte sich der junge Beamte vor. „Meine Tante heißt Elfriede Moser. Sie ist die Schwester meiner Mutter, einer geborenen Moser. Was ist los mit ihr?“

„Im Moment können wir noch gar nichts sagen“, bedauerte Quirin. „Du weißt ja, wie das ist.“ Er duzte den jungen Polizisten, wie das unter Kollegen üblich war.

„So lange bin ich noch nicht dabei“, der Polizist lachte nervös und eine Spur hysterisch. „Erst ein paar Jahre. Späteinsteiger, wissen Sie?“

Quirin fand, dass er ziemlich grün um die Nase aussah.

„Nimm dir den Rest des Tages frei“, schlug er deshalb vor. „Geh nach Hause. Leg dich hin. Am Besten nimmst du, wenn es geht, ein paar Tage Urlaub.“

„Aber ich kann doch nicht einfach ...“

„Doch, das kannst du. Wir machen das schon. Wozu sind Kollegen da?“ Quirin klopfte ihm auf die Schulter und war insgeheim froh, als der junge Mann gehorsam aufstand und davon trottete. Einen Moment hatte er Zweifel, ob er ihn allein gehen lassen sollte, doch dann schüttelte er den Kopf. Man konnte es auch übertreiben mit der Fürsorge. Der Junge war erwachsen, und er war Polizist.

Also kehrte Quirin zum Tatort zurück, wo die Spurensicherung inzwischen zugange war, während der Streifenbeamte die Badegäste befragte, deren Angaben notierte und sie dann nach Hause schickte. Für heute war der Badespaß vorbei. Es dauerte nicht lange, da waren zwei weitere Beamte da, um Wecker zu unterstützen.

Gerade überlegte Quirin, wie er sich am besten nützlich machen konnte, als er einen Edelmann aus dem späten Mittelalter herantreten sah. Zu einem schwarzen Samtrock, der bis zu den Oberschenkeln fiel und weite, geschlitzte Ärmel hatte, trug er schwarze Strumpfhosen und eine auffällige, prunkvolle Kette aus Gold und Edelsteinen. Die schwere Kleidung war denkbar unpassend bei diesem Wetter, und der Träger hatte entsprechend einen ziemlich roten Kopf, und dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Quirin schaute nochmal hin. Den Mann kannte er doch – diese ausgeprägte Hakennase, den gepflegten, dunklen Vollbart und die buschigen Augenbrauen. Kein Zweifel, das war Staatsanwalt Höppner. Aber was machte der denn hier und dann auch noch in diesem Aufzug?

Ach ja, stimmt ja, er hatte in der Zeitung darüber gelesen: Höppner hatte bei den diesjährigen Agnes-Bernauer-Festspielen die Rolle des Erzschurken, des Herzogs Ernst, übernommen.

Die gebürtige Augsburgerin Agnes Bernauer war die Gattin des bayerischen Herzogs Albrecht III in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewesen. Als Tochter eines Baders – und damit vielleicht sogar als Hure angesehen – war das kaum eine standesgemäße Verbindung. Albrechts Vater Ernst, Herzog von Bayern-Straubing und Graf von Holland, Zeeland und Hennegau, lockte daher seinen Sohn aus dem Schloss in Straubing, wo der mit seiner Frau lebte, verurteilte Agnes in dessen Abwesenheit kurzerhand zum Tode und ließ sie in der Donau ertränken. Agnes Bernauers Geschichte wurde jetzt alle vier Jahre im Hof des Herzogschlosses bei den Agnes-Bernauer-Festspielen von Laienschauspielern in Szene gesetzt. Und dieses Mal stellte Höppner den unerbittlichen Herzog Ernst dar. Nun, seine stattliche Erscheinung passte da sehr gut. Aber begannen die Vorführungen nicht erst in ein paar Tagen? Warum lief Höppner dann schon jetzt in voller Montur herum?

Quirin kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn der Staatsanwalt baute sich vor ihm auf und musterte ihn von oben bis unten.

„Übertreiben Sie es nicht etwas mit dem Zivil, Kammermeier?“, fragte er barsch.

Der hatte es gerade nötig! Quirin sah an sich herunter. Natürlich, er trug noch seine Badehose. Aber bestimmt besser als eine Samttunika. Er hob den Blick wieder und grinste schief.

„Hab mich eben möglichst gut in die Stimmung versetzt“, sagte er.

Höppner kniff einen Moment die Augen zusammen, doch dann schmunzelte er: „Und? Hat's geholfen?“

„Nicht wirklich.“ Quirin schüttelte bedauernd den Kopf. „Wenn es tatsächlich eine Vergiftung war, müssen wir wohl von einem Verbrechen ausgehen.“

„Kein Selbstmord?“

„Mitten in einem Freibad? Kann ich mir nicht vorstellen. Wer würde denn mit einer Giftkapsel oder was auch immer am Sonntag ins Freibad gehen und sich dann zwischen all den Badegästen umbringen, ohne einen Mucks zu sagen.“

„Hm. Da könnten Sie Recht haben. Und, haben Sie sich schon selbst in Dienst gesetzt? Wenigstens innerlich?“ Ein weiterer Blick auf Quirins Badehose. „Wie praktisch, dass Sie so schnell vor Ort waren. Na, mit Schwimmen wird’s heute eh nichts mehr werden.“

„Also, erstmal muss ja wohl der Leichenbeschauer ...“, protestierte Quirin, aber der Staatsanwalt winkte mit einem Grinsen ab.

„Sie haben bestimmt Recht. Hier liegt ein Verbrechen vor. Und offensichtlich kein Raub ...“ Höppner deutete auf einen Mann von der Spurensicherung, der gerade das Portemonnaie der Toten eintütete. „Die Dame muss jemanden sehr verärgert haben.“

„Da gehört mehr als Ärger dazu, wenn man jemanden so in aller Öffentlichkeit um die Ecke bringt“, urteilte Quirin.

Dann machte er sich mit einem Seufzer auf den Weg zu den Umkleidekabinen.

Als er das Freibad schließlich verließ, fand er Staatsanwalt Höppner draußen neben dessen Auto stehen.

„Eichstätter“, hörte er ihn verärgert sagen, „hab mehr denn je ein Aug auf meinen ungerat'nen Sohn!“ Quirin hatte gar nicht gewusst, dass der Staatsanwalt einen Sohn hatte. „Berichtet mir von jedem seiner Schritte ...“, fuhr Höppner fort, „und haltet ihn, wenn immer möglich, von der bewussten Metze fern.“

Da erkannte Quirin, dass Höppner nicht mit irgendjemandem über seinen vermeintlichen Nachwuchs sprach, sondern seine Rolle übte. Und das mit Hingabe, denn er unterstrich die Schmähungen mit heftigen Gesten. Sobald er Quirin bemerkte, verstummte er, und Quirin hätte schwören können, dass der Staatsanwalt ein wenig rot wurde.

„Lampenfieber“, sagte er entschuldigend. „In zwei Wochen ist Premiere. Ich komme gerade von der Kostümprobe …“ Er zupfte an seinem Gewand herum und zuckte die Schultern. „Dachte mir, wenn ich schon im Outfit des Herzogs stecke, kann ich gleich auch noch ein bisschen üben.“

„Verstehe“, behauptete Quirin, obwohl er eigentlich nicht verstand. „Aber warum sind Sie eigentlich hier? Ich meine, persönlich?“

„So ein ungeklärter Todesfall im Freibad passiert ja nun nicht alle Tage. Da hielt ich es für angebracht“, erklärte Höppner. „Und der Kostümschneider wohnt nicht weit von hier.“

Quirin nickte. Er wünschte noch einen schönen Tag und schwang sich dann auf seinen Drahtesel, um nach Alburg zu radeln, wo er wohnte.

Hinter ihm aber schnappte sich der Staatsanwalt einen Zweig vom Boden, hob ihn mit beiden Händen hoch, brach ihn entzwei und intonierte den Schlusssatz, den er auch auf der Bühne über Agnes Bernauer sagen würde: „Sie hat ihr Urteil selbst gesprochen. Lasst sie im Wasser enden.“

Apfelstrudel ohne Rosinen

Als Quirin bei sich zu Hause ankam, wurde er schon erwartet.

„Herr Kammermeier, ich habe einen Apfelstrudel gemacht. Und natürlich ist es wieder viel zu viel für mich allein.“ Die alte Dame, die das sagte, zwinkerte Quirin verschwörerisch zu. „Mit Sauerrahm und ohne Rosinen – den mögen Sie doch so.“

„Frau Mühldorfer!“ Quirin lachte. „Sie wollen mich also wieder verführen.“ Bei seinen Worten kicherte die Dame wie ein junges Mädchen. „Aber wer könnte Ihnen widerstehen. In einer halben Stunde?“

„Wunderbar! Ich decke den Tisch!“ Geschäftig und übers ganze Gesicht strahlend eilte Frau Mühldorfer davon.

Sie war Quirins Vermieterin. Ihr kleines Haus mit Garten hatte im ersten Stock eine abgetrennte Wohnung, die die Schwester ihres verstorbenen Mannes bewohnt hatte, bis diese ihre große Liebe heiratete, und mit ihrem Mann dann nach Italien zog. Frau Mühldorfer selbst war als kleines Kind mit ihren Eltern aus Schlesien gekommen, gegen Ende des Kriegs. Eigentlich hatte die Familie noch weiter gewollt, doch dann hatten Bomben den Straubinger Bahnhof getroffen. Man war also geblieben und hatte sich eingelebt. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Frau Mühldorfer einen Mieter gesucht, um – wie sie es nannte – wieder einen Mann im Haus zu haben. In Quirin hatte sie die Idealbesetzung gefunden. Trotz ihrer fast achtzig Jahre stand sie noch voll im Leben und hatte einen großen Bekanntenkreis. Alburg war zwar inzwischen von Straubing eingemeindet worden, hatte aber immer noch das Gepräge eines Dorfes. Manchmal schien Frau Mühldorfer richtig im Stress zu sein, um all ihre Verabredungen und Treffen und Versammlungen unterzubringen. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, Quirin hin und wieder zu bekochen. Quirin glaubte allerdings, dass sie das vor allem machte, weil sie so gern ein Schwätzchen mit ihm hielt. Und weil er die alte Dame wirklich mochte, ließ sich Quirin das auch gerne gefallen.

Jetzt stieg er aber erst einmal in seine Wohnung im ersten Stock hinauf. Es war eine kleine Wohnung – zwei Zimmer, eine winzige Küche und ein Bad mit Duschkabine – aber Quirin war zufrieden. Die Zimmer waren hell, und er hatte sogar einen kleinen Balkon. Nur mehr Platz für seine Bücher hätte er manchmal schon gern gehabt.

Die Einrichtung war schlicht, aber geschmackvoll. Quirin hatte warme Erdtöne für das Sofa, den Teppich und die Vorhänge gewählt. Die Regale waren aus hellem Nussbaumholz. Die Wände allerdings schmückten großformatige Schwarzweißaufnahmen von Landschaften. Zumindest da, wo die Bücherregale Platz ließen.

Quirin warf seinen Rucksack mit dem ungebrauchten Handtuch und der Badehose auf das Sofa und ging ins Bad, um schnell noch zu duschen. Was für ein seltsamer Tod, ging es ihm durch den Kopf. Da ist man mitten unter Menschen und denkt an nichts Böses, und dann bricht es über einen herein. Gut, das war bei einem Herzschlag auch der Fall, trotzdem war es bei dieser Frau im Freibad doch etwas anderes. Quirin schüttelte den Kopf. Darüber konnte er sich immer noch Gedanken machen, wenn er den Fall zugeteilt bekam. Das war zwar sehr wahrscheinlich, aber bis dahin wollte er seine freie Zeit genießen.

Er ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Dabei warf er einen kritischen Blick auf die Spiegeltür des Kleiderschranks. So, wie ihn seine Wirtin immer bekochte, würde er bald etwas gegen die Speckröllchen an seinen Hüften tun müssen. Aber egal, sagte er sich. Frau Mühldorfer war wie eine Mutter für ihn. Eine Mutter, wie er sie nie gehabt hatte. Seine eigene hatte sich scheiden lassen, als er gerade mal zehn gewesen war. Sie hatte verkündet, dass sie ihre innere Mitte finden wollte, und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Angeblich lebte sie nun in einer spirituellen Gemeinschaft, so hatte sie es jedenfalls bei ihrem letzten Besuch, der Jahre zurücklag, genannt. Eine Sekte, wie sein Vater es abfällig nannte. Der hatte wieder geheiratet und verbrachte sein Rentnerdasein mit seiner zweiten Frau auf einer Finca auf Mallorca. Hier in der Nähe, nämlich in Landshut, hatte Quirin nur noch seinen älteren Bruder Xaver, den er als Kind immer sehr bewundert hatte. Leider hatte der aber sehr peinlich berührt reagiert, als Quirin ihm eröffnet hatte, dass er schwul war. Xaver hatte sich danach schnell von Quirin zurückgezogen und den Kontakt abgebrochen, als hätte er Angst, sich anzustecken. Wahrscheinlich war es aber eher die Furcht, dass seine Freunde dumme Bemerkungen machten oder, noch schlimmer, für in Ordnung hielten, was er selber als beschämend empfand. Quirin seufzte. Zu seinem Vater hatte er nie ein besonders herzliches Verhältnis gehabt, aber sein Bruder fehlte ihm. Umso mehr hing er an seiner Wirtin, die geradezu bemerkenswert unverkrampft zu seiner Neigung stand. 'Liebe ist Liebe', hatte sie nur gesagt und ihn herzlich angelächelt, als er ihr davon erzählt hatte. Liebe ist Liebe. Und damit war der Fall für sie erledigt.

Noch einmal atmete Quirin tief durch, dann verließ er die Wohnung wieder und ging die Treppe hinunter. Zeit, sich den Apfelstrudel schmecken zu lassen.

„Sie sind heute aber früh vom Baden zurück“, stellte Frau Mühldorfer fest, während sie Quirin eine großzügige Portion Strudel auf den Teller tat.

„Es hat einen Unglücksfall gegeben“, antwortete Quirin vorsichtig. Wie immer fiel es ihm schwer zu entscheiden, wie viel er von seiner Arbeit erzählen durfte. „Das Bad musste geschlossen werden.“

Er schaute auf den Strudel auf seinem Teller.

„Haben Sie einen besonders guten Kilopreis für mich ausgehandelt und wollen mich jetzt mästen?“, fragte er.

„Aber ja!“ Frau Mühldorfer lachte. „Der Metzgermeister wartet schon.“

„Na, dann ist's ja gut.“ Quirin ließ sich den Strudel schmecken und wurde nicht müde, ihn zu loben. Seine Wirtin war aber auch wirklich eine hervorragende Köchin.

Bald drehte sich das Gespräch um andere Dinge, und Frau Mühldorfer ließ Quirin an der heutigen Ausbeute an 'Alburger Ratsch', wie sie es nannte, teilhaben.

„Ein neues Einkaufscenter soll gebaut werden“, verkündete sie. „Gleich bei Perkam, in der Hirschlinger Au. Da kommen Sie doch alleweil durch, wenn Sie zum Baden fahren, nicht?“

„Stimmt. Ich dachte immer, das wäre Landschaftsschutzgebiet“, wunderte sich Quirin.

„Jedenfalls wäre es wirklich schade um die wunderschönen Bäume“, erklärte Frau Mühldorfer.

„Ja, ich genieße es auch immer, entlang der Kleinen Laber da vorbei zu fahren.“ Quirin lächelte seiner Wirtin zu. Da klingelte sein Smartphone. Sein Chef. Mit einem Seufzer nahm Quirin das Gespräch an.

„Du wirst nie erraten, weswegen ich anrufe“, meldete sich aufgeräumt sein Vorgesetzter. „Deine Tote aus dem Freibad ...“

„Dann ist sie also tot?“

„Sowas von! Und es sieht gar nicht nach natürlichem Tod aus. Du darfst den Fall übernehmen. Herzlichen Glückwunsch!“

„Ich bin gerührt.“ Quirin verzog den Mund. „Ich hoffe, du hast dir dafür nicht zu viele Umstände gemacht.“

„Nicht der Rede wert.“ Vom anderen Ende der Leitung kam ein Geräusch, das verdächtig nach Kichern klang. „Und ein Ausflug nach München ist auch drin!“

Na klar, zur Rechtsmedizin, wenn die Tote obduziert würde. Quirin seufzte.

„Ist schon raus, wann?“, wollte er wissen.

„Nein, komm morgen früh erst mal ins Büro, dann besprechen wir alles.“

Einsatzbesprechung

„Morgen, Quirl! Hab gehört, du suchst dir deine Fälle jetzt schon selber zusammen!“, wurde Quirin am nächsten Morgen von seinem Kollegen Rolf Eitzenberger begrüßt. „Hast du dich auch gleich selbst in Dienst gesetzt? Du weißt schon, Bayerisches Beamtengesetz, Paragraph … was weiß ich!“

„Na klar. Solang ich nicht selber Hand anlegen muss, um überhaupt einen Fall zu haben!“ Quirin grinste schief. Er mochte es nicht, wenn man ihn Quirl nannte. Aber zugegebenermaßen war es eine naheliegende Abkürzung seines Namens und nicht zu ändern.

„Wenigstens wär der Mord dann schnell geklärt – obwohl du da wegen Befangenheit eh nicht ermitteln dürftest.“ Rolf hob die Kaffeetasse und nahm einen langen Schluck.

Quirin ging zur Kaffeemaschine und nahm sich ebenfalls eine Tasse. Dann kippte er noch eine großzügige Portion Milch dazu. Rolf war meistens der Erste im Büro und kochte seinen Kaffee sehr stark. Quirin lehnte sich an den Küchentisch im Aufenthaltsraum und blickte aus dem Fenster. Die Polizeiinspektion war im ehemaligen Jesuitenkolleg Straubing untergebracht, nachdem dieses aufgelöst worden war. Die Räume des Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert waren klein und eng, doch der Ausblick war großartig. Denn das Haus stand direkt am Rand des Straubinger Stadtplatzes. Der fünftürmige Stadtturm, ein Wahrzeichen Straubings, teilte den Platz in den ein wenig größeren Ludwigsplatz im Osten und den Theresienplatz im Westen. Diesen Turm aus dem vierzehnten Jahrhundert mochte Quirin ganz besonders. Er musste sich zwar ein wenig verrenken, um ihn zu sehen, doch es ging. Obgleich solide gebaut, hatte er durch seine fünf Spitzen doch eine gewisse Leichtigkeit und Eleganz. Verstärkt wurde das noch durch die beiden zweistöckigen angebauten Häuser an den Seiten. Sie flankierten den Torbogen, der unter dem Turm hindurchführte mit allerlei kleinen Läden. Natürlich war ein Andenkenladen darunter. Aber man konnte auch edlen Tee kaufen, oder handgefertigte Töpferware.

„Guten Morgen zusammen!“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seinen Gedanken. Sabine Pfeiffer, seine Partnerin und der Wirbelwind vom Dienst, stürmte herein. „Habe gehört, es gibt Arbeit!“

„Tja, Quirl war am Wochenende fleißig“, verkündete Rolf und reckte den Hals. Sabine war berüchtigt für die Sprüche, die sie auf ihren T-Shirts spazieren trug, und Rolf wollte sehen, was es heute war. Eigentlich wollte er ja eher einen Blick auf ihren überaus wohlgeformten Busen erhaschen, aber das hätte er nie im Leben zugegeben.

'Leben und leben lassen' prangte diesmal auf Sabines Brust. Die Kleidervorschriften hier waren eher lax. Nur einmal hatte der Chef Sabine zu sich zitiert, als sie mit dem Spruch 'Taktgefühl ist was für Weicheier' erschienen war. Daraufhin war sie in der Mittagspause ins eins der vielen Geschäfte gelaufen, die rund um den Stadtplatz angesiedelt waren. Zurückgekommen war sie mit einem Shirt, auf dem über ihrer linken Brust ein niedliches Kätzchen aus einem Schuh schaute. Quirin hatte sich damals sehr zusammenreißen müssen, um keinen dummen Kommentar abzugeben.

„Und was macht dein toter Obdachloser?“, fragte sie nun Rolf, der daraufhin den Blick losriss.

„Er ist und bleibt tot. Das ist alles, was ich weiß. Seine Fingerabdrücke sind nicht bei uns im System. Und anscheinend war der Kerl niemals beim Zahnarzt. Dabei hat er Zähne wie ein Filmstar. Ich war mit nem Foto in Atting, Rain und Ringkam und in der Obdachlosenunterkunft hier in Straubing, aber da kannte ihn keiner. Keine Ahnung, wer er ist oder was genau passiert ist. Nach zwei Wochen. Ist das zu glauben? Normalerweise treiben sich an den Baggerseen beim Flughafen nachts immer irgendwelche Pärchen rum! Baden bei Mondschein und so. Nur an dem Abend, als der arme Kerl totgeprügelt wurde, war scheinbar niemand da. Und die Spurensicherung hat auch kaum was gefunden. Was eventuell an Spuren da war, hat das Wasser abgewaschen, nachdem er in den See geworfen wurde.“ Er seufzte. „Vielleicht sollt ich mal nebenan eine Kerze stiften und um Erleuchtung beten.“

Nebenan, das war die ehemalige Jesuitenkirche, die direkt an das Polizeigebäude angebaut war.

„Vielleicht solltest du eher eine Wallfahrt nach Bogen machen“, schlug Sabine vor.

„Ich will doch kein Kind kriegen!“ Rolf lehnte sich zurück und faltete die Hände auf seinem Bauch, den er liebevoll und völlig zu Recht sein 'Weißbiergewölbe' nannte. „Wollen wir tauschen?“, fragte er dann hoffnungsvoll.

„Das wäre schön. Dann wäre es wenigstens mal ein interessanter Fall.“

Alle drehten sich zur Tür um. Dort stand Hubert Rex, Rolfs Partner. Wie immer war er wie aus dem Ei gepellt, trug trotz der Temperaturen Anzug mit Hemd und Krawatte. Seine Sonnenbrille hatte er nach oben in die sorgfältig gegelten Haare geschoben, die modisch an den Seiten kurz und oben länger geschnitten waren. Quirin wünschte sich augenblicklich, dass er die Brille noch auf der Nase hätte, denn dann hätte man den missmutigen Ausdruck in seinen Augen nicht gesehen.

„Ist doch wahr! Als ob irgendjemanden der Tod eines Penners interessiert.“ Hubert stellte seinen Coffee-to-go-Becher auf den Tisch, an dem Rolf saß.

„Nichtsesshafter. Es heißt Nichtsesshafter, Himmelherrgott. Er war ein Mensch und er wurde ermordet“, wies Rolf ihn zurecht. „Manchmal bist du echt unmöglich, Rex!“

Keiner nannte Hubert bei seinem Vornamen, sondern ausschließlich Rex. Ihm war das sehr recht, und er genoss es sogar, wobei ihm völlig entging, dass das eigentlich kein Kompliment war.

Jetzt zuckte er nur die Achseln, was Rolf mit einem unwilligen Schnauben quittierte. Der Unterschied zwischen ihm und seinem Partner hätte kaum größer sein können. Und man sah Rolf auch deutlich an, dass er nicht besonders glücklich über diese Paarung war. Er tröstete sich jedoch damit, dass sie vielleicht nicht lange andauern würde. Hubert war erst wenige Monate bei ihnen, zeigte aber deutlich, dass er nicht vorhatte, länger als nötig zu bleiben.

Jetzt schob er Rolfs Einwand mit einer unwilligen Geste einfach beiseite. Als er die unfreundlichen Gesichter um sich sah, wirkte er einen Moment verblüfft. Quirin war schon öfter aufgefallen, dass Hubert immer sehr erstaunt war, wenn mal jemand anderer Meinung war als er.

„Vermutlich eine Prügelei mit Todesfolge“, wiegelte der geschniegelte Kollege jetzt ab. „Und wahrscheinlich hat sie der Typ auch noch selbst provoziert. Wer das auch immer war, kriegt höchstens eine Strafe wegen Totschlags.“ Er lachte. „Guten Morgen übrigens! Ich hoffe, ihr hattet alle ein schönes Wochenende. Meines war recht ausgefüllt. Aktivitäten mit einer süßen Schwarzhaarigen, ihr versteht ...“ Mit diesen Worten schenkte er Sabine einen abschätzigen Blick und Quirin ein süffisantes Lächeln. „Na ja, vielleicht nicht alle.“

Quirin öffnete den Mund, um zu antworten, kam jedoch nicht dazu, denn in diesem Moment trat Achim Schröder, ihrer aller Chef, durch die Tür. Auch er war im Anzug, sogar mit Weste. Im Gegensatz zu Hubert trug er jedoch keinen leichten Leinenanzug, sondern hielt sich an Tweed. Mit seinem akkuraten Bürstenschnitt sah er aus, wie man sich jemanden vom englischen Landadel vorstellte. Das Bild wurde jedoch gestört, weil er – wie immer – Hosen trug, die zwei oder drei Zentimeter zu kurz waren. Wenn er das wusste, störte es ihn offensichtlich nicht. Das Goldgestell seiner Brille blitzte kurz auf, als ein Sonnenstrahl darauf traf.

„Ihr zwei. Einsatzbesprechung. Nehmt's den Kaffee mit.“ Er nickte Sabine und Quirin zu, streifte die anderen beiden mit einem strengen Blick und ging wieder.

„Scheint heute einer seiner guten Tage zu sein“, flüsterte Sabine Quirin zu, während sie sich daran machten, ihm zu folgen.

„Auf jeden Fall. Wenn wir sogar den Kaffee mitnehmen dürfen“, antwortete Quirin ebenso leise. „Und er hat noch keinen zusammengestaucht in der halben Stunde, in der er schon da ist.“

„Definitiv ein guter Tag.“ Um Sabines Mund zuckte es verdächtig.

Wenig später saßen Sie bei Schröder im Büro. Er hatte einen dicken Ordner vor sich liegen und daneben eine kleine weiße Plastikdose.

„So a brunzbieslblede G'schicht“, begann er knurrig. „Eine Tote direkt vor der Nas'n von ein'm Kripobeamten ...“ Er blickte Quirin streng über seine Brille hinweg an.

„Stimmt“, gab der unbekümmert zu. „Ich hätte es ahnen und der Dame ihr Wurstbrot entreißen sollen.“

Achim Schröder starrte ihn einen Moment sprachlos an.

„Wenn's überhaupt das g'wesen ist“, brummte er dann. „Die Kollegen von der Streife waren fleißig und haben jeden vernommen, der zum Todeszeitpunkt von Frau Moser in ihrer Nähe war“, begann Schröder. „Außerdem wurde das hier sicherg'stellt.“ Er deutete auf die Dose. „Falls es eine Vergiftung war, könnt das Gift auch hier drin g'wesen sein. Die Kapseln, die noch drin waren, werden grad untersucht.“

„Fingerabdrücke?“, Sabine legte den Kopf schief und besah sich das Etikett auf dem Plastikbehälter. 'Cranberry' stand da in roter Schrift über einem Bild mit roten Beeren und grünen Blättern drum herum. „Abgesehen von denen der Toten, meine ich.“

„Laufen schon durch den Computer.“

„Und sonst?“

„Nur das Übliche: Smartphone, Geldbeutel, Hausschlüssel, Handtuch, Badelaken, ein zweiter Badeanzug, Sonnencreme, Haarbürsten. Eine halbvolle Flasche Wasser und das angebissene Wurstbrot. Es wird noch alles nach Fingerabdrücken und so weiter untersucht. Dann kriegt ihr es. Abgesehen vom Wurstbrot natürlich.“

Normalerweise hätte Sabine jetzt aufgelacht. Doch bei Achim Schröder wusste man nie so recht, ob etwas, das nach Scherz klang, auch wirklich einer war. Also zog sie sicherheitshalber nur die Mundwinkel nach oben. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Quirin ähnlich reagierte. Als Schröder jedoch nicht lachte, setzten Sabine und Quirin schnell wieder ernstere Mienen auf. Schröder sah Sabine und Quirin der Reihe nach über den Rand seiner Brille hinweg an, als wisse er nicht recht, was er daraus machen sollte.

„Die Sektion ist um zehn“, erklärte er schließlich. „Also darf einer von euch jetzt erst mal ins Auto hupfen und nach München fahr'n. Der andere nimmt sich die Aussagen vor und befragt dann die Verwandten. Die Tote hat eine Schwester g'habt ...“

„Frau Graf“, nickte Quirin. „Ihr Sohn, also der Neffe der Toten, ist ein Kollege. Er war gestern zufällig einer der Streifenbeamten.“

„Oje, das war sicher ein Schock“, kommentierte Sabine mitfühlend. „Äh, weiß man, welcher Rechtsmediziner die Untersuchung macht?“, wandte sie sich dann wieder an ihren Chef.

„Dr. Mergel, soviel ich weiß.“

Sabines Augen leuchteten auf.

„Dann würde ich gern nach München fahren, wenn es euch recht ist“, verkündete sie.

„Von mir aus.“ Schröder zuckte die Schultern, schaute aber ein wenig verwundert drein. Dr. Monika Mergel war eine eher schroffe Person, vor allem anderen Frauen gegenüber. Warum Sabine so scharf darauf war, ausgerechnet ihr zu begegnen, war ihm ein Rätsel.

Quirin dagegen lächelte. Er schien etwas zu wissen. Schröder nahm sich also vor, ihn gelegentlich genauer zu befragen. Für den Moment aber entließ er die beiden mit einem knappen Nicken.

„Dann mal viel Spaß in München“, verabschiedete sich Quirin von Sabine mit einem breiten Grinsen, das sie mit einem schnippischen „Phhh!“ quittierte. „Ich werde mich so lange um die Familie der Moserin kümmern. Und die Spurensicherung schicke ich am Besten auch gleich mal los. Vielleicht findet sich was in der Moserschen Wohnung.“

Er nickte der Kollegin noch einmal zu und ging dann den Flur entlang zu seinem Büro.

Sabine aber machte sich beschwingt auf den Weg. Als sie das Haus verließ, war es bereits unangenehm warm. Das würde wieder ein sehr heißer Tag werden – und keine Abkühlung in Sicht. Sabine seufzte. An ihrer guten Laune änderte sich jedoch nichts. Natürlich war sie überhaupt nicht scharf darauf, die bissigen Kommentare von Dr. Mergel zu hören. Niemand, der nicht tief in seinem Herzen ein Masochist war, hörte dieser Frau freiwillig zu. Aber wenn die Mergel obduzierte, hatte sie eigentlich immer denselben Kollegen dabei: Dr. Christian Neuhaus. Wahrscheinlich war er einfach der Einzige, der die Mergel ertrug, denn sonst wechselten die Ärzte immer, wie es sich gerade ergab.

Es war natürlich dieser Neuhaus, auf den Sabine sich freute. Er war ein ausgesprochen gutaussehender und charmanter Mann – der außerdem immer unverhohlen mit ihr flirtete.

Sabine lächelte, als sie ins Auto stieg, im Wegfahren die 'One Republic'-CD in den Player schob und die Klimaanlage auf die Höchststufe drehte. Sie sollte sich daraus natürlich gar nichts machen, sagte sie sich. Neuhaus flirtete vermutlich mit jedem weiblichen Wesen. Sie selbst war ja außerdem in festen Händen. Immerhin hatte sie wegen Torsten Thüringen verlassen und war nach Bayern gewechselt. Und Torsten war ja auch wirklich lieb und nett. Aber dieses prickelnde Gefühl, wenn Neuhaus ihr einen schelmischen Seitenblick zuwarf, das empfand sie nicht bei Torsten. Und das lag bestimmt nicht daran, dass der keine Menschen aufschnitt, sondern Computer zerlegte.

Während Sabine über den Stadtgraben auf die Geiselhöringer Straße, und von dort vorbei an „Aquatherme“ und Tierpark auf die B8 fuhr, um dann über die B20 und die A92 auf die A9 Richtung München zu kommen, sinnierte sie wieder einmal darüber, wie kompliziert doch immer alles wurde, wenn es um Männer ging. Ihr Kollege Quirin zum Beispiel. Mit seinen dunklen Locken und den tiefbraunen Augen sah er wirklich schnuckelig aus. Zumal er einen ausgezeichneten Geschmack hatte. Erst heute Morgen hatte Sabine wieder anerkennend bemerkt, dass das Blau der Streifen seines kurzärmeligen Hemds genau das gleiche war wie das seiner Jeans. Außerdem war er intelligent und hatte Humor. Nur leider machte er sich nichts aus Frauen.

Sabine beschloss, nicht mehr weiter darüber nachzudenken. Sie würde in München ein wenig mit Dr. Neuhaus flirten, falls er überhaupt da war. Da war doch nichts dabei. Kein Grund zur Aufregung.

Zur Bekräftigung ihres Entschlusses drehte Sabine die Anlage lauter und sang aus voller Kehle mit. Sie konnte definitiv nicht singen. Aber allein in einem Auto Richtung Autobahn – wen sollte das schon stören?

Alles, was ihr nicht gepasst hat

Als Sabine bereits die B20 erreicht hatte, wo sie erst einmal hinter einem Laster mit Gefahrengut herzockeln musste, stieg auch Quirin in seinen Wagen. Er nahm ebenfalls die Strecke über den Stadtgraben auf die Geiselhöringer Straße, allerdings ohne abzubiegen. Denn genau da wollte er hin, nach Geiselhöring. Da hatte nicht nur Elfriede Moser gewohnt, dort lebte auch ihre Schwester Anna, verheiratete Graf.

Quirin musste nicht lange suchen, bis er das kleine Haus fand, in dem die Familie Graf zuhause war. Es war ein für die Gegend typisches altes Haus mit steilem Giebel und kleinen Fenstern. Es war pastellgrün gestrichen, und ein gepflasterter Weg ohne das leiseste Grün in den Plattenritzen führte mitten durch einen Garten schnurgerade zum Hauseingang. Rechts vom Weg hinter einem Rasenstreifen standen die prächtigsten Rosenbüsche, die Quirin je gesehen hatte. Dahinter lag der Nutzgarten: ein paar Johannisbeerbüsche, ein Gestell für Stangenbohnen, ein paar Tomatenpflanzen neben Beeten mit Gelben Rüben und Salat.

Links vom Weg dagegen eine Rasenfläche mit einem Apfel- und einem Kirschbaum, und nicht ein Blättchen verunzierte das kurzgeschnittene Gras, kein Gänseblümchen oder gar ein Löwenzahn wagten es, hier zu wachsen.

Es dauerte nicht lange und eine kleine, stämmige Frau öffnete auf Quirins Klingeln.

„Frau Anna Graf?“, erkundigte er sich und zückte seinen Ausweis. „Kammermeier. Ich bin von der Polizei ...“

„Z'weng meiner Schwester“, stellte die Frau sachlich fest. „Ich weiß schon. Der Peter hat schon sowas g'sagt.“ Sie trat zur Seite, um Quirin einzulassen, und führte ihn dann in eine geräumige Küche, in der vom rotkarierten Tischtuch und dem Herrgottswinkel in der Ecke hinter der Sitzbank bis zu den mit Kreuzstich bestickten Kissen alles von einem guten bayerisch-katholischen Haushalt kündete. Die Mikrowelle auf einem der Unterbauschränke wirkte da geradezu wie ein Fremdkörper. Quirin schaute unwillkürlich zum Herd, ob der noch mit Holz befeuert wurde oder wenigstens mit Gas. Er war fast enttäuscht, als er einen Elektroherd sah.

Anna Graf bot ihm einen Platz auf der Bank an und wollte wissen, ob er einen Kaffee trinke. Quirin lehnte ab. Frau Graf aber wollte einen und machte sich ans Werk. Während sie Wasser heißmachte und einen Filter auf eine Kaffeekanne setzte – keine Maschine! – beobachtete er sie unauffällig. Sie war die ältere der beiden Schwestern, das wusste er. Aber was für ein Unterschied! Elfriede Moser war schlank und gepflegt gewesen, mit einem modernen Haarschnitt. Anna dagegen war dick, mit einer Allerweltsdauerwelle, die ihr kein bisschen stand und die grauen Haare, die sich bereits zeigten, eher noch hervorhob. Sie trug Birkenstocksandalen. Gut, das war verständlich, denn wahrscheinlich war sie viel auf den Beinen. Aber musste es dazu unbedingt eine Kittelschürze in einem geradezu scheußlichen Orange sein? Sie war Anfang fünfzig – vier Jahre älter als Elfriede, erinnerte sich Quirin. Aber sie sah erheblich älter aus. Ob sie wohl hin und wieder auf die hübsche Schwester neidisch gewesen war? Jedenfalls schien sie der Tod ihrer Schwester seltsam unbeteiligt zu lassen.

„Wie ist sie denn g'storben?“, fragte Frau Graf, ohne Quirin anzusehen. Es schien ihr fast peinlich zu sein, dass sie Interesse zeigte.

„Sie wurde wahrscheinlich vergiftet“, gab Quirin Auskunft. „Wir untersuchen das noch.“

„Aha“, war alles, was Anna Graf dazu sagte.

„Standen Ihre Schwester und Sie sich nahe?“, fragte Quirin schließlich, als ihr Schweigen anhielt.

„Ach, wissen's“, Frau Graf stieß den Messlöffel heftig in die Keramikdose mit dem Kaffeepulver, „Man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen ...“

Quirin hob den Kopf und wartete auf das unweigerliche 'aber'.

„Aber meine Schwester“, sagte Frau Graf da auch schon, „die hatte Haar auf den Zähnen. Ist mit niemandem gut ausgekommen. Immer hat sie gestritten und was zum Aussetzen gehabt.“

Eine Ratschkathl, die die Leute in der Nachbarschaft ausrichtete, dachte sich Quirin, aber Anne Graf war noch nicht fertig.

„Hat d' Leit ausg'richt auf ihrem Block“, fuhr sie fort, und Quirin spitzte die Ohren. „Ständig hat sie böse Sachen geschrieben. Und niemanden hat sie ausg'lassen.“

„Ihre Schwester hatte einen Blog?“, vergewisserte sich Quirin. „Im Internet?“

„Freilich! Und da hat sie alles rein geschrieben, was ihr nicht gepasst hat.“ Anna Graf stellte die Kanne mit dem heißen Wasser weg und fuhr sich über die Stirn. „Zum Beispiel über unseren Bäcker, den Zollner, da gleich ums Eck. Hat geschrieben, dass er so fertige Semmeln nimmt und bloß aufbackt.“

„Und das stimmte nicht?“

„Doch, da schon.“ Frau Graf wandte sich zu Quirin um. „Damals schon. Aber das war, weil der alte Zollner einen Unfall gehabt hat und mit brochenem Bein im Krankenhaus lag. Und seine Frau und seine Tochter haben mit den Eltern vom Lehrling streiten müssen, weil der am Unfall schuld war, aber nicht einstehen wollt'. Da war einfach z'wenig Zeit fürs Teigansetzen. Jetzt macht der Zollner seine Sachen wieder selber. Aber es bleibt immer was hängen ...“

„Ich verstehe“, nickte Quirin. „Hat ihre Schwester das denn nicht richtiggestellt?“

„Ach wo!“ Frau Graf spie den Ausruf geradezu aus. „G'lacht hat's. Der war nichts heilig.“

„Auch die eigene Familie nicht?“ Quirin konnte sich nicht vorstellen, dass jemand auf die eigene Schwester so derart schlecht zu sprechen war, nur weil sie den Bäcker angeschwärzt hatte.

„Na.“ Es war Anna Graf sichtlich unangenehm, dass sie so direkt gefragt wurde. Sie kämpfte mit sich. „Über mich hat's auch her'zogen. Z'weng meine Rosen.“

Quirin sagte nichts und wartete.

„Meine Rosen sind die schönsten in der ganzen Gegend überhaupt. Über die hat schon's Fernsehen berichtet, im Donau TV.“ Anna Grafs Blick wurde trotzig. „Und grad, als das Fernsehteam kommen wollt, hab ich gesehen, dass eine den Rost hat. Da hab ich sie ausgegraben und eine andere gesetzt und keinem was g'sagt. Keiner hat was gemerkt. Aber meine saubere Schwester findet die alte Rosen auf dem Kompost und schreibt gleich über Betrug.“ Sie atmete tief durch. „Da hab ich ihr mein Haus verboten. Mir haben dann keinen Kontakt mehr gehabt.“

„Auch Ihr Sohn Peter nicht?“, forschte Quirin vorsichtig weiter. So erschüttert, wie der Neffe ausgesehen hatte, hatte er wohl kaum die Abneigung seiner Mutter geteilt.

„Doch. Mit dem war sie ein Herz und eine Seele.“ Anna Graf schüttelte den Kopf, wie um zu zeigen, dass sie das überhaupt nicht verstand. „Ich hab mich da nicht eingemischt. Er ist alt genug.“

„Dann war ihre Schwester wohl allgemein nicht sehr beliebt“, fragte Quirin weiter, während er sich fest vornahm, nach dem Blog zu suchen. Da dürfte sich der eine oder andere Verdächtige finden lassen.

„Hier bei uns nicht“, bestätigte Anna Graf. „Aber es hat viele geben, die gemeint haben, dass es gut ist, dass sie solche Sachern aufdeckt. Besonders, wo sie angefangen hat, Unterschriften zu sammeln.“

„Was denn für Unterschriften?“

„Weiß ich nicht. Der Peter müsst's wissen. Der hat ihr g'holfen.“ Frau Graf machte ein ärgerliches Gesicht.

„Dann kam Ihr Sohn also gut mit ihr aus?“

„Der Peter kommt mit allen gut aus“, antwortete Anna Graf und machte eine unbestimmte Geste. „Und alle mögen ihn gern. Meine Schwester auch.“ Sie sah immer noch recht abweisend aus. Es war klar, dass sie über die Freundschaft ihres Sohnes mit Elfriede nicht erfreut gewesen war.

„War Ihre Schwester mal verheiratet?“, wechselte Quirin daher das Thema. „Hatte sie Freunde? Was hat Ihre Schwester denn beruflich gemacht?“

„Naa, die war nie verheirat'“, Anna Graf schüttelte so energisch den Kopf, als sei bereits der Gedanke absurd. „Von Freunden weiß ich nix. Und Beruf – net wirklich.“ Sie setze sich mit ihrem Kaffee nun endlich zu Quirin an den Tisch. „Wissn's, sie hat Germanistik studiert und ihren Magister gemacht. Unsere Eltern war'n so stolz – als ob des was B'sonderes wär. Dann wollt sie Lehrerin werden, hat ihr dann aber net taugt. Jetzt nennt sie sich Lektorin, äh, hat sich Lektorin g'nennt. Aber viel zum Tun hat's net g'habt, wenn Sie mich fragen. Hat's auch nicht braucht, weil sie hat ja von der Muttern das Haus geschenkt bekommen.“

„Welches Haus?“

„Na, des in dem sie auch g'wohnt hat. Sechs Wohnungen insgesamt, also Miete von fünf. Des ist net wenig.“

„Und Sie gingen leer aus?“, fragte Quirin mitfühlend, denn es war offensichtlich, dass Frau Graf das als sehr ungerecht empfand.

„Na, des net“, gab die widerwillig zu. „Als ich g'heirat hab, ham mich die Eltern auszahlt. Aber das ging zum Meisten für die Renovierung von dem Haus hier und für das Geschäft von meinem Mann drauf. Als dann der Vatern gestorben war, hat die Muttern der Friedel das Haus g'schenkt. Als Ausgleich, wie's g'meint hat. Aber mit der Miete stand die Friedel am End viel besser da wie ich.“

„Und Ihrer Mutter war das nicht klar?“

„Das weiß ich net ...“ Anna Graf wich Quirins forschendem Blick aus.

„Ihre Schwester war der Liebling Ihrer Mutter?“, fragte Quirin schließlich, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen hatten.

„Naa, ich ...“, wehrte Frau Graf ab. Doch dann zögerte sie, und endlich brach es aus ihr heraus: „Die Frieda, die hat keinen Finger für d'Mutter g'rührt. Als die alt worden ist und vergesslich, da hab ich mich um sie kümmert. Und die Frieda, die kam bloß mal zu Besuch, hat der Mutter schön ins G'sicht getan und sich eing'schmeichelt. Ich war die Böse, weil ich mal g'schimpft hab, wenn die Mutter wieder das Essen in den Backofen g'räumt, hat, statt in den Kühlschrank und solche Sachen.“ Sie holte tief Luft. „Aber hinterm Rücken von der Mutter, da hat sie sich lustig über sie g'macht.“

Immer die gleiche Geschichte, ging es Quirin durch den Kopf. Er hatte derlei schon oft gehört. Geschwister, bei denen einer der manipulative Sonnenschein war und der andere der Gutmütige, an dem die Arbeit hängen blieb. Nicht selten aber explodierte dann irgendwann die Wut über diese Ungerechtigkeit und endete in einem Gewaltakt.

„Wie lang ist das denn jetzt her?“, erkundigte er sich deshalb vorsichtig.

„Gute fünf Jahr.“

Nun, das war eher eine lange Zeit. Warum sollte Frau Graf sich erst nach Jahren an ihrer Schwester rächen wollen? Da musste dann noch etwas anderes geschehen sein.

„Wer wird das alles denn jetzt erben?“ Quirin wartete gespannt auf die Reaktion der Frau. Doch die sah ihn nur verständnislos an.

„Weiß ich net“, sagte sie schließlich langsam. „Vielleicht der Peter ...“

Wie aufs Stichwort kam in diesem Moment Peter Graf in die Küche, und begrüßte beide.

Seine Mutter sprang auf und wandte sich ihrer Küchenzeile zu, als wollte sie etwas vor ihm verbergen.

„Die Friedel hat doch Unterschriften gesammelt“, wandte sie sich über die Schulter an ihn. „Der Herr Kommissar möcht wissen, worum's da ging.“ Von einer eventuellen Erbschaft sagte sie kein Wort.

„Ja, die Tante Friedel wollte ein Bürgerbegehren durchführen.“ Peter schaute Quirin unsicher an. „Ich hab ihr beim Unterschriftensammeln geholfen.“

„Worum ging es in dem Bürgerbegehren?“, bohrte Quirin nach.

„Na ja, der Spötzl möchte eine Spielhalle eröffnen ...“

„Spötzl?“

„Josef Spötzl.“ Peter schaute nervös von seiner Mutter zu Quirin. Doch Anna Graf tat so, als ginge sie das alles überhaupt nichts an, und wischte stattdessen energisch die Arbeitsfläche neben dem Herd sauber. Da sie ihrem Sohn dabei den Rücken zudrehte, winkte der Quirin unauffällig, ihm zu folgen, und verließ dann die Küche.

Quirin stand also auf und verabschiedete sich von Anna Graf.

Er fand Peter draußen im Garten, wie er unter dem Apfelbaum im Schatten saß. Also trat er zu ihm und ging neben ihm in die Hocke.

„Hat meine Mutter schon von dem Blog erzählt? Ja? Gut.“ Peter seufzte. „Dann kann ich mir das ja sparen. Tante Friedel hat den Blog genutzt, um über ihr Leben und ihre Ansichten zu schreiben. Sie war nämlich Lektorin und hat sich manchmal an den Kopf gefasst, was für schlechte Texte das waren und dass die einen Verlag gefunden haben. Sie hat gemeint, das könnte sie besser. Aber irgendwie hat sie sich nicht recht getraut. Da hab ich ihr gesagt: 'Schreib doch einen Blog. Das ist wie ein Tagebuch, bloß so, dass es alle lesen können.' So zum Üben, hab ich gedacht. Hab ihn ihr dann auch selber auf ihrem Laptop eingerichtet. Das hat ihr auch Spaß gemacht. Vor allem, als positive Kommentare kamen. Sie konnte nämlich wirklich witzig schreiben, die Tante. Mit der Zeit aber nahm sie den Blog immer mehr dazu her, Missstände aufzudecken und anzusprechen. Keine Ahnung, wie sie dazu kam. Manchmal hat sie es da echt schon ein bisserl übertrieben. Das hat meine Mutter bestimmt auch schon erzählt, oder? Dachte ich mir. Aber eigentlich hat's die Friedel gut gemeint. Und in letzter Zeit hat sie vor allem über den Josef Spötzl und seine Pläne geschrieben. Der Spötzl ist ein großer Bauer in Perkam. Hat eine Hühnerfarm und so einiges an Wiesen und Land. Die Felder direkt neben der Hirschlinger Au gehören ihm auch. Und genau dahin will er eine große Spielhalle und eine Boazn – er nennt es ein Restaurant mit internationaler Küche – hinbauen.“

„Aber die Hirschlinger Au ist doch Landschaftsschutzgebiet!“, warf Quirin ein.

„Anscheinend kennt er die richtigen Leute, damit das nicht mehr wichtig ist.“ Peter zuckte die Achseln. „Jedenfalls wollte Tante Friedel ein Bürgerbegehren dagegen organisieren. Vorgestern hatten wir die notwendigen Unterschriften beieinander und haben gefeiert ...“ Peter brach ab und machte ein trauriges Gesicht.

„Wir, das waren du und deine Tante?“

„Ja.“ Der junge Mann schluckte. „Und Monika.“

„Monika?“

„Eine Freundin von Tante Frieda. Eigentlich so ziemlich die einzige Freundin, wenn ich es mir recht überlege. Frieda war nicht sehr gesellig. Aber Monika und sie kannten sich, glaube ich, schon länger. Monika kam öfter mal vorbei, und beim Unterschriftensammeln hat sie auch geholfen.“

„Hat Monika auch einen Nachnamen?“

„Reisinger, glaube ich.“ Peter Graf überlegte. „Leider weiß ich nichts Genaues über sie. Ich weiß noch nicht mal, wo sie wohnt. Aber ihre Handynummer hab ich ...“ Er zog sein Smartphone hervor, suchte die Nummer und gab sie Quirin.

„Na, dann werden wir sie sicher finden“, erklärte der zuversichtlich. „Wie sieht sie denn aus?“

„Rotes Haar, ein bisschen pummelig. Ungefähr im Alter von Tante Frieda.“ Peter zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, dass ich nicht mehr sagen kann.“

„Nicht so schlimm.“ Quirin fiel auf, dass der junge Mann ihn kaum ansah. Er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. Also nickte Quirin ihm aufmunternd zu und wartete.

Peter Graf schien mit sich zu kämpfen. Doch schließlich gab er sich einen Ruck: „Ich … ich möchte ein Geständnis machen.“ Quirin erschrak im ersten Moment. Wollte der junge Polizist ein Mordgeständnis ablegen? Aber da hatte der auch schon bemerkt, was er gesagt hatte. „Neinnein, ich hab sie nicht umgebracht“, berichtigte er sich schnell. „Aber … also, wir haben was getrunken. Monika ist dann irgendwann gegangen, aber ich bin noch geblieben. Und dann kam eines zum anderen und dann … Kommt bei der Obduktion ja doch raus ... Ich hab mit ihr geschlafen. Mit meiner eigenen Tante. Ich wollte es eigentlich gar nicht.“

„Hm.“ Quirin wusste nicht recht, was er daraus machen sollte. „Das ist kein Inzest, soviel ich weiß“, sagte er dann lahm. „Aber gut, dass du das sagst. Das erspart uns eine langwierige Suche, wenn sich Spermaspuren finden ...“

„Das meine ich nicht.“ Peter schüttelte den Kopf. „Es ist nur so: Ich mach mir eigentlich gar nichts aus Frauen.“ Er sah verlegen auf seine im Schoß gefalteten Hände. Doch dann hob er den Kopf und schaute Quirin direkt in die Augen.

Vergiftung durch Kaliumcyanid

Als Sabine in München ankam, war sie bester Laune. Die Autobahn war praktisch leer gewesen, zumindest bis Landshut. Sie hatte sich vorgestellt, die Straße ganz für sich allein zu haben – der einzige Mensch mit Auto auf der Welt. Dazu kamen der Sonnenschein und die gute Musik. Sabine fühlte sich glücklich und beschwingt.

Ihr Glück hielt an, als sie ankam: Sie fand direkt in der Nussbaumstraße einen Parkplatz. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie gut in der Zeit war. Fröhlich eilte sie die Stufen zum Eingang der Rechtsmedizin hinauf. Die Dame, die darüber wachte, dass niemand Unbefugter in das Allerheiligste kam, erkannte sie wieder, nickte ihr lächelnd zu und betätigte den Summer. Das ließ sich alles wirklich gut an!

„Ach, Sie sind es mal wieder“, begrüßte sie Dr. Mergel, als sie den Sektionsraum betrat. Sabine nickte nur mit einem strahlenden Lächeln. Sie war viel zu gut gelaunt, um eine spitze Antwort zu geben. Außerdem war ihr viel wichtiger, wer neben der Ärztin stand: Dr. Christian Neuhaus. Er hob den Kopf und zwinkerte ihr zu, als hätten er und sie eine geheime Verabredung.

„Guten Morgen! Sie sind wie immer ein höchst erfreulicher Anblick, Frau Pfeiffer“, sagte er fröhlich. „Ich würde ja sagen Sie sehen zum Anbeißen aus, aber das würde mir eine Rüge der Gleichstellungsstelle einbringen. Mal ganz abgesehen von dem garstigen Blick meiner über alles geschätzten Kollegin hier!“ Er grinste zu Dr. Mergel hinüber, deren erboste Miene auf diese Weise mit einem Mal viel kläglicher aussah.

Das schien auch der Assistent zu finden, der als Dritter anwesend war und sich gerade Handschuhe anzog. Er hatte den Kopf gesenkt, um ein Schmunzeln zu verbergen, was ihm jedoch nicht ganz gelang.

Sabine fand das amüsant, sagte aber nichts. Stattdessen suchte sie sich einen Platz neben einer Vitrine voller Schädel, die mehr oder weniger große Löcher aufwiesen. Zum Teil waren feinsäuberlich die Sprünge und Risse auf den Knochen in Rot nachgezogen worden. Die Exponate dienten im Zweifelsfall als Referenzstücke für Schädelverletzungen. Doch Sabine fand sie in erster Linie einfach nur gruselig. Aber leider gab es kaum andere Stellen im Raum, an denen man stehen konnte, ohne im Weg zu sein. Sie drehte also den Schädeln den Rücken zu und richtete den Blick auf die Tote.

Eigentlich eine schöne Frau mittleren Alters, ging es ihr durch den Kopf, auch ohne Make-up. Schlank, gepflegt. Mit sorgfältig geschnittenem und gefärbtem Haar und mit akkurat zurechtgezupften Augenbrauen. Sabine wusste genau, was das bedeutete. Sie selbst hatte ziemlich buschige Brauen und rückte ihnen regelmäßig mit Pinzette und Wachs zu Leibe. Gut, vielleicht hatte Elfriede Moser auch weniger Probleme damit. An den Armen, den Beinen und auf der Bauchdecke hatte sie jedenfalls nur leichten blonden Haarflaum.

„Also, fangen wir an“, riss Dr. Mergel Sabine da aus ihren Gedanken. Sie nickte sowohl Dr. Neuhaus zu als auch dem Assistenten und beugte sich über die Leiche, um sie erst einmal äußerlich genau zu begutachten.

„Die roten Flecken und der Geruch sprechen für eine Vergiftung mit Kaliumcyanid“, murmelte sie.

„Leider gehöre ich zu den zwanzig Prozent der Bevölkerung, die das nicht riechen können“, erklärte Dr. Neuhaus fröhlich. „Aber die Flecken sehen sehr danach aus. Mal sehen, ob wir irgendwo einen Einstich finden ...“

„Wobei Kaliumcyanid auch über die Haut aufgenommen werden kann“, ergänzte Dr. Mergel.

„So wie bei Sonnencreme?“, staunte Sabine.

„Zum Beispiel. Aber man kann es natürlich auch einfach schlucken.“ Dr. Neuhaus grinste sie an und beugte sich dann wieder tiefer über den Körper auf seinem Tisch. „Eigentlich seltsam, dass wir nicht mehr Vergiftungen mit Zyankali auf dem Tisch haben“, plauderte er munter weiter.

„Warum denn das? Kriegt man das so leicht?“, wunderte sich Sabine.

„Es gibt Fotografen, die es noch verwenden“, gab Neuhaus bereitwillig Auskunft. „Und zum Galvanisieren braucht man es, glaube ich, auch. Aber diese Leute werden natürlich alle erfasst und müssen genau Buch führen. So gesehen wäre es also doch ziemlich dumm, Kaliumcyanid zu verwenden.“

„Früher hat man es auch zum Herauslösen von Gold aus Gestein verwendet“, ließ Dr. Mergel sich da hören. „Hat die Leute, die damit hantierten, reihenweise umgehauen. Macht man in der Dritten Welt heute noch. Beim Buchdruck kam es auch zum Einsatz. Für den Golddruck. Aber heutzutage braucht man das nicht mehr.“

„Dann kann man das Gift einfach so kaufen?“, wunderte sich Sabine. „Ich meine, wenn man nachweisen kann, dass man es braucht?“

„Es ist in Apotheken zu bekommen“, nickte Neuhaus. „Natürlich muss man einen Giftschein haben.“

Für den letzten Satz musste er die Stimme erheben, denn der Assistent hatte sich bereits die Säge gegriffen, mit der Schädel und Brust geöffnet wurden. Das Ding sah aus wie ein Pürierstab, jedoch mit einer runden Sägescheibe am Ende. Sabine kniff die Augen zusammen. Das Geräusch der Säge war nicht laut, sie empfand es aber als extrem unangenehm. Es erinnerte sie immer an den Zahnarzt.

Eine Weile arbeiteten die beiden Ärzte und der Assistent stumm und konzentriert vor sich hin. Dann hob Dr. Neuhaus den Kopf und zwinkerte Sabine zu.

„Ich habe gehört, Ihr Kollege war dabei?“, brach er das Schweigen. „Hat es lange gedauert?“

„Ein paar Minuten“, erklärte Sabine und wunderte sich etwas über diese Frage.

„Dann hat sie Glück gehabt.“

„Wieso?“ Sabine war verwirrt über diese seltsame Feststellung. „Ich dachte immer, dass Zyankali ein schnelles und effektives Gift ist, das immer gleich wirkt. Sie wissen schon, Kapsel im Weisheitszahn und so ...“

„Effektiv stimmt“, mischte sich Dr. Mergel da ein. „Weniger als ein halbes Gramm genügt, um einen Erwachsenen todsicher ins Jenseits zu befördern. Aber schnell … Nun ja. Das Hinterhältige an Kaliumcyanid ist ja, dass es nicht selbst giftig ist, sondern die Blausäure, die von der Magensäure freigesetzt wird. Die Blausäure blockiert die Atmung. Das kann sehr schnell gehen – muss aber nicht. Manchmal lässt sich die Blausäure Zeit, und es vergehen zehn bis zwanzig Minuten, bis die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn abgeschnitten ist. Und wenn mit der Magensäure des Opfers nicht alles in Ordnung ist, wird vielleicht nicht genügend Blausäure gebildet. Dann stirbt man, weil das Zyankali ätzend ist und den Magen zerfrisst.“

„Igitt!“ Sabine schauderte. „So gesehen hatte Frau Moser wirklich Glück.“

Etwa anderthalb Stunden später richtete Dr. Mergel sich mit einem kleinen Seufzer auf. Sie waren fertig mit der Begutachtung. Der Assistent packte die Organe, die entnommen und gewogen worden waren, beiseite, damit sie später untersucht werden konnten. Dr. Neuhaus wusch sich die Hände.

„Keine Spuren eines Kampfes, keine Einstiche“, fasste Dr. Mergel derweil zusammen. „Der Mageninhalt muss natürlich erst noch untersucht werden, aber ich bin ziemlich sicher, dass es sich um eine Zyankalivergiftung durch orale Einnahme handelt.“

„Was wurde denn bei der Toten gefunden, wo das Gift drin gewesen sein könnte?“, wollte Dr. Neuhaus wissen.

„Ein angebissenes Wurstbrot ...“, begann Sabine.

„Das Zeug schmeckt viel zu scheußlich, um bei einem Wurstbrot mitgegessen zu werden“, winkte Dr. Mergel jedoch ab.

„Eine Dose mit Cranberry-Kapseln ...“, fuhr Sabine ärgerlich fort. Konnte einen diese Frau nicht einfach mal ausreden lassen?

„Ah, das ist recht verbreitet bei Frauen, die zu Blasenentzündungen neigen“, nickte die Ärztin und schnitt Sabine damit schon wieder das Wort ab. „Die großfruchtige Moorbeere, wie sie deutsch heißt, wirkt angeblich antibakteriell. Bewiesen ist das allerdings nicht. Ist übrigens mit der Heidelbeere verwandt, die ...“

„Ach ja, das kommt alles daher, dass die Frauen so eine kurze Harnröhre haben“, ging Dr. Neuhaus dazwischen, um einen längeren Vortrag zu verhindern. „Da hilft nur ausspülen und heiße Getränke … Apropos: Wie wäre es mit einem Kaffee, Frau Pfeiffer?“ Er grinste Sabine geradezu unverschämt, aber auch ausgesprochen charmant an. „Den Mageninhalt untersuchen wir noch und rufen Sie dann an. Aber vorher: Mittagspause. Das Café Mozart ist gar nicht weit von hier. Das kann ich sehr empfehlen.“

„Na ja, ich habe tatsächlich ein bisschen Hunger“, gestand Sabine mit einem kleinen Lächeln und stellte fest, dass sie nervös war. Sie wurde doch nicht etwa rot? Falls ja, ging Dr. Neuhaus freundlicherweise darüber hinweg.

Sie verabredeten also, sich in einer halben Stunde im Café zu treffen.

Sabine war als Erste vor Ort und fand einen kleinen Tisch direkt am Fenster. Das Ambiente erinnerte sie tatsächlich an die Kaffeehäuser, die sie bei dem einen oder anderen Kurzurlaub in Wien kennengelernt hatte.

Kaum hatte sie die Karte für die Mittagsmenüs zur Hand genommen, war auch schon Dr. Neuhaus da. Er war nicht zu übersehen mit seinen leuchtend roten Locken und dem kurzen und gepflegten Bart in derselben auffälligen Farbe. Eigentlich mochte Sabine Männer mit Bärten ja nicht, aber ihm stand er wirklich gut. Er gab ihm etwas Gelehrtes, was jedoch von seinen grünen Augen, in denen der Schalk blitzte, gleich wieder abgemildert wurde.

„Schon was gefunden?“, fragte er leutselig. „Ich kann das Clubsandwich empfehlen.“

„Genau das lacht mich auch am meisten an“, gestand Sabine.

Es dauerte nicht lange, und sie plauderten – erst über die Arbeit, seine und ihre, dann über private Interessen, wobei Neuhaus Sabine ausgiebig über ihre Thüringer Heimat und besonders über Weimar ausfragte. Als sie ihm erklärte, dass es nicht in den Genen liegt, die Klassiker zu lieben, nur weil man aus Weimar kommt, lachte er schallend.

„Gottseidank! Ich habe mir schon das Gehirn nach meinen spärlichen Kenntnissen über Goethe und Schiller zermartert, um Sie beeindrucken zu können. Wie großartig, dass ich das jetzt gar nicht muss!“

Sabine fühlte sich geschmeichelt, dass er so freimütig zugab, sie beeindrucken zu wollen. Dummerweise kam das Gespräch trotzdem auf Literatur, und Sabine entschied, dass sie ihre Vorliebe für Chicklit, wie man ihre bevorzugten Frauenromane auch nannte, lieber für sich behielt. Stattdessen erklärte sie, dass ihr die Scheibenweltromane von Terry Pratchett gefielen. Davon hatte sie immerhin wirklich einige gelesen, sogar auf Englisch. Sie tat das bevorzugt auf dem eReader, weil sie die Wörterbuchfunktion doch öfter mal brauchte. Dass sie sich trotzdem am Ende eines Absatzes manchmal ratlos fragte, worum genau es gerade gegangen war, verschwieg sie aber lieber.